Aufklärung in Zeiten der Verdunkelung - Philipp Blom - E-Book

Aufklärung in Zeiten der Verdunkelung E-Book

Philipp Blom

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Beschreibung

Dieses Buch ist der Aufruf zu einer neuen Klarheit des Denkens. Denn die Probleme von morgen können wir nicht mit der Denkweise und Philosophie von gestern bekämpfen. Wenn die wichtigsten politischen und philosophischen Errungenschaften der Aufklärung – Demokratie, Menschenrechte, evidenzbasiertes Denken – überleben sollen, müssen wir eine Lebensweise und ein Verständnis der Welt entwickeln, die dem menschlichen Wohlergehen verpflichtet sind und von planetarischer Gerechtigkeit getragen werden. In existenziellen Krisen der Menschheit ist das Ethos der Aufklärung notwendiger denn je. In seinem kämpferischen Essay zeigt Philipp Blom: Es sind mit theologischem Schutt behaftete Ideen, die von der gemäßigten Hauptströmung der Aufklärung transportiert wurden und unser Denken und Handeln bis heute prägen. Jetzt ist es Zeit für die wahre, radikale Aufklärung!

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Philipp Blom

Aufklärung in Zeiten der Verdunkelung

Aus der Reihe »Auf dem Punkt«

Herausgegeben von Hannes Androsch

Vorwort des Herausgebers

Vorweg: Im Land der Drachen

1 Gerade jetzt

2 Lebenslügen

3 Von der Autonomie

4 Rechte für Flüsse

5 Die Abschaffung der Natur

6 Geerdet

Zur weiteren Lektüre

Der Autor

Impressum

Vorwort des Herausgebers

Unsere Welt befindet sich in tiefgreifendem, rasantem Wandel. Der Umbruch der Gesellschaft mit ihrer zunehmenden Komplexität und der Umbruch politischer Ordnungen führen zu neuer Unübersichtlichkeit, welche wachsende Verunsicherung erzeugt.

Um dies abzuwenden, bedarf es Orientierung und zukunftsfähige Perspektiven. Angesichts von Halbwahrheiten und Schlagworten in alten und neuen Medien ist es notwendig, Relevantes und Irrelevantes, Sinn und Unsinn zu unterscheiden. Und es wird fundiertes Wissen über die großen Themen der Gegenwart benötigt, um durch die Flut von Daten, Halbwahrheiten und Fake News navigieren zu können und sich zurechtzufinden. Aus diesem Grund nehmen führende Intellektuelle, Expertinnen und Experten in der Reihe Auf dem Punkt zu den großen Fragen unserer Zeit Stellung.

Wie also sollen oder müssen wir uns weiterentwickeln, um die vielfältigen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts erfolgreich bewältigen zu können? Manchen mögen die dringenden Aufgaben, die es konkret anzugehen gilt, überfordernd erscheinen. Doch es ist nicht das Gebot der Stunde, abgestumpft einem vermeintlichen Untergang entgegenzusehen. Albert Camus’ Sisyphos war der glücklichste Mensch, weil seine Aufgabe nie zu Ende ging.

Das gilt für unsere Aufgaben ebenso wie für die Frage unserer Haltungen. Die Werte und Prinzipien der Aufklärung sind eine Gesinnung, an der Europa wachsen und gedeihen konnte. Ihr Auftrag ist ungebrochen gültig: sich auf der Grundlage der Vernunft für die Gestaltung der Zukunft in Solidarität einzusetzen. Gleichzeitig sind Haltungen und Überzeugungen keine abgeschlossenen, für immer unverrückbaren Dogmen. Wir sollen und müssen deshalb auch unsere eigene, aufgeklärte Haltung immer wieder von Neuem wissens- und nicht gewissheitsbasiert hinterfragen und weiterentwickeln, damit sie den auf uns zukommenden Aufgaben gerecht wird.

Dr. Hannes Androsch

Vorweg: Im Land der Drachen

Nichts von dem, was im Folgenden argumentiert wird, ist wahr, oder genauer: Ich behaupte nicht, dass es die Wahrheit ist, auch wenn ich hoffe, meine Leser:innen davon zu überzeugen. Aber auch diese Hoffnung ist begrenzt.

