Aufheben, Wegwerfen - Valentin Groebner - E-Book

Aufheben, Wegwerfen E-Book

Valentin Groebner

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Beschreibung

Was macht den Reiz der Gegenstände aus, mit denen wir uns umgeben? Was geschieht mit ihnen, nachdem wir sie in Besitz genommen haben? Und wie verändert sich das Verhältnis zwischen den Dingen und ihren Betrachtern im Laufe der Zeit? Sie stehen auf unseren Schreibtisch, oder auf den Nachttischchen. Wir hängen sie an die Wand oder tragen sie diskret in der Tasche: die ganz persönlichen Dinge. Egal, ob wir sie Amulett, Talisman oder Erinnerungsstück nennen: Sie begleiten uns überall hin, wo wir länger bleiben. Wir basteln kleine Privataltäre für sie und finden sie schön – aber was heißt das? Und woher kommt der Zauber, den diese ganz persönlichen Gegenstände auf uns ausüben? Aufheben, Wegwerfen verfolgt die Geschichte unserer Glücksbringer und Souvenirs von den Wohnzimmern des 21. Jahrhundert zurück in die materielle Kultur des Mittelalters mit ihren magischen Steinen, Bildern und Rosenkränzen. In den wohlhabenden Industriegesellschaften der Moderne haben sich auch die persönlichen Besitztümer explosiv vermehrt. Sie füllen unsere Keller, Dachböden und Schränke in einem Ausmaß, dass wir sie manchmal gerne wieder loswerden würden und von einem Leben träumen mit ganz wenigen Dingen, den richtigen, wichtigen. Ökologisch sinnvoller wäre es ohnehin – aber geht das? Ein Essay über die schönen Alltagsdinge, über Magie, schlechtes Gewissen, die Utopie der rabiaten Reduktion und das tägliche Durcheinander.

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Seitenzahl: 158

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VALENTIN GROEBNER lehrt Geschichte an der Universität Luzern. Er hat zahlreiche Bücher zur Kultur- und Wissenschaftsgeschichte vorgelegt. Bei KUP erschienen Ferienmüde. Als das Reisen nicht mehr geholfen hat (2020), Wissenschaftssprache digital (2014) und Wissenschaftssprache. Eine Gebrauchsanweisung (2012).

Valentin Groebner

AUFHEBEN, WEGWERFEN

Vom Umgang mit schönen Dingen

Konstanz University Press

Umschlagabbildung: Domenico Remps, Wunderkammer-

Kabinett (Scarabattolo), um 1690

Bibliographische Information der Deutschen

Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese

Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie;

detaillierte bibliographische Daten sind im Internet

über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Konstanz University Press 2023, 3. Aufl.

www.k-up.de | www.wallstein-verlag.de

Konstanz University Press ist ein Imprint der

Wallstein Verlag GmbH

Einbandgestaltung: Eddy Decembrino, Konstanz

ISBN (Print) 978-3-8353-9157-4

ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-9752-1

ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-9753-8

Inhalt

Intro

Muss ich das aufheben? Konsum, Vergnügen und die Geschichte des schlechten Gewissens

1 Das diskrete Unentbehrliche

Altäre und Totems | Bräuche und Rüstungen | Wo steckt das Vergnügen?

2 Funktioniert doch

Das Klebstoffwort | Steine, Texte und Tabletten | Starke Bilder | Glücksbringer

3 In der Hosentasche, in den Schachteln

Zählmaschinen | Absperrwissenschaft | In den Schachteln

4 Starke Wirkungen

Mach mich gut | Macht sich gut | Vor Schönheit platzen | Was will der Sammler? | Im Reich der Liebe

5 Lass es weg

Minimalismus | Alles neu | Magisches Putzen | Wunderwaffen

6 Eigensinnige Gegenstände

Akkumulatoren | Die Dinge der Toten | Mülltrennung | Sternschnuppen

Anmerkungen

Dank

Intro

Muss ich das aufheben? Konsum, Vergnügen und die Geschichte des schlechten Gewissens

