Ich-Plakate - Valentin Groebner - E-Book

Ich-Plakate E-Book

Valentin Groebner

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Beschreibung

++++ Warum braucht im 21. Jahrhundert alles ein Gesicht? ++++ Große Augen, lächelnde Münder: Gesichter auf Plakatwänden sollen Gefühle erzeugen, Vertrauen, Intimität – alles Leitbegriffe der Werbung im 21. Jahrhundert. Aber der Glaube an die Wirkung von Gesichtern hat eine lange Vorgeschichte. Ihren Spuren geht der Historiker und Publizist Valentin Groebner in seinem klugen, elegant geschriebenen Essay nach. Ob Heiligenbilder, Renaissanceporträts oder Fotografien, alle diese Bilder sagen viel über die Fertigkeiten ihrer Macher aus, doch wenig über die dargestellten Menschen. Am Ende stellt sich die Frage, wie sehr wir diesen Gesichtern wirklich gleichen wollen – denn autonome Ich-Gesichter gibt es nicht. Der Band enthält 37 s/w-Abbildungen.

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Seitenzahl: 294

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Valentin Groebner

Ich-Plakate

Eine Geschichte des Gesichts als Aufmerksamkeitsmaschine

FISCHER E-Books

Inhalt

[Widmung]Intro: Augen machenSchau mich anLüg mich anLass mich das Wahre fühlenLord Kitcheners blaue Augen1. Große Begriffe aus dem MittelalterBusbahnhof Toronto, spätes 12. JahrhundertGotische CharakterköpfeBildschirme ins JenseitsEin Mann mit rotem KopftuchGöttliche KräfteCorporate IdentitiesFass mich nicht an: Erotische AnrufungenKonterfeisAlles wird lebendigEinmal Indien und zurückFrüher war alles echterDie Sehnsucht nach dem Supergesicht2. Schwarz auf WeißFotogesichterDie Farbe wechseln: Verwandlung durch LichtbilderEingefrorene Zeit, in SerieDas Echte festhaltenSchnelle Kanäle: PostkartengesichterBilder beschützen Körper3. VolksgesichterLieblingsfeindeGeschichtsgesichterDürer als FührerGesichter und das große GanzeVolksgenossen vor dem SpiegelGesichterkollektive: Können Deutsche wie Schweizer aussehen?4. Wunderbare VerwandlungenZeitmaschinen und GefühlserzeugerVerlustgeschichtenAuge um AugeGolden GirlsMetamorphosenGefühlsingenieureVolksgesichter digitalWen will das Ich-Gesicht?Das Überirdische in der Fußgängerzone6. Ausblick: Jede Menge EvidenzMein Bildschirm betrachtet deinenDie Sorgen von gesternLass mich verschwindenAnhangAbbildungsnachweisVorabversionenDank

Für Andreas Cremonini: Freund, Komplize, Katalysator

 

 

Intro: Augen machen

»L’immagine ha il solo scopo di presentare il prodotto.«

(Aufschrift auf der Verpackung des Yogurt naturale intero, Coop, Italien 2006)

 

»Animation ist keine Zauberei, sie ist Wissenschaft.«

(Bruno Latour, 2012)

 

 

 

 

Irgendwann in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts fiel mir auf, dass ich von Bildern von Gesichtern umgeben war, die »Ich« sagten. Dinge hatten mich schon früher auf der Straße angesprochen. »Ich fühl mich heute so leer.« (Ein Wiener Briefkasten.) »Ich bin zwei Öltanks.« (Ein deutscher Öltank.) Aber jetzt waren auf Plakaten große, ausdrucksvolle Augen und lächelnde Münder auf mich gerichtet. Sie sahen nicht wie die effizienten Kindchenschemata der Comic-Welt aus, sondern wie lebendige erwachsene Menschen. Und sie verkündeten Botschaften. »Ich hab’ mehr.« (Ein Baumarkt.) »Und jetzt Du.« (Ein anderer Baumarkt.) »Ich mach’s ungeniert.« (Sexualaufklärung.) »Ich bin schön.« (Ein Zürcher Juwelier.) »Ich bin ein Berliner Kindl.« (Bier.) »Du bekommst alles von mir – ich auch von Dir?« (Organspendeausweise.) Und so weiter.

Ich fand die Plakate ein bisschen aufdringlich, aber interessant. Was waren das für Gesichter, die auf ihnen zu sehen waren, und wieso sahen sie auf den großformatigen Bildern so aus, wie sie aussahen? Sie waren nicht einfach realistische Verdoppelungen lebendiger Vorbilder. Sie waren vollkommener, schwereloser, vor allem um die Augen herum, mit wunderbar gleichmäßiger Haut und mit viel schöneren Zähnen. Ihre Gesichtszüge kamen mir vertraut vor, aber ich konnte niemanden erkennen. Manche gefielen mir, andere weniger. Ich begann sie zu sammeln, mit der Kamera; denn sie verschwanden schnell wieder und waren drei Wochen oder zwei Jahre später nicht mehr ohne weiteres aufzutreiben.

Jedes dieser Bilder sagt tatsächlich etwas zu seinem Betrachter: Dass es mehr sei als nur Druckfarbe auf einer glatten Oberfläche: »Ich bin die Kopie eines lebendigen Originals, das wirklich da ist, irgendwo.« Die Bilder sprechen, weil sie ein Gesicht zeigen. Diese Konstellation ist uns im Alltag so vertraut, dass man ihren erstaunlichen Charakter leicht übersieht. Mit dem Bild einer Hand (die ja ebenfalls ein komplexes und ausdrucksstarkes Körperteil ist) würde man diesen Effekt nicht erzielen. Was für eine Art besonderer Lebendigkeit von Augen, Nase und lächelndem Mund ist das? Könnte es sein, dass diese Werbeplakate, so aktuell sie sein wollen, mit älteren Bildern zu tun haben, die bei ihren Betrachtern ebenfalls Empfindungen erzeugen sollten?

