Aufgreifen, begreifen, angreifen - Rudolf Walther - E-Book

Aufgreifen, begreifen, angreifen E-Book

Rudolf Walther

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Beschreibung

Der erste von drei Bänden umfasst Arbeiten aus den letzten 18 Jahren: aufklärende historische Essays, Porträts gegen das Vergessen (von Diderot über Rudi Dutschke bis zu Reinhart Koselleck), ins Grundsätzliche gehende politische Kommentare jenseits des tagespolitischen Handgemenges sowie Verrisse von Sachbüchern. Das verlegerische und das redaktionelle Gewerbe schätzen Verrisse nicht besonders. Sie sind jedoch als Korrektive im Kulturbetrieb umso wichtiger, als dieser generell zu verharmlosender Glätte und Beliebigkeit neigt. Im einem weiteren Abschnitt folgen Sprachglossen, die sich auf tagespolitische und mediale Eseleien beziehen. Den Band schließen Texte in eigener Sache ab. Der Titel hebt auf das Moment von Spontaneität der Reflexion ab. Jede Behauptung eines "roten Fadens", dem die Texte folgten, liefe auf eine alberne Selbstinterpretation hinaus. Es bleibt den Leserinnen und Lesern überlassen, allenfalls vorhandene, durchlaufende Motive zu erkennen oder zu bestreiten.

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Walther

Aufgreifen

Rudolf Walther

Aufgreifen, begreifen, angreifen

Historische Essays, Porträts, politische

Kommentare, Glossen, Verrisse

Essay 17

© 2011 Oktober Verlag, Münster

Der Oktober Verlag ist eine Unternehmung

des Verlagshauses Monsenstein und Vannerdat OHG, Münster www.oktoberverlag.de

Alle Rechte vorbehalten

Satz: Monsenstein und Vannerdat

Umschlag: Thorsten Hartmann

Umschlagmotiv: Chiara Mangia

unter Verwendung mehrerer Fotos von alex-mit, Bliznetsov, garysludden, Okea,

sololos/www.istockphoto.com

Herstellung: Monsenstein und Vannerdat

ISBN: 978-3-941895-17-1

eBook-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmundwww.readbox.net

INHALT

Vorwort

I Historische Essays

1. Wem das Posthorn bläst – zur Konstruktion und Konjunktur des Nationalen

2. Was keiner versteht, ist »nationale Identität«

3. »Nationale« Selbstbestimmung – der Stimmungsmacher im Schlachthaus

4. »Zivilisation« – ein Rettungsring mit Löchern

5. Geopolitik oder: Man braucht Platz

6. Aufgeklärter Pazifismus und Friedensschwärmerei

7. Brockhaus: fast die ganze Welt im Bücherregal

8. Die Encyclopédie von Diderot, D’Alembert und Jaucourt wird 250 Jahre alt

9. Globalisierung: Universalismus der Reichen

II Porträts gegen das Vergessen

1. Ulrich Bräker – Aufklärung von unten

2. Louis Philippe, juste milieu, Geldherrschaft sans phrase

3. Rudi Dutschke – einer wie keiner

4. Niklaus Meienberg. Ein unschweizerischer Schweizer Journalist und Schriftsteller

5. Casimir Ulrich Boehlendorff. Ein hoffnungsloses Dichterleben

6. Carl Albert Loosli. Der Philosoph und Dichter aus Bümpliz

7. Reinhart Koselleck. Sozialgeschichte als Begriffsgeschichte

8. Günther Anders – Philosoph des Atomzeitalters

9. Hans-Georg Gadamer. Philosophische Hermeneutik lehrt begreifen

10. Wolfgang Abendroth – »Partisanenprofessor im Land der Mitläufer«

11. Ernst Jünger – Gegen die Vergesslichkeit: politische Publizistik 1920-1933

12. Friedrich Engels – zum hundertsten Todestag des Grandseigneurs des Sozialismus

III Politische Kommentare

1. Bürgerkrieg im Supermarkt? Enzensberger irrt.

2. Der Dokumentarfilm als Propaganda: Claude Lanzmanns »Tsahal«

3. Ernstfall Friede: Kants »Zum Ewigen Frieden«

4. 1945 – Kontinuität und Neubeginn

5. Die Schweiz im Zwielicht

6. Alles Krieg? Zu Paul Virilio

7. Flegelei und Lümmelei im deutschen Feuilleton

8. Asymmetrische Kriege und Barbarei des Luftkriegs

9. Toleranz – Einwanderungsgesellschaft – Rechtsstaat

10. Antiamerikanismus – oder die Theologie der Leerstelle

11. Der Fernsehphilosophiker Sloterdijk flunkert munter drauf los

IV Glossen

1. Dichter unter Diktatoren: Durs Grünbein

2. Wendelin Wiedeking hat Benzin im Hirn

3. Toxische Positionen

4. Stadelmaiers Privatreligion

5. Ohne Vertrauen auf Vertrauen

6. Zeitfenster

7. Angesagt

8. Frankfurter Allgemeiner Küchenmoses: Küchenlatein (1)

9. Walser schaut Fernsehen

10. Eine Blase voller Kultur

11. Zürich – von DADA zu Gaga

V Verrisse

1. Schnelldenkerei à la mode: Norbert Bolz

2. »Heldenprüfung« voller Peinlichkeiten: Jürgen Busche

3. Hubertus Knabe jagt Dunkelmänner

4. Alle reden vom Klima, wir auch : Leggewie/Welzer

5. Ein deutscher Mythenbastler erzählt: Herfried Münkler

6. Ferndiagnostische Spekulationen über 68: Christian Schneider et al.

7. Aufgeblasenes und Ressentiments: Dirk Schümer

8. Plumper Flachsinn über Faschismus: Georg Seeßlen

9. Auf den Hund gekommener Konservatismus: Wolfgang Sofsky

10. Kaschmirbehaglichkeit: Stephan Wackwitz

VI Texte in eigener Sache

1. Triviale Laufmaschine

2. Post vom Sozialstaat oder wie Ludmilla gegen die Bürokratie siegte

3. Der 21. August 1968 als Geschichtszeichen

4. Wassertrinker und Instant-Soziologen von Ulrich Beck bis Michael Rutschky

Nachweise

Vorwort

Der erste Band meiner Arbeiten umfasst – wie die beiden folgenden Bände – Texte aus den letzten 18 Jahren meiner Tätigkeit als Publizist, Kolumnist und Sachbuch-Kritiker. Bei der Auswahl der Texte konzentrierte ich mich in allen drei Bänden auf solche Arbeiten, die ohne Anmerkungen verständlich sind, dem tagespolitischen Handgemenge also nicht zu nahe stehen. Die Daten der Erstveröffentlichung verweisen auf die historischen und politischen Kontexte.

Die Anlässe für die Essays und Porträts diktierte das journalistische Gewerbe mit seiner etwas seltsamen Vorliebe für runde Geburts- und Todestage, wobei die gnadenlose Konkurrenz der Organe häufig dazu führt, dass die Geburtstage und runden Jubiläumstage groteskerweise kalendarisch vorverlegt werden, weil jedes Organ das Erste sein möchte in einem öden Wettlauf.

Die politischen Kommentare für die »Tageszeitung« und für den »Freitag« beziehen sich zwar auf die tagespolitische Aktualität und entstanden in der Zusammenarbeit mit den beteiligten Redakteuren, aber ich habe nur solche Kommentare aufgenommen, die über das Tagespolitische hinaus ins Grundsätzliche gehen.

Dadurch entstehen inhaltliche Ligaturen zu Themen, die in den historischen Essays und Porträts dargestellt werden. Im Nachhinein erweisen sich manche Essays und Porträts als Vorarbeiten für politische Kommentare. Meiner Ansicht nach nicht zu deren Nachteil, da die Stringenz und Haltbarkeit von Argumenten und Kommentaren nicht von der Stärke der darin vertretenen Meinungen zehren, sondern von historischem, sozialwissenschaftlichem, philologischem und philosophischem Wissen, auf denen sie beruhen. Thematische Überschneidungen sind dabei nicht zu vermeiden.

