Was auf dem Spiel steht - Philipp Blom - E-Book

Was auf dem Spiel steht E-Book

Philipp Blom

0,0

Beschreibung

Freiheit, Demokratie, Gerechtigkeit: Die Ideen des modernen Staats entstanden während der Aufklärung. Im 21. Jahrhundert haben wir uns längst daran gewöhnt. Dass Populisten mit dem Versprechen einer autoritären Gesellschaft Mehrheiten organisieren, ist dagegen eine neue Erfahrung. Der Historiker Philipp Blom sieht die westlichen Gesellschaften vor einer prekären Wahl: radikale Marktliberale einerseits, autoritäre Populisten andererseits. Sie gaukeln uns einfache Lösungen für die globalen Herausforderungen vor. Nur mit einem illusionslosen, historisch informierten Blick auf die Gegenwart und mit der Überzeugung, dass allen Menschen ein freies Leben zusteht, können wir unsere humane Gesellschaft retten.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 248

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Wir leben in Gesellschaften, in denen die Zukunft keine Verheißung mehr ist, sondern eine Bedrohung. Die reichen Demokratien wollen keine Zukunft, sie wollen behalten, was sie bereits haben. Gleichzeitig sehen wir die ersten Zeichen einer epochalen Transformation durch Klimawandel und Digitalisierung, deren globale Auswirkungen wir erst beginnen zu begreifen. Diese Kollision zwischen Zukunftsverweigerung und historischen Umbrüchen birgt enorme Gefahren. Was auf dem Spiel steht ist nichts weniger als die Existenz eines demokratischen, liberalen Zusammenlebens – und vielleicht unsere Zivilisation.

Hanser E-Book

Philipp Blom

Was auf dem Spiel steht

Carl Hanser Verlag

Für Paul und für Veronica, ohne die ich dieses Buch niemals hätte schreiben können

KEIN PLANET B

Es wäre wunderbar, einen Zweitplaneten zu haben, einen idealen Beobachtungspunkt für die Erde, auf der Homo sapiens, ein Opfer seines eigenen evolutionären Erfolgs, ein historisches Experiment durchlebt, dessen Scheitern auch sein Ende bedeuten könnte. Werden die faszinierenden Primaten es schaffen? Was für Folgen hat die immer größere technologische Reichweite ihrer Ambitionen? Wann, wenn überhaupt, werden sie sich ihrer Lage bewusst? Und haben sie genug gemeinsamen Überlebenswillen? Von einem anderen Planeten aus wäre das faszinierend zu beobachten.

Noch aber wurde kein solcher Zweitplanet gefunden.

ERTAPPT

Immer wieder ertappe ich mich bei der Frage, ob die Dinge wirklich so kommen könnten, wie ich sie hier dargestellt habe, ob das nicht alles weit hergeholt ist, ein wenig hysterisch. Ich klopfe die Argumente ab, ich vergleiche. Ich komme zu dem Schluss: nein, nicht hysterisch.

Wirklich glauben will ich es aber immer noch nicht.

INHALT

No Future, Inc.

Die Falle der Normalität

Von Wasser zu Wein

AUSSICHT OHNE EINSICHT: KLIMAWANDEL, DIGITALISIERUNG UND KONSUM

Betriebstemperatur

Energie und die Geschichte der Arbeit

Erwartungen werden selten erfüllt, aber manchmal übertroffen

Das eherne Zeitalter

Die große Verschiebung

Deus ex machina

This time is different

Das zweite Maschinenzeitalter

Wenn die Arbeit verdorrt

Absturz mit Ansage

Vom eigenen Fortschritt überrundet

Der umerzählte Mensch

Mad Men

Die beste aller Welten

Vernunftmensch versus Herdentier

Theologie des Einkaufens

Die verdrehte Aufklärung

DIE GESPALTENE ZUKUNFT

Die Rückkehr der Geschichte

Schnellzug nach Weimar

Der Markt

Glanz und Elend des liberalen Traums

Die Masken der Macht

La grande illusion

Die Haut zu Markte tragen

Die Aufklärung als Parodie

Die Festung

Der autoritäre Traum und seine Väter

Die heilige Familie

Der Mauerbau

Die Krise der Begriffe

Die Stimme der Natur

Anatomie einer Revolte

Hirngespinste 164

Eine gemeinsame Fiktion

Die Zerschlagung der Öffentlichkeit

Technologie und ihre Geschichten

Jede Demokratie stirbt auf ihre eigene Weise

Was braucht eine liberale Demokratie zum Überleben?

Kein Weg zurück

Die Zahnfee der Geschichte

Eine Art Hoffnung

Bibliografie

NO FUTURE, INC.

Es ist ganz wahr, was die Philosophie sagt, daß das Leben rückwärts verstanden werden muß. Aber darüber vergißt man den andern Satz, daß vorwärts gelebt werden muß.

