Aufgreifen, begreifen, angreifen Band 3 - Rudolf Walther - E-Book

Aufgreifen, begreifen, angreifen Band 3 E-Book

Rudolf Walther

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Beschreibung

Wie die beiden Vorgänger enthält auch Band 3 historische Essays (Schwerpunkt französische Zustände), Porträts gegen das Vergessen (von Adorno über Guy Debord bis hin zum Abbé de Saint-Pierre), ins Grundsätzliche gehende politische Kommentare jenseits des tagespolitischen Handgemenges sowie Verrisse von Sachbüchern - eine Sammlung aus der 18-jährigen Tätigkeit des Autors als Publizist, Kolumnist und Sachbuch-Kritiker. Der Titel ist auch dieses Mal geblieben, einen besseren gibt es für Walthers Methode nicht: "Aufgreifen, begreifen, angreifen". Nicht um der bloßen Kritik willen, sondern um durch Aufklärung zu mehr Humanität zu gelangen.

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Walther

Aufgreifen, begreifen, angreifen

Rudolf Walther

Aufgreifen, begreifen, angreifen

Band 3

Historische Essays, Porträts, politische Kommentare, Glossen, Verrisse

Essay 20

© 2013 Oktober Verlag, Münster

Der Oktober Verlag ist eine Unternehmung des

Verlagshauses Monsenstein und Vannerdat OHG, Münster

www.oktoberverlag.de

Alle Rechte vorbehalten

Satz: Henrike Knopp

Umschlag: Thorsten Hartmann

Umschlagmotiv: Chiara Mangia

unter Verwendung mehrerer Fotos von Okea/istockphoto.com

Herstellung: Monsenstein und Vannerdat

ISBN: 978-3-944369-03-7

eBook-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmundwww.readbox.net

Inhalt

Vorwort

I    Historische Essays

1    Von den Autobahn-Legenden zur Autobahn-Theologie

2    1902: Beginn der Trennung von Kirche und Staat in Frankreich

3    Terror als Waffe der politischen Mitte

4    Staatsbürger als Übergangswesen

5    Anfänge der Öko-Bewegung

6    Volksfront in Frankreich (1936/37)

7    Entkolonialisierung als Farce

8    Enteauberung der Ideologie des »Antitotalitarismus«

9    Dien Bien Phu (1954)

10  Algerienkrieg (1954-1962)

II    Porträts gegen das Vergessen

1    Theodor W. Adorno zum 100. Geburtstag

2    Frédéric Auguste Bartholdi – ist die Freiheitsstatue eine Ägypterin?

3    Alexis Carrel und Sayyid Qutb: die westlichen Quellen des Fundamentalismus

4    Guy Debord – droht dem radikalen Außenseiter die Vereinnahmung durch den Kulturbetrieb?

5    Pierre Goldman – der aufsässige Rebell

6    Abbé de Saint-Pierre – verspätete Würdigung eines »Projektemachers«

III Politische Kommentare

1    Jurisprudenz als Wissenschaft? Radikaler Widerspruch

2    Ludwig Börne und Schirrmacher passen nicht zusammen

3    Wer und was sind Globalisierungskritiker?

4    »Westliche« Kreuzzüge

5    Selbstabdankung der Grünen

6    Soziale Marktwirtschaft

7    Pazifismus avant la lettre

8    Populismus

9    Sind Neokonservative die Erben von Leo Strauss und Leo Trotzki?

10  Verbalradikalismus staatlicher Kostgänger

IV  Glossen

1    Allgemeiner Frankfurter Küchenmoses: Küchenlatein (3)

2    Der Reiz des Falschen

3    Das Orang-Utan-Prinzip

4    Die fünf Hauptfeinde der Bahn

5    Joschka Fischer – Ich, die Geschichte

6    Wüstenfuchs II

7    Baron zu Guttenberg: Trosshuren im medialen Wandel

8    Eine Frankfurter Straßenkreuzung für Adorno

9    Unter Peer Steinbrücks Metaphernschirm

10  Ernste Hilfe

V    Verrisse

1    Philipp Sarasin: die falsche Trias Darwin-Foucault-Nietzsche

2    Ressentiments gegen Intellektuelle und Pazifisten: Jürg Altwegg

3    Gustav Seibts neu lackierter Schrott

4    Leitartikelnde Oberflächlichkeit: Klaus Harpprecht

5    Meinungs- und glaubensstarke Popularphilosophie: Hardt/Negri

6    Sloterdijks »Buch«

VI    In eigener Sache

1    Wie macht man die Soziologie kriegstauglich? Oder die Erfindung der Ottologie

2    Der Un-Offizier

3    Offener Brief

Nachweise

Vorwort

Wie die ersten beiden Bände enthält auch dieser Texte aus den letzten 17 Jahren meiner Tätigkeit als Publizist, Kolumnist und Sachbuch-Kritiker. Bei der Auswahl der Texte konzentrierte ich mich auf Arbeiten, die ohne Anmerkungen verständlich sind, dem tagespolitischen Handgemenge also nicht zu nahestehen. Die Daten der Erstveröffentlichung verweisen auf die historischen und politischen Kontexte.

Den Titel – »Aufgreifen, begreifen, angreifen« – habe ich beibehalten. Aus zwei Gründen. Viele Leserinnen und Leser fanden ihn treffend. Und ich selbst merkte bei der Zusammenstellung der Texte für den zweiten und die folgenden Bände, wie präzise er meine Schreibhaltung fasst: Ich möchte mit meinen Arbeiten begreifen, was ich als Thema aufgreife oder was mir von Redaktionen an Themen zum Aufgreifen angeboten wird. Im Prozess des Begreifens des Aufgegriffenen spielt das kritische Moment – das Angreifen von Positionen, Institutionen, Bräuchen, Zuständen und Personen, kurz »der böse Blick« (T. W. Adorno) jeder angemessenen Gesellschaftskritik – eine wesentliche Rolle. Das Begreifen – einen Sachverhalt auf den Begriff zu bringen – funktioniert als Scharnier zwischen dem Aufgreifen eines Themas und der Adressierung von Kritik, Reflexion und Würdigung.