Dies in Kauf zu nehmen, erschien mir weniger gravierend, als die Texte nachträglich in starre Rahmen von kalendarisch oder thematisch geordneten Blöcken zu pressen, die noch gar nicht existierten, als die Texte geschrieben wurden. Die Grenzen zwischen den einzelnen Textsorten sind fließend und immer auch willkürlich. Die meisten Texte entstanden aus äußerlichen Zwängen des Kulturbetriebs, aus situativen Intuitionen sowie als subjektive Reaktion auf den laufenden sprachlichen und politischen Schwachsinn – also aus zufälligen Anlässen, die sich gegen eine systematische Ordnung sperren. Damit soll auch das Moment von Spontaneität der Reflexion und der Reaktion, das ich mit dem Titel andeute, betont und erhalten bleiben. Jede Behauptung eines »roten Fadens«, dem die Texte folgten, liefe auf eine alberne Selbstinterpretation hinaus. Den durchgehenden Faden zu erkennen oder zu bestreiten, ist Sache der Leserinnen und Leser.

Die Glossen sind zum größten Teil auf der Wahrheitsseite der »Tageszeitung« erstmals erschienen. Dieses Forum bietet die in der deutschen Presselandschaft einmalige Chance, den sprachlichen und politischen Zumutungen im Fernsehen und in der Presse mit sprachlichen Mitteln heimzuleuchten.

Ein großer Teil meiner Arbeiten besteht aus Besprechungen politischer, historischer und sozialwissenschaftlicher Bücher. Ich habe aus der Fülle der Rezensionen nur einige exemplarische Verrisse ausgewählt. Diese Auswahl beruht nicht auf einem atavistischen Willen, Autoren und ihren Büchern oder den Verlagen zu schaden. Selbst wenn ich das wollte, schaffte ich dies als Sachbuch-Rezensent nicht, denn alle diese Bücher werden von Vielen besprochen und bewertet. Und ultimativ oder verheerend »päpstlich« auftretende Urteilende gibt es unter den Sachbuchkritikern – im Unterschied zu einigen in der Literaturbranche – nicht. Verrisse sind mir deshalb wichtig, weil das redaktionelle Gewerbe sie gar nicht schätzt und dafür uneigennützig und freiwillig dabei mithilft, restlos überflüssige – sogar ausgesprochen liederliche – Bücher auf gute Plätze in Sachbuch-Bestenlisten zu hieven. Dabei nicht mitzuspielen, gehört zum Ethos von Kritik, die sich von redaktionellen und verlegerischen Kalkülen nicht beeindrucken lässt. Man macht sich dadurch nicht immer Freunde bei Verlagslektoren und Autoren, aber das ist das Risiko jedes autonom Urteilenden.

Der journalistische Betrieb hat sich durch die Konkurrenz mit dem Internet in den letzten Jahren stark verändert. Die Ausnahme, zum Beispiel Nachrufe ganz schnell liefern zu müssen, ist jetzt zur Regel geworden. Neben Vorteilen hat die enorme Beschleunigung des Betriebs und die Vermehrung der Plattformen auch einige Nachteile – die gravierendsten sind boulevardesk-personalisierende Oberflächlichkeit und der Verlust an intellektueller Substanz, der in vielen Feuilletons mit Händen zu greifen ist.

Zumutungen wie diejenige, ein 800 Seiten starkes Buch innerhalb von ein paar Tagen zu besprechen, sind an der Tagesordnung, die Resultate auf den Rezensionsseiten zu besichtigen: Festangestellte Redakteure verhandeln auch schon mal vier Bücher mit zusammen 3500 Seiten auf weniger als 200 Druckzeilen. Den euphemistisch »Freie« genannten Mitarbeitern bleibt die Wahl zwischen solcher Instant-Schreiberei oder prekärer Auftragslage, über die hinwegzuhelfen jedoch nach wie vor verantwortungs- und qualitätsbewusste Redakteurinnen und Redakteure bereit sind, indem sie die Rahmenbedingungen für seriöses Arbeiten sichern. Ich nenne deren Namen nicht, um sie nicht in Konflikt zu bringen mit den maschinenmäßig produzierenden Kollegen.

Die Texte sind in sechs Blöcke eingeteilt, die unterschiedliche Textsorten enthalten: Historische Essays (I.), Porträts gegen das Vergessen (II.), politische Kommentare (III.), Glossen (IV.), Verrisse (V.). Am Schluss stehen Texte in eigener Sache (VI.).

Einige Texte sind mehrfach oder in gekürzten und redaktionell mehr oder weniger stilsicher bearbeiteten Versionen erschienen – nach einem Wort Günter Ohnemus’ in »kannibalisierten Fassungen«. In gravierenden Fällen habe ich deshalb meine ursprünglichen Textversionen den von fremder Hand zugerichteten vorgezogen und mache dies durch das Kürzel UTV (ursprüngliche Textversion) in der Liste der Erstdruckorte am Ende des Buches deutlich. Bloße Druckfehler und kleine Irrtümer (z. B. falsche Jahreszahlen und Vornamen) habe ich stillschweigend korrigiert. Inhaltlich habe ich die Texte nicht verändert und biete sie als durchaus zeitgebundene den Leserinnen und Lesern zur Beurteilung an.

Mein Dank gilt Michael Billmann und Roland Tauber vom Verlag für die Hilfe bei der Organisation der Texte sowie für das Angebot, die Texte in drei Bänden zu publizieren. Ich widme das Buch Eva-Maria in Dankbarkeit und Bewunderung. Sie hat alle Texte als Erste gelesen und korrigiert. Mit Hinweisen, Ratschlägen, fulminanten Verweisen und ultimativen Vetos am Textrand hat sie mich in vielen, zuweilen turbulenten Diskussionen vor etlichen Abwegen und Irrtümern bewahrt. Die verbliebenen gehen auf mein Konto.

Frankfurt am Main, Juli 2011

Rudolf Walther

I Historische Essays

1 Wem das Posthorn bläst – zur Konstruktion und Konjunktur des Nationalen

Wiederholt sich die Geschichte? 1917/18 – nach der revolutionären bzw. militärischen Beseitigung des zaristischen Reiches, der Donaumonarchie und der letzten Reste des osmanischen Reiches auf dem Balkan – erschien der Nationalstaat als Zauberformel: jedem Kind einen Lampion und jeder Nation ihren eigenen Staat. Das deckt sich mit der »Burlesken Träumerei« des unvergleichlichen Erik Satie: »Ich finde, dass alle Franzosen, die auf französischem Gebiet geboren sind, von französischen Eltern oder solchen, die diesen Anschein erwecken, ein Anrecht auf eine Anstellung bei der Pariser Post haben sollten.« Mit der Post hat der moderne Begriff Nation immerhin so viel zu tun, dass er von Paris aus seine Reise antrat und dass Lenin außer für »nationale« Selbstbestimmung für die deutsche Post schwärmte.

Wenn man die Reaktionen auf den Untergang der Sowjetunion durchsieht, so scheint es, als hätten die Kommentatoren nicht Post aus Paris, sondern aus Washington erhalten. Haben sie Woodrow Wilson persönlich zum ghost-writer erkoren? »Nationale Selbstbestimmung« und »National«staat, die sich als Volksvorurteile in den Hirnen festgefressen haben, gelten auf jeden Fall wieder einmal als erstrebenswerter globaler politischer Normalzustand. Die abenteuerliche Prognose, die Völker der ehemaligen Sowjetunion würden jetzt gleichsam normalisiert und in die europäische Tradition des vermeintlich selbstverständlichen und demokratischen Nationalismus zurückgeholt, müsste der Redlichkeit halber die Tribute nennen, die die Menschen in Europa seit etwa 200 Jahren entrichtet haben für derlei Normalität.