SØREN KIERKEGAARD, TAGEBUCH, 1843

Nehmen wir ein Glas Wasser. Dies ist kein normales Wasser. Es wurde eingeschenkt aus einer Flasche Cristallo Tributo a Modigliani. Mundgeblasen und mit 24-karätigem Gold verziert kostet sie etwa 50.000 Euro – inklusive des Inhalts, einer Cuvée der besten Mineralwässer aus Fidschi, Frankreich und einem isländischen Gletscher. Es ist Wasser, das abgeschmolzen ist, und nicht einmal das einzige Gletscher-Mineralwasser. Dafür ist es das mit Abstand teuerste der Welt. Um die 30-Euro-Marke aber wird der Markt recht kompetitiv. Es gibt genug Leute, die so viel Geld für eine Flasche Wasser ausgeben wollen, auf Wunsch mit Kristallverzierung.

Wasser wird immer kostbarer. Es wird Kriegsgrund, Machtbasis, Handelsgut, Erpressungsmittel, Auswanderungsmotiv sein. An einigen Orten steht es immer höher, während es anderswo ganz ausbleibt. Währenddessen trinkt das oberste Prozent eines Prozents der Weltbevölkerung aus vergoldeten Flaschen Wasser von Gletschern, die bald verschwunden sein werden. Willkommen in der Gegenwart.

Die Gegenwart ist immer opak, undurchschaubar. Es ist schwer, die Konturen der Landschaft zu erkennen, wenn durchziehende Wolken und Nebel die Sicht behindern. Machen wir deswegen einen Selbstversuch, ein Gedankenexperiment. Stellen wir uns vor, die Gegenwart wäre nicht Gegenwart, das Produkt einer bestimmten Geschichte und die Normalität, in der wir alle leben, sondern längst vergangen, ein Punkt auf einer langen Linie von Veränderung und Evolution, ein Durchgangsstadium der Geschichte. Was würden wir sehen, wenn wir das Jahr 2017 aus einer Entfernung von zwei oder drei Generationen betrachten könnten?

Stellen wir uns vor, eine junge Historikerin würde in 50 Jahren an einer Geschichte des frühen 21. Jahrhunderts arbeiten. Was würde ihr auffallen? Was wird sie als die entscheidenden Faktoren betrachten? Was an unserer Zeit wird ihr unverständlich sein? Worauf würde sie ihr Augenmerk lenken? Sicherlich nicht auf die Namen von Staatsoberhäuptern, Demagogen und Managern, auf Terrorgruppen und Stars oder auf regionale Kriege. Von ihrer Perspektive aus gesehen wird ihr etwas anderes wichtig erscheinen.

Wenn die junge Historikerin der Zukunft in einem hochentwickelten Land lebt, ist es fast sicher, dass beinahe die gesamte Arbeit von intelligenten Robotern, Algorithmen und anderen Maschinen verrichtet wird. Auch ihre Recherchen werden sicherlich durch Algorithmen angereichert, die enorme Datenmengen verdauen und aufbereiten können. Das hat seine Tücken, schließlich vertraut sie damit implizit dem Urteil des Algorithmus, aber sie wird sich nie bei winterlichen Recherchen in einem zugigen Archiv eine Erkältung holen, wenn sie das vermeiden möchte. Allerdings wird auch das vormals so kühle Archiv etwas wärmer sein, denn das Klima der Erde wird sich schon wesentlich verändert haben, und Europa wird davon abhängig sein, ob der Golfstrom bis dahin zum Erliegen gekommen ist oder nicht; es wird dann entweder ein wesentlich wärmerer oder aber ein wesentlich kälterer Kontinent geworden sein.

Was also würde sich diese Historikerin fragen, wenn sie über das frühe 21. Jahrhundert forscht? Sie würde wahrscheinlich zwei Dinge nicht verstehen. Einerseits würde sie sehen, dass die beginnende Erderwärmung längst wissenschaftlich erfasst war und beobachtet wurde, dass die damaligen Gesellschaften aber nur sehr langsam und zögerlich auf diese enorme Transformation reagierten. Andererseits würde sie sehen, dass die Digitalisierung bereits angefangen hatte, tief in wirtschaftliche Zusammenhänge, soziale Strukturen und politische Machtgefüge einzugreifen und sie neu zu formen, aber dass auch diese Entwicklung nur kleinteilige und häufig rein symbolische Reaktionen nach sich zog. In den damaligen Gesellschaften, so könnte sie schließen, drehte sich aus schwer erklärlichen Gründen alles um die Verwaltung von Erwartungshaltungen und um die Verteidigung von Privilegien. Die Zukunft war im Grunde ausgesperrt worden.

Warum, wird unsere Historikerin sich fragen, hat man damals so starr an einem wirtschaftlichen Modell festgehalten, das gefährlich und überholt war, warum gab es keine gigantischen Demonstrationen und bewaffneten Aufstände, um eine rasche und entschlossene Wende einzuleiten? Warum haben sie ihren eigenen Wissenschaftlern nicht geglaubt? Damals wäre eine Weichenstellung vielleicht noch möglich gewesen. Haben die Menschen denn nicht gewusst, dass 16 der 17 heißesten jemals gemessenen Jahre zwischen 2000 und 2017 lagen? Haben sie nie eine Fabrik gesehen, die schon damals fast ohne menschliche Arbeit auskam? Haben sie einfach ihren Augen nicht trauen wollen, oder haben sie sich aus irgendeinem bestimmten Grund geweigert, aus dem, was sie sahen, Konsequenzen zu ziehen?