Bei der Auswahl der Texte hielt ich mich an das Kriterium, dass sie sich über den Tag hinaus als haltbar erwiesen haben. Mehr oder weniger naturwüchsig hat sich in diesem Band bei den Essays und den Porträts ein Schwerpunkt mit Bezügen zur französischen Geschichte und Kultur hergestellt. Das erklärt sich einfach aus meinem intellektuellen Interesse und daraus, dass ich mich oft und intensiv mit der französischen Geschichte beschäftige und dabei auch – oft von Redaktionen angeregt – abgelegene Themen aufgreife, die im journalistischen Betrieb marginal geworden sind. Die Möglichkeiten, solche Themen unterzubringen, sind in letzter Zeit geringer geworden, was mit dem um sich greifenden Aktualitätskonformismus und -fetischismus und beschleunigten Produktionsrhythmen zu tun hat. Alle drei Faktoren schmälern das Format der heutigen Feuilletons, denen nichtige Events wichtiger sind als intellektuell anspruchsvolle Themen.

Thematische Überschneidungen zwischen Essays und Porträts sind nicht zu vermeiden, sie ergeben sich aus der Sache. Ich habe wiederum darauf verzichtet, die Texte nachträglich in starre Rahmen von kalendarisch oder thematisch geordneten Blöcken zu pressen, die noch gar nicht existierten, als die Texte geschrieben wurden. Die Texte entstanden aus ganz unterschiedlichen Anlässen, auch puren Zufällen. Die Anordnung trägt dem Moment von Spontaneität der Reflexion und der Reaktion, das ich auch mit dem Titel der Bände andeute, Rechnung.

Die politischen Kommentare für die Tages- und Wochenzeitungen beziehen sich auf die tagespolitische Aktualität und entstanden in der Zusammenarbeit mit den beteiligten Redakteuren, bei denen ich mich dafür herzlich bedanke.

Die kurzen Glossen sind zum größten Teil auf der Wahrheitsseite der »Tageszeitung« erstmals erschienen. Ich schätze diese Kurzform, weil sie von ihrem Umfang her zu sprachlicher und intellektueller Disziplin zwingt.

Ein großer Teil meiner Arbeiten besteht aus Besprechungen politischer, historischer und sozialwissenschaftlicher Bücher. Ich habe aus der Fülle der Rezensionen nur exemplarische Verrisse ausgewählt. Diese Auswahl beruht nicht auf einem atavistischen Willen, Autoren und ihren Büchern oder den Verlagen zu schaden. Selbst wenn ich das wollte, schaffte ich dies als Sachbuch-Rezensent nicht, denn alle diese Bücher werden von Vielen besprochen und bewertet. Verrisse sind mir deshalb wichtig, weil das redaktionelle Gewerbe sie nicht schätzt. Dabei nicht mitzuspielen, gehört zum Ethos von Kritik und Aufklärung.

Der journalistische Betrieb hat sich durch die Konkurrenz mit dem Internet in den letzten Jahren stark verändert. Überlebt haben jedoch auch ältere Usancen und Abhängigkeiten des – euphemistisch so genannten – »freien Mitarbeiters«. Ich reagiere darauf mit einem »offen Brief« in eigener Sache. Einige Texte sind mehrfach oder in gekürzten und redaktionell mehr oder weniger stilsicher bearbeiteten Versionen erschienen. In gravierenden Fällen habe ich deshalb meine ursprünglichen Textversionen den von fremder Hand zugerichteten vorgezogen und mache dies durch das Kürzel UTV (ursprüngliche Textversion) in der Liste der Erstdruckorte am Ende des Buches deutlich. Bloße Druckfehler und kleine Irrtümer oder stilistische Unebenheiten habe ich stillschweigend korrigiert.

Mein Dank gilt wiederum Michael Billmann, Britta Gerloff, Henrike Knopp und Roland Tauber vom Verlag für die sorgfältige Aufbereitung der Texte für den Druck. Ich widme das Buch Eva-Maria in Dankbarkeit und Bewunderung. Sie hat alle Texte als Erste gelesen, korrigiert, kritisiert und mich mit ihrem Veto vor Abwegen und Irrtümern bewahrt. Die verbliebenen gehen auf mein Konto.

Frankfurt, August 2013

Rudolf Walther

I      Historische Essays

1   Von den Autobahn-Legenden bis zur Auto-Theologie

König Sisyphos von Korinth war berühmt für seine Schlauheit und berüchtigt für allerlei Verbrechen. Für beides straften ihn die Götter, und er musste im Hades einen riesigen Stein den Berg hochwälzen. Oben angekommen, rollte der Stein wieder den Berg hinunter.

Dem Sisyphos der Moderne bescherten die Götter das Automobil – »die uns schufen, sind Götter«. Der Automobiljournalist Martin Beheim-Schwarzbach meinte damit 1953 die »Volkswagen«. Deren Geschichte fällt zusammen mit dem Beginn des Autobahnbaus unter dem Hitler-Regime. Geschichte einer schönen Bescherung.

Der Traum, mit dem Auto die Mobilität ins Unendliche zu steigern, war ausgeträumt, bevor die Autowelle richtig Schwung kriegte. Seit 1936 steht in der Nähe des Hermsdorferkreuzes in Thüringen eine betonharte Strafe der Götter – die Teufelstalbrücke, vierspurig und 56 Meter über dem Erdboden. Für den Verkehr wurde sie nie freigegeben, und jetzt soll sie abgerissen oder als »bautechnische Spitzenleistung der Nazidiktatur (…) in letzter Sekunde« (FAZ 29.8.99) gerettet werden. Je dichter das Autobahnnetz wurde, desto mehr wuchs sich der automobile Traum zum Alptraum aus. Die freie Fahrt des freien Bürgers endet immer regelmäßiger im stockenden Verkehr oder im Stau. Deshalb bedürfen Autobahnbau und Autos wie keine anderen Einrichtungen der technischen Zivilisation fortlaufend neuer Legenden und Mythen.