Wohin man heute zwangsläufig gerät, wenn man noch einmal versucht, die Welt nach Nationen, Nationalstaaten oder der Fiktion des nationalen Selbstbestimmungsrechts einzurichten, führen die politischen und militärischen Eliten im ehemaligen Jugoslawien praktisch vor, und große Teile der deutschen Presse sowie das Stammtischgerede begleiten das Geschehen mit wohlfeilen, also serbenfresserischen Kommentaren. Allen voran trabt die FAZ. Schon am 12.12.1990 entdeckte J. G. Reißmüller bei den Serben eine Spezialität, die es ihm so angetan hat, dass er nun bald täglich darauf zurückkommt: »die uneuropäische Politik des Unterdrückens anderer Völker«. Im Baltikum genauso: »die ganze Unterdrückungsaktion in Litauen ist uneuropäisch« bzw. »asiatisch«, vulgo: »sowjetisch« (15.1.1991). Wem das alles irgendwie bekannt vorkommt, ist auf der richtigen Spur. Was authentisch europäisch ist, hat Treitschke längst beschrieben: »Wenn die Engländer ... die Hindus vor die Mündungen der Kanonen banden und sie ›zerbliesen‹, daß ihre Körper in alle Winde zerstoben, so kann man das, da doch der Tod sofort eintrat, nicht tadeln. Daß in solcher Lage Mittel des Schreckens angewendet werden müssen, ist klar.« Bei Reißmüller ist auch alles klar – im Namen des »nationalen Selbstbestimmungsrechts« klagt er die nationale »Anerkennung« ein, deren Verweigerung ebenso unterhalb des »europäischen« Standards liegen soll wie die Skepsis gegenüber dem »nationalen Selbstbestimmungsrecht«, das nun als Krone der »europäischen Rechtskultur« (FAZ 17.7.91) herhalten muss.

Nation – in jeder Hinsicht ein Gemachtes

Mangels tragfähiger Grundlagen in der Gegenwart wichen die Ideologen des Nationalstaats immer auf die Geschichte aus. Die fehlende Kohärenz des Prinzips sollte sich angeblich aus menschlicher Natur, gemeinsamer Abstammung, gemeinsamer Sprache, Geschichte und Kultur ergeben. Schon bei oberflächlicher Betrachtung erweist sich jedoch das Nationale als ein in langen und komplizierten Prozessen entstandenes historisch-politisches Konstrukt und nicht als quasi-natürliche Gegebenheit.

Bei Licht besehen, ein Gebirge von papierner Vergeblichkeit, denn für die Begriffe Volk und Nation sieht die Bilanz in der kritischen Forschung trübe aus. Für kein einziges Großvolk kann man ein hohes Alter, ungebrochene Kontinuität oder gar – liebstes Kind der Nationensucher und Nationalitätenbastler – ethnische Homogenität belegen. Und was die Anfänge, Wiegen und Geburtsstunden von Großvölkern und Nationen betrifft, so liegen sie nicht im geheimnisvollen mythologischen Dunkel, im Kyffhäuser, auf den Schlachtfeldern vor Troja, beim Merowinger Häuptling Chlodwig im Frühmittelalter, sondern ganz profan zwischen Buchdeckeln bzw. auf der platten Hand: »In einem gewissen Sinne sind es die Historiker, die die Nationen schaffen« (Bernard Guenée 1971).

Verkürzt und vereinfacht: Am Anfang stand nirgendwo ein großes Volk und schon gar nicht eine ethnisch oder sprachlich homogene Nation, sondern eine Vielfalt von »bunten« gentilen Verbänden. Diese Verbände Stämme zu nennen, verbietet die Tatsache, dass mit dem Begriff Stamm immer noch die legendäre gemeinsame Abstammung, Sprache und Kultur verbunden wird. Genau das war jedoch nicht der Fall. Die gentile Entwicklungsphase ist überall gekennzeichnet durch eine Vielfalt von Siedlungsformen, inneren sozialen Beziehungen, Herrschaftsverhältnissen und ethnischen Mischungsverhältnissen. Erst relativ spät bilden sich gentile Verbände zu Völkern und Großvölkern, wobei deren einzelne Bestandteile in Sprache, Kultur und Sitten sehr lange resistent bleiben gegenüber den vereinheitlichenden (»Nationalisierungs«-)Tendenzen.

So ist es z. B. nichts als ein Gerücht, die Franken seien das Urvolk und die Begründer Frankreichs. Der Anteil eingewanderter (!) Franken am bunten Völkergemisch aus Römern, Galliern, Kelten, Bretonen, Normannen, Burgundern etc., aus dem zwischen Mittelalter und Neuzeit, von dem kleinen Gebiet der Île de France ausgehend, Frankreich heranwächst, ist minimal. Einzig im Seinebecken dürfte der Anteil der Franken im 6./7. Jahrhundert um zehn Prozent betragen haben, sonst bedeutend weniger (Karl Ferdinand Werner 1984). Nicht die Franken ethnischer Herkunft bilden Frankreich, sondern Herrschergeschlechtern und sozialen Eliten mit zum Teil fränkischen Vorfahren ist es im Laufe der Jahrhunderte gelungen, die anderen in »Frankreich« siedelnden, einwandernden und sich vermischenden gentilen Verbände, Völkerschaften und »Stämme« sowie deren herrschende Schichten zu einem Gemeinwesen zu formen. »Unterwerfung gegen Schutz vor inneren und äußeren Feinden« lautete die Formel, nach der im Laufe der Jahrhunderte so etwas wie ein Staat im modernen Sinne und nationaler Zusammenhalt geschaffen wurden; dieser »nationale« Zusammenhalt umfasste jedoch in Frankreich bis zur Revolution explizit nur die oberen Stände. Von der nachrevolutionären Nation unterscheidet sich dieser Begriff grundsätzlich, obwohl ihm dasselbe Wort zugrunde liegt. Das einfache Volk dagegen blieb, was es war: normannische, acquitanische, gaskognische, elsässische Magd, Bäuerin oder Handwerkersfrau; provenzalischer, bretonischer, burgundischer etc. Bauer, Knecht oder Handwerker; und genauso redeten sie vielerlei Sprachen, nur nicht Französisch. »Frankreich« erschien dem menu peuple noch bis ins 18. Jahrhundert hinein als ein ebenso unverständliches und künstliches Produkt wie die dazugehörige Hochsprache Französisch: eine Sache der weltlichen und kirchlichen Herren, mit der das gemeine Volk nichts zu schaffen hatte. Bei den anderen europäischen Großvölkern und Nationen verhielt es sich nicht anders.

Ludwig XIV.: »Die Nation ist kein Staatsstand (corps d’état) in Frankreich«, und »die Nation ist vollständig in der Person des Königs verkörpert«. Keine hundert Jahre später wird Emmanuel Joseph Sieyes seinen fulminanten Traktat mit dem Satz beginnen: »Der dritte Stand ist eine vollständige Nation« (Abbé Sieyes 1789). Das war keine empirische Beschreibung, sondern ein bürgerlich-revolutionäres Programm – in seiner ganzen Widersprüchlichkeit zwischen Emanzipation und erneuter Ausgrenzung derer, die man zur Nation nicht, nicht mehr oder noch nicht zählen mochte. Die Französische Revolution schuf den modernen, der Tendenz nach demokratischen Nationsbegriff. Die Beziehung zwischen moderner Nation und moderner Demokratie ist zwar genetisch unbestreitbar, aber praktisch lose und extrem provisorisch, theoretisch irrelevant und juristisch kriminell.

Anachronistische Rückprojektionen: »Deutschland«

Es ist ein fast unauflösbares Volksvorurteil und ein Anachronismus, im Blick auf Frankreich von einer »alten« Nation zu reden, obwohl sich diese über fünf Jahrhunderte langsam und mit Rückschlägen entwickelte und erst in und nach der Revolution von 1789, vor allem in den Kriegen gegen das aristokratisch-monarchische Europa regelrecht geschaffen wurde. Carnot, der Kriegsminister, gilt nicht nur als »organisateur de la victoire«, sondern auch als einer der Schmiede der modernen Nation, als deren Kinderstube Schule und Kaserne fungieren (»die Schule wird zum Vorraum der Kaserne«, Hippolyte Taine 1893). Das ist nicht falsch, greift aber zu kurz, denn es dauerte noch eine ganze Weile, bis der französische Zentralstaat mit seinen Präfekten, Offizieren und Schulmeistern als nationalen Rasenmähern die überkommenen sozialen, kulturellen und sprachlichen Gewächse einheitlich zurechtgestutzt und zur Grande Nation (uni-)formiert hatte. Dazu mussten die Volkssprachen und Dialekte systematisch herabgesetzt werden, bis in der Öffentlichkeit nur noch das akademisch normierte Hauptstadtidiom Französisch aufzutreten wagte; dazu mussten vor allem die allgemeine Schulpflicht und mit ihr eine verbindliche Nationalsprache »eingeführt« werden; »eingeführt« verharmlost die Brutalität, mit der der Pariser Zentralismus regionale Sprachen und Dialekte buchstäblich ausrottete.