Das schlichte deutsche Wort Aufheben ist eine Wundertüte, ein Kontronym: Es wird gleichzeitig für ganz unterschiedliche und genau gegensätzliche Handlungen gebraucht. Aufheben kann »bewahren« bedeuten, als Gegenteil von wegwerfen. Aufheben heißt aber auch lösen und auflösen, wenn es um das Aufheben von Gesetzen, Sitzungen, Ausgangssperren und Zaubersprüchen geht. Im Deutschen gibt es noch mehr solcher Kontronyme. »Anhalten« zum Beispiel – wenn etwas anhält, geht ein Zustand entweder weiter, oder eine Bewegung hört auf. Oder »Umgehen« – mit etwas umgehen, also: es gebrauchen. Oder: Etwas umgehen, also: es vermeiden.

Die Geschichte des Wortes, das wir für alle Vorgänge des Kaufens, Brauchens und Verzehrens verwenden, nämlich Konsum, bezeichnet genauso Mehrdeutiges. Lateinisch consumere bedeutet aufzehren, abnutzen, verschwenden und beseitigen – die Zeit, aber auch Lebensmittel und Gegenstände, und in dieser Bedeutung ist das Wort im 12. Jahrhundert ins Französische und von dort in die anderen europäischen Sprachen gewandert. Direkt darauf folgt im Wörterbuch ein weiteres Verb, consummare. Abgeleitet von summa, Summe heißt es zusammenrechnen und vollenden, die eigene Dienstzeit zum Beispiel. Das Wort taucht in antiken Quellen häufig auf, in der Bedeutung von erledigen, und so auch in dem bis heute wirkungsvollsten aller spätantiken Texte, der lateinischen Fassung des Neuen Testaments. Consummatum est sagt dort der sterbende Christus am Kreuz.[1] Beide Worte sind in die mittelalterlichen Volkssprachen gewandert und dort miteinander verschmolzen, consumer, consume, consumare, konsumieren.

Ums Aufheben, Umgehen und Konsumieren geht es im Folgenden: Um das Hantieren mit dem Schönen – schönen Bildern und schönen Gegenständen. Was macht einen Gegenstand für seinen Betrachter schön? Woher kommt der Impuls, einen solchen Gegenstand oder ein Bild unabhängig von seinem konkreten Nutzwert selbst besitzen zu wollen – so selbstverständlich, dass eine populäre österreichische Website für private Wiederverkäufer schlicht »willhaben« heißen kann?

In den letzten Jahren sind viele lesenswerte Arbeiten zur Konsumgeschichte und zum besonderen Verhältnis zu den Dingen erschienen, mit denen wir uns umgeben und die wir um uns aufhäufen. Auch das hier ist ein historischer Versuch, aber in der Form eines Essays – einer lose organisierten Wertstoffsammlung. Er ist keine Wirtschaftsgeschichte im üblichen Sinn. Die Entwicklungsschübe des Konsums und die Vervielfachung der persönlichen Haushaltsgegenstände im 18. und 19. Jahrhundert kommen nicht vor. Es geht mir auch nicht um die Geschichte des Designs und des guten Geschmacks und die paradoxen Verhältnisse von beidem zur Massenproduktion – zu all dem gibt es schon genug Bücher, und viele davon sind großartig. Mich interessiert, was am Beginn des 21. Jahrhunderts schöne Dinge in den Augen ihrer Besitzer schön macht.

Mein Untersuchungsfeld ist also der eigene private Alltag. Mir geht es um jene im strengen Sinn unnützen schönen Dinge, die Privatleute erwerben und in ihren Wohnungen aufbewahren; um jene Gegenstände und Bilder, die von ihren Besitzerinnen und Besitzern ausschließlich wegen der besonderen und besonders starken Wirkung auf ihre eigene Person erworben werden. Was macht den Zauber dieser Gegenstände und Bilder aus? Was geschieht mit ihnen, nachdem man sie in Besitz genommen hat? Wie verändert sich das Verhältnis zwischen den Dingen und ihren Betrachtern über längere Zeiträume?