Der Ursprung der Autobahnen ist umstritten. Je nach Definition liegt er in den USA, in Deutschland oder in Italien. In den USA ließen sich reiche Leute 1906 einen Parcours (»Motor Parkway«) für das Rennen um den »Vanderbilt Challenge Cup« bauen. Bis 1910 wuchs die Strecke bis auf rund 80 Kilometer, diente aber nicht als öffentliche Straße. Die erste kreuzungsfreie Straße mit getrennten Fahrspuren entstand zwischen 1913 und 1921 in Berlin. Die nichtöffentliche Rennstrecke AVUS (Automobilverkehrs- und Übungsstraße) führte über rund 10 Kilometer von Nikolassee bis Charlottenburg. Als Konrad Adenauer 1932 die öffentliche Autostraße Köln-Bonn eröffnete, nannte er diese anheimelnd »Kraftwagenbahn« – der Ausdruck passt wie zwanzig Jahre später der von der Atombombe als »verbesserter Artillerie«. Am 21.9.1924 schließlich wurde die erste richtige Autobahn Mailand-Varese eingeweiht, für die sich der »Straßenkönig« und Freund Mussolinis – Piero Puricelli – eingesetzt hatte.

In den zwanziger Jahren hatten dann überall die Projektemacher ihre große Zeit, aber verwirklicht wurden ihre Pläne nirgends. Besonders rührig waren die Deutschen. Die »Studiengesellschaft für Automobilstraßenbau« (STUFA) legte 1927 einen Plan für ein Fernstraßennetz von 22 500 Kilometern vor. Das heute bestehende Autobahnnetz umfasst etwa die halbe Länge! Zum Teil bis zur Projektreife gediehen waren die Pläne der HAFRABA-Gesellschaft (Hamburg-Frankfurt-Basel). Einen wichtigen Anstoß erhielten diese Projekte durch das Internationale Arbeitsamt in Genf und ihren Direktor Albert Thomas, der mit dem Plan eines europäischen Straßennetzes einen Beitrag sowohl zur Völkerverständigung als auch zum Abbau der Massenarbeitslosigkeit leisten wollte. Alle diese Projekte hingen finanziell buchstäblich in der Luft.

Als die Nationalsozialisten 1933 die Macht übernahmen, begannen Autobahnbau und Legendenbildung auf großer Stufenleiter. Hitler war vor 1933 kein Anhänger von Autobahnen. Mit dem Ökonomen Werner Sombart glaubte er, solche Straßen dienten »höchstens einer Steigerung der Bequemlichkeit oder der Befriedigung eines Luxusbedürfnisses«. Davon distanzierte sich Hitler, als er merkte, wie sich der Autobahnbau propagandistisch ausschlachten ließ. Autobahnen sind unübersehbare »Errungenschaften«. Der Legende nach verringerte der Autobahnbau die Zahl der Arbeitslosen. Tatsächlich waren dabei vor Kriegsbeginn nie mehr als 130 000 Mann beschäftigt. Ganze vier bis fünf Prozent der Arbeitslosen bekamen durch den Autobahnbau eine Stelle. Der konjunkturelle Aufschwung in anderen Branchen und die Wiederaufrüstung spielten eine beträchtlich größere Rolle. Aber die Legende der Goebbels-Trommler, der Autobahnbau beseitige die Arbeitslosigkeit, hält sich, seit das erste Teilstück am 19.5.1935 mit viel Pomp eröffnet wurde, bis heute.

Von den geplanten 9000 Kilometern Autobahnen waren bei Kriegsbeginn knapp 2200 fertig und genau 40 840 000 Quadratmeter Boden zubetoniert. Eine Mischung aus Keynesianismus und räuberischer Zweckentfremdung sorgte für die Finanzierung. Drei Viertel der Kosten von etwa fünf Milliarden wurden über die »Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung« – also über die Beiträge der Versicherten – finanziert, der Rest durch Kredite.

Der eigentliche Vater des faktischen wie des propagandistischen Erfolgs war der am 5.7.1933 zum »Generalinspektor für das deutsche Straßenwesen« ernannte Fritz Todt, der »einen freundlichen Kreis gleichstrebender, hervorragender Männer«, die fast alle aus der Reichsbahnverwaltung stammten, »mit straffer Hand (…) zu einer Höchstleistung« trieb, wie es 1964 im »Handbuch des Betonstraßenbaus« heißt. Außer einer straffen Hand verfügte Todt über Hitlers Vertrauen und mit dem »Gesetz über die Errichtung des Unternehmens Reichsautobahnen« über fast grenzenlose Vollmachten. Die Veteranen des Autobahnbaus behielten ihren männerbündlerischen Stolz über 1945 hinaus und bastelten an ihrer Lebenslüge weiter. Die Festschrift des Bauamts Nürnberg bescheinigte 1959 »allen Beteiligten (…) Idealismus, Liebe und Zähigkeit« und feierte die 25 Jahre Autobahnbau als »einen vollgültigen Ausdruck unseres Zeit- und Lebensgefühls«. Was der verquollene Satz genau bedeutet, geht aus der Bilanz eines Veteranen aus dem Jahre 1987 hervor: »Für die Autobahnleitungen gab es keinen Krieg (…) Weiterhin wurde trassiert und projektiert wie im tiefsten Frieden«, obwohl der Autobahnbau mit Kriegsbeginn praktisch eingestellt worden war.

Niemand dachte zunächst daran, den Güterfernverkehr auf die Straße zu verlagern (heute sind es 53 Prozent aller Waren, der Eisenbahn blieben ganze 16 Prozent). Außer wirtschaftlichen verfolgte der Autobahnbau von Anfang an auch militärische Ziele. Die Wehrkreiskommandos waren in die Planung über die Streckenführung einbezogen, und die Wehrmachtsführung bedrängte Todt, die Strecke Berlin-Breslau unbedingt bis zum September 1939 fertigstellen zu lassen. Der Automobil-Fan Bertolt Brecht ahnte die militärischen Motive 1938: »Knietiefer Beton, bestimmt für schwere Tanks«.