Statt einer Antwort ein Stimmungsbild: Die reichen, demokratischen Länder, die großen Wirtschaftsmächte, die G7 oder G8, die ehemaligen Kolonialherren und ehemaligen Industriestandorte sind in ein reaktionäres Zeitalter abgerutscht. Ihr schönstes Gefühl ist Nostalgie. Sie wollen keine Zukunft. Zukunft ist Veränderung, und Veränderung ist Verschlechterung, bedeutet millionenfache Migration, Klimawandel, kollabierende Sozialsysteme, explodierende Kosten, Bomben in Nachtklubs, Umweltgifte, ausbleichende Korallenriffe, massenhaftes Artensterben, versagende Antibiotika, Überbevölkerung, Islamisierung, Bürgerkrieg. Zukunft sollte vermieden werden. Die Menschen in der reichen Welt wollen nur, dass die Gegenwart nie endet.

Politik hat früher in Visionen gesprochen, und diese Visionen waren mörderisch. Heute hat man realistischere Ansprüche. Politik wird Sachverwaltung, Erwartungsmanagement, Customer Service. Nur Wohlfühl-Gurus, Silicon-Valley-Typen und Sektenführer sprechen noch von Utopie, von einer besseren Welt, die vor uns liegt, in der die Probleme der Gegenwart nur noch Erinnerung sind, sonst sind die Projektionen unserer Zukunft allesamt trostlos bis verzweifelt: Houellebecq und Hollywood, Lars von Trier und wissenschaftliche Langzeitstudien, Cormac McCarthy und zahllose Computerspiele zeichnen Dystopien. Eine vage Panik kursiert in unseren Adern. Kaum jemand in der reichen Welt glaubt noch ernsthaft, dass es den eigenen Kindern besser gehen wird, dass harte Arbeit belohnt wird, dass Politiker im Interesse ihrer Wähler handeln wollen oder können, dass die Menschheit ein besseres Morgen erwartet. Also lieber keine Veränderung. So wird es zum höchsten Ziel, den Status quo zu erhalten.

Die Veränderung aber, die Gezeit des Neuen, steigt. Sie verdrängt Millionen durch Dürre und Überschwemmungen und treibt sie auf die Flucht, sie verdrängt in reichen Ländern unerbittlich mehr und mehr Menschen aus ihren Jobs, sie schafft Unsicherheit, sie dehnt und staucht das uns vertraute Maß der Welt, jeder Schritt und jeder Handgriff fühlt sich unerwartet, künstlich an. Ein weit verbreitetes Gefühl, das noch nicht zu Verständnis geronnen ist, sagt uns, dass wir die Kontrolle verlieren, dass nichts mehr so ist, wie es einmal war, dass wir nicht mehr kontrollieren und nicht mehr begreifen können, was gerade vor sich geht. Wir halten uns also an das, was wir kennen, was bequem ist. Die Zukunft ist schließlich ohnehin ungewiss.

Wenn wir nicht an dem festhalten können, was wir haben, werden wir alle untergehen. Die Ratten packen schon ihre Sachen, die Superreichen kaufen sich boltholes in Neuseeland, Refugien mit Nahrungsreserven, Bunkern und Generatoren, um sich vor der nahenden Apokalypse zu retten. Dabei haben ihre Vorboten längst die Küsten des idyllischen Inselstaats erreicht. Intensive Viehzucht trocknet Flüsse aus und verpestet sie mit Chemikalien, immer größere Teile der landwirtschaftlichen Flächen und der Infrastruktur gehören chinesischen Investoren, und das früher sagenumwobene Sozialsystem des Landes – eine Art Schweden mit Sonne – wurde im Zuge einer wirtschaftlichen Reform- und Privatisierungskampagne abgebrochen, eingestellt oder verscherbelt.

Heute ist Neuseeland ein Fluchtort für die apokalypsegeile Elite des Silicon Valley. Gleichzeitig ist Armut auch dort nichts Ungewöhnliches mehr, eine steigende Zahl von Kindern kommt morgens mit leerem Magen in die Schule, ältere Schüler machen Nebenjobs statt Hausaufgaben, um das Familieneinkommen aufzubessern, Lehrer verbringen einen Gutteil ihrer Zeit damit, von privaten Spendern Geld für ihre Schule aufzutreiben, um wenigstens das Allernötigste zu gewährleisten. An einer Bushaltestelle in Auckland beoachtete ich einen Mann in Freizeitkleidung, der Mülltonnen nach etwas Essbarem durchwühlte. Das Paradies ist längst zum freien Markt geworden. Wer nichts zu verkaufen hat, den beißen die Hunde.

DIE FALLE DER NORMALITÄT

Wo ist die Zukunft hin? Wer hat sie vernichtet, in welches Loch hat sie sich verkrochen? Ist der Erhalt des Status quo das Beste, worauf wir hoffen können? Und können Gesellschaften ohne Hoffnung lange existieren?

Zuerst: Die Zukunftslosigkeit betrifft die Gesellschaften des sogenannten Westens, die viel zu verlieren haben. Beobachter aus Südamerika, Asien und Afrika konstatieren, dass die ehemaligen Kolonialherren den Verlust ihrer Macht betrauern, während besonders in Südostasien noch immer Aufbruchstimmung herrscht und Hunderte von Millionen aus der bittersten Armut befreit wurden. Aber auch übergroßer Optimismus kann die Atmosphäre vergiften. Auch in Neu-Delhi und Peking muss man die Luft atmen können, die der Fortschritt produziert.