Es ist schon ein schwieriges Geschäft, nachzuzeichnen, wie die französische Nation in Schule und Kaserne herangezüchtet, von national eingestellten Intellektuellen herbeigeschrieben und wie die französische Hochsprache staatlich verordnet wurde; für das Deutsche ist das noch etwas dornenreicher, weil man es nicht nur mit nationalistisch eingefärbten Anachronismen zu tun hat, sondern seit Beginn der deutschen Geschichtswissenschaft mit einer militanten Ideologieproduktion, die sich – pragmatisch entschärft – in Teilen der deutschen Mediävistik und Rechtsgeschichte bis heute durchhält.

Der Beginn der deutschen Historiographie fällt zeitlich zusammen mit der Wahrnehmung nationaler, nationalstaatlicher Defizite in den Staaten des Deutschen Bundes gegenüber dem nachrevolutionären Frankreich. Das sollte kompensiert werden mit einer programmatisch deutschnationalen Lesart der mittelalterlichen Quellen: Die Probleme der Gegenwart bestimmten die Wahrnehmung und Aufbereitung der Vergangenheit.

Der »deutschen Nation«, einer geschichtsphilosophischen und politischen Konstruktion par excellence, verliehen national gesinnte Historiker den Charakter eines Naturtatbestandes, indem sie »Germanen« und »Deutsche« nicht nur gleich-, sondern als »von Anfang an« vorhandenes, homogenes Großvolk voraussetzten, das im mittelalterlichen Kaiserreich eine »deutsche Einheit« angeblich verwirklicht hatte und dann fahrlässig (»Italienpolitik«) verspielte. Die richtige Voraussetzung, dass gentile Verbände, Völkerteile, Völkerschaften, »Stämme« und Völker älter sind als »Staaten«, »Reiche« und »Nationen«, verlängerte die deutsche Historiographie und Rechtsgeschichte zur Vorstellung eines immer schon existierenden »deutschen Volkes«, das eben nur Pech gehabt habe mit seinen von Italien berauschten Herrschern und herrschsüchtigen Päpsten und deshalb in punkto Staatlichkeit und Nationalität gegenüber »Frankreich« (das es damals so wenig gab wie ein »deutsches« Kaiserreich) ins Hintertreffen geraten sei.

Germania und Gallia waren von der römischen Antike bis ins Mittelalter und die Neuzeit hinein geographische Begriffe. Der Rhein bildete die Ost-West-Grenze. Das Wort Germania in mittelalterlichen Quellen zielt immer auf diese geographischen Grenzen und nicht auf die ethnische Abstammung der Bevölkerungen oder politische Substrate. Die nach Gallien gewanderten Franken waren ebenso Germanen wie die diesseits des Rheins verbliebenen. Als »Deutsche« bezeichneten sich freilich weder die einen noch die andern.

Anders verhält es sich mit der Sprachenbezeichnung; »deutsch« bzw. »theodiscus«, gebildet aus althochdeutsch diot (Volk), meint alle nicht-romanischen Volkssprachen. Die nationes theodiscae umfassen z. B. nicht-romanisch sprechende Franken in den heutigen Ländern Flandern, Deutschland und Frankreich, Sachsen in England, Goten und Langobarden in Italien; hier heißen Franken, die nicht-romanisch reden, deshalb teutonici oder tedeschi, und umgekehrt nennen diese die romanische Sprachen verwendende Umgebung »Welsche«. Nicht-romanisch sprechende Sachsen in England oder Franken in Flandern bzw. Italien tauchen in den Quellen als nationes theodiscae auf, können jedoch nicht »deutsche Stämme« oder gar »Deutsche« gewesen sein, da sie niemals dem politischen Gemeinwesen angehörten, das – 962 als ostfränkisches Reich gegründet – erst im 11. Jahrhundert gelegentlich als regnum Teutonicum (1073) auftaucht. Die anderen Franken, Sachsen usw. gehören selbstverständlich zu den konstituierenden Bestandteilen der anderen im Entstehen begriffenen Großvölker in »England« bzw. »Frankreich« (K. F. Werner 1992).

Mit regnum meinen die mittelalterlichen Quellen einen sekundären Herrschaftsverband; man erklärt sich dessen Entstehung aus sesshaften gentilen Verbänden, die sich eben durch diese Sesshaftigkeit kulturelle, rechtliche und politische Strukturen schaffen und dabei die zu verschiedenen Zeiten eingewanderten wie die »eingeborenen« gentilen Verbände assimilieren. Diese Teilreiche (regna oder auch patriae) umfassten also immer Verbände unterschiedlicher Herkunft und Abstammung: Gothia, Burgundia, Francia, Saxonia, Lotharingia, Baioaria, Alemannia, Italia, Provincia sind keine homogenen Gebilde wie die anachronistischen Begriffe »Stamm« oder »Stammesherzogtum« suggerieren, sondern über lange Zeit entstandene melting pots. Die deutsche Übersetzung für regnum ist in der Regel rich oder lant regnum Baioariae, Baiernlant. Für eine Mehrzahl von regna auf dem Territorium des ostfränkischen Reiches existiert vor dem 16. Jahrhundert für »Deutschland« ganz selbstverständlich und logisch nur der Plural »deutsche Lande«. Der Alemanne, Sachse oder Baier existierte nicht von Anfang an, sondern entstand in einem geschichtlichen Prozess im Zuge der Vermischung und Verbindung von gentilen Verbänden zu Teilreichen/regna; gleichzeitig als Baier und Deutscher oder Sachse und Deutscher konnte man erst ab dem 11. Jahrhundert bezeichnet werden – gut 500 Jahre nachdem Alemannen, Baiern, Sachsen, Franken usw. belegt sind. Wie unwichtig das »Deutschsein« neben der faktischen Zugehörigkeit zu einem regionalen Teilreich und seiner Herrschaft (regnum, patria) blieb, beweist die Tatsache, dass der politische Begriff »deutsches Volk« erst nach der Französischen Revolution und in Anlehnung an die revolutionäre Terminologie vom souveränen »peuple français« nachzuweisen ist (K. F. Werner 1992).

Das »Deutsche Kaiserreich«, angeblich 962 von Otto dem Großen gegründet, gehört zu den Fiktionen der nationalstaatlich imprägnierten Historiographie des 19. Jahrhunderts, die bis heute in schlechten Schulbüchern und im common sense fortleben. Ottos Imperium Romanum (erst seit 1157 mit dem Zusatz Sacrum und erst seit 1442 mit der Präzisierung »nationis germanicae«, also: »Heiliges Römisches Reich germanischer (!) Nation« und erst seit dem Kölner Reichsabschied von 26.8.1512 und bis zum Untergang des Reiches (12.7.1806) hieß es offiziell und adjektivisch »Heiliges römisches Reich deutscher (!) Nation«, war nicht eines der »Deutschen«, womöglich gar der »deutschen Nation« im modernen Sinne, sondern jenes der Franci et Saxones (Franken und Sachsen). Diese beanspruchten die Erbschaft des »Sacrum Imperium Romanum« für sich. Franci et Saxones musste man allerdings geographisch näher bezeichnen, um sie z. B. von den französischen bzw. englischen Sachsen und Franken abzugrenzen – deshalb der spätere Hinweis auf die rechtsrheinisch gelegene Germania im Zusatz »nationis germanicae«, nicht etwa »teutonicae« oder »theodiscae«. Näherhin meinte Otto der Große mit den Franci et Saxones, in deren Namen er auftrat, nicht Völker im modernen Sinne, sondern den in Kirche und »Staat« Macht und Herrschaft ausübenden Adel (zusammengefasst in der Formel: regnum Francorum et Saxonum). Diese weltliche und kirchliche Elite fungiert in den mittelalterlichen Quellen unter dem Begriff populus/ Volk, das allein die Kirchenoberen und die Könige wählte bzw. absetzte. Mit Volk war also – im Unterschied zum heutigen Sprachgebrauch – ausschließlich das Kirche und Staat lenkende Volk gemeint, eine Oberschicht aus Kriegern, Adligen, Klerikern (K. F. Werner 1992).

Zu welchen Konfusionen es in Sachen »deutsch« und »Nation« trotz dieser relativ einfachen und eindeutigen Zusammenhänge nach wie vor kommt, soll an einem Beispiel gezeigt werden. Der ebenso verdienstvolle wie konservative Sozialhistoriker Werner Conze schrieb drei Jahre vor seinem Tod einen Aufsatz unter dem Titel: »Deutschland« und »deutsche Nation« als historische Begriffe (Werner Conze 1983).