In Untersuchungen zu Ästhetik und Konsum ist auffällig oft von der ersten Person Plural die Rede, wenn es um dieses Schöne geht. Wer ist mit ›wir‹ dabei genau gemeint? Damit es nicht nur um meine eigenen Schränke, Regale und Schubladen geht, ist mein Ausflug in die Alltagsgeschichte des Umgangs mit dem Schönen begleitet von Interviews, die ich zwischen 2020 und 2022 mit Frauen und Männern geführt habe, die sich mit der Produktion, Bewertung und Akkumulation von Bildern und Gegenständen befassen – Fotos, Kunstgegenständen, Einrichtungen, Büchern. Was ist für eine Galeristin, einen Sammler und Kurator, einen Kunsthistoriker und eine Fotografin das Schöne, und wie definieren sie es? Wie beschreiben sie das Verhältnis zwischen dem Alltäglichen und dem Schönen? Was geschieht mit schönen Gegenständen, nachdem man sie erworben hat? Und vor allem: Lassen sie sich unbegrenzt vermehren?

Denn irgendwann ist die eigene Wohnung ja voll – und Keller und Dachboden sind es auch. Konsum im Alltag erzeugt besondere Zonen von Unübersichtlichkeit: Willkommen auf der weichen Unterseite der Wachstumsgesellschaft. Wie sind die Lust am ganz besonderen Schönen, die Suche danach und der Überdruss am überreich Vorhandenen miteinander verbunden?

Vergnügen und Überfluss im Umgang mit Alltagsdingen wirken am Beginn des 21. Jahrhunderts mindestens leichtfertig, wenn nicht provokant. Die Geschichte des Konsums wird heute eng und zu Recht mit dem Klimawandel und der Zerstörung kollektiver Ressourcen verknüpft. Das ist aber nicht ganz neu. Die Geschichte der schönen Dinge und der Lust an ihnen ist seit sehr langer Zeit eine Geschichte des Redens über das schlechte Gewissen, das man selber angesichts dieses Vergnügens empfindet, oder wenigstens empfinden sollte. Die Flut von verlockenden neuen Alltagsgegenständen, die das christliche Europa ab dem 13. und 14. Jahrhundert aus dem Nahen und Mittleren Osten erreichte – Textilien aus Baumwolle und Seide, Parfums, Seife, Schmuckstücke und neue Spiele, von Gewürzen und Zucker ganz zu schweigen – war durchsetzt mit strengen moralischen Ermahnungen durch die Prediger der Bettelorden: Sie inszenierten inmitten der »consumer revolution« des späten Mittelalters für ihre wohlhabenden Kunden demonstrative Bedürfnislosigkeit. Das rasante Wachstum des Waren- und Handelsverkehrs zwischen dem 15. und dem 18. Jahrhundert machte nicht nur massenhaft verlockende neue Gegenstände zugänglich, sondern erzeugte auch die Vorstellung einer tugendhafteren und genügsameren Vergangenheit, in die man zurückkehren könnte, wenn man nur wollte.[2]

Jedenfalls in der Theorie. Für den Philosophen Jean-Jacques Rousseau waren Luxuskonsum, Ungleichheit und Sklaverei untrennbar miteinander verbundene Konsequenzen derselben Entfremdung – seine Abhandlung über den Ursprung und die Ungleichheit unter den Menschen erschien 1754. Der indische Rechtsanwalt Mahatma Ghandi, ein fleißiger Leser von Ruskin und Tolstoj, schrieb 1909, Konsumenten seien gewalttätige Kreaturen: die unersättliche Gier nach Luxusartikeln zerstöre die Gemeinschaft. Und der holländische Kulturhistoriker Johan Huizinga beklagte in den 1930er Jahren die Infantilisierung des sozialen Lebens durch allgegenwärtige Werbeslogans und hemmungslosen Konsum – drei eher zufällig gewählte Beispiele, die Liste ließe sich problemlos verlängern.