Im reichen Westen kann man atmen, denn der schlimmste Dreck, die schlimmste Zerstörung, die diese Gesellschaften produzieren, wurden an ihre Peripherie verbannt, dorthin, wo niemand hinsieht. Aus den Augen, aus dem Sinn. Das Erdöl hat eine ganz eigene Geografie des Terrors und der Bürgerkriege geschaffen, der Hunger des Westens frisst sich täglich weiter in die Regenwälder. Aber während Palmöl und Soja anderswo Leben und Lebensformen vernichten, sehen die Konsumenten nur Kosmetik und Schokolade und Hamburger.

So mästet gerodeter Regenwald Rinder und preisbewusste Verbraucher anderer Kontinente, die ihre patriotische Pflicht tun, indem sie zum Wirtschaftswachstum beitragen. Wenn es schon keine bessere Zukunft geben kann, kann man doch zumindest die Gegenwart angenehm gestalten. Trotzdem hängt etwas in der Luft: eine Ahnung, eine Angst, eine immense Wut. Viele Menschen wollen zurück in eine bessere Vergangenheit, Mauern bauen, sich wieder sicher fühlen. Dazu passt, dass sich die westlichen Gesellschaften immer weiter musealisieren. Es gibt nach einer Schätzung des International Council of Museums rund 55.000 Museen auf der Welt, rund zwei Drittel davon stehen in Europa und den USA, Deutschland allein zählt fast 7000 Museen. Mehr als die Hälfte von ihnen wurden in der Nachkriegszeit gegründet. Die Vergangenheit als zu konservierendes Totem derer, die glauben, keine Zukunft mehr zu haben.

Das alles ist so, weil es so sein muss, eine logische Entwicklung, das Resultat technologischer Fortschritte und politischer Verwerfungen. Die Welt ist, wie sie ist, weil es nicht anders kommen konnte. Vielleicht ist es der alte Kreislauf von der Blüte zur Dekadenz, ein historisches Gesetz, von dem schon die alten Griechen schrieben.

Das zu glauben hat eine gewisse Logik. Vielleicht ist aber auch das Gegenteil der Fall. Vielleicht sind unsere Gesellschaften aus Zufällen entstanden, aus Missverständnissen, Improvisationen und Kompromissen, misslungenen Morden und glücklich gewonnenen Schlachten, geführt von unverhofft auftauchenden charismatischen Führern oder mittelmäßigen Monarchen zur falschen Zeit am falschen Ort, durch Klimaschwankungen, individuelles Glück und Pech – und durch enorm viel Kohle, Erdöl, Stahl und Beton. Keine Vorsehung hat die Welt so gelenkt, kein Fortschritt so geformt. Es könnte alles auch anders sein.

Der Gedanke, dass alles so ist, wie es ist, weil es nicht anders sein könnte, lässt alles Nachdenken über Alternativen erstarren. Es ist das Denken des Marktes mit Echos viel älterer, religiöser Gefühle, die hinter den Ereignissen einen Plan vermuten, eine Vorsehung, eine unsichtbare Hand – eine seltsam tröstliche Vorstellung. Es wird schon alles nicht so schlimm werden, wir sind noch immer davongekommen, schließlich kann das hier ja nicht alles sein, schließlich ist die menschliche Geschichte ein langer Marsch zum Licht, wenn auch mit dramatischen Kollateralschäden, aber wo viel Licht ist, ist eben auch viel Schatten.

Es ist destabilisierend, aber auch befreiend, das Gegenteil anzunehmen. Nichts an der gegenwärtigen Situation ist natürlich und notwendig, nicht die berühmte freiheitlich-demokratische Grundordnung, nicht die Existenz von Menschenrechten, nicht der Klimawandel oder die Digitalisierung der menschlichen Arbeit, nicht die Steigerung von Lebensstandard und Lebenserwartung in vielen Ländern, nicht die Idee, eine Gesellschaft sei wie eine Firma zu führen. Es sind kontingente und oft zufällige Entwicklungen, Produkte einmaliger Gemengelagen, Durchgangsstadien in eine noch unbekannte Zukunft. Das aber heißt auch: Alles könnte auch anders sein, nur Naturgesetze sind so, wie sie nun einmal sind.

Gesellschaften sind nicht notwendig so geworden, wie sie sind. Trotzdem werden sie auch bewusst beeinflusst und geformt. Was sie überhaupt zu Gesellschaften macht, sind die Geschichten, die sie über sich selbst erzählen, Geschichten von Helden und ihren Todfeinden, von Ehre und Gewalt, davon, was Tugend bedeutet und was Laster, welche Opfer die Gemeinschaft erwartet, was sie als Preis für Heldentum verspricht, was erstrebenswert ist und was erlaubt. Gesellschaften erzählen ihren Mitgliedern über Mythen und heilige Bücher, Filme und Romane, soziale Netzwerke und Sportveranstaltungen, Kreuzworträtsel und Liebschaften, Fernsehwerbung und philosophische Werke oder auch einfach nur über Alltagssituationen. Die Geschichte, in der wir zufällig gerade stecken, mit einer objektiven Wahrheit und Notwendigkeit zu verwechseln wäre ein fataler Irrtum.