Hochideologisierter Ramsch wie der Begriff »Stammesnationen« erscheint darin, aber kein einziger eindeutiger Beleg für das Titelwort »deutsche Nation«. Das ist handwerklich gesehen ein Defizit und faktisch das Eingeständnis, dass es frühe Belege für diesen Begriff in politischen Kontexten nicht gibt, weil man sich noch für sehr lange Zeit zwar als »Deutscher« (d. h. deutschsprachiger Bayer, Sachse etc.) bezeichnen konnte, der Ausdruck »deutsche Nation« aber immer die Verbindung zum »Heiligen Römischen Reich deutscher Nation« herstellte, also gerade – modern gesprochen – ein supranationales Gebilde meinte, dem selbstverständlich Ungarn, Kroaten, Norweger, Böhmen, Luxemburger, Spanier etc. mit angehörten. Das handwerkliche Defizit gerät Conze jedoch unter der Hand zum peinlichen Lapsus, wenn er als »Beleg« den Abschied des Augsburger Reichstags vom 25.9.1555 heranzieht. Conze suggeriert, hier stünde bereits »die Teutsch Nation, unser geliebt Vaterland« in einem modernen Sinne, d. h. als ein explizit und exklusiv auf ein nationaldeutsches Substrat abzielendes Subjekt zur Debatte. Das ist natürlich nicht der Fall, und Conze konnte das auch wissen, denn er zitiert nur die obenstehenden Worte, aber nicht den klaren Kontext, aus dem hervorgeht, dass auch 1555 »deutsche Nation« nur auf die Titulatur des Reichsverbands abhebt, nicht auf eine nationale Abgrenzung, einen nationalen Staat im heutigen Sinne: »Darauf Wir uns Gott dem Allmächtigen zu Lob und zu Ehren und Jhr Liebd. und Kayserlicher Majestät zu freundlichem und brüderlichem Gefallen, auch des gnädigen, milden Willens und Vorhabens des Heil. Reiches Teutscher Nation, Unsers geliebten Vatterlands, Unser und des heiligen Reichs gemeiner Stände und Untertanen Nutz, Wolfahrt, Gedeyen und Aufnehmen zu befördern ...«; an anderer Stelle heißt es »im Reich Teutscher Nation«. Und wo ausnahmsweise von der »Teutsch Nation, unser(m) geliebt Vatterland« die Rede ist, liegt die gegen Conze sprechende Pointe genau darin, dass es im zu stiftenden Religionsfrieden darum geht, »Zertrennung und Untergang« einzelner Reichsteile zu verhüten«, also gerade nicht Teile des Reichsverbandes zu modernen, andere Gebiete ausschließenden »Nationen« zu machen.

Überhaupt musste Conze, dem Wissenschaftler, bewusst sein, was Conze, der Nationale, vergaß: Gens und natio können in mittelalterlichen Texten in einem einzigen Satz Familien, Adelsgeschlechter, regionale Gruppen und supragentile Verbände bezeichnen, aber nicht »Nationen« im modernen Sinne, woraus nüchterne Mediaevisten schon seit geraumer Zeit den notwendigen Schluss ziehen, »dass von diesen gentes kein gerader Weg zu den europäischen Nationen führt« (Horst Beumann 1986).

Das angeblich nationalstaatliche Jahrhundert

Nationen im modernen Sinne, Nationalismen und Nationalstaaten sind also eine europäische Erfindung – und eine späte obendrein. Sie entstehen, grob gesagt, erst mit der Zerstörung der agrarischlokal bestimmten Gesellschaften im Zuge der ökonomischen Modernisierung und Industrialisierung. »Der Tatbestand, eine Nation(alität) zu besitzen, ist kein inhärentes Attribut der Menschlichkeit, aber er hat diesen Anschein erworben« (Ernest Gellner). Es handelt sich, bei der meistens staatlich mitgestalteten und mitgetragenen nationalen Territorialisierung im Augenblick des realen Substanzverlusts der Differenz zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft um eine Form von »invented traditions« (Eric J. Hobsbawm): Hymnen, Feste, Folklore, Fahnen, Kasernendrill, Erziehungsrituale – Instrumente im nationalen Baukasten. Im großen Schatten des Nationalen lassen sich sehr vielseitige Geschäfte abwickeln. Der Verdacht, dass hier in der Regel ziemlich Trübes geschieht, wenn man richtig hinsieht, ist für eine aufklärerische und kritische Position unverzichtbar.

Im Falle Deutschlands sind die teutonisierenden Konstruktionen geradezu grotesk: Als staatsrechtlich relevanter Begriff taucht »Deutschland« überhaupt erst im 19. Jahrhundert auf – in der Deutschen Bundesakte vom 8.7.1815. Vorher ist die vermeintliche Nation zwischen dem 16. und 19. hauptsächlich adjektivisch und in den Köpfen einiger Intellektueller vorhanden. Zu den objektiven Determinanten des wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, kulturellen und – nur ansatzweise – staatlichen Zusammenlebens der Menschen zwischen Mittelalter und 18. Jahrhundert konnte die Nationalität schon allein deshalb keine wichtige Rolle spielen, weil diese Gesellschaften und Staaten, die ihre Truppen oft und gerne aus »Ausländern« rekrutierten, um den eigenen Bevölkerungsbestand zu schonen, in einem strikten Sinne a-national waren. Die Oberschichten, allen voran Adel und Klerus, orientierten sich an gesamteuropäisch generierten Handlungskodizes, Kulturmustern und Moden; oft sprachen sie die Sprache »ihres« Volkes nicht oder nur unzureichend. Für das Volk, für die Unterschichten also, hörte die Welt buchstäblich am Dorfrand auf. Sie waren nach Sprache, Sitten, Kultur, sozialen Beziehungen und wirtschaftlichen Verflechtungen während Jahrhunderten lokal, allenfalls regional geprägt. Und die Angehörigen der sehr dünnen Mittelschicht, die allein Nationalität als Abgrenzungs- und Anerkennungsmerkmal hätte ausbilden können, verkehrten untereinander als Gelehrte lateinisch und als Händler kommerziell – auf jeden Fall eher nach kosmopolitisch-universalistischen Standards als nach nationalen (K. F. Werner 1992).

Auch die Sprache bildet – entgegen dem naiven, national getrimmten Denken des 19. Jahrhunderts – dort kein objektives Abgrenzungskriterium mehr, wo Mehrsprachigkeit die Norm abgibt und es mithin nur vom Willen der Individuen oder den mehr oder weniger zufälligen Einflüsterungen, denen sie ausgesetzt sind, abhängt, welcher (Sprach-) Nation sie angehören wollen. Als Mitglied der polnisch-deutsch-litauisch versippten Oberschicht z. B. konnte man sich sprachlich, kulturell oder politisch je nach Opportunität an mindestens drei Sprach-»Nationalitäten« positiv orientieren – an der polnischen, der deutschen oder der litauischen; und negativ besetzt blieben wenigstens zwei, die jüdische und die russische; für die östlichen Teile der ehemaligen Habsburger Monarchie gilt Ähnliches, ebenso wie für große Bereiche des Balkans. Der US-Soziologe W. B. Pittsburg stellte schon 1882 fest: »Der einzige Weg, um zu entscheiden, ob ein Individuum zu einer oder der anderen Nation gehört, ist, es zu fragen.«

Im angeblich nationalstaatlich dominierten 19. Jahrhundert gab es genau einen Staat, den man ohne größere Vorbehalte als homogenen Nationalstaat bezeichnen konnte: Portugal (Hobsbawm). Richtig ist freilich, dass es sich zum Teil um ein von nationalistischen Ideologien beherrschtes Jahrhundert gehandelt hat, was notorisch verwechselt und zusammengeworfen wird.