Was ich in diesem Buch argumentiere, ist das Resultat von langjährigen Debatten mit mir sowie mit lebenden und längst gestorbenen Gesprächspartnern. Es richtet sich nach den besten Fakten, Beobachtungen, Argumenten und Analysen, die ich kenne. Aber mit dem nächsten Buch, dem nächsten Gespräch könnte sich alles ändern. Was ich also anbiete, ist eine Art mentale Landkarte, die ich über mehrere Jahrzehnte von der Welt meiner Erfahrung und meines Verstehens gezeichnet habe und noch immer zeichne, denn die Karte ist niemals fertig, und gelegentlich tauchen sogar neue Kontinente auf, die eine oder andere Terra incognita erscheint plötzlich oder verschwindet.

Auf frühen Seekarten waren in unbekannten Weltgegenden häufig Drachen und andere Fabelwesen eingezeichnet. Es war ein visuelles Spiel, eine Belustigung, aber auch ein stiller Hinweis, dass dies eben nur eine Karte ist, eine Kreatur der menschlichen Fantasie, nicht das Land selbst und auch keine objektive Darstellung.

Es hört nie auf, das Anzweifeln des eigenen Wissens, denn Wissen ist nichts anderes als eine mentale Landkarte, die wir zeichnen (oder kaufen, oder erben), um uns erfolgreich durch die Welt zu bewegen. Allerdings funktionieren Landkarten nur, weil sie die Welt eben nicht so abbilden, wie sie ist. Das Territorium selbst ist viel zu komplex und zu detailreich. Eine Karte vereinfacht, lässt weg, symbolisiert, begradigt. Wir brauchen die Vereinfachung, um zu navigieren.

Jede Landkarte zeigt bestimmte Ziele an und bestimmte Wege, die zu ihnen führen. Was die Kartografen nicht wichtig finden, kann mit der Karte nicht gefunden werden. Die offiziellen, politisch abgesegneten, ökonomisch implementierten und ideologisch gestützten Landkarten der letzten Jahrzehnte zeigen keine sinnvollen Ziele mehr, und keinen realistischen Weg, sinnvolle Ziele zu erreichen. Sie wurden für eine andere Ära gedruckt, in einer Zeit von ewigem Wachstum, fossilen Brennstoffen und der menschlichen Herrschaft über die Natur.

Deswegen ist es wichtiger denn je, selbst neue Landkarten zu zeichnen und sie mit anderen aus Gegenwart, Vergangenheit und aus verschiedensten Kulturen zu vergleichen, sich zu fragen, welche Ziele es wert sind, erreicht zu werden, welche Wege zu ihnen hinführen könnten und welches Wissen über das Territorium dafür wichtig ist.

Was braucht dieser seltsame Primat Homo sapiens, um relativ wenig Zerstörung zu verursachen und mit relativ wenig Angst und Aggression zu leben? Worin besteht ein gutes Leben? Ist es möglich, Wege zu finden, die durch eine angekündigte Katastrophe hindurch zu einem Florieren menschlicher Gesellschaften innerhalb ihrer ökologischen Spielräume führen?

Natürlich ist es eine Herausforderung, über eine neue Aufklärung zu schreiben — teilweise, weil es gerade im frühen 21. Jahrhundert immer wieder und ehrlich gesagt nicht besonders überzeugend versucht wurde, und auch, weil es in einer immer chaotischer werdenden Wissenslandschaft eigentlich unmöglich sein müsste, zumindest aber hoch experimentell.

Das trifft sich gut, denn auch im 17. Jahrhundert haben Vordenker der Aufklärung experimentell gedacht. Der im niederländischen Exil lebende Franzose Pierre Bayle etwa wollte gerade die Vorläufigkeit seiner Argumente deutlich machen, eine Art Wahrheit als Momentaufnahme in einer kontrovers geführten und niemals abgeschlossenen Debatte. Er tat das, indem er die Definitionen in seinem epochemachenden Dictionnaire historique et critique (zuerst erschienen 1697) so großzügig mit Fußnoten spickte, dass der eigentliche Text nur die ersten Zeilen der Seite füllt. In den überbordenden Anmerkungen gab er den Stimmen und Gegenstimmen, Positionen und Argumenten, Unsicherheiten und Disputen durch die Jahrhunderte Raum. Generationen von jungen Leser:innen haben mit Bayle in der Hand denken gelernt.

Als kleine Geste des Respekts vor und der Freundschaft zu diesem offenen und experimentellen Denken, das Widersprüche sucht und zulässt, habe ich in diesem Buch eine ähnliche Form gewählt. Da sich Fußnoten in einem so kompakten grafischen Design nicht realisieren ließen, haben die einzelnen Kapitel Endnoten und ergeben einen sich selbst kommentierenden Text, der so mit seinen Leser:innen, aber auch seinen eigenen Zweifeln im Dialog sein will.