VON WASSER ZU WEIN

Noch ein flüssiges Beispiel, diesmal ein Glas Wein. In dem Glas befindet sich Traubensaft, dessen Zuckergehalt von Hefekulturen in Alkohol umgewandelt wurde. Die Einzeller sind wunderbar effektiv. Unermüdlich fressen sie alles, was sie finden, und vermehren sich explosionsartig, bis sie bei einem bestimmten Alkoholgehalt verhungern und ersticken. Aber sie wissen nichts davon, was sie erwartet. Sie fressen weiter.

Zwischen diesen einzelligen Hefesporen und Wirbeltieren liegen Jahrmillionen der Evolution, und doch hat sich ihr kollektives Verhalten kaum geändert. Besonders eines dieser Wirbeltiere, Homo sapiens, frisst sich durch natürliche Ressourcen, als wären sie unendlich, schneller denn je, gefräßiger denn je. Trotz symbolischen Denkens, Bach und Shakespeare, trotz Einstein und Michelangelo zeigt der Mensch im Kollektiv keinen evolutionären Lernerfolg gegenüber Einzellern. Die Hefepilze – das sind wir.

Die Menschen, die heute leben, sind allerdings auch die erste Generation ihrer Spezies, die sich andere Lernerfolge zunutze machen könnte. Wissenschaftliche Untersuchungen und Modelle vermitteln ihnen eine ziemlich gute Vorstellung von den wahrscheinlichen Konsequenzen ihres kollektiven Handelns – nur ist diese Vorstellung so unwirklich und unangenehm, scheinbar so weit von der gegenwärtigen Realität entfernt, dass es schwerfällt, sie zu glauben. Die Menschheit frisst weiter, gefangen in ihrer immerwährenden Gegenwart.

AUSSICHT OHNE EINSICHT: KLIMAWANDEL, DIGITALISIERUNG UND KONSUM

BETRIEBSTEMPERATUR

Wer über die Zukunft nachdenken will, muss einen Satz aus seinem Vokabular streichen. Dieser Satz lautet: »Das kann nie passieren.«

So vieles ist in den letzten Jahren geschehen, was kluge, datengefütterte oder intuitive, persönliche oder akademische Analysen für unmöglich erklärt hatten, dass es geboten scheint zu begreifen, dass ein ganz neuer Horizont politischer, ökonomischer und kultureller Möglichkeiten entstanden ist – ein Horizont der existenziellen Bedrohung und der historischen Chance.

Während ich dies schreibe, im Februar 2017, zeigt das Thermometer in Wien 20 Grad Celsius – eine Temperatur, die normalerweise im April oder Mai zu erwarten wäre –, während in Deutschland und Großbritannien für die Jahreszeit untypische Stürme wüten. Das ist natürlich eine Ausnahme – wie die Temperatur am Nordpol, wo es momentan so warm ist wie in Berlin, und wie die beiden Jahrhundertorkane, die in den letzten zwei Jahren New York getroffen haben, wie die historische Dürre in Kalifornien, in Teilen Pakistans und des Nahen Ostens, wie die unerwartet heftigen Regenfälle 2015 in Indien und 2017 in Peru und Australien, wie die Tatsache, dass die Jahre 2014, 2015 und 2016 jeweils einen neuen Hitzerekord aufgestellt haben, während der letzte Kälterekord auf 1960 datiert. Irgendwann muss man sich angesichts solcher Anhäufungen von Ausnahmen die Frage stellen, wann aus ihnen eine neue Regel wird.

ENERGIE UND DIE GESCHICHTE DER ARBEIT

Es ist alles eine Frage der Arbeit, der Energie, der sekundären Evolution. Die Menschen haben sich im Laufe ihrer Frühgeschichte von der ständigen Notwendigkeit der Nahrungssuche emanzipiert, indem sie immer mehr Arbeit ausgelagert und andere Energiequellen genutzt haben. Abgesehen von Wind und Strömung und Brennstoffen wie Holz oder Torf, war dabei die wichtigste Quelle die Arbeit anderer, sozial niedrig gestellter Menschen.

Das antike Rom baute ein Weltreich auf, dessen Logistik und Organisation atemberaubend komplex waren, und unterhielt eine Weltstadt, deren Versorgung und Administration eine immense Leistung darstellen. Sein Heer war das mächtigste der Welt, seine Architektur so vollkommen, dass einige römische Gebäude nach 2000 Jahren noch immer genutzt werden, seine Literatur und Philosophie, seine Malerei und andere Künste gehören zu den erstaunlichsten Leistungen der Menschheitsgeschichte. Allein die fein austarierte Funktionsweise eines römischen Thermalbades mit seinen Heißluftleitungen und Becken mit verschiedenen Temperaturen ist ein Wunder der Technik.