Schau mich an

Darum geht es in diesem Buch. Woher kommen die sprechenden, lächelnden und zwinkernden Gesichter auf den Plakaten des 21. Jahrhunderts? Was waren ihre Vorläufer, und wie haben sie sich in das verwandelt, was sie jetzt sind? Das Folgende ist aber keine systematische Geschichte von Porträts. Mir geht es um Bilder von Gesichtern als Instrumente für simulierte Ähnlichkeiten, um Identifikationsfiktionen – Bilder, in denen die Betrachter sich selbst wiedererkennen sollen, oder die ihnen suggerieren, dass sie einem echten Akteur gegenüberstehen, der sie anspricht. Solche Gesichtsbilder sind demonstrativ künstlich, schon weil sie unbewegt sind. Es geht also nicht um Film-, Fernseh- und Videogesichter, sondern um gemalte und fotografierte, stillgestellt und zweidimensional. Unter welchen Umständen kann ein solches Bild eines Gesichts als Doppelgänger einer lebendigen physischen Person auftreten?

Dieses Buch ist auch – nicht ganz freiwillig – eine kleine Reise in die Geschichte des gelehrten Schreibens über die Bilder von Gesichtern. Es ist ein Buch über die entschlossene Begeisterung von Spezialisten, in der dünnen Schicht Farbe auf Holz, Stoff oder Papier, die ein menschliches Gesicht wiedergeben soll, den echten Ausdruck individueller Eigenschaften und Empfindungen zu entdecken. Diese Begeisterung wird gewöhnlich an große Begriffe gekoppelt; leicht übertragbar, aber schwer bedeutsam. Einigen werden wir in den folgenden Abschnitten wiederbegegnen. Sie heißen »Wahrheit«, »Identität«, »Seele«, »Charakter«. Was haben sie mit Baumärkten, Bier und Safer-Sex-Kampagnen zu tun?

Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Bildern geht mit einer gewissen Selbstverständlichkeit davon aus, dass sich der Betrachter die Bilder, die er betrachtet, selbst aussuchen kann. Die Gesichter auf den Werbeplakaten demonstrieren an jeder Bushaltestelle das genaue Gegenteil, das Prinzip Unfreiwilligkeit, auf dem ihre Präsentation beruht. Manchmal sagen sie das auch, in derselben selbstbewussten ersten Person Singular. »Ich bin ein Plakat«, verkündete im Frühjahr 2014 in den Stationen der Berliner U-Bahn eine Werbekampagne, die dazu anregen sollte, an dieser Stelle Plakatwerbung zu platzieren: »Du hast mich gesehen.«

Die Gesichter auf den Plakaten sind aber nicht nur Einladungen, doch bitte länger hinzusehen. Sie bemühen sich, so persönlich wie möglich zu werden. Sie wollen Grenzübergang sein: eine Einladung, in einen persönlichen Bezug zu dem gezeigten Gesicht zu treten und hinüberzuwechseln von der menschlichen in die nichtmenschliche Welt der Dinge und Dienstleistungsinstitutionen. Waren, hat Diedrich Diederichsen in einem geistreichen Essay erklärt, seien Untote. »Deswegen ihre notorische Tendenz, zu zwinkern, zu grüßen und auf sich aufmerksam zu machen.«[1] Aber stehen die sprechenden Ich-Gesichter einfach nur für Waren? Und warum die Großaufnahme, und die erste Person Singular?

Untot oder nicht, die sprechenden Gesichter in der Bahnhofsunterführung und der Fußgängerzone kommen in einem sehr wörtlichen Sinn aus der Vergangenheit. Sie beruhen auf einer fast zwei Jahrtausende alten rhetorischen Figur, die prosopopeia heißt: unbelebte Dinge – in unserem Fall ein großformatiges, bedrucktes Stück Papier – als Person auftreten und sprechen lassen. Bilder werden häufig als aktiv handelnde Quasi-Personen dargestellt. Eine berühmte Kunstinstallation des Fotografen Alfredo Jaar auf der Documenta 11 im Jahr 2002 hat sie in Klage ausbrechen lassen – »The Lament of the Images«. Selbst in nüchterneren Texten wie in einem Handbuch zur Geschichte des Porträts wird den bemalten Gegenständen eine fiktive Handlungsmacht zugeschrieben: »Insofern ruft wohl jedes Porträt nach einem Namen«, heißt es dort im Vorwort.[2]

Das ist aber nur im übertragenen Sinn gemeint. In den gängigen Theorien über Porträts und Bilder im öffentlichen Raum kommen solche sprechenden Gesichter nicht vor, obwohl die Bücher dazu manchmal einfach unwiderstehliche Titel haben. »Das Gesicht ist eine starke Organisation« hieß eines davon, vor gut zehn Jahren erschienen, ein Sammelband mit subtilen Essays zu Fotografie, Film, moderner Kunst, Popmusik und Hegels Anthropologie. Werbung taucht aber darin nirgends auf, ebensowenig wie in einem anderen, ähnlichen Band von 2008, »Movens Bild«, der dem Zusammenhang von Evidenz und Affekt nachzuspüren versprach. In einem Buch mit dem schönen Titel »Vorbilder« hat Thomas Macho 2011 pointiert formuliert, dass wir in einer facialen Gesellschaft lebten, die ununterbrochen Gesichter produziere. In seinem Vorwort fragt er ausdrücklich nach dem Verhältnis von Werbung, Gesichtern und Bildmagie und konstatiert, »kein Ding wagt sich mehr ohne Gesicht auf die Plakatwand«. Sein Buch konzentriert sich dann aber auf die elektronischen Medien, den Film und die Literatur.