Wenn Ihnen, geschätzte Leserin, geschätzter Leser, also die große Linie dieser Überlegungen genug ist, haben Sie nur sechs kurze Kapitel vor sich, die ein großes Argument skizzieren, den Haupttext. Wenn Ihre Neugier dadurch geweckt ist, in die Gründe und Abgründe der Debatten, der Zweifel und Gegenargumente zu steigen, laden die Endnoten Sie dazu ein, das, was gerade noch so einfach und einleuchtend schien, komplizierter zu machen.

1

Gerade jetzt

Was denn, schon wieder eine neue Aufklärung? Ja, gerade jetzt und notwendiger denn je. Aufklärung in Zeiten der Verdunkelung1 scheint kaum auf das grell beleuchtete 21. Jahrhundert zuzutreffen, aber tatsächlich hat das Licht des luziden Nachdenkens2 kaum eine Chance gegen flimmernde Videowände. Heute3 ist die Verdunkelung nicht mehr optisch, sondern kognitiv und freiwillig, eine Oberfläche aus leuchtenden LEDs.4 Die Welt der existenziellen Verstrickungen fängt dahinter an, im Schlagschatten der endlosen Displays.5

Deswegen beginnt die neue Aufklärung6 in einem Supermarkt. Dort begegnen Stadtbewohner:innen7 den Produkten der Natur8, der Landschaften und Kontinente um sich herum sowie der Menschen, die in ihnen leben und arbeiten.9

Gleichzeitig ist ein Supermarkt auch ein Ort der Abschottung10, welcher eine Barriere zwischen Mensch und Land errichtet, eine Barriere, auf die bunte Bilder projiziert werden, eine marktkonforme Version der Welt da draußen.11 Dort leben Bauern auf idyllischen Höfen, Kaffee wird von Indios mit lächelnden Kindern geerntet, Kühe sind lila, Gemüse ist makellos identisch und in Kondome eingeschweißt, Milch kommt von der Alm, Soja ist gut und alles ist stets frisch und immer da. Hunderte von Milliarden werden in diese Fata Morgana investiert12 und niemand glaubt sie wirklich, aber es ist doch bequem, nicht zu sehr daran zu kratzen.13 Denn dann käme die Wirklichkeit der industriellen Landwirtschaft, der Tierfabriken, der Zerstörung, Verödung und des ökologischen Kollapses.14 Also lieber glückliche Kühe und ekstatische Hühner und Schwamm drüber.15

Die Aufklärung ist dazu da, durch diese Wand durchzustoßen, den Blick nach draußen zu öffnen, in die sogenannte Wirklichkeit16. Auch wenn die niemand sehen will. Gerade dann.17 Denn ohne diesen Blick kann es nicht nur keine Gerechtigkeit geben, es kann auch kein Handeln geben, das sich an der Wirklichkeit orientiert.18 Und das ist in Zeiten der Klimakrise19 wirklich eine beschissene20 Idee.

1

Aufklärung in Zeiten der Verdunkelung

Im Englischen poetischer:

Endarkenment

als Gegensatz zum

Enlightenmen

t. Dieses Buch fängt an mit einem Kompromiss, weil die Sprache nicht hergibt, was sie soll und ihre eigenen Bilder mitbringt — mit einer Übersetzung. Das ist eigentlich passend, denn Sprache formt und verformt Denken; das wird im Folgenden immer wieder wichtig sein. Und natürlich ist das eine ziemlich radikale Ansage, aber heben wir uns diese Diskussion noch etwas auf, wir haben noch so viel zu besprechen.

2

Das Licht des luziden Nachdenkens

Noch eine Anleihe aus dem Englischen, David Humes wunderbar poetischer »

calm sunshine of the mind

«.

3

Heute

Ja, es ist irritierend, wenn Autoren über »heute« schreiben und damit einen ganz anderen Zeitpunkt meinen, aber dieses historische »heute« ist der Moment, an dem deutlich wird, dass der sogenannte Fortschritt der Menschheit um den Preis der natürlichen Überlebensgrundlagen erkauft wurde. Dieses »heute« ist ein neuralgischer Punkt in der Geschichte von Homo sapiens, eines der letzten Jahrzehnte, in denen dieser Primat sein Schicksal und das so ziemlich aller anderer Lebewesen auf dramatische Weise positiv oder negativ beeinflussen kann. Deswegen scheint es gerechtfertigt, mit einem so irritierenden Wort zu beginnen.