Leider hat es die damit heraufbeschworene gute alte Zeit, in der die Menschen mit dem zufrieden waren, was sie hatten, nie gegeben. Materieller Konsum war auch in seinen exaltierten luxuriösen Varianten in der Vergangenheit nie das Gegenteil religiöser Kultur, sondern überall auf der Welt problemlos mit ihr vereinbar, hat der Historiker Frank Trentmann in seiner großen Geschichte der Warenlust formuliert.[3] Ebenso beharrlich handeln die Debatten über Konsum von Verschwendung, Schuld und Vergiftung. Ihre Grundmotive sind uns sehr vertraut: Sie sind allerdings um einiges älter als die Dampfmaschine und der Verbrennungsmotor und haben lange und ziemlich komplexe religiöse Vorgeschichten.

Dieser Essay ist kein solches Unternehmen in moralischer Absicht. Ich möchte vielmehr versuchen, das persönliche Aufheben und Wegwerfen von Dingen – das Vergnügen und den Überdruss am Überflüssigen – in einigen mir zugänglichen Erscheinungsformen am Beginn des 21. Jahrhunderts so genau wie möglich zu beschreiben. Denn so einfach ist das offenbar nicht mit den schönen Gegenständen. Seit vielen Jahrhunderten soll freiwilliger Verzicht das Gute wiederherstellen und die Gemeinschaft vor den Folgen ihrer eigenen Begierden retten. Wer eine radikale Reduktion auf das Notwendige praktiziert, wird aus seinen falschen Wünschen erlöst werden und mit Glück und höherer Einsicht belohnt, lehren seit gut zweieinhalbtausend Jahren heilige Schriften ganz unterschiedlicher Autoren und Glaubensrichtungen. Das Wenige ist das Gute. Und das Schöne erst recht.

Es ist also alles ganz einfach. Und wieso verzichte ich dann nicht auf all mein unnötiges Zeug?

1 Das diskrete Unentbehrliche

Bury your treasure where it can’t be found

Bury it deep in hallowed ground

(The Violent Femmes, Hallowed Ground, 1984)

Die Wohnung des Kollegen. Der große Tisch im Wohnzimmer ist zur Hälfte bedeckt mit neu gekauften Büchern, in großen Stapeln. An der Wand dahinter hängt ein Foto, das ihn, seine Mutter, seine Exfreundin, deren Mann und deren Sohn zeigt. Daneben ein Foto seiner Frau. Darunter ein verglaster Büroschrank aus den 1930er Jahren, in dem er die Erstausgaben aufbewahrt, die er in Antiquariaten gefunden hat. Daneben seine eigenen Bücher, in chronologischer Reihenfolge aufgestellt. Wenn ich zum Abendessen bei ihm eingeladen bin, nimmt er immer auf dem Stuhl genau davor bzw. darunter Platz. Das sieht gut aus, er ist dann sozusagen gerahmt von den Gegenständen, die ihm am wichtigsten sind.

»Privataltäre« hat die Fotografin Rosa Schamal solche sorgfältige Zusammenstellung alltäglicher, aber bedeutungsvoller Dinge an den Wänden und auf den Ablageflächen in der eigenen Wohnung genannt. Sie schaffen innerhalb des jeweiligen Zimmers einen besonderen Raum, eine Art persönlichen Mikrokosmos. »Von einem Götzenbild zum nächsten«, notierte die Schriftstellerin Elizabeth Hardwick über ihre Besuche bei Freunden. »Jedes Haus ist ein Schrein.«[4] In meiner Wohnung gibt es auch solche Installationen. Ich möchte, dass sie sichtbar, aber nicht zu aufdringlich sind. Sie zeigen, dass ich hier wohne, erinnern mich daran, was mir wichtig ist und führen es auch anderen vor Augen.