Der Nationalstaat war vor allem der ideologische Panzer, den sich (bis 1914 fast ausschließlich) jene mittleren sozialen Klassen und Schichten gegen die Bedrohung überzogen, die sie als die gefährlichste am Horizont aufgehen sahen: die internationalistische und sozialistische Arbeiterbewegung. Den Höhepunkt erreichte der Nationalismus jedoch nicht im 19., sondern erst im 20. Jahrhundert – nach dem epochalen Bruch von 1917, d. h. dem Eintritt der USA in den bislang europäischen Krieg und dem Ausbruch der Oktoberrevolution. Der Nationalismus und der national definierte Staat bot jenen mittleren sozialen Klassen und Schichten vor allem in der zerfallenen Donaumonarchie einen Schutz gegen die drohende soziale Revolution; den siegreichen Alliierten erschien die Zerschlagung des Habsburger Imperiums in Kleinstaaten als probates Mittel, das kriegerische Potential aufzusplittern und zu neutralisieren. Wenn die Gelehrten-Floskel vom Pyrrhussieg je zutraf, dann auf die Geschichte und die Praxis des 1918 durch die Sieger proklamierten Prinzips des »nationalen Selbstbestimmungsrechts«.

Literatur

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2 Was keiner versteht, ist »nationale Identität«

1993 verabschiedete sich der Bundeskanzler Helmut Kohl mit dem Satz in den Urlaub, bei der »nationalen Identität« handle es sich um eine »Notwendigkeit im guten Sinne«. In folgendem Herbst eröffnete der Historiker Kohl den Historikertag mit einer Rede über »nationale Identität« in Europa. Der Verteidigungsminister fuhr bis nach Kasachstan, um die »kasachische Identität zu stärken« (Frankfurter Rundschau 23.8.93). Während es die taz (29.9.93) noch mit dem Neuling »bosnische Identität« hält, bescheidet sich Antje Vollmer mit Häuslichem, »einer neuen Identität der deutschen Intellektuellen«, denen sie in ihrer Konfirmanden-Pädagogik-Sprache die Hausaufgabe aufträgt, »einen neuen Gesellschaftskonsens vorzubereiten«, kurzum »das Anti« zu vergessen und positiv, friedlich und pfadfindermäßig willig zu werden wie eine koalitionsbereite Stammtischrunde zwischen den Kopflosen und den nur Hirnlosen (Der Spiegel 15.1.1993). Die endgültige Zubereitung des von Antje Vollmer & Co. Vorbereiteten, von dem Peter Sloterdijk die »Paläopolitik« (»das Mutter-Kleinkind-Feld neben der sichtbaren Feuerstelle« als »inspirierendem Fokus aller altmenschlichen Gruppen«) bis zum Kalten Krieg und der Keyboard-Philosoph Norbert Bolz den Rest seelsorgerisch betreut, übernimmt dann nach dem Muster institutionalisierter Denkerei das grüne Oberkonsistorium. Das Wort »Identität« hängt seit geraumer Zeit am Schwungrad, und weniger Behende wie Niels Kadritzke (Wochenpost 29.7.1993) werden von der Hektik, mit der sie sich ins Identitäts-Theater einklinken, glatt erwürgt: Er hechelte uns 1993 eine Parallele mit 1933 vor, um doch nur beim probaten Universalputzer zu landen: »es ist zu schaffen« – self-fucking-ignorance, die sich akademisch auch als vierfach gepufferter Weichspüler anbiedert, in der Version eines Neonationalen als »Arbeits-Platz-Sicherheits-Identität«. Da es wieder einmal ums ganz Alte geht, brauchen wir jetzt angeblich »eine neue Identität« (K. O. Hondrich) oder wenigstens schwarz-rot-goldene Socken.

Die Anleihen bei der Wilflinger Landserprosa, beim Plettenberger Mannsdeutsch oder beim Todtnauberger Gestammel sind zwar offensichtlich, aber der Begriff »Identität« bekommt trotzdem Fahrt und der aufgeklärte Leser Beklemmung. Seit einiger Zeit finanziert unter dem Beifall der rechten Intelligenz und der populistischen Presse ein Landmaschinenhändler, der sich in einer rundum passenden Formulierung als »Wurzelgeber« bezeichnet, die »berlinische Identität« mit einer Schloss-Attrappe aus Plastik. So viel zum Boden, aus dem »Identitäten« sprießen. Das wurde nicht immer so krass einfältig gedacht.

Als die Forschungsgruppe »Poetik und Hermeneutik« 1976 ein Kolloquium über »Identität« veranstaltete, beschäftigten sich die Wissenschaftler mit vielen Aspekten des Themas. Die politisch-historische Seite spielte keine Rolle, der Begriff »nationale Identität« tauchte nur vereinzelt auf. Für die Wissenschaft handelte sich um keine »Notwendigkeit« in irgendeinem Sinne. Odo Marquards Beitrag endete 1976 mit der These, »die Identität ist ... eine Art Zweckmäßigkeit ohne Zweck. ›Zweckmäßigkeit ohne Zweck‹: das aber ist ... eine Strukturformel Kants fürs Schöne«. Das mag zutreffen für jenen Teil der Identitätsdiskussion, der die Produktion von Identitäten aus life-style-Klim-Bim und psychologischen Rollenspielen ableitet.

Inzwischen hat sich die Diskussion über Identität längst als alles andere als zwecklos herausgestellt. Aus der Frage nach der Identität ist jene nach der Nation geworden. Die Verpuppung des Marginalen zum Wesentlichen geschah im Zuge der »geistigmoralischen Wende«. Danach ging es zügig abwärts, und schon 1985 konnte der »modische Begriff auf eine beispiellose Karriere zurückblicken« (Lothar Baier). 1986 warnte der Historiker Karl Dietrich Bracher vor dem »Modewort Identität« und dem »künstlichen Ton« in vielen »Identitätsbeschwörungen« (FAZ 9.8.1986). Sein Zunftkollege zur Rechten, Michael Stürmer, hatte drei Jahre zuvor mächtig in die Saiten gegriffen: »Geschichte verspricht Wegweiser zur Identität, Ankerplätze in den Katarakten des Fortschritts« (Neue Zürcher Zeitung 31.5.1983). Der »Ankerplatz« Geschichte erscheint hier, einem von Reinhart Koselleck entdeckten Sprichwort zufolge, als »der unversiegbare Dorfbrunnen, aus dem jeder das Wasser des Beispiels schöpft, um seinen Unflat abzuwaschen«. Eine prächtige Kostprobe dafür bot Claus Leggewie am 23.8.1994 im Hessischen Rundfunk. Ein runder Geburtstag musste dafür herhalten, das subalterne Geschwätz der Pariser Fernseh-Philosophen über Herder als den vermeintlichen Urheber nationalistischer Ansprüche und Irrwege mit den dem mittelhessischen Normalisierungsspeak über »kollektive Identität« zu synchronisieren: nichts außer anachronistischer Projektionen auf das 18. Jahrhundert, vermengt mit dem medialen Schaum (»wir«, »Europa«, »Kroatien«, »Sarajewo« und »multikulturell« sowieso).

»Nationale Identität« bahnte sich ihren Weg von den Kathedern durch die Feuilletons bis zur rechten Wand; eine rechtsradikale Postille verschrieb sich, die französische Nouvelle Droite kopierend, mit ihrem Untertitel »nationaler Identität«. Heute gehört es zur national bis post-links eingefärbten Geschäftsgrundlage, »kollektive«, speziell »nationale Identität« als normal, selbstverständlich und notwendig hinzustellen. »Das für viele europäische Nachbarstaaten prägende historisch-affektive Bezugsfeld der Nation steht nun als ein mögliches Angebot auch in Deutschland wieder zur Verfügung. Langfristig kann dies zur Befriedigung kollektiver Identitätsbedürfnisse beitragen« (W. Weidenfeldt/K.-R. Korte 1991). Die Autoren haben eine »plural angelegte, offene nationale Identität« im Auge, was man nicht einmal einen Euphemismus nennen kann, denn noch jedes bekannte Streben nach »nationaler Identität« war immer und zuerst ein Kampfprogramm gegen innere und äußere Feinde. Für Pluralität und Offenheit war darin so viel Platz wie für Argumente in der Kriegspropaganda. Sich der »nationalen Identität« zu versichern, lief immer auf die rechtliche Zurücksetzung, die soziale Isolation, die Vertreibung oder die Ausrottung der Anderen und Fremden hinaus. Die Ausnahmen bestätigen nicht einmal die Regel, weil sie so selten sind.