4

LEDs

Immerhin ist unsere Scheinwelt inzwischen energiesparend, wenn auch nur zum Schein, denn tatsächlich bedeutet jede technologische Einsparung und Verbesserung ein Ansteigen des Verbrauchs (der sogenannte Rebound-Effekt). Wird elektrisches Licht effizienter und billiger, wird auch mehr beleuchtet. Sparen Autos mehr Sprit, werden größere gebaut, eine neue Umgehungsstraße führt zu mehr Autos und damit zu mehr Staus. Die Idee der klugen Selbstbeschränkung ist im Kontext einer Konsumgesellschaft, nun ja, eine schöne Idee.

5

Displays

Die grellbunte Verdunkelung macht es schwer bis unmöglich, die Welt dahinter überhaupt wahrzunehmen, so sehr knallen die Lichter durch die Dämmerung. Was dahinter liegt, bleibt im kognitiven Dunkel, bleibt unbekannt. Inzwischen können die bunten Bilder uns völlig darüber hinwegtäuschen, dass wir mit der Welt da draußen verbunden sind, dass wir sie verändern, sie die Bedingung unserer Existenz ist. Hinter den Lichtern ist irgendwann überhaupt keine Wirklichkeit mehr, denn die bunten Bilder zischen direkt ins Kleinhirn, da, wo die unreflektierten Emotionen sitzen. Dort lebt auch das Bedürfnis, dass die bunten Bilder recht haben, denn dann ist alles gut.

In Bezug auf die grellbunte Verdunkelung ist das Ganze allerdings kein zufälliger Zustand, sondern das Resultat langer psychologischer Versuchsreihen mit dem Ziel herauszufinden, wie Konsument:innen sich am effektivsten und am lukrativsten verunsichern, abhängig machen und infantilisieren lassen. Mit jedem Erfolg, Aufmerksamkeit länger zu fesseln, verbessern sich die neuronalen Pfade der selbstlernenden Systeme — nicht aber die neuronalen Pfade der Endverbraucher:innen. Auf Dauer ist das ein ungleiches Spiel.

Diese Manipulation ist heute vielleicht effektiver als je zuvor, aber ihre Existenz ist einerseits nie ein Geheimnis gewesen und ausgezeichnet dokumentiert, andererseits nicht neu. Die katholische Kirche und mit ihr die meisten Religionen haben hierzu die Vorarbeit geleistet und es schon lange vor der Digitalisierung zu einer Kunstform erhoben. Die Künstliche Intelligenz aber übertrifft ihre manipulativen Fähigkeiten um ein Vielfaches.

Mit jedem Erfolg, Aufmerksamkeit länger zu fesseln, verbessern sich die neuronalen Pfade der selbstlernenden Systeme — nicht aber die neuronalen Pfade der Endverbraucher:innen. Auf Dauer ist das ein ungleiches Spiel.

6

Aufklärung

Ein schwieriges und ungenaues Wort, das selbst fast so viel versteckt wie es beschreibt, aber das noch immer beste, das wir haben. Corine Pelluchon nennt die Aufklärung ähnlich wie Foucault »gleichzeitig eine Epoche, einen Prozess und ein Projekt.«

(Pelluchon, S. 13)

Aber das macht die Sache auch nicht einfacher. Siehe nächstes Kapitel.

7

Stadtbewohner:innen

d. h. inzwischen die meisten Menschen.

8

Natur

Noch ein schwieriges Wort mit viel historischem Gepäck, eine riesige Debatte, die aufgemacht wird: Was ist Natur? Wir werden darauf zurückkommen, hier nur so viel im Hinblick auf die erste Aufklärung: Für Baruch Spinoza war sie gleichbedeutend mit Gott, im 17. Jahrhundert ein geniales Argument, um Gott abzuschaffen. Auch Gott kann schließlich nicht gegen seine eigenen Gesetze verstoßen, die er als vollkommenes Wesen beschlossen hatte. Und das sind die Naturgesetze, d. h. heimtückischerweise aber auch, dass Gott, seinen eigenen unabänderlichen Gesetzen folgend, selbst nicht in die Geschichte eingreifen kann, dass alle Bittgebete sinnlos sind, wie auch alle Theologie, denn alles Wissenswerte über Gott steckt in den Naturgesetzen, durch die er sich perfekter offenbart als durch irgendein heiliges Buch mit irrationalen Geboten. Das war für das Publikum seiner eigenen Zeit geschrieben. Aber Spinozas Gedanken sind noch heute radikal: Es gibt nichts außerhalb der Natur. Auch nicht uns selbst und unsere Kultur. Was wir »Kultur« nennen, ist nur eine besonders komplexe Ausformung evolutionärer Prozesse. Auch andere Tiere bauen Millionenstädte, nutzen Werkzeuge, zeigen Bewusstsein des eigenen Selbst und Arten von Intelligenz, die noch kaum beschrieben werden können. Männliche Laubenvögel schaffen wunderschöne Konstruktionen aus Zweigen und nach Farben arrangierten