In praktisch jeder Wohnung wird an zentraler Stelle ein Gegenstand oder ein Bild präsentiert, das für seine Besitzerin oder seinen Besitzer dessen Unabhängigkeit verkörpert: das eigentliche Eigenste, die innere Burg, die geträumte Autonomie. In jeder Wohnung befindet sich an zentraler Stelle ein Gegenstand oder Bild, das als Stammestotem dient: Da komme ich her, dort gehöre ich hin, das ist mein Ahne, mein Schutzgeist, mein Häuptling. Und in jeder Wohnung steht ein Ding oder hängt ein Bild, das für ihre Bewohner die Zukunft darstellt – die angestrebte Veränderung, die Utopie, den großen Wunsch, Sinnbild, Accessoire und ein Unterpfand des zukünftigen guten Lebens der- oder desjenigen, die es aufgehängt oder hingestellt hat. Über diese magischen Gegenstände dürfen nur diejenigen Witze machen, denen sie gehören und die sie aufgestellt oder aufgehängt haben, die anderen nicht.

Altäre und Totems

»The Burning House« heißt der Blog auf tumblr. Wenn dein Haus brennt, wird dort gefragt, und du kannst maximal zehn Dinge einpacken, für welche würdest du dich entscheiden? »Das ist der Konflikt zwischen dem Praktischen, dem Wertvollen und dem Sentimentalen. Was Du mitnimmst, zeigt Deine Interessen, Deine Herkunft und was Dir am wichtigsten ist. Nimm es als ein Interview, kondensiert in eine einzige Frage.«[5] Wer weiter klickt, bekommt dann die Ich-Dinge präsentiert, ohne die es nicht geht im Ernstfall, in langen Serien, ausgebreitet auf einem Tisch oder auf dem Fußboden: Badeanzüge (zwei), ein Laptop, Schuhe. Kinderzeichnungen. Familienfotos. Oder: eine Kamera. Zeichenstifte. Ein Fotoalbum. Oder: eine E-Gitarre, ein Skateboard, Brille, Uhr, Taschenmesser. (Aber keine Schuhe.) »The Burning House« zeigt erstaunlich viele Stofftiere, analoge Kameras und Notizbücher. Auch eine Handfeuerwaffe, aber nur eine. Nur ein einziges Kind ist zu sehen, aber die meisten der Personen, die hier zwischen 2011 und 2019 ihre allerliebsten Gegenstände dokumentiert haben, waren damals zwischen 15 und 29. Ein 67jähriger zeigt seine Golfschläger und seine Medaillen. Einer hat nur seine Autoschlüssel und seinen Führerschein geknipst.

Initiiert hatte den Blog der amerikanische Fotograf und Designer Foster Huntington im Mai 2011, der später ein Fotobuch und einen Film gleichen Namens daraus gemacht hat, jeweils mit der bohrenden Frage als Untertitel: »Was würdest Du mitnehmen?«

Alle diese Dinge sind offensichtlich aufgeladen mit psychischen Eigenschaften: Die Wirkungen, die sie auf ihre Besitzerinnen und Besitzer ausüben, sind von ihrem schlichten Gebrauchs- und Tauschwert abgekoppelt und gehen weit darüber hinaus in andere, schwerer beschreibbare Bereiche. Die Freundin schreibt mir von dem Fortbildungskurs in Arbeitsmanagement und Selbstfürsorge, den sie im Frühjahr 2021 absolviert hat. Dort wurde den Teilnehmern empfohlen, sich eine Figur auf den Schreibtisch zu stellen, die das Recht aufs Nein-Sagen verkörpere: Der Gegenstand, der einem die eigene Entscheidungsfreiheit präsent mache, die man immer habe und so leicht vergesse.

Ein solcher Gegenstand, mit dessen Hilfe man sich der eigenen Person untrüglich versichern kann, spielt in Christopher Nolans Film INCEPTION von 2010 eine entscheidende Rolle. INCEPTION handelt von der technischen Möglichkeit, Träume (und Träume innerhalb von Träumen) zu konstruieren und dadurch in das Unbewusste anderer Personen einzudringen. Im Film wird diese aufwendige Prozedur für Industriespionage ebenso verwendet wie für das Einpflanzen einer Idee in den Kopf einer anderen Person, die sie für ihre eigene hält – daher das Titelwort, angelehnt an »deception«, Täuschung.