Grundsätzlicher ist an dieses Thema der Kunsthistoriker Horst Bredekamp in seiner 2010 erschienenen »Theorie des Bildakts« herangegangen. Bilder, schreibt er, seien nie passiv gewesen, sondern immer schon dafür gemacht worden, Gefühle zu erzeugen. Von ihnen könne ein »affektiver raptus« ausgehen, der Wirklichkeit nicht nachahme, sondern neu erzeuge, als Eigenleben der Bilder. Bredekamp lässt dafür eine Fülle von anregenden Beispielen aufmarschieren, von sprechenden antiken Artefakten und mittelalterlichen Statuen über Gemälde und Inszenierungen des 15. und 16. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.[3] Auf den gut 500 Seiten, die Bredekamp dem Phänomen widmet, wird allerdings kein einziges Werbeplakat erwähnt. Dabei seien die, wie sein Kollege Hans Belting in der Einleitung zu einem Essayband vor ein paar Jahren knapp angemerkt hat, heute die »einflussreichsten Ikonen«. Beltings eigene große Geschichte des Gesichts, 2013 unter dem Titel »Faces« erschienen, bietet eine Fülle an Material: das Ergebnis einer luziden Neugier auf Bilder, die von prähistorischen Totenmasken über Renaissanceporträts, Theater- und Kinoplakate bis zu zeitgenössischer Medienkunst reichen. In den fast zwei Jahrtausende alten Erzählungen von den Bildern vom menschlichen Gesicht, so zeigt Belting, erscheinen bestimmte Themen in immer wieder neuen Varianten, von der Vorstellung des Porträts als stillgestellte (und letztlich tödliche) Zeit über das Bild als Instrument einer Metamorphose zu Vorbildgesichtern bis zum Motiv des Gesichts als einer gemalten Maske.[4] Bei allen Ausflügen in die politische Mediengeschichte konzentriert sich das Buch aber letztlich auf museumstaugliche Hochkunst und auf die vervielfältigten Physiognomien von Prominenten.

So anregend Beltings Konzept vom Bild des Gesichts als Maske ist, vor den Werbeplakaten lässt es einen im Stich. Wenn all diese mit Wirkung und Ausdruck aufgeladenen Gesichter Tarnung und Maske sind, also Nicht-Ichs, wieso werden sie dann so beharrlich als Displays für die Präsentation persönlicher (und im strengen Sinn unsichtbarer) Eigenschaften gebraucht und mit Verführungskraft aufgeladen? Ebensowenig kommt Werbung in zwei Sammelbänden vor, die im selben Jahr 2013 erschienen sind und von Gesichtern und vom Erfinden von Gesichtern handeln. Keine Werbung auch in einem weiteren neuen Band, der sich mit Bild-Ökonomie als dem »Haushalten mit Sichtbarkeiten« beschäftigt.[5] Für die gelehrte Beschäftigung mit Bildern ist Reklame zu banal, scheint es. Oder zu vertrackt historisch.

Lüg mich an

Als der Philosoph Edmund Burke 1759 über die Kriterien nachdachte, die einen sichtbaren Gegenstand für einen Betrachter besonders anziehend machten, präsentierte er dafür seinen Lesern ein Gesicht; oder genauer, das Bild eines Gesichts. Es dürfe nicht zu groß sein; aber dafür glatt, zart, in hellen, aber gedämpften Farben gehalten. Der Kopf müsse etwas zur Seite geneigt sein, die Augenlider halb geschlossen, der Mund ein wenig geöffnet. »All dies begleitet von einem inneren Gefühl der Rührung und Schwäche.« Ansteckendes »inneres Gefühl«, sichtbar gemacht an einem stillgestellten Bild.[6]

Zweieinhalb Jahrhunderte später hat dieses Gesicht immer noch glatte, zarte Farben. Aber es schaut dem Betrachter jetzt in die Augen, mit der Andeutung eines Lächelns – zum Beispiel auf dem Cover eines 2014 erschienenen Buchs, das »Hidden Persuasion« heißt und die 33 effizientesten Techniken psychologischer Beeinflussung in der Werbung erläutert. »Attractiveness« kommt dabei ziemlich weit vorne, gefolgt von »Anthropomorphism« und »Trustworthiness«.[7] Solche Bücher haben die Macher der Plakate mit den Ich-Gesichtern auch gelesen. Die Empfindungen und Emotionen der Gesichter auf den Plakaten sollen sich in die der Betrachter verwandeln, durch die Intimität, die ein Gesicht in Nahaufnahme erzeugt.

Abb. 1

 Gestalter bei der Arbeit: Postwurfsendung und Handbuch, Schweiz und Niederlande 2014

Das ist natürlich fiktive Intimität, aber eine, die von sich behauptet, dass sie in ihren Betrachtern Gefühlsreaktionen erzeugen könne. Bilder und Gefühle sind Felder, die in den letzten Jahren mein eigenes Fach, die Geschichte, stark beschäftigt haben. Die Ich-Gesichter fordern mich auf, in ihnen eine wirkliche Person zu erkennen und ihr gegenüber Gefühle zu entwickeln. Dieser Aufforderung kann ich leider meistens nicht nachkommen. Als Kind ging mir das mit den bräunlichen Schwarzweißfotos so, die im Wohnzimmer meiner Großmutter an der Wand hingen. Sie zeigten Gesichter von mir unbekannten Männern in unbekannten Uniformen an unbekannten Orten. Meine Großtante und meine Großmutter sprachen über die auf den Fotos Abgebildeten mit großer Wärme – »der liebe Onkel Karl« –, aber ich konnte ihre Gefühle nicht nachvollziehen, ebenso wenig wie die damit verbundenen Geschichten. Sie waren auch eher Abkürzungen als Geschichten. »Der so spät aus dem Krieg heimgekommen ist.« Die fotografierten Gesichter schienen die ehemals lebendige, aber jetzt verschwundene Person zu enthalten; aber nicht für mich.

Wieso soll ein unbewegtes, stillgestelltes Bild überhaupt Gefühlsbewegungen auslösen? Weil das menschliche Gesicht Bildschirm für das Zeigen und Lesen von Empfindungen ist. Funktional gesehen ist es eine Kommunikationsoberfläche, die auf Bewegung basiert. In keiner anderen Region des menschlichen Körpers sind so viele differenzierte Muskeln auf so kleinem Raum konzentriert. Es sind insgesamt 43 verschiedene, und unser Wahrnehmungsapparat ist darauf programmiert, aus ihren Bewegungen und veränderlichen Positionen – der Augenbrauen, der Stirn, der Mundwinkel – sofort Schlüsse auf die Stimmung des Gegenübers zu ziehen.