Martin Walser mag das Wort »nationale Identität« nicht, setzt aber einen drauf, wenn er Nation mit Geschichte gleichsetzt: »Ich könnte statt Nation auch einfach Geschichte sagen. Nation ist Ausdruck des durch Geschichte Form und Wirklichkeit Gewordenen. Gesellschaft genügt nicht. Gesellschaft ist etwas international Vergleichsnotwendiges; aber in der Gesellschaft ist zu wenig das Geschichtliche enthalten« (taz 11.9.1993). Walser mag auch »Meinungen« nicht; sein Verständnis von Nation und Geschichte zeugt eher von schlichter »Einfalt«.

Die Sehnsucht nach »kollektiver Identität« entsprang seit Napoleons Kriegen, mit denen die Revolution zum Exportartikel gemacht wurde, den Schlachtfeldern und Schützengräben. Die Blutspur des Nationalismus ist die Matrize für den Hang zu kollektiver Gefühligkeit: »Der Krieg ist unser Vater, er hat uns gezeugt im glühenden Schoße der Kampfgräben als ein neues Geschlecht« (Ernst Jünger). Ein Freicorps-Mann beschrieb den Kern des Kults um Männer, »die ihre Sache auf nichts gestellt haben« als »kollektive Identität« (Erich Müller): »Denn das, was in uns, in uns allen aufblühte damals, da wir, die Knarre in der Hand, durch Deutschland irrten, das war nicht so ohne weiteres unser eigen Wesen, das war durch mystische Mächte in uns hineingepflanzt, wir wirkten nicht, es wirkte in uns« (Ernst von Salomon). »Kollektive Identitäten« haben mit Aufklärung und Selbstbewusstsein nichts, mit Feindabgrenzung und Gemeinschaftsträumen viel zu tun. In der Jägersprache, die die wilhelminische Gesellschaft und Carl Schmitts Begriff des Politischen als Unterscheidung von Freund und Feind prägte, läuft Identitätsstiftung auf die Landser-Weisheit hinaus: »den Feind schussrecht kommen lassen« (Otto von Bismarck). Carl Schmitt hat den Feind in seiner Demokratiekritik dingfest gemacht. 1933 nannte er ihn beim Namen: »Der Andersdenkende, Andersempfindende und Andersgeartete, das Andersdenken als solches«, das als »Dialektik der Andersheit ... das völkische Empfinden« untergräbt. Schmitt hat die Begriffe »Homogenität« und »Identität« in die Staatsrechtslehre eingeführt und je nach den Zeitläufen völkisch akzentuiert. Das Programm blieb: Staatliche Gewalt sollte unberechenbare Demokratie zur »Volksgemeinschaft« säubern. In der FAZ (9.3.1994) wachsen heute daraus Identitäts- bzw. »Einheitssorgen« und deshalb »nicht mehr Angst vor dem Staat, sondern um ihn«. Wacker.

Was könnte »kollektive« bzw. »nationale Identität« bedeuten? Wo von ihr die Rede ist, bleibt alles finster. Wer stiftet sie wem, wie und wozu? Niemand vermochte bislang darzutun, wie das funktioniert, aber viele reden davon. Frei nach Nestroy: Was keiner versteht, ist »kollektive Identität«. Wenn man weiß, wie Nationen erfunden und konstruiert werden mussten, fällt es nicht schwer, sich den Prozess vorzustellen, wie »kollektive Identitäten« von den Schreibtischen der Ideologen und Professoren in die Köpfe der Bürger gelangen. Viele gestehen das indirekt ein, indem sie nicht von »nationaler Identität«, sondern bescheiden von Vorstellungen in der Preislage »nationaler Gefühle« reden. Unter den Gesichtspunkten von Redlichkeit und Rationalität müsste das ausreichen, um das Thema »nationale Identität« für erledigt zu halten, bis Substantielles vorliegt. Da damit nicht zu rechnen ist und die Identitätswelle weiterrollt, soll geprüft werden, ob und wie man sich unter »kollektiver Identität« etwas Bestimmtes vorstellen kann.

Wird einer, der Goethe liest zum Secondhand-Goethe, zum Frankfurter oder zum Sachsen-Weimarianer? Natürlich nicht. Er wird literarisch beschlagen oder – vielleicht – erfreut und ästhetisch gebildet. Wenn er will, kann er an dieser Bildung bzw. in der Auseinandersetzung damit seine Ich-Identität zu errichten versuchen. Gelingen wird dies aber nur, wenn er seinen Bildungsprozess im Diskurs mit anderen anerkannt sieht. Sonst beruht seine Identität auf Einbildung, die freilich robuste Naturen ebenso stabilisiert wie ein schneller Schlitten. Selbst wenn die Bevölkerung einer Stadt nur Goethe läse, würde sie dadurch weder zu einem Verein von Goethes noch zu Kollektiv-Frankfurtern oder Kollektiv-Sachsen-Weimarianern, sondern bliebe eine Gruppe von Menschen, die ihre Ich-Identitäten in unterschiedlicher Weise erarbeitet haben, Teile davon mit der Lektüre von klassischer Literatur. Die Annahme, dass Goethe allen post mortem eine gemeinsame Identität vermittelt haben könnte, ist logisch inkonsistent und in ihren praktischen Auswirkungen absurd. Wie viel Goethe auch immer sie lesen mögen, die Unterschiede blieben in den Tausenden von Ich-Identitäten größer als die – über Goethe vermittelten – in etwa gleichen Meinungen und Überzeugungen. Denn w i r haben keine Identität, die vielen Ich haben (vielleicht) eine gebildet im großen Für-, Mit-, Auf- und Gegeneinander, die man Familie, Freunde, Verein, Sport, Bildung, Betrieb nennt. Ich-Identität entsteht primär in der Auseinandersetzung mit benennbaren Subjekten bzw. existierenden Institutionen und/ oder deren Vertretern. Ich-Identität beruht nicht auf Zuschreibung, sondern auf eigener Leistung. Dieser Prozess der Individuierung vollzieht sich nicht in »Einsamkeit und Freiheit, ... sondern als sprachlich vermittelter Prozess der Vergesellschaftung und der gleichzeitigen Konstituierung einer ihrer selbst bewussten Lebensgeschichte« (Jürgen Habermas). Sekundäre Wege der »Identitätsstiftung« durch Zuschreibungen von oben und von außen bleiben, was sie sind – Palliativa (darunter etliche kriminelle): »wir«-Gefühle direkt aus dem Supermarkt, aus dem Secondhand-Shop oder bandenmäßig präparierte Stimmungsmacher.

Herkunft und Vertriebswege »nationaler Identität« enthüllen deren chimärischen Charakter schon dadurch, dass weit und breit kein benennbares Subjekt oder eine existierende Institution als Gegenüber der realen Menschen in Sicht ist – außer »Trara, Fanfaren und Tschinellen« (Roman Herzog bei der Amtseinführung am 1.7.1994, womit er seinem Vorgänger heimleuchtete, der 1985 noch meinte, Erfurt, Dresden und Rügen hätten »mehr mit unserer eigenen Identität zu tun als so mancher Sonnenstrand am Mittelmeer«). Dass »kollektive Identität« in einer eingebildeten Großformation wie der Nation ihren Sitz habe, unterstellt ausgerechnet beim jungen Gebilde Nation die fassweise Lagerung von »Identität«, die Bürgerinnen und Bürger glasweise abzapfen können. »Identität« wird als Ressource vorgestellt, deren Codierung ein sich selbst gleich bleibendes Produkt in beliebiger Menge sicherstellen soll. Dem widerspricht die simpelste Erfahrung: »Identität« muss gemacht werden; die Umstände, unter denen Regierungen und andere Agenturen es für nötig und richtig halten, »nationale Identität« unters Volk zu bringen oder von ihm abzuverlangen, sind so wechselhaft wie die Identitätsangebote selbst. Das Identischste an der »nationalen Identität« ist ihre Unstetigkeit und Beliebigkeit: Momentan ist der Ruf nach »nationaler Identität« das Passepartout für Anpassung nach innen und die Standarte bei der »Selbstvergewisserung nach außen« (B. Seebacher-B.).