Christopher Nolans Film ist nicht nur kluge Reflektion über das Wesen des Kinos als industriell gefertigter Traum (in ihm fällt der wunderbare Satz: »Kommen sie mit mir an den Ort, wo wir beide wieder junge Männer sein können«), sondern auch über die besondere Versicherung, die in einer Welt der Simulation von materiellen Gegenständen ausgeht. Denn in INCEPTION trägt jeder der kühnen Traumreisenden einen kleinen materiellen Gegenstand mit sich, dessen Berührung ihm die Möglichkeit gibt, sich darüber zu vergewissern, ob er sich in der Wirklichkeit befinde oder nicht. Er wird »Totem« genannt.

Bräuche und Rüstungen

Rituale und Bräuche, bilanziert der Historiker Frank Trentmann trocken, seien nicht einfach Kennzeichen vormoderner, sondern mindestens ebenso so sehr moderner Gesellschaften. Diese Rituale rund um besondere Gegenstände, die wir im 21. Jahrhundert in unserem Alltag ununterbrochen und mit großer Hingabe und Selbstverständlichkeit befolgen, sind der blinde Fleck jener vielen besorgten modernen Gelehrten, die wie Bruno Latour ebenso beredt wie melancholisch über die vermeintliche »Dingvergessenheit« der modernen Sozialtheorien geklagt haben oder, wie ganze Generationen vor ihm, über die Kolonisierung und Zerstörung »traditioneller« Bräuche durch die modernen Industrie- und Konsumgesellschaften. Wir schreiben vielen Gegenständen in unserem Alltag ohne weiteres Handlungsfähigkeit, Intentionen und sogar Wahrnehmungsfähigkeit zu. Wir fühlen uns persönlich betrogen, wenn sie plötzlich aufhören zu funktionieren, und betrachten ihre absichtliche Beschädigung durch andere als persönliche Verletzung – der Ethnologe Alfred Gell hat das »vehicular animism« genannt. Bei Autos und Computern ist das besonders offensichtlich, aber es gilt für ziemlich viele Gegenstände unseres persönlichen Bereichs. Wir glauben, dass Gegenstände die Essenz einer Person annehmen und nach ihrem Tod weiter bewahren können – würden wir sonst Familienerbstücke aufbewahren? Wir glauben, dass besondere Gegenstände den Ablauf der Zeit verlangsamen oder sogar anhalten und dass wir mit ihrer Hilfe unsere Erinnerungen sicher aufbewahren; ihr Verlust wird als bedrohlich empfunden, als ob mit ihnen auch ein Teil der eigenen Geschichte verschwinde.[6] Peinlich genau befolgte Riten und Zeremonien prägen unseren Alltag, im Zusammensein mit anderen wie im allerprivatesten Bereich. Das gilt nicht nur für die Geschichte des Weihnachtsfests oder des Skiurlaubs im wohlhabenden Mitteleuropa, sondern erst recht für den Umgang mit den Dingen, die wir kaufen, erben oder geschenkt bekommen und mit Bedeutungen aufladen.[7]

Kurz, die eigenen Dinge sind nicht passiv. Sie enthalten stumme, aber stark wirksame Direktiven, auf welche Weise sie benutzt werden können und sollen. In ihnen existieren lang vergangene und verschwundene Ereignisse und Personen weiter, als wirkmächtige Materialisationen von Vergangenheit. Dinge sind aber auch materialisierte Pläne. Sie weisen auf zukünftige Zustände und lassen sich als Veränderungsgegenstände beschreiben, die mir ermöglichen, etwas neu und anders zu tun und mich selber dabei und damit in eine gewünschte Richtung zu verwandeln. »Intensiv ist, was sich der Kategorisierung entzieht und sich nicht reduzieren lässt«, hat der Philosoph Tristan Garcia geschrieben.[8] In den Dingen, die ich als besonders schön empfinde, ist diese Intensität sozusagen gespeichert.