Aber ebenso wichtig waren die Autobahnen für die Propaganda und die Autoideologie. 1936 erfand die Zeitung »Die Straße« dafür das Wort »Autowandern« und geriet richtig ins Schwärmen: »Das Wandern mit dem Kraftwagen ist Verbindung von Autofahrt und Kultur, von Natur und Technik – ist ein Erlebnis der Natur durch die Technik, eine glückliche Zeitlosigkeit und ein glückliches Sichleitenlassen von der Landschaft, von der Sonne, von der Natur«. Die Geburtsstunde der Autoideologie, wie sie bis heute die Autowerbung prägt.

Vom Ende der 50er Jahre an ging der Autobahnausbau in der Bundesrepublik zügig weiter, und der Verkehrsbericht von Georg Leber (SPD) versprach 1970, dass 85 Prozent der Bevölkerung bis 1985 »von dort, wo sie dann wohnen werden, maximal 10 Kilometer bis zur nächsten Autobahn zurückzulegen haben werden.« Zeitlich und finanziell wurde der Plan zwar nicht eingehalten, aber bis heute baute man fast jeden der damals geplanten Autobahnkilometer, obwohl immer deutlicher wurde, in welche Sackgasse man sich hineinbetonierte. Die Klage über die »Springflut der Motorisierung« (Georg Leber) ist jene eines Zauberlehrlings. Bereits Fritz Todt wusste, dass – außer dem materiellen Wohlstand breiter Massen – einzig ein vergrößertes Straßennetz die Motorisierung dauerhaft befördert: »Erst durch den Bau der Reichsautobahnen wurden daher die Voraussetzungen für einen wirklichen Erfolg der Motorisierung geschaffen« (1937).

Kaum waren die ersten bundesrepublikanischen Pläne fertig, kam es zu den abenteuerlichsten Forderungen. Der Generaldirektor der belgischen Straßenverwaltung vertrat auf einer Bonner Tagung die These, der Bau von »Stadtautobahnen« sei »dringender als derjenige der Überland-Autobahnen«. Das Vorhaben, die Pariser Champs Elysée durch den Bau einer Hochstraße »leistungsfähiger« zu machen, kommentierte der WDR-Moderator Alexander von Cube in einer Sendung über die »automobile Gesellschaft« 1972 mit dem lapidaren Satz: »Ach, man kann sich daran gewöhnen.« Der Deutsche Städtetag schwang schon einige Jahre zuvor die Flagge für »die autogerechte Stadt«: Dessen Broschüre zeigte auf dem Deckblatt einen innerstädtischen Verkehrsknotenpunkt in Boston – eine Autobahnlandschaft mit zwölf Fahrspuren. Nichts wurde dem Zufall überlassen. Mit einer Reihe sentimentaler Autobahngeschichten unter dem Titel »Gib Gas« sollte die Jugend »road-minded« gemacht werden und nebenher lernen, wie »Prof. Porsche die geniale Drehstabfederung« erfunden hat.

Die Verkehrspolitik entglitt schon dem Verkehrsminister Hans-Christoph Seebohm (CDU, 1949-1966) und geriet in die Hände der Interessenverbände. Seebohm sah die Motorisierung als »gesellschaftsbildenden Faktor« im »Abwehrkampf gegen eine Vermassung« und gegen den Kommunismus. Als er den zunehmenden Güter- bzw. Lastwagenverkehr als »Irrweg der Motorisierung« erkannte, waren die kampagnefähigen Organisationen von Boulevardpresse und ADAC schon so mächtig, dass es allen Verkehrsministern bis heute nicht einmal mehr in den Sinn kommt, dem alltäglichen Wahnsinn gegenzusteuern – zum Beispiel den Folgen der 1960 (mit Hilfe von SPD und FDP) eingeführten Zweckbindung der Mineralölsteuer oder der seit 1955 geltenden Kilometerpauschale, mit der die tägliche Autofahrt zum Arbeitsplatz steuerlich gefördert wird. Dies allein führte dazu, dass der leistungsfähige Werkverkehr von Ford-Köln, der bis dahin mit ganzen 37 Bussen täglich 2000 Personen auf 2900 Straßenkilometern zur Arbeit und wieder nach Hause transportiert hatte, schlagartig verschwand.

Die Folgen des Geschehens »in einer Welt, in der die Menschen sich mit dem Motor bewaffnet in der Gesellschaft begegnen« (Georg Leber), wurden wissenschaftlich kleingerechnet. Aus der Tatsache, dass auf Bundesstraßen bzw. im Stadtverkehr mehr Menschen umkommen als auf Autobahnen, drechselte das Beratungsgewerbe für die Autoindustrie und das Transportgewerbe ein schlichtes Buchhalterargument: »Hätte man alle 1982 auf den Autobahnen erbrachten Fahrleistungen auf Bundesstraßen abgewickelt, so wären 1982 etwa 2000 Tote mehr zu beklagen.« Ein schwacher Trost für rund eine Million Unfallopfer innerhalb von 15 Jahren in den 15 EU-Staaten. Wo es nichts zu rechnen gibt, bleibt immer noch der Sprachschleier: Eine Studie verpackte den Krieg auf der Straße zu »Aufprallkontakten« zwischen Autos und Fußgängern. Nach wie vor sterben jährlich Tausende von Menschen bei solchen »Kontakten«. Die Zahlen werden schöngerechnet, indem man sie auf das enorm gestiegene Verkehrsaufkommen bezieht. Für solche statistischen Realitäten und Spielchen interessieren sich allerdings nur noch Autoproduzenten, Autonarren und andere Zyniker.

Statistisch gesehen hat jeder Bundesbürger die Chance, 6570 Stunden seines Lebens im stehenden Auto zu verbringen – etwa acht Monate also. Eine BMW-Studie bezifferte 1995 den volkswirtschaftlichen Verlust durch Staus im Straßenverkehr auf jährlich 200 Milliarden oder 6000 Mark pro Arbeitnehmer. Üblich ist eine so offene Sprache nicht. In den Registern vieler Autobahnbücher kommt das Wort »Stau« gar nicht vor. Mit dem Euphemismus von der »mobilitätsinduzierten Immobilität« und dem gutgemeinten Appell des Philosophen zur »Pflicht zu wissen«, was Autofahren an »negativen Folgen« (Walther Ch. Zimmerli) nach sich ziehe, wird sich »die Lust am Auto«, von der der Forschungsleiter bei Mercedes schwärmt, nicht zügeln lassen. Eine wissenschaftliche Studie zu einer »wissensbasierten Diagnose« von Verkehrsstaus kommt zum wenig trostreichen Schluss, dass »es noch keine wissensbasierte Lösungsmethode« gebe. Ins Hochdeutsche übersetzt: Wir wissen, wie man in den Stau hinein-, aber nicht, wie man wieder hinauskommt. Der Expertenverstand getraut sich gar nicht mehr, Alternativen zu denken, geschweige denn vorzuschlagen.