Und das tun wir auch ununterbrochen. Es ist deswegen gar nicht so einfach, unbewegt und »ausdruckslos« zu schauen, und das wissen wir auch, spätestens in dem Moment, in dem wir uns einem Kameraauge gegenübersehen. Das eigene Gesicht als dieses ununterbrochen sendende Interface ist der eigenen Kontrolle nicht vollständig unterworfen; die Bewegungen der Gesichtsmuskeln lassen bei den meisten Menschen im Alltag brauchbare Schlüsse darüber zu, was sie gerade empfinden. Die Kontrolle darüber – Schauspielern – ist nicht umsonst ein Beruf, der in jahrelanger Ausbildung erlernt werden muss.

Edmund Burke hat dem oben beschriebenen gemalten Gesicht in seinen Untersuchungen über die Wirkung des Schönen 1759 unterstellt, dass es imstande sei, bei unterschiedlichen (und unterschiedlich gelaunten) Betrachtern immer wieder dieselben oder doch sehr ähnliche Gefühle zu erzeugen. Charles Darwin hat etwas mehr als ein Jahrhundert später in seinem Buch über den Ausdruck der Gemütsbewegungen bei Tieren und Menschen dann nichts weniger als die Universalität dieser »expressions« postuliert. Gefühle kommen bei ihm von innen und werden außen, auf dem Gesicht, sichtbar, in feinsten Varianten und Kombinationen. Darwin unterschied deswegen ohne weiteres zwischen echter und nur vorgetäuschter Freude auf Gesichtern. Dafür benutzte er Fotografien, nämlich die bereits publizierten Gesichterstudien des französischen Physiologen Guillaume Duchenne de Boulogne (dessen Buch »Le mécanisme de la physiognomie humaine« 1862 erschienen war) und neu angefertigte Aufnahmen des dänischen Fotografen Oscar Gustave Rejlander. Bei Darwin gibt es sechs Basisgefühle, deren Ausdruck bei allen Menschen und in allen Kulturen gleich ausfalle – eine universale menschliche Sprache, durchs Gesicht vermittelt.[8]

Wenn das Gesicht in Großaufnahme im 20. und 21. Jahrhundert als Identifikationsoberfläche und Gefühlsmaschine schlechthin erscheint, dann stellt Charles Darwin dafür den wissenschaftlichen Gründervater. Der moderne Herausgeber von Darwins Schriften, der amerikanische Psychologe Paul Ekman, hat in den 1970er Jahren das »Facial Action Coding System« entwickelt, mit dem ihm zufolge emotionale Gesichtsausdrücke bei allen Menschen klassifiziert und genau erfasst werden können. Ihre Kombination aus sieben Grundgefühlen bilde eine universelle Sprache, so Ekman, aus jedem Gesicht ablesbar, immer und überall. Paul Ekman und seine Firma haben nicht nur Trainingsprogramme für die US-amerikanischen Sicherheitsbehörden entwickelt, mit deren Hilfe Übeltäter an ihrem Gesichtsausdruck erkannt werden können. Ein bisschen Pop-Selbstdarsteller ist er auch, er hat 2011 zusammen mit dem Dalai Lama ein Buch publiziert und erscheint als Spezialist für das wissenschaftliche Aufdecken von Unwahrem und Ungesagtem in einer amerikanischen Fernsehserie mit dem schönen Titel »Lie To Me«.

Bei Ekman sind es die »micro-expressions«, die jedes persönliche Gefühl auf dem Gesicht erscheinen ließen, in winzigen Sekundenbruchteilen; ihre Wahrnehmung und Deutung könne man trainieren. Und er ist überzeugt: Er könne alles aus den Gesichtern lesen. »Ich bin bis Papua-Neuguinea und auf alle Kontinente gereist«, hat Ekman 2010 in einem Interview zu Protokoll gegeben. »Es gibt keinen Ausdruck, den ich nicht kenne.«[9] Ekman bemüht dafür nicht nur seine eigene Erfahrung, sondern auch die Geschichte, vom Mittelalter (er zitiert Thomas von Aquin) bis zur modernen Fotografie. »Seit ich zwölf bin, fotografiere ich, und ich habe gelernt, dass uns unsere Gesichter fast alles erzählen.«[10]

Den Spezialisten, der »eines Menschen geheimste Gedanken aus einem jähen Mienenspiel, dem Zucken eines Muskels oder dem Blick eines Auges« ablesen kann, hat übrigens Arthur Conan Doyle bereits 1887 in seiner Erzählung »A Study in Scarlet« auftreten lassen. Sherlock Holmes heißt er.[11] Das große Versprechen, das Paul Ekman und seine Firma formulieren, ist möglicherweise schon ein bisschen älter.

Lass mich das Wahre fühlen

Jedes Gesicht ist eine bewegliche Kommunikationsoberfläche. Aber wenn die Empfindungen, die es ausdrückt, nur als Abläufe lesbar werden, wieso werden dann stillgestellten Abbildern des Gesichts so starke Wirkungen zugeschrieben? Das funktioniert nicht nur mit fotografierten, sondern auch mit gemalten Zügen. Das Gesicht einer jungen blonden Frau mit dunklen Augen und schön geschwungenem Mund. Darunter, groß: »Die Erfindung des Menschen«.

Das war die Botschaft der großen Plakate, die im Sommer 2011 in langen Reihen vor dem Kunsthistorischen Museum in Wien und überall in der Stadt zu sehen waren. Außer dem Gesicht im Dreiviertelprofil zeigte das Bild noch Halskette, großes Dekolleté und Schultern im golddurchwirkten Seidenkleid: Albrecht Dürer hat es 1503 gemalt. Um Porträts aus dem 15. und 16. Jahrhundert und das Dreigestirn Dürer-Cranach-Holbein ging es in der dazugehörigen Ausstellung; im Herbst und Winter 2011 war sie auch in München zu sehen. Im selben Jahr 2011 zog die Parallelaktion des Berliner Bode-Museums, »Gesichter der Renaissance«, mit niederländischen und italienischen Porträts derselben Periode eine Viertelmillion Besucher an. Am Jahresende wurde sie auf den Kulturseiten der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« als die »gegenwärtigste Schau des Jahres« gefeiert. »Wahrheit, die wundersam hineinwirkt ins Heute«, schrieb der begeisterte Journalist: »Unser Wunsch nach einer kraftvollen Identität als Individuum.«[12]