Gleichzeitig kannte diese Welt kaum arbeitssparende Maschinen, obwohl das Wissen um physikalische Prinzipien und auch das technologische Können offensichtlich vorhanden waren, wie archäologische Funde beweisen. Der Grund dafür ist einfach: Römer hatten Sklaven. Menschliche Arbeit war billig und reichhaltig vorhanden, es war nicht notwendig, Arbeit an Maschinen auszulagern, zumal diese Maschinen von einer anderen Energiequelle als der menschlichen Muskelkraft angetrieben werden mussten.

Erst als menschliche Arbeit teurer wurde, stellten Maschinen eine ernsthafte Alternative dar. Manche Historiker behaupten, dass die Pestepidemie, die um 1350 ein Drittel der europäischen Bevölkerung das Leben kostete, zumindest im Westen Europas den Punkt markiert, an dem besonders spezialisierte Arbeit kostbarer wurde, weil es weniger Arbeiter gab, die über eine entsprechend stärkere Verhandlungsposition verfügten. In Russland übrigens, wo die Pest ebenfalls gewütet hatte, hatte sie den gegenteiligen Effekt auf die bäuerliche Bevölkerung, die so geschwächt wurde, dass sie ihre einzige Macht, die der bewaffneten Rebellion, verlor und noch stärker unter die Knute ihrer Herren geriet.

In seiner großen Encyclopédie bezeichnete Denis Diderot die Dampfmaschine noch Mitte des 18. Jahrhunderts als Spielzeug ohne besondere Bedeutung. Einer der scharfsichtigsten und technologisch kompetentesten Philosophen seiner Zeit erkannte die Implikationen dieses Spielzeugs nicht. Als aber diese Spielzeuge erst die Textilmühlen Nordenglands und wenig später die ganze Welt eroberten, veränderte sich das Verhältnis der Menschen zur Arbeit. Immer mehr Menschen arbeiteten jetzt neben und mit Maschinen, waren ihre Herren oder ihre Diener. Die keuchenden Dampfkessel ermöglichten enorme Produktivitätsgewinne, aber sie fraßen Kohle, enorm viel Kohle.

Diese technologische Revolution dynamisierte die großen Städte, in denen Immigranten und Alteingesessene, Juden und Christen, Katholiken, Protestanten und Muslime miteinander Handel treiben und leben mussten. Neue Technologien und Handelsnetze ermöglichten enorme Profite, aber nur um den Preis der gegenseitigen Toleranz.

So kamen Autoren, die wir heute als Aufklärer bezeichnen, auf eine wahnwitzige Idee. Bis ins 17. Jahrhundert hinein war die menschliche Ungleichheit eine Selbstverständlichkeit. Natürlich war ein Bauer weniger wert als ein Adeliger, ein Christ mehr als ein Heide, ein Mann mehr als eine Frau. Um die Mitte des Jahrhunderts aber erschienen Werke, die dieses Weltbild auf den Kopf stellten: Baruch de Spinoza (ein Kaufmann), René Descartes (ein Artillerieoffizier), John Locke (ein Verwaltungsbeamter), Pierre Bayle und Thomas Hobbes (beide Lehrer) und andere, oft fast vergessene Autoren aus der aufstrebenden Mittelschicht vertraten die Ansicht, dass alle Menschen das gleiche Recht auf ihr Leben, ihre Freiheit und ihr Glück hätten, ungeachtet ihres Standes, ihrer Religion, ihrer Rasse und ihres Geschlechts.

Dieser Gedanke scheint den meisten Bewohnern der westlichen Welt heute so selbstverständlich, dass er kaum betont werden muss, aber tatsächlich hat er einen festen und wichtigen Platz in dieser Geschichte. Die Idee, dass jeder Mensch einen Wert hat, ist zwar so alt wie die Philosophie selbst, wurde aber im Laufe der Geschichte auch von christlichen Herrschern, deren Religion gerade die Solidarität mit den Geringsten fordert, ganz selbstverständlich ignoriert.

Erst mit der Französischen Revolution und den sozialistischen Bewegungen des 19. Jahrhunderts wurden Menschenrechte im Zentrum der politischen Diskussion etabliert, die Ansprüche der noch immer grausam ausgebeuteten und gewaltsam unterdrückten landlosen Armen in Europa und der Sklaven und Kolonialvölker auf anderen Kontinenten wurden erst in einem traumatischen und oft blutigen Kampf über Jahrzehnte immer stärker anerkannt.

Eines der Resultate war, dass Arbeit teurer wurde. Bis ins späte 19. Jahrhundert hinein schufteten viele Fabrikarbeiter – Männer, Frauen und Kinder – in der Regel 14 Stunden am Tag, sechs Tage die Woche, ohne jede Absicherung, und konnten vom Lohn gerade dem Hungertod entgehen (heute ist das in Ländern wie Myanmar, die unsere Billigkleidung herstellen, noch immer so). Mit der hart erkämpften Einführung von geregelten, kürzeren Arbeitszeiten, kollektiv ausgehandelten Löhnen und später sogar bezahlten Urlaubstagen und Sozialleistungen wie Unfallversicherung und Rente kostete menschliche Arbeit die Fabrikbesitzer empfindlich mehr als vorher. Sie war nicht mehr die billigste Möglichkeit der Produktion.