In vielen Studien verflüchtigt sich der Stau zu »Störungen im Verkehrsablauf«, so als ob es den stockungs- und staufreien Verkehrsfluss als Normalfall noch in nennenswertem Umfang gäbe. Die richtigen Enthusiasten der Autobahnerlebnisgesellschaft ficht derlei nicht an. Sie empfinden »die Zeit im Wagen (…) zunehmend nicht mehr als verloren. Immerhin wird sie ganz ähnlich genutzt wie zu Hause im Sessel: mit Medien-Konsum. Radio, Recorder oder CD-Player unterhalten, informieren oder bilden (…) Kühlbox und Telefon machen den Wagen vollends zum Lebensraum.« Der Stau am Sonntagnachmittag bereitete den beiden Journalisten Hermann Engl und Frank Lämmel erst kürzlich »wenigstens das Erlebnis einer mehr oder weniger bewegenden Eigentümerversammlung direkt auf deren Groß-Immobilie.«

Zum Auto und zum Autobahnbau gehören solche ideologischen Überhöhungen wie die notorisch falschen Prognosen. Ein »Landesplanerisches Gutachten zur Autobahn Nord-Süd« rechnete 1950 damit, »dass, wenn überhaupt ein Weiterbau von Autobahnen in Betracht kommt aufgrund der Verarmung Deutschlands, nur noch eine Nord-Süd-Linie in Niedersachsen Aussicht auf Verwirklichung hat.« Bis 1984 wurden weitere 6000 Kilometer Autobahn hinzugebaut, was freilich einen Franz Josef Strauß nicht beeindruckte: »Von einem Straßennetz kann noch lange keine Rede sein.« Drohte der ADAC 1971 der sozialliberalen Regierung noch damit, wer »des Bundesbürgers liebstes Kind vergraule«, bekäme dafür »bei der nächsten Wahl die Quittung«, gab er sich jetzt moderat angesichts der Pläne, bis zur Jahrtausendwende 3000 Kilometer Autobahnen ins Land zu setzen. Dem ADAC hätten 2000 Kilometer genügt, tatsächlich wurden bis heute 4000 dazugebaut. 1996 waren es rund 12 000 Kilometer.

1985 prognostizierte eine Shell-Studie für das Jahr 2000 30 Millionen Kraftfahrzeuge in der Bundesrepublik. Die Zahl wurde bereits 1990 überschritten, 1995 gab es bereits 38 Millionen, man wird sich am Ende dieses Jahres »nur« um etwa 40% verrechnet haben. Solche Prognosen ignorieren die schlichte Tatsache, dass mehr Straßen sicher nur eines garantieren – mehr Verkehr, und die Prognosen kaschieren ihre Chaosblindheit mit hemmungslosem Fortschrittstaumel oder forschen Forderungen. Auf dem »Stuttgarter Straßentag« 1964 verkündete der mit dem Zug angereiste ADAC-Präsident Hans Bretz, »dass wir heute (…) sehen können, wie dieses 20. Jahrhundert daran geht, alle Menschheitsträume in technischer Hinsicht zu vollenden.« Entsprechend zackig trat ein weniger prominenter Redner auf: »Eine Straße, die den Namen Autobahn verdienen will, ist heute nur mit drei Fahrspuren und einer Abstellspur in jeder Fahrtrichtung denkbar.« Es war die Zeit, als in der Schweiz, wo der Autobahnbau später begonnen hatte, Wohnungsinserate erschienen, in denen Käufer mit dem Hinweis »freier Blick auf die Autobahn« angelockt wurden.

Zwischen 1986 und 1994 wurden 1,4 Milliarden DM allein für das Forschungsprogramm »Prometheus« (wörtlich: der Vorausdenkende) aufgebracht; ein Programm, mit dem man »das Auto und die Straße intelligent« machen und »per Bordcomputer am Stau vorbei« leiten möchte. Der Appell an den unverschämten Feuerdieb, dessen Name für »Program of an European Traffic with Highest Efficiency and Unpreadented Safety« steht, wirkt wie ein Schrei aus dem stockdunklen Wald, in den man mittlerweile geraten ist. Nun soll es der Titan in letzter Minute richten. Mit branchentypischem Schwung meldet die Auto-Lobby schon einmal einen Investitionsbedarf von 190 Milliarden Mark bis ins Jahr 2010 an.

Wo sich Prognosen über die Verkehrsentwicklung und Hausmittel zur Abhilfe gegen »Verkehrsstockungen« gleichermaßen diskreditiert haben, müssen Ideologie und Propaganda aushelfen. Die Zeitschrift »Motorwelt« drohte der Bundesregierung schon 1950 – als die wenigsten Menschen ein Auto besaßen und der ADAC 60 000 Mitglieder hatte (sehr viele ohne eigenes Auto!) – mit einer »blutigen Revolution« im Namen des »kraftfahrfreundlichen deutschen Volkes«, wenn die Regierung weiterhin »die nichtdeutsche Erfindung der Schienenbahn« gegenüber dem Straßenverkehr bevorzuge. Während des Kalten Krieges rückten Autobahn und Motorisierung zu Synonymen für Unabhängigkeit und Freiheit auf, bei Werner Mackenroth, einem Vorstandsmitglied der »Deutschen Straßenliga«, wuchsen sie zu »elementaren Naturgewalten. Selbst in Notzeiten, wenn Menschen nicht mehr Wein, sondern Wasser trinken und statt Kuchen Brot essen, werden sie Automobil fahren.« Für die ADAC-»Motorwelt« war »unser Automobil« schon 1948 »ein kleines Haus auf Rädern, (…) ein Heim, in dem wir uns viele Stunden des Tages aufhalten«. Eugen Diesel, ein Sohn des Erfinders des Diesel-Motors, ging 1956 ins Grundsätzliche: »Wir sind nun einmal – sehen wir es getrost biologisch – durch eine Symbiose mit dem Automobil zu Lebewesen geworden, die auf Räder gesetzt sind.« Prälat Caspar Schulte war 1958 »als Christ unterwegs« auf deutschen Autobahnen und bog ab ins Theologische: Er erklärte »Auto und Motor« zu »Helfern des großen Menschseins«, die Christen obendrein zu »Optimisten des Autos«. Jeder Tote auf der Autobahn, hupt ein anderer frommer Autor der automobilen Gemeinde ins Ohr, ist auch »ein Glockenklingen aus der Ewigkeit«. Amen. An diese »Bruderschaft der Straße« dürfte wohl auch der ehemalige Verkehrsminister Matthias Wissmann (CDU) gedacht haben, als er 1995 von der Pächterin einer Raststätte als der »Mutter der Autobahn« in der »Autobahnfamilie« sprach. Das Ende der Bescherung?