In welchem Verhältnis steht die »Wahrheit« dieser Bilder zu »kraftvoller Identität« und dem Individuum einer etwas unklar gefassten ersten Person Plural? Die Gesichter der Renaissance waren 2011 nicht einfach nur Bilder von früher, sondern ein zeitgenössisches Ereignis, weil sie verhießen, besonders authentische, einzigartige Individualitäten zu präsentieren. Diese Inszenierung war allerdings selber nicht ganz neu: Die Berliner wie die Wiener Ausstellung von 2011 waren bis in die Details der Bildauswahl und -kommentierung Wiederholung und Fortsetzung der großen Schau »Renaissance Faces: Van Eyck to Titian«, die zweieinhalb Jahre zuvor in der Londoner National Gallery zu sehen war.[13]

Richtige Individualität ist anscheinend etwas, was man bereits kennt. Den Künstlern sei »die authentische Erfassung einer Person« gelungen, meldete 2011 der Pressetext zur Wiener Schau, »gepaart mit der subtilen psychologischen Durchdringung der Dargestellten.« Aber warum wirken die gemalten Gesichter von Jan van Eyck, Petrus Christus, Dürer, Holbein und ihren italienischen Kollegen »individueller«, »realistischer« und »wahrer« als ganzfigurige Porträts, die der dargestellten Person nicht nur Kopf, Hals, Schultern und Hände geben, sondern auch den restlichen Körper, den sie im wirklichen Leben hoffentlich gehabt haben?

Das gemalte Gesicht, das den Betrachter fixiert, sei die machtvolle alte Formel der christlichen Kunst schlechthin, hat Marie-José Mondzain, Spezialistin für byzantinische Kunstgeschichte, formuliert. Jedes solche Gesicht fordere den Betrachter zur Teilnahme auf. »Die Ikone agiert.« Sie sei nicht Objekt einer passiven Faszination, sondern ein wirksamer Operator, weil sie ein Gesicht zeige. So müsse man auch die unablässig wiederholte Erzählung von der Emotion verstehen, schreibt Mondzain, die den Betrachter beim Anblick des gemalten Gesichts überwältige und schließlich bekehre. »Wer sie sieht, sieht sich. Wer sie sieht, wird gesehen.«[14]

So kommt man der Wirkung von Gesichtern in Großaufnahme schon näher. Es ist verlockend, solche Bilder als Gefühlsgeneratoren zu beschreiben. Damit brockt man sich aber ein paar methodische Schwierigkeiten ein. Die Gefühle eines Betrachters vor einem Bild können sehr intensiv ausfallen. Aber sie können nicht ausschließlich privat und schon gar nicht »innerlich« sein, denn sonst wüssten wir nichts über sie. Gefühle sind dadurch charakterisiert, dass sie irgendwann wieder aufhören: Es sind Empfindungen mit beschränkter Haltbarkeit. Deswegen können nur solche Emotionen, die man mit anderen teilen kann, zum Gegenstand historischer Recherche werden, als sprachlich gefasste und an bestimmte Kontexte gekoppelte Signal-Pakete.

Diese Emotionen müssen sich aber auf andere übertragen lassen, also ansteckend sein, oder doch zumindest nachvollziehbar. Diesen Vorgang sollte man sich nicht zu einfach vorstellen. Die eine Hälfte der Zeit, hat der Philosoph Robert Pfaller geschrieben, glaube man, dass nur die Anderen diese Einbildungen und Illusionen haben; nicht man selber, man ist ja kühl und selbstbewusst. Aber die andere Hälfte der Zeit ist man auf geheimnisvolle Weise davon überzeugt, dass die anderen echter, tiefer fühlten als man selbst, und dass sie mehr empfänden: Nur man selbst sei so zerrissen, widersprüchlich und unecht.[15] Viele mediale Innovationen lassen sich als Instrumente zur Produktion und gleichzeitigen Synchronisierung von Empfindungen beschreiben – vom lauten Beten und Singen und dem gemeinsamen Lesen empfindsamer Romane bis zu Fangesängen in Fußballstadien und dem Besuch von Opern und Kinosälen. Bilder von Gesichtern, die im öffentlichen Raum »Ich« sagen, sind ebenfalls ein solches Instrument. Sie sind Aufmerksamkeitsmaschinen, die Rückkopplungseffekte erzeugen sollen. »Ja, so fühle ich jetzt auch!«

Ungefähr das wollen alle diese Plakate erreichen, an denen ich in der Fußgängerzone vorbeiradle. Die Redewendungen vom Bild des Gesichts als vermeintlich belebtem Objekt, das auftritt, spricht und handelt, sind seit so langer Zeit in der gelehrten Literatur über Bilder gebraucht worden, dass sie auch gelehrten und subtilen Wissenschaftlern im 20. und 21. Jahrhunderts wie selbstverständlich aus der Tastatur laufen. Es ist nicht nur verlockend, den Bildern der Gesichter ein vermeintliches Eigenleben zuzuschreiben, ein solches Vorgehen verbindet sich außerdem mit Arbeitsersparnis. Wer emphatisch genug die Belebtheit oder den »Eigensinn« der Bilder hervorhebt, erspart sich die Recherche nach Produzenten, Auftraggebern und Vorbildern dieser vermeintlich selbst handlungsmächtigen imagines agentes.

Lord Kitcheners blaue Augen

In den folgenden Kapiteln versuche ich einen anderen Zugang. Der Glaube an die Bilder vom Gesicht und ihre Wirkung hat eine Geschichte, die ungefähr tausend Jahre älter ist als die Werbeplakate in den Fußgängerzonen und auf den Titelseiten von Illustrierten. Die naheliegendste Antwort auf die Frage, wie solche großformatigen Bilder von Gesichtern funktionieren, besteht im Verweis auf die Technik, mit der diese Bilder hergestellt werden, die Fotografie. Herr Groebner, könnten Sie mir also nachsichtig erklären, schauen Sie: Da war wirklich jemand, der so ausgesehen hat. Eine Kopie seines Gesichts wurde mit Hilfe von Lichtstrahlen und eines schwarzen Apparats auf lichtempfindlichem Material fixiert, das nennt man indexikalische Abbildung. Demnach wirkt das Bild, weil es genauso aussieht wie das lebendige Gesicht. Es zeigt, dass da wirklich jemand Wirkliches war.