objets trouvés

, die man nur als Kunstwerke bezeichnen kann, natürlich um ein Weibchen anzulocken, denn ihre Angebeteten sind alle Kunstkritikerinnen. Phänomene, wie Schönheit, Gerechtigkeit, angemessene Gewalt, Rechte innerhalb einer Gruppe, eine moralische Ordnung, die Fähigkeit zu täuschen und zu lügen, sind anderen Tieren nicht fremd. Was also ist Natur? Nach Spinoza umfasst sie alles im Universum und jede Äußerung der Natur, ergo auch alle Träume und Produkte von Homo sapiens.

9

Leben und arbeiten

Eine populäre urbane Legende besagt, dass jeder Mensch mit jedem anderen über sechs persönliche Begegnungen, sechs Handschläge verbunden ist. Auch Konsumgüter von Getreide bis hin zu T-Shirts und Hamburgern haben eine ähnlich verbindende Funktion, Kettfäden im Gewebe einer globalen Gesellschaft, in der ein T-Shirt von der Hand einer Arbeiterin in Bangladesch in die einer gleichaltrigen jungen Frau in einem reichen Land gelangt und von dort vielleicht zu einer Frau auf einer der Gebrauchtkleiderbörsen in Westafrika, eine Kette zusammenhängender, einander bedingender Lebensgeschichten und eine Landschaft ungleicher Umstände.

Diese Kette, die Anerkennung des Verkettet-Seins mit all diesen Geschichten, wird gewöhnlich durch Geld unterbrochen. Das ist ja sein Charme, dass es die sozialen Schulden und Verbundenheiten durch eine Zahlung einfach abschneidet. Wer ein Geschenk bekommt, tritt in die Schuld des oder der Schenkenden, muss etwas zurückschenken, den Kreislauf der Großzügigkeit in Gang halten. Wenn ich aber bezahlt habe, schulde ich nichts mehr. Dieses Kappen aller Verbindungen und sämtlicher Verpflichtung über die Zahlung hinaus kommt zustande, wenn die soziale Schuld zur finanziellen wird. Diese Logik liegt auch der künstlichen Fata Morgana der Supermarkt-Welt zugrunde. Die Bezahlung absolviert einen davon, hinter die grelle Projektionswand zu blicken, mit den Produzent:innen direkt in Kontakt zu treten, sie wahrzunehmen, irgendetwas oder irgendjemanden überhaupt wahrzunehmen. War das jetzt eine Person an der Kasse oder war das voll automatisch? Die nette Stimme deutet eher auf einen Roboter hin. Siehe auch Lewis Hydes brillantes und exzentrisches Essay Die Gabe.

10

Ort der Abschottung

Ein Ort in einem spezifisch industriellen Sinn, ein Ort, wie es ihn vorher noch nicht gegeben hat, der dem Processing von Menschen gewidmet ist, wie Schlachthöfe dem Processing von Tieren gewidmet sind, ein Ort wie auch Flughäfen, Einkaufszentren, Gefängnisse und Krankenhäuser.