2   1902: Beginn der Trennung von Kirche und Staat in Frankreich

Im Februar 1906 herrschten im nördlichen und nordwestlichen Frankreich bürgerkriegsähnliche Zustände, in deren Verlauf im flandrischen Städtchen Boeschèpe ein Mensch ums Leben kam. Die Bauern und kleinen Leute griffen zu Gabeln, Sensen, Pickeln und ähnlichem Gerät, um »ihre« Kirche vor den staatlichen Steuereinnehmern zu schützen. Diese sollten die Kirchengüter inventarisieren, um sie danach zu sozialisieren. Genau genommen tobten damals zwei Kriege gleichzeitig: jener gegen die Erfassung der Kunstwerke und »die Öffnung der Tabernakel«, der Schreine, in denen die Hostie aufbewahrt wurde, sowie jener »zwischen Priestern und Lehrern«, die um die Seelen und Köpfe der Kinder fochten. Das Land erlebte die dramatische Endphase der Trennung von Kirche und Staat – eines unerbittlichen Kampfes, der im 18. Jahrhundert mit Voltaire und der Aufklärung begann, und im Mai 1902 mit der von Émile Combes (1835-1921) geführten Regierung dem Höhepunkt zutrieb. Das Jahr 1902 war das Schlüsseljahr, das direkt auf die rechtliche Trennung von Kirche und Staat drei Jahre später vorauswies.

Die Gegner von Combes Regierung bezeichneten diese als Herrschaft des »Antiklerikalismus«. Dieser Neologismus schloss sich an das 1852 erstmals nachgewiesene Adjektiv »antiklerikal« an. Combes selbst und seine Leute verstanden sich als Laizisten und ihr Programm war die laizistische Republik. Mit der Revolution von 1789 und ihrem Laizismus bekam die Religion den Status einer Privatsache. Das Individuum konnte sich aus vielerlei traditionalen Bindungen – darunter jene an die Religion – befreien. Naserümpfend halten hierzulande viele Laizismus für einen Anachronismus, doch an der Pariser Sorbonne existiert auch heute noch ein Lehrstuhl für »Geschichte und Soziologie der Laizität«.

Mit seinem zornigen »écrasez l’infame superstition!« (»rottet den niederträchtigen Aberglauben aus!«) reagierte schon Voltaire auf die Gängelung der Menschen durch die staatliche Zensur unter dem Ancien Régime, klagte aber auch die Institution Kirche an. Diese hatte zum Beispiel einen maßgeblichen Anteil daran, dass Jean François La Barre so lange gefoltert wurde, bis er gestand, gottlose Lieder gesungen, ein Kruzifix zerstört und bei einer Prozession den Hut aufbehalten zu haben. Zur Strafe für diese »Albernheiten« (Denis Diderot) schnitt man ihm am 28.2.1766 zuerst die Zunge und dann den Kopf ab, bevor der Restkörper verbrannt wurde.

Die Exzesse während der revolutionären Entchristianisierung (1793/94) sind nicht zuletzt auch Reaktionen auf solche Erfahrungen unter dem Ancien Régime. Bereits 1795 kehrten viele der durch die Revolution vertriebenen Priester zurück, und die Kirche erhielt wieder volle Bewegungsfreiheit. Napoleon schloss 1801 mit Papst Pius VII. ein Konkordat, dem ein Jahr später die »organischen Artikel« folgten, mit denen Kirche und Staat nach dem Zerfall des Staatskirchentums und der revolutionären Enteignung der Kirche einen Weg zu friedlicher Koexistenz fanden. Der beiderseits ungeliebte Kompromiss zwischen »dem freien und dem katholischen Frankreich«, wie sich der Schöpfer des »Code Napoléon« – Jean-Étienne-Marie Portalis – 1802 ausdrückte, hielt bis 1905.

Zwar scheiterten in der Zeit der Restauration die Bemühungen, im Geiste des konterrevolutionären Traditionalismus von Louis de Bonald (1754-1840) und Joseph de Maistre (1753-1821) »die Revolution (zu) töten« und die vorrevolutionären Verhältnisse wiederherzustellen, aber der hohe Klerus errang dennoch wieder eine dominierende Stellung, die er auch unter Louis-Philippes Bürgerkönigtum zu verteidigen vermochte. Nach 1830 begann »die Zeit der Ordensgemeinschaften« (Denis Pelletier): Bis 1880 wurden nicht weniger als 400 neue Gemeinschaften gegründet, die etwa 180 000 Mitglieder besaßen – rund zehnmal so viele wie 1808. Die meisten Kleriker waren als Lehrer tätig. Die Mädchenausbildung lag fast vollständig in der Hand von Nonnen. Im Zweiten Kaiserreich (1851-1870) Napoleons III. galt eine Schulsatzung, der zufolge es die erste Pflicht der Lehrer war, »die Kinder religiös zu unterweisen«. Von daher erklärt sich die republikanische Gegenparole: »Schreiben, lesen, rechnen, das ist alles, was man lernen muss«, meinte Adolphe Thiers.