Ich wäre mir da nicht so sicher. Die Bilder auf den Plakaten sollen beim Betrachter Gefühle erzeugen, indem sie ihm als quasi-belebte Verdoppelungen lebendiger Vorbilder erscheinen. Diese Koppelung von Individualität – der Identifizierbarkeit einer bestimmten Person qua Bild – und besonderer emotionaler Aufladung (ein echtes Gesicht, also reagiert der Betrachter auch echt darauf) klingt wie ein sehr modernes Konzept. Aber das kommt darauf an, was man unter »modern« versteht. Der Historiker Carlo Ginzburg hat die Geschichte eines solchen sprechenden Gesichts recherchiert. Es ist das vielfach kopierte britische Plakat zur Mobilmachung beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs, das alle unverheirateten jungen Männer aufforderte, sich als Kriegsfreiwillige zu melden. Das Plakat zeigte aber keine Fotografie, sondern ein gemaltes Gesicht. Es gehörte General Lord Kitchener, der am 5. August 1914 zum britischen Kriegsminister ernannt worden war.

Kitcheners durchdringende blaue Augen fixierten den Betrachter; sein Blick schien ihm überallhin zu folgen. Das Plakat hat eine lebhafte Rezeptionsgeschichte, von der amerikanischen Version mit Uncle Sam (»I want you for U.S. Army«) über die Varianten der deutschen Reichswehr und der Bolschewiki bis zur bekannten Bildunterschrift der Plakate aus George Orwells 1949 erschienenem Roman »1984«: »Der Große Bruder sieht Dich.« Sein Motiv und seine Machart hatten aber direkte Vorbilder, die mit Fotografie und Militär nichts zu tun hatten, wie Ginzburg zeigt. Sie stammten aus der Werbung kurz nach 1900, für Zigaretten und für Schreibmaschinen. Die Geschichte der Bildformel reicht aber noch weiter zurück – von den vermeintlich direkt mit dem Betrachter korrespondierenden Bildern vom Gesicht Christi, die im ersten Drittel des 15. Jahrhunderts gemalt wurden, bis zu den eindringlichen Porträts von Feldherren und Göttern mit strengem Blick und ausgestrecktem Zeigefinger aus den antiken Traktaten.[16]

Nehmen wir Ginzburgs Skizze als Ausgangspunkt. Welche alten Bildformeln stecken in den Bildern von Gesichtern, die »Ich« (oder »Du«) sagen, und was haben sie mit den großen Vervielfältigungsmaschinen des 19., 20. und 21. Jahrhunderts zu tun? Die Geschichte, die ich in den folgenden Kapiteln erzählen möchte, ist weniger die Geschichte von Begriffen und wissenschaftlichen Kategorien (obwohl auch die auftauchen werden) als eine von Darstellungsmedien und – verzeihen Sie das kühle technische Wort – Übertragungskanälen.

Das erste Kapitel geht deswegen ins Mittelalter zurück. Gesichter – zuerst in Stein modelliert, dann gemalt – wurden vom Hochmittelalter an in der europäischen Kunst zunehmend detaillierter, verführerischer und eindringlicher dargestellt. Sie wurden mit Aussagen in der ersten Person Singular verknüpft, und vom 14. Jahrhundert an schrieben ihnen ihre Betrachter und Kommentatoren wachsende Überzeugungskraft und Lebendigkeit zu: Bilder von Gesichtern, so waren sie überzeugt, machten ihre Betrachter glauben. Die ältere Forschung hat die Entstehung dieser realistischen Porträts frohgemut als wundersame Erweckung und Selbstabbildung des modernen Individuums beschrieben – eines Individuums, das stets wie der moderne Betrachter dieser Bilder aussieht und fühlt. Die Experten des späten Mittelalters aber, die so ausführlich über die Präsenz und Unmittelbarkeit Auskunft geben, die kunstfertig gemalte Gesichter zu entwickeln vermochten, beschrieben sie als Vehikel zur Metamorphose. Bilder von Gesichtern waren nicht deshalb wirksam, weil sie jemandes wirkliches Aussehen wiedergaben, sondern weil sie es verwandelten und vervielfältigten und neue wunderbare Seh-Effekte erzeugen konnten.

Das zweite Kapitel widmet sich der Technik des Bildermachens mit lichtempfindlichen Silberverbindungen, die heute jeden Blick auf Bilder von Gesichtern prägt. Es ist die Fotografie mit ihrem Versprechen, die sichtbare Natur sich selbst abbilden zu lassen und dabei die Zeit stillzustellen. Sie hat nicht nur erstaunliche neue Gesichter – schwarz auf weiß, gespiegelt und im Negativ – in die Welt gesetzt und in immer schnelleren technischen Kanälen mobilisiert. Die Fotografie hat auch das Verhältnis dieser »Schatten«, wie sie in den 1860er Jahren genannt wurden, zu den physischen Körpern, die sie festhalten sollten, mehrfach umgeschrieben. Wie gut ließen sich die Empfindungen und Bewegungen lebendiger Personen durch die Fixierung ihrer Gesichter auf lichtempfindlichem Papier beeinflussen?

Das dritte Kapitel wendet sich den neuen Formen von Gesichtern in Großaufnahme zu, die in den Jahrzehnten nach dem Ersten Weltkrieg im öffentlichen Raum erschienen. Sie versprachen, in den Gesichtszügen Einzelner kollektive Zustände ganzer Gruppen und Nationen sichtbar zu machen, als Spiegelbilder, aus denen sich historische Abstammungen ebenso ablesen lassen würden wie zukünftige Entwicklungen: Gesichter als Zeitmaschinen, könnte man sagen, denn in ihnen konnten mittelalterliche Vorbilder durch moderne Darstellungstechniken erst so richtig wirksam (und sichtbar) werden. Die neuen Medien Kino und illustrierte Zeitschriften brachten den Menschen bei, wie sie massenhaft reproduzierte Fotos eines Gesichts als Modell für ihre eigenen Empfindungen in ihren Alltag einführen konnten. Die neuen Bilder waren nicht nur Chiffren für sehr persönliche Zustände, über die man sich aber mit anderen austauschen konnte. Sie versprachen gleichzeitig, diese intensiven Empfindungen wiederholbar zu machen – beim Sich-Vertiefen in dieses Foto, beim nochmaligen Betrachten dieses Plakats. Der Zauber des Persönlichen, den solche intim-öffentlichen Bilder ausstrahlten, war das Ergebnis massenhafter Vervielfältigung.