11

Welt da draußen

Diese Barriere ist gleichzeitig Wand und Leinwand und ist im digitalen Zeitalter besonders leicht und täuschend bespielbar. Der tschechische Philosoph Vilém Flusser verglich diese Art mediale Oberfläche mit den Fettaugen, die auf einer Suppe schwimmen, als glänzende Spiegel alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen und so den Rest, die Suppe selbst, verbergen. Das scheint wie eine dezidiert mitteleuropäische Version von Platons Höhlengleichnis. Schon er verglich die Wirklichkeit des philosophisch nicht gebildeten Volkes mit einer Höhle, deren Insassen mit den Augen zur Rückwand gerichtet nur die Schatten der eigentlichen Wirklichkeit sehen, die sich außerhalb der Höhle abspielt. Die Insassen der Höhle aber wissen das nicht. Sie halten die Schatten für die Realität und sind Marionetten in den Händen der Wissenden. In einer digitalen Wirklichkeit braucht es eigentlich kein Gleichnis mehr; wir sind längst in der Höhle angekommen und schaffen sie uns selbst, indem wir unsere Augen kaum von unseren Bildschirmen und der auf ihnen von cleveren Algorithmen simulierten Welt nehmen können. Ein Problem von jeder neuen Aufklärung ist, dass die Technologien der platonischen Höhle so viel effizienter geworden sind. Ein Heiligenbild in einer Kirche und die Statue einer Göttin waren eben noch keine Deep Fakes.

12

Fata Morgana

Nach Angaben von

statista.com

haben Medieneigentümer 2023 808 Milliarden Dollar aus Online-Werbung eingenommen, Tendenz stark steigend, die Schwelle von einer Billion (also 1000 Milliarden) soll 2026 geknackt werden.

Das übrigens ist auch ein Argument gegen die von alten Aufklärern so geliebte Idee, dass Menschen von sich aus vernünftig sind und ihre Entscheidungen rational treffen. Wenn das so wäre, gäbe es keine Werbeindustrie. Auch neoklassische Ökonom:innen nehmen gerne an, dass Menschen frei und rational handeln, hauptsächlich, weil das sich gut in mathematische Modelle einarbeiten lässt. Tatsächlich sind unsere Motivationen aus der Sicht der Psychologie eher durch Statusangst, Komplexe, Stammesdenken, kognitive Verzerrungen und die verlässlich anarchistische Libido angetrieben, aber offensichtlich war den Vätern der neoklassischen Wirtschaftslehre ein perfektes Modell wichtiger als eine Erfassung menschlicher Motivationen. Das erinnert an die verächtliche Bemerkung eines Ökonomen zu einem Kollegen: »Diese Idee funktioniert vielleicht in der Praxis, aber taugt sie auch zur Theorie?«

13

Nicht zu sehr daran zu kratzen

Besonders eindrücklich ist das bei Haustieren zu sehen. Für unsere geliebten, fühlenden Freunde sind wir bereit, andere fühlende, aber nicht so sehr geliebte Viecher am Ende ihrer miserablen Existenz buchstäblich durch den Fleischwolf zu drehen. Die meisten der 80 000 000 000 pro Jahr geschlachteten Tiere sind übrigens Hühner.

14

Ökologischer Kollaps

Der Kollaps der Biodiversität, der sich hinter den bunten Bildern abspielt, hat Dimensionen, von denen einem die Augen feucht werden können. Seit 1970 ist die Biomasse wild lebender Tiere weltweit um 69 % Prozent zurückgegangen (

ourworldindata.org

), die Insektenpopulationen in Europa teilweise kollabiert auf ein Viertel der Größe vor 1970. Das ist auch deswegen dramatisch, weil Organismen nicht in Isolation voneinander leben, sondern in komplexen Systemen, in denen jeder Teil eine Funktion erfüllt und vom Funktionieren anderer abhängt. Wenn zu viele Fäden in diesem Gewebe zerreißen oder rausgezogen werden, wird das Ganze auseinanderfallen, und dieses Ganze ist auch unsere Lebensgrundlage.

15

Schwamm drüber

Diese Logik — lieber glückliche Kühe und ekstatische Hühner — ist nicht auf Supermärkte begrenzt. Es scheint verlockend, der offiziellen, marktkonformen, machtkonformen Version der Dinge Glauben zu schenken. Lange Zeit war das eine soziale Wirklichkeit, die nur von jenen Menschen als unmenschlich empfunden wurde, die diesen Glauben nicht teilen konnten, weil sie in die falsche Religion hineingeboren waren, in den falschen Körper, mit den falschen Gefühlen oder den falschen Fragen im Kopf. Das war schlimm genug für sie, richtete in den Ökosystemen der Umgebung aber nur sehr begrenzte Schäden an. Mit der immer weiter in die Höhe schnellenden Zerstörungskraft menschlicher Technologien aber wird der Glaube an die offizielle Version und an die Folgenlosigkeit des menschlichen Handelns zu einem mächtigen Agenten der Zerstörung.

16

Die Wirklichkeit