Die Haltung Napoleons III. zur Kirche war eher taktischer Natur, obwohl er sich zeitweise überlegte, sich in der Kathedrale von Reims kirchlich zum Kaiser salben zu lassen. Ein Fanal setzte jedoch seine fromme Frau, die den Papst als Patenonkel des Thronfolgers gewann. Beim hohen Klerus galt der Staatsstreich vom 2.9.1851 schon zwei Wochen danach als »Staatsstreich Gottes«. An die Stelle des alten Bundes von »Thron und Altar« trat nun jener von »Säbelherrschaft und Weihwasserwedel«, d. h. »die fürchterliche Allianz zwischen jenen, die niederkartätschen und jenen, die Kartätschen segnen«, wie Léon Gambetta, der Verkünder der Republik von 1870, sagte.

In den 50er und 60er Jahren startete die Kirche in Frankreich eine Rekatholisierungskampagne, mit der sie 1856 den Herz-Jesu-Kult wiederbelebte und die Wunder- und Marienverehrung sowie Wallfahrten – dank der Eisenbahn – in großem Stil organisierte. Den Höhepunkt bildete die Weihe der Grotte von Lourdes mit 100 000 Pilgern. Mit den Enzykliken »Syllabus« und »Quanta Cura« (8.12.1864) wurden Religions- und Gewissensfreiheit als »Freiheit des Verderbens« gebrandmarkt und zusammen mit anderen achtzig »modernen Irrtümern« vom Rationalismus über den Liberalismus bis zur Aufklärung kirchlich verdammt. Während die liberale Presse und die republikanische Opposition unter Napoleon III. verfolgt oder ins Exil gejagt wurde, konnte der militante Katholizismus ungehindert auftreten. Louis Veuillot von der Zeitschrift »L’Univers« beklagte 1867 den Fehler des Kaisers, Luther nicht verbrannt zu haben, denn »dieser und seine Komplizen haben der Kirche 40 Millionen Menschen weggenommen«, was bei zwölf Generationen seit dem 16. Jahrhundert »480 Millionen Menschen« zu »Verdammten« gemacht habe – einzig deshalb, »weil man diesen Prediger der Häresie nicht rechtzeitig beseitigt hat.«

Die »offen zur Schau gestellte Entente mit einem Regime [der Kirche, RW], das die bürgerlichen Freiheiten unterdrückte« – so der Historker François Caron –, stärkte die laizistische Bewegung, die sich freilich noch nicht öffentlich zeigen konnte. 1870 kapitulierte zwar das Kaiserreich vor Bismarcks Truppen, aber in Gesellschaft und Politik herrschten danach nicht die Republikaner, sondern Monarchisten, Bonapartisten, Konservative und Klerikale, die durch die Angst vor der demokratischen Republik zusammengeschweißt wurden. Wie unter der Restauration nach 1815 sollte unter der Präsidentschaft Marschall MacMahons »die moralische Ordnung« (»ordre moral«) wieder aufgerichtet werden. Der Bischof von Nantes sah die Pariser Commune als »eine göttliche Züchtigung«. Zwei Jahre nach der Niederlage in der Schlacht von Sedan propagierte eine französische Lehrerzeitschrift die deutsche Schule als Vorbild, da diese »Gehorsam und nicht Revolution« lehre. Zu einer Verschärfung der Beziehungen zwischen Staat und Kirche kam es 1876/77, als sich Papst Pius IX. vom jungen italienischen Staat bedroht fühlte und mehr oder weniger offen französische Militärhilfe forderte. Die französischen Republikaner, noch von der Niederlage im Krieg gegen Preußen gezeichnet, witterten ein Komplott von Monarchisten und Jesuiten, die das Land in einen Krieg für den Papst stürzen wollten. Seit Gambettas Rede vom 4.5.1877 galt deshalb als Schlachtruf der Republikaner: »Le cléricalisme? Voilà l’ennemi!« (»Der Klerikalimus? Das ist der Feind!«).

Nun gerieten zunehmend die Klosterschulen ins Fadenkreuz der Republikaner, die in diesen Schulen den Hort des »Hasses gegen das moderne Frankreich« (Gambetta) vermuteten. Im März 1879 präsentierte der Erziehungsminister Jules Ferry zwei Schulgesetze. Eines enthielt einen Paragraphen, wonach im öffentlichen wie im kirchlichen Bildungswesen nur unterrichten durfte, wer einem staatlich zugelassenen Orden angehörte. Autorisiert waren damals nur fünf Orden. Diese Bestimmung wurde zurückgenommen und ersetzt durch die Vorschrift für kirchliche Lehranstalten, sich staatlich genehmigen zu lassen, ansonsten sie innerhalb eines halben Jahres geschlossen würden. Die katholische Presse empfand das als Kampfansage: »Ab heute gibt es einen unversöhnlichen Krieg zwischen Katholiken und den Umstürzlern, die uns regieren«, schrieb eine Zeitung.

Die Ordensgemeinschaften weigerten sich einfach, Genehmigungen für ihre Schulen zu beantragen. Der Staat begegnete dem passiven Widerstand damit, dass er im Juni 1880 zunächst 5643 Jesuiten auswies und 261 Klosterschulen schloss. Rund 200 Beamte, die sich den Gesetzen widersetzten, verloren ihre Stelle. Im Juni 1881 und im März 1882 trat Jules Ferrys bis heute berühmte Schulreform in Kraft, wodurch der Schulunterricht für alle Kinder unentgeltlich und obligatorisch wurde. Obendrein sollte im Unterricht das Prinzip der Laizität gelten und eine »moralische und staatsbürgerliche Erziehung« eingeführt werden. Ferry wollte Kinder – entgegen der Behauptung katholischer Propagandisten – keineswegs zu Materialisten und Atheisten erziehen lassen. Sein Ziel war bescheiden: In den Schulzimmern mussten nur die Christusbilder durch jene von Marianne ersetzt werden. Der schulische Religionsunterricht sollte zudem durch »die gute alte Moral unserer Väter« und die Ethik Kants abgelöst werden. Ferry dachte sich die Schule als Ort »ziviler Eintracht«, aus dem er religiöse Zänkerei ebenso verbannen wollte wie ethischen Gesinnungsdruck und fromme Indoktrination – in seiner schlichten Diktion: allein »Unterrichtsfreiheit« sollte herrschen.