Es spricht alles dafür, dass es sich bei der »nationalen Identität« wie bei jeder »kollektiven Identität« nicht um eine quasi-natürliche Quelle handelt, sondern um ein situativ herstellbares Mittel von Kurpfuschern, das jedem Zweck anzudienen ist. Die Überlagerung von personaler durch »nationale« Identität läuft immer auf eine Konditionierung des Individuums für fremdbestimmte Zwecke hinaus. Es ist schleierhaft, was dem Ich an Identität zuwachsen soll, wenn es national angestrichen wird. Die Kollektivierung von Ich-Identität zu »nationaler Identität« ersetzt doch nur personale Identität durch Uniformen und Leihkostüme. Die Gesellschaft wird zur Kaserne, auf deren Hof den Bürgern der esprit de corps eingeimpft wird, oder zur Maskerade, auf der alle mit dem gleichen Kostüm herumirren. Mit weniger abgewirtschafteten Zwecken hausieren auch Identitätsläden, die sich auf den Kommunitarismus bzw. das Konzept der sogenannten »Zivilgesellschaft« berufen. Die Vorstellung, moderne Gesellschaften sollten ritualisierte »kollektive Identitäten« erhalten oder erzeugen wie ehedem Räuberbanden und Regimenter, Clans und Stämme oder Orden und Stände, setzt einen Bruch mit allem voraus, was an universalistischen Rechtsprinzipien denkbar und an demokratischen Traditionen wirklich geworden ist. Die Behauptung »substantieller Unverzichtbarkeit« (Christoph Görg) für die »kollektive«, speziell »nationale Identität« ist eine Absage an die Moderne und ihren rechtlichen und ethischen Universalismus.

Edmund Burke war einer der ersten, der dies klar erkannt hat und an der alten Gesellschaft und ihrem ständisch-kollektiven Modus der Identitätszurechnung festhalten wollte. Eine paradoxe Pointe der Geschichte besteht darin, dass die Nachfahren jener französischen Revolutionäre, denen Burke entgegentrat, die Politiker in den vermeintlichen Nationalstaaten, aus einem der diffusesten Konstrukte der Revolution – der modernen Nation – »kollektive Identitäten« pressen wollten. Die nationale Bewegung des letzten Jahrhunderts verband sich – entgegen der Schulbuchlegenden – mit der demokratischen Selbstbefreiung jeweils nur kurzfristig und punktuell; längerfristig versuchte die nationale Bewegung überall, zu einem Modus traditionaler Identitätszurechnung zurückzukehren: Im Namen der Nation sollte die eben errungene Autonomie wieder kassiert werden. Kaum hatten die Menschen selbständig gehen gelernt, verschrieb ihnen »die« frisch erfundene Nation Krücken. Die angepriesenen »nationalen Identitäten« erwiesen sich zwar bald als Projektionen und Kinder der Not – wo sie sich nicht als Winkelzüge zur Machterhaltung entlarvten –, aber ihrer Wirksamkeit hat dies nicht geschadet.

Burke kritisierte die Französische Revolution nicht wegen ihrer Exzesse, sondern an ihren Prinzipien. Ob mit der Idee staatsbürgerlicher Gleichheit oder individueller Freiheit, die Revolutionäre befinden sich nach Burke »im Krieg mit der Natur«. In »die natürliche Ordnung der Dinge« sind Individuen, politische Institutionen, Traditionen, Religion, Werte und Normen fest eingebunden und aufeinander abgestimmt. In solchen Gesellschaften erfolgt die Identitätsbildung kollektiv, dauerhaft und von oben; es gibt eine institutionelle Identitätsbestimmung durch rigide, im europäischen Raum christlich-theologisch gerechtfertigte, ständisch begründete Rollenzuteilung. Diese Rollenidentitäten stärken weniger das Individuum als die Kontinuität, den Zusammenhalt und die Stabilität korporativer Gebilde und des Ganzen. Dessen durch Tradition und Herkommen, Formen und Normen, Stabilität und Alter gesicherte Macht soll sich – religiös bekräftigt – in den Köpfen der Untertanen als unantastbar und ewig festfressen. Burke insistierte darauf, dass es nicht die Menschen sein dürften, die ihre Geschichte machen: »Wenn die Bürger eines freien Staates sich von allem Kitzel kurzsichtiger Begierden gereinigt haben, welches ohne Religion schlechterdings nie geschehen wird, wenn sie sich bewusst sind, dass sie eine Macht besitzen, die nur so lange rechtmäßig bleibt, als sie mit den Gesetzen einer ewigen unwandelbaren Ordnung, in welcher Wille und Vernunft eins sind, zusammenstimmt, und dass sie vielleicht ein höheres Glied in der geheimnisvollen Kette ausmachen, an welcher diese Macht von einer Stufe zur anderen heruntergeleitet wird, dann werden sie sich sorgfältig hüten, das Geringste davon einer unwürdigen oder einer untauglichen Hand anzuvertrauen.« Meint: Aufklärung und Revolution sind untauglich und unwürdig. Semantisch (»higher link« bzw. »höheres Glied in der geheimnisvollen Kette«) spielt Burke auf den Topos der »great chain of beings« (Arthur O. Lovejoy 1933) an, um jeden Spalt abzudichten, durch den Veränderungspotentiale in das vorausbestimmte Verhältnis von Untertan und Gesellschaft hätten eindringen können. Radikalisiert eines der konstitutiven Elemente des Zusammenlebens (Untertanen, politische Institutionen, Traditionen, Religion, Werte und Normen) seine Ansprüche, beginnen für Burke je nachdem allgemeines Chaos, monarchische Tyrannis oder Anarchie. Am schlimmsten kommt es, wenn die Untertanen modern werden und sich zum politischen Demos, zum Souverän machen: »Seit der Aufhebung der Stände gibt es kein Grundgesetz, keinen strengen Vertrag, keine hergebrachte Sitte mehr, die dieser Versammlung Einhalt tun könnten.«

Es ist das Verdienst von Jürgen Habermas, anlässlich der Verleihung des Hegel-Preises (1974) Licht in notorisch trübe Vorstellungen gebracht zu haben. Er stellte sich die Frage: »Können komplexe Gesellschaften eine vernünftige Identität ausbilden?« Die alten Gesellschaften konnten zu ihrer Stabilisierung und zur Integration ihrer Mitglieder auf Traditionsbestände, Religionen, allgemein akzeptierte Werte- und Normenkanons zurückgreifen. Damit vermochten sie, den vielen Einzelnen einen fixen Status bzw. eine Rollenidentität anzudienen. Mit der Universalisierung der Ansprüche des Einzelnen im Namen von Freiheit, Gleichheit, Menschen- und Bürgerrechten sind Rückgriffe auf traditionale religiöse und politische Werte und Normen, die zwischen Allgemeinem und Besonderem (vorab!) feste Vermittlungen und institutionelle Sicherungen vorsehen, problematisch geworden. Da egalitäre Rechte und Ansprüche des Subjekts rational und verallgemeinerungsfähig nicht mehr zu bestreiten sind, werden Positionen, von denen aus dies in religiöser oder politischer Absicht trotzdem gefordert wird, zu reaktionären Parteistandpunkten. Moderne Gesellschaften und die dazu gehörenden Staaten können sich nicht mehr auf unstrittige, allgemein akzeptierte traditionelle Werte, religiöse Bindungen oder überkommene politische Normen berufen und diese den Individuen als Status oder Rollenidentität einfach überstülpen. Seit der Aufklärung sind diese Bindungen und Normen subjektiver Überprüfung und Kritik ausgesetzt und unterliegen den Kriterien von rationaler Begründbarkeit und demokratischer Verallgemeinerungsfähigkeit – aber nicht länger traditional begründeter, autoritativer Geltung. Könige und Priester sind nicht mehr unter sich. Die Untertanen und Laien spielen jetzt mit und verteidigen ihre Rechte, nicht dynastische Herkunftslegenden, ethnische Abstammungsgeschichten, »kollektive Identitäten« oder andere Mythen: Rechtsstaat, Bürger- und Menschenrechte, Demokratie, Verfassung zu verteidigen – im definitionsbedürftigen Extremfall unter dem Einsatz des Lebens –, ist Bestandteil der Bürgerrechte und -pflichten. Es gibt keine demokratisch akzeptable Begründung dafür, der beliebig herzitierbaren »Nation« den gleichen oder auch nur annähernd gleichen Status zuzusprechen – aber jede Menge guter Gründe, endlich darauf zu verzichten. Horaz’ Maxime, wonach es »süß und ehrenvoll« sei, »fürs Vaterland zu sterben«, meinte im Übrigen mit »patria« eine Rechtsgemeinschaft, nicht jenes dumpfe Gefühl, aus dem moderne Nationen sprießen.