Die Lösung dieses Problems lag in der Mechanisierung vieler Arbeitsprozesse, die von Maschinen verrichtet werden konnten. Um diese Maschinen anzutreiben, verwendete man nicht mehr wie zuvor Wasserkraft und Wind (wie bei den Mühlen, die seit Jahrhunderten bestanden), sondern Kohle und später Erdöl.

So bekam eine ganze Zivilisation eine enorme Zufuhr an Energie – fossiler Energie. Was die Räder, die Kolben und die Zylinder antrieb, war die gespeicherte Sonnenenergie von Jahrmillionen, die jetzt wieder in die Atmosphäre gepumpt wurde. Das geschah sehr schnell. Es begann vor etwa 200 Jahren, wurde aber durch das Wirtschaftswachstum der Nachkriegszeit noch einmal wesentlich beschleunigt. Das Resultat wird in der Grafik auf der folgenden Seite deutlich, die den Kohlendioxidgehalt der Luft über die letzten 400.000 Jahre darstellt. Ganz rechts ist die Gegenwart.

Dies ist nicht der Ort, den Mechanismus des Klimawandels darzustellen oder noch einmal die leidige Frage aufzuwärmen, ob menschliche Aktivität wirklich dazu beigetragen hat, obwohl sich die Wissenschaft in überwältigendem Maße einig ist, dass menschliche Aktivität zumindest eine entscheidende Rolle dabei spielt. Was auch immer geschehen ist: Es ist Millionen Jahre her, dass die Atmosphäre dieses Planeten eine ähnlich hohe CO2-Konzentration erlebt hat. Hinzu kommt der Effekt von weiteren sogenannten Treibhausgasen, darunter Methan, das nicht nur durch das Abschmelzen des Polareises freigesetzt wird, sondern besonders durch die Rinderzucht für die industrielle Fleischproduktion. Methan ist ein wesentlich stärkeres Treibhausgas als Kohlendioxid.

ERWARTUNGEN WERDEN SELTEN ERFÜLLT, ABER MANCHMAL ÜBERTROFFEN

Auch die zu erwartenden Folgen dieser Erwärmung sind gut erforscht. Zwei Drittel der Erdoberfläche sind von Wasser bedeckt, und die Ozeane enthalten mehr als 95 Prozent des gesamten auf der Erde vorhandenen Wassers. Durch die Erwärmung dehnt sich das Wasser in den Ozeanen aus und führt zu einem Anstieg des Wasserspiegels, der die Küstenregionen bedroht. Gleichzeitig verdunstet mehr Wasser, was zu extremen Wetterereignissen wie Orkanen und zu einer Veränderung von Wettermustern führt. Die abschmelzenden Polkappen führen dem Ozean große Mengen Süßwasser zu, was wiederum eine erhebliche Auswirkung auf den Golfstrom haben könnte, von dem besonders das Klima Europas abhängt. Sollte der Golfstrom kollabieren, könnte es auf der Nordhalbkugel sogar zu einer starken Abkühlung kommen, zu einer neuen Kleinen Eiszeit.

Natürlich beruhen all diese Vorhersagen auf Modellen, die von unendlich vielen und komplexen Faktoren abhängen. Es ist also wahrscheinlich, dass sie teilweise falsch sind. Das allerdings ist kein Grund zur Beruhigung: Die Polkappen schmelzen derzeit wesentlich schneller ab, als Klimawissenschaftler prognostiziert hatten. Auch andere Indikatoren zeigen einen wesentlich stärkeren Anstieg der Temperaturen, der Erwärmung der ozeanischen Tiefenschichten und des Säuregehalts der Ozeane, als bis jetzt angenommen wurde. Eine wichtige Frage innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft ist, ob und wann systemische Scheitelpunkte erreicht werden, die eine klimatische Eigendynamik in Richtung noch höherer Temperaturen in Bewegung setzen, welche sich durch menschliche Interventionen nicht mehr kontrollieren lässt.

Zu Lande sind die Auswirkungen ähnlich drastisch. Langfristig veränderte Wettersysteme verschieben die Klimazonen des Planeten. Ein Großteil der Organismen (mit einigen Ausnahmen wie Ratten, Kellerasseln, Raben und Menschen) ist sehr fein auf ganz bestimmte klimatische Bedingungen eingestellt, um Futter zu finden und sich zu vermehren. Schon jetzt beobachten Biologen die Migration verschiedener Arten weg vom Äquator und in Regionen, in denen sie zuvor nicht hätten überleben können. Gleichzeitig ist es wahrscheinlich, dass diese Veränderung schneller vor sich gehen wird, als die evolutionäre Adaption erlaubt. Die Folge ist ein Artensterben, das es in diesem katastrophalen Ausmaß seit dem Aussterben der Dinosaurier nicht mehr gegeben hat.

Wenn sich die Umgebung verändert, müssen Organismen sich entweder anpassen oder abwandern, oder sie sterben aus. Menschen sind von diesem Gesetz so wenig ausgenommen wie Singvögel oder die Regenwürmer, die sie fressen. Wenn als Ackerland genutzte Flächen insbesondere in afrikanischen Ländern südlich der Sahara, deren Wirtschaft noch immer überwiegend von Subsistenzlandwirtschaft geprägt ist, aber auch im Nahen und Mittleren Osten, in Südamerika und in Asien nicht mehr fruchtbar sind und zu wenig Niederschlag bekommen, werden Millionen von Menschen gezwungen sein, ihre Zukunft anderswo zu suchen – mit größter Wahrscheinlichkeit in den Metropolen, die sich schon jetzt gebildet haben und die zu gigantischen Agglomerationen ohne Infrastruktur oder effektive Regierung werden.