Denn die schönen Dinge werden von ihren Besitzerinnen und Besitzern nicht immer und nicht ausschließlich dafür gebraucht, wofür sie gemacht worden sind. Davon zeugt schon ein flüchtiger Blick in die Wohnungen von Freunden und Kolleginnen – und in meine eigene sowieso. Die Bücher, die mir besonders wichtig gewesen sind, sind eben nicht nur Texte, sondern auch sprechende Gegenstände im ganz wörtlichen Sinn. Deswegen werden die Freud-, Foucault-, Barthes- oder Deleuze-Ausgaben, je nach eigener Vorliebe und Lesebiografie, so gut sichtbar an einem zentralen Ort präsentiert. Zuerst sind sie Veränderungsgegenstände, ein Unterpfand der eigenen Verwandlung durch Lektüre. Dann werden sie eine Art Schutzwall, eine Art Staumauer gegen neue Phänomene, denen ihre Besitzer und Besitzerinnen vielleicht nicht mehr gewachsen ist. Und gegen die unerbittlich weiterlaufende Zeit.

Schöne Dinge sind mit den eigenen Lebens- und Arbeitsumständen eng verknüpft: Ich suche mir die Lieblingsdinge, die meine eigenen Gewohnheiten verstärken oder mir neue ermöglichen. Als ich als 20jähriger aus Österreich nach Westdeutschland zog, war dieses Versprechen auf Entkommen aus der allzu eng gewordenen Herkunft in Dingen materialisiert. Zuerst die richtige Lederjacke – in den 1980er Jahren als emotionaler Ausrüstungsgegenstand und Jungmann-Körperpanzer unersetzlich. Dann der richtige Laptop. Dann die richtigen Bergschuhe und der richtige Rucksack aus dem richtigen Outdoor-Laden, in dem man praktischerweise das Equipment fürs intensive richtige Leben kaufen konnte. Outdoor war Entkommen, Weiterkommen und Verwandeltwerden durch die richtigen Dinge, mit denen man dann an den richtigen Orten landete – und dort die richtigen Frauen traf: Man konnte sie in den Katalogen anschauen, herbe natürliche Schönheiten in Fleecejacken. Die Fleecejacke löste dann irgendwann die aus Leder ab. Nicht nur bei mir, sondern auch bei ziemlich vielen anderen Leuten um mich herum. Seit ein paar Jahren tragen wir alle Daunenjacken, wir möchten es noch kuscheliger.

»Wir wollen genau diesen Stoff, diesen Schnitt, diese Farbe«, hat Emanuele Coccia geschrieben, ein anderer Philosoph des Alltagslebens im 21. Jahrhundert, »als wären es Markierungen, Anleihen, von denen unsere Zukunft abhängt. […] Das eigentümliche Paradox aller Kosmetik und Kleidung ist die Tatsache, dass eine vollkommen fremde Portion Welt uns und unserem Ich näher kommt als unser eigener Körper.«[9] Kleider sind natürlich schön und praktisch (oder auch nicht), aber vor allem sind sie die Kurzform von menschlichem Leben: intime und hautnahe Fortsetzungen der Körper, die sie bedecken. Diese besonderen Dinge sind mit den Körpern lebendig, die sie umgeben: Wenn diese Körper tot oder verschwunden sind, geschehen auch mit ihren Hüllen erstaunliche Veränderungen.

Wir wollen uns selber in unseren Dingen wiedererkennen – und eben nicht nur in den Kleidern, sondern auch in allen anderen Ausrüstungsgegenständen, die als Fortsetzungen des eigenen Körpers brauchbar sind. »All die älteren Männer«, erzählt mein Physiotherapeut lachend, »die unbedingt jungbleiben und abnehmen wollen und dafür über Alpenpässe radeln. Du bist auch so einer.« Das stimmt.

»Aber eines«, ergänzt er maliziös, »verstehe ich nicht. Wenn es so anstrengend wie möglich sein soll und man davon abnehmen soll und ordentliche Muskeln kriegen, warum nehmen die dann nicht ein altmodisches schweres Fahrrad, damit es anstrengender wird, statt dem superleichten teuren Rennrad?«