Fotografie, so argumentiert das vierte Kapitel, ist die Lieblingstechnologie der Moderne für Andacht und magische Übertragungen. Das gilt vor allem für jenen Bereich, der den verführerischen Ich-Gesichtern in Großaufnahme ihre heutige Unübersehbarkeit ermöglicht hat, die Werbung: Glauben-machen mit Bildern. Aber aus der Geschichte der Werbung lassen sich auch praktische Gebrauchsanweisungen für den Umgang mit solchen imagines agentes gewinnen; gerade mit Blick auf die neuen digitalen Formate am Beginn des 21. Jahrhunderts.

Ein wirkungsvolles Bild eines Gesichts ähnelt nicht immer und nicht unbedingt einem lebendigen Menschen. Sondern vor allem anderen Bildern. Die Gesichter, die auf den Werbeplakaten »Ich« sagen«, mögen auf den ersten Blick banal und aufdringlich erscheinen. Sie haben für neugierige Historiker aber einiges zu bieten. Sie antworten nicht, wenn man sie etwas fragt. Doch sie erweisen sich als kunstvolle und fragile Produkte, gefühlsgesättigt im Wortsinn: Über Wünsche und Lüste ihrer Macher geben sie ebenso Auskunft wie über jene Empfindungen, die ihre Betrachter ihnen gegenüber doch bitte haben sollen.

1.Große Begriffe aus dem Mittelalter

»Das Subjekt gehört nicht zur Welt, sondern ist eine Grenze der Welt.«

(Ludwig Wittgenstein: Tagebücher, 1916)

 

 

 

 

Das Gesicht war in Großaufnahme und en face abgebildet: Ein junger Mann mit dunklen Augen, blondgefärbtem Haar und auffälliger Nase, der dem Betrachter in die Augen sieht. »Er weiß nicht, wer er ist und woher er kommt«, schrieb die deutsche Wochenzeitung »Die Zeit« am 3. August 2001 zu dem Foto. Niemand kenne den gebildeten jungen Fremden, der im November 1999 in Toronto aufgetaucht sei. Bei einem Raubüberfall, der am Busbahnhof auf ihn verübt worden war, habe er eine Gehirnerschütterung erlitten und sein Gedächtnis verloren. Seine Papiere und sein Gepäck blieben unauffindbar, die Suche nach seinen Fingerabdrücken in internationalen Polizeicomputern ergebnislos. Er verfüge über höhere Schulbildung, könne Latein, Italienisch und Französisch und spreche mit nordenglischem Akzent. Sein Foto war zuerst in Kanada auf Plakaten und in den Zeitungen verbreitet worden; dann auch in den Vereinigten Staaten und in England in Fernsehsendungen und in französischen und deutschsprachigen Zeitungen. Niemand meldete sich, um ihn zu identifizieren.

Busbahnhof Toronto, spätes 12. Jahrhundert

Ist das Gesicht unverwechselbarer Träger der Identität? Das vervielfältigte Bild des Unbekannten mochte so individuell sein wie möglich. Es lieferte aber keinen Aufschluss über die abgebildete Person, weil niemand es mit einer Biographie verbinden konnte. Am Handgelenk trug der Unbekannte ein Armband mit der Aufschrift »Philipp Staufen«. Das sage ihm nichts, gab der Mann in Toronto an. Da seine Herkunft ungeklärt blieb, wurde er aber 2001 schließlich unter dieser Bezeichnung offiziell registriert.

Es gibt einen Träger dieses Namens, über den relativ viel bekannt ist, aber für die kanadische Polizei war das kein brauchbarer Hinweis. Philipp von Hohenstaufen, geboren 1177 als jüngster Sohn Friedrich Barbarossas, war zuerst Dompropst und Bischof, um dann wieder in den weltlichen Stand zurückzutreten und eine byzantinische Prinzessin zu heiraten. Im Bürgerkrieg 1198 wurde er als Philipp von Schwaben zum König gewählt, im Gegensatz zu seinem ebenfalls gekrönten Widersacher Otto IV. mit den echten Insignien, aber am falschen Ort. Im folgenden Bürgerkrieg besiegte Philipp von Hohenstaufen seinen Rivalen, wurde aber 1208 ermordet. Wie andere Mitglieder seiner Familie auch hat er ein lebhaftes und wunderbar kompliziertes Nachleben gehabt. Es reicht von Verschwörungstheorien, die seinen Namen mit der Eroberung von Konstantinopel im Vierten Kreuzzug in Verbindung bringen, über einen angeblichen Staatsstreich päpstlicher und venezianischer Geheimagenten bis zu den romantischen Staufer-Mythen des 19. und 20. Jahrhunderts.[17]

Aus dem Mittelalter stammt nicht nur der Name auf dem Armband des Mannes aus Toronto, sondern auch der Begriff, mit dem Kommentatoren seiner Geschichte im 21. Jahrhundert das bezeichneten, was er verloren zu haben angab – seine Identität. Das lateinische Wort identitas war im Lauf des 12. Jahrhunderts in theologischen Traktaten zum machtvollen Begriff geworden. Es stand dort nicht für Einzigartigkeit, sondern, abgeleitet von idem, der- oder dasselbe, oder identidem, zum wiederholten Mal, für die perfekte Übereinstimmung zwischen einem Original und seinem Abbild; als Attribut des Göttlichen.