Es ging den Republikanern weniger um die Verbannung der Religion als darum, die Schule gegen klerikale und monarchische Versuchungen patriotisch und national zu imprägnieren. Die Institution sollte gleichsam geimpft werden gegen Viren der Vergangenheit. In der verbogenen Perspektive der Klerikalen wurde der Lehrer dadurch zum Ersatepriester und »König der Republik«. Aus der Defensive heraus ließ die republikanische Regierung für die Feiern des Quatorze Juillet Schülerbataillone aufmarschieren. Die konservative und klerikale Presse denunzierte die Erinnerung an die Revolution pauschal als Feier zum »Fest der Morde«.

Jene Teile des Klerus, die Eltern gegen »das verbrecherische Gesetz« mobilisierten, setzten sich dadurch ebenso dem Verdacht aus, unpatriotisch zu sein wie die moderateren, die »die Freiheit der Erziehung« oder das Elternrecht betonten. Doch die Wogen glätteten sich in dem Maße, wie sich Kirche und Staat in den 90er Jahren einander annäherten. Entspannung schuf zuerst der Bischof von Algier am 12.11.1890, als er in einem Toast vor versammelten Offizieren dazu riet, die Republik zu achten. Anschließend ließ er die Marseillaise spielen – von einem kirchlichen Musikkorps! Auch Papst Leo XIII. zielte mit der Enzyklika »Inter Sollicitudines« (16.2.1892) auf Befriedung. Dem Papst zufolge sollte jeder in seinem äußeren Verhalten »das Regime akzeptieren, das sich Frankreich gegeben hat«, und durfte aber im Innern darüber denken, was er wollte – eine gesichtswahrende gegenseitige Anerkennung im Dissens.

Das laue Klima änderte sich schlagartig mit der Dreyfus-Affäre. Der jüdische Offizier wurde 1894 verhaftet und in einem skandalösen Verfahren wegen Landesverrat von einem Militärgericht zu lebenslänglicher Deportation verurteilt. Nichts und niemand rührte sich zunächst, weil Dreyfus’ Schuld erwiesen schien, obwohl die Anklage nur ein Beweisstück vorgelegt hatte. Mitten im Prozess lancierte der Generalstab ein weiteres Indiz, das sich bald ebenso als Fälschung erwies wie das erste. Der Generalstabsoffizier Marie-Georges Picquart und der Journalist Bernard Lazare deckten unabhängig voneinander die Machenschaften des Militärapparats auf. Im Januar 1898 griff der Schriftsteller Émile Zola mit seinem »J’accuse« in den Fall ein. Dreyfus wurde in einem zweiten Prozess 1899 nochmals verurteilt, 1902 begnadigt und erst 1906 vollständig rehabilitiert.

Gegenüber den 80er Jahren hatten sich die Fronten völlig verschoben: Nun stand den Republikanern ein konservativklerikales Lager gegenüber, das sich im Zeichen von aggressivem Nationalismus und Antisemitismus für die Ehre von Nation und Armee schlug. Nationale Vortrommler wie Maurice Barrès spielten »das umfassendere System der Rasse« und die Bindung an »die Scholle und die Ahnen« ebenso gegen republikanische Freiheit und demokratische Gleichheit aus wie sein Mitspieler Charles Maurras den »pays réel« gegen den »pays légal«. Maurice Muret schließlich erklärte »die Mentalität des modernen Juden« zum Todfeind des Katholizismus. Damit konnte der Laizismus nicht länger patriotisch-national, sondern nur noch demokratisch, republikanisch, sozialistisch und antimilitaristisch auftreten. Die Verteidiger von Dreyfus wurden in den Augen der Nationalisten, Antisemiten, Klerikalen und des Militärs über Nacht zu »Heteern der Unordnung, antikatholischen Sektierern und Vaterlandslosen«.

Erst im Verlauf der Dreyfus-Affäre spürten die Republikaner, dass in den 90er Jahren in den Schulen eine schleichende Rückkehr zur Konfessionalisierung der Schule stattgefunden hatte. Sie glaubten noch wie Jules Ferry, »Lesen« sei »der Anfang von allem« und aus den Lesern würden automatisch republikanische Wähler. Sie vernachlässigten deshalb nicht nur soziale Reformen, sondern übersahen obendrein, dass – zivil verkleidet – längst wieder zahllose klerikale Lehrer in privaten und öffentlichen Schulen unterrichteten. Schon 1893 besuchten 89 568 Schüler kirchliche Gymnasien – rund 51 Prozent aller Gymnasiasten. Der Sieg der Republik in der Schule war einer auf dem Papier. Schon in einer Grundsatzerklärung von 62 Bischöfen aus dem Jahr 1891 für »das christliche Frankreich« kam das Wort Republik gar nicht vor. Zwischen 1896 und 1898 wurden Ordensgemeinschaften als Schulträger wieder zugelassen und die vorgesehene Verstaatlichung von Mädchenschulen auf Eis gelegt. Freilich war auch der Katholizismus kein homogener Block von reaktionären Ultras. Unter den liberalen und sozial-liberalen Katholiken ragte der Schriftsteller Charles Péguy heraus, der sich 1898 auf Dreyfus’ Seite stellte, weil er sich sein »Vaterland nicht durch eine Lüge entehren« lassen wollte.

Die verschiedenen Gruppierungen der Radikalen formierten sich 1901/02 zu Parteien, um vereint »den Klerikalismus zu bekämpfen und die Republik zu verteidigen«, wie es im Programm hieß. Zusammen mit den sozialistischen Parteien bildeten sie ab 1902 den »Block«. Das Land wie das Parlament waren in zwei Lager gespalten – die klerikal-nationalistische Koalition und den »Block« aus linken und rechten Republikanern sowie Sozialisten – ein Erfolg von Émile Combes. Er übernahm das Präsidium des Ministerrats nach dem Wahlsieg vom 11.5.1902 und wurde zugleich Innen- und Kultusminister.