Der steigende Meeresspiegel wird gleichzeitig die Bewohner tiefliegender Küstenregionen wie Bangladesch oder auch Florida zwingen, landeinwärts zu fliehen. Für die Bürger der Malediven und von pazifischen Inselstaaten wie Tuvalu ist die Situation noch gravierender: Ihre Heimat wird in den nächsten Jahrzehnten unter den Wellen des Ozeans verschwinden. Staatenlose Flüchtlinge, deren Heimatland buchstäblich untergegangen ist, stellen auch juristisch ein ganz neues Problem dar.

Zu diesen direkten Auswirkungen der Erderwärmung kommen indirekte Effekte, die für menschliche Gesellschaften wahrscheinlich noch gravierender sein werden. Zugang zu Wasser und fruchtbarem Ackerland könnte besonders am Äquator zum wichtigsten Kriegsgrund werden. Gleichzeitig werden Bevölkerungsbewegungen und aus allen Nähten platzende Mega-Metropolen eine ideale Brutstätte nicht nur für Pandemien, sondern auch für Revolutionen und Terrorismus sein. Die dadurch entstehende politische Instabilität wiederum wird Handelsrouten, Machtverhältnisse und internationale Bündnisse erschüttern oder zerstören.

Die Bewohner der reichen, industrialisierten Länder der Nordhalbkugel werden die unmittelbare Brutalität des Klimawandels weniger zu spüren bekommen als ihre ärmeren südlichen Nachbarn. Hier sind die primären Effekte eher graduell: Es ist sicherlich keine besonders vernünftige Idee, sich in den nächsten Jahren ein Haus mit Meerblick in Florida zu kaufen (Banken in Miami weigern sich bereits, Hypotheken auf solche Grundstücke zu geben), und überall beobachten Winzer schon jetzt mit großer Sorge, dass sensible Rebsorten den steigenden Temperaturen kaum standhalten können, sodass zum Beispiel der europäische und nordamerikanische Weinbau wesentlich weiter nach Norden wandern könnte.

Diese Auswirkungen sind verkraftbar, wenn man sie mit anderen Gebieten vergleicht: Im Nahen und Mittleren Osten, auf den weiten Landflächen Chinas und vielleicht auch im Süden der USA wird es innerhalb der nächsten drei oder vier Jahrzehnte mehr verödetes Ackerland geben, Wüsten breiten sich aus, Waldgebiete versteppen. Die Gletscher ziehen sich jetzt zurück (das hilft der Produktion von exklusivem Mineralwasser), das Polareis schmilzt rapide ab.

Die Kombination von intensiver Besiedlung und intensiver Landwirtschaft belastet diesen Prozess zusätzlich, nicht nur in Ländern nahe dem Äquator. Akuter Wassermangel und eine historische Dürre in Kalifornien, Texas und Arizona haben beispielsweise dazu geführt, dass der noch vor einem Jahrzehnt mächtige Colorado River heute bis zu 20 Meter abgesunken ist, während 70 Prozent des Flusswassers für 30 Millionen Menschen und besonders für die Bewässerung von Avocados, Pistazien, Mandelplantagen und anderen, besonders durstigen und profitablen Produkten verwendet werden.

Verglichen mit anderen Regionen sind diese Auswirkungen moderat. Auch die Gesellschaften der Nordhalbkugel aber werden in einer globalisierten Welt nicht verschont bleiben von dem Chaos, für das der Klimawandel in anderen Regionen sorgt. Millionenfache Migration, unterbrochene Handelsrouten, unsichere Energieversorgung und immer häufigere Naturkatastrophen werden auch hier enormen Druck auf bestehende Strukturen ausüben.

DAS EHERNE ZEITALTER

Welche Strukturen unter diesem Druck kollabieren werden, ist schwer vorauszusagen, und es ist auch sinnlos zu spekulieren. Tatsächlich ist es aber möglich, sich mithilfe der Geschichte ein Bild davon zu machen, wie tiefgreifend die Auswirkungen eines Klimawandels auf eine Gesellschaft sein können, wenn man sich die Kleine Eiszeit im 17. Jahrhundert ansieht, ein globales Phänomen, das aber für Europa besonders gut erforscht ist.

Die Abkühlung um etwa zwei Grad Celsius, die gegen Mitte des 16. Jahrhunderts einsetzte (die Gründe dafür sind wissenschaftlich noch immer nicht geklärt), traf in Europa auf einen im Wesentlichen spätmittelalterlichen, feudalen Kontinent. Die Renaissance, die sogenannte Entdeckung der Neuen Welt und in geringerem Maße sogar die Reformation hatten bis dahin ihren Einfluss hauptsächlich auf eine urbane Elite ausgeübt, während der Großteil der Bevölkerung ein Leben führte, an dem sich seit Jahrhunderten recht wenig geändert hatte.

Mehr als neun Zehntel der Europäer lebten vom