Seit Augustinus war für die christliche Theologie selbstverständlich, dass jedes menschliche Gesicht einzigartig sei. Gleichzeitig spiegle sich in ihm das Gesicht Gottes, erklärten die frühmittelalterlichen Theologen. Deswegen sei seine Verunstaltung – etwa durch die Tätowierungen und Verstümmelungen der antiken Rechtspraxis – frevelhaft. Die gebräuchlichste theologische Metapher vom menschlichen Gesicht als gottebenbildlich bezog sich auf Bilder von Gesichtern, die in der Alltagswelt der Spätantike und des frühen Mittelalters buchstäblich auf der Hand lagen. Nummi Dei sumus, schrieben die Theologen: Wir sind Münzen Gottes. Münzen trugen den Kopf des Kaisers, und das machte sie echt. Ab dem 7. Jahrhundert erschien auf ihnen auch das Gesicht Christi.[18]

Das Bild vom Gesicht des Erlösers hat in den erbitterten theologischen Auseinandersetzungen um die Verehrung von Bildern seit dem 8. Jahrhundert eine große Rolle gespielt, weil es als acheiropoieton galt, als nicht von menschlicher Hand hergestellt, um die Verehrung von Ikonen zu rechtfertigen. Erstmals beschrieben wurde ein solches Bild im späten 6. Jahrhundert im syrischen Edessa. Über einem Stadttor eingemauert, habe es einen militärischen Angriff erfolgreich abgewehrt. Dabei habe es auch sein eigenes Ebenbild in den Ziegel eingraviert, der zum Schutz über es gelegt worden sei, und damit ein echtes Bild vom Bild erzeugt. Das göttliche Original war deswegen eines, weil es sich selbst vervielfältigen konnte. Dieses machtvolle Bild vom Gesicht Christi wurde nicht nur Inkarnation eines triumphierenden christlichen Kaisertums (als Mandylion befand es sich ab dem 10. Jahrhundert in Konstantinopel), sondern auch Vorlage für eine Reihe weiterer, ebenso wirkungsmächtiger Christusbilder. Sie wurden ab dem 11. Jahrhundert als vera icon oder Veronika auch im westlichen Mittelmeer und in Rom verehrt. Das byzantinische Original wurde nach der Plünderung der griechischen Metropole durch europäische Kreuzritter 1204 vermutlich nach Paris gebracht; dort verlor sich seine Spur.[19]

Ab dem 12. Jahrhundert hatten die gelehrten Spezialisten begonnen, ein immer detaillierteres Vokabular für die Erscheinungsformen von Ähnlichkeit und für Bilder als Kopien abwesender Dinge zu entwickeln. Dabei ging es um komplexe theologische Probleme der Vervielfältigung wie die Dreieinigkeit Gottes und um das noch verzwicktere Verhältnis zwischen dem Körper Christi und seiner Reproduktion durch die geweihte Hostie; aber auch um Irdisches. Denn im selben 12. Jahrhundert hatten die ersten Aussteller von Urkunden begonnen, die Echtheit und juristische Gültigkeit dieser Dokumente durch den Abdruck ihres persönlichen Siegels zu bezeichnen – eine praktische und notwendige Neuerung in einer Welt, in der sich schriftliche Dokumente zum Nachweis von Besitzverhältnissen rasch verbreiteten.[20]

Das Siegelbild war der vervielfältigte Abdruck des Körpers desjenigen, in dessen Namen die Urkunde ausgestellt worden war – durchaus im wörtlichen Sinn, frühe Siegel trugen noch reale physische Spuren ihrer adeligen Besitzer, Abdrücke ihrer Zähne oder manchmal sogar einige Barthaare. Sie wurden im Lauf des 12. Jahrhundert durch individuelle Zeichen ersetzt. Wenn die physische Gegenwart einer Person in einem Rechtsakt durch einen Schriftbeweis ersetzt werden musste, dann brauchte diese bürokratische Realität starke neue Begriffe, um Wahrheitsansprüche plausibel zu machen. Identitas bezeichnete die Verbindung zwischen einer Sache und ihrem echten Abbild. Imago, das zuvor Vorstellungs- und Erinnerungsbild bedeutet hatte, meinte nun etwas ungleich Konkreteres, nämlich den physischen Abdruck des Siegelbildes, den man bei Rechtsstreitigkeiten vorzeigen konnte: Imago, id est similitudinis impressio.

Im Gebrauch von Metaphern für Vervielfältigung und im Motiv vom menschlichen Gesicht als einem Siegelabdruck Gottes steckt deshalb handfeste Medien- und Rechtspraxis. Sie basierte auf der Auffassung, dass Abbilder und Repliken die Eigenschaften ihrer Originale übernähmen. Das war der gemeinsame Nenner zwischen der Lehre von der Eucharistie, der Verehrung der Hostien und der Rechtsgültigkeit der mit einem »echten Bild«, einem vervielfältigten Siegel gezeichneten Urkunden im 12. und 13. Jahrhundert. Das Falsche konnte man in dieser Logik an ihrer difformitas erkennen, an Unvollkommenheit als Ergebnis missglückter oder betrügerischer Vervielfältigung – ganz im Gegensatz zur positiv konnotierten exakten Entsprechung mit dem Vorbild. Identitas als conformitas dagegen vereinte Rechtsgültigkeit und Wahrheit: Die Vervielfältigung erzeugte in dieser Logik das Wahre, das vollkommen war, weil es echt war. Und umgekehrt.

Gotische Charakterköpfe

Das Mandylion mochte verschwunden sein: Kopien dieses wahren Bildes vom Gesicht Christi traten als Veronica und vera icon im christlichen Westen ihren Siegeszug an. Im 12. Jahrhundert hatten sich nicht nur die Bilder vom echten Bild, sondern auch die Erzählungen von den wundertätigen, weil wahren und unmittelbar wirksamen Gesichts-Bildern vervielfältigt. In der christlichen Spätantike und im Frühmittelalter hatten von Menschen gefertigte Bilder stets unter dem Verdacht gestanden, Manipulation zu sein und eben nicht das zu zeigen, was sie vorgaben. Im Hochmittelalter begann sich das zu ändern. Bilder galten nicht mehr von vornherein als Täuschung, sondern konnten das Authentische abbilden. Im Fall des in Rom aufbewahrten Schweißtuchs Christi, das sein Gesicht zeigte, verschob sich in den Beschreibungen von Chronisten im Lauf des 12. und 13. Jahrhunderts der Fokus von der materiellen Reliquie (also dem Stück Stoff, segensreich, weil es den Körper des Erlösers berührt hatte) zu dem, was auf ihr zu sehen war, nämlich dem Gesicht Christi – wenn man sehr genau hinschaute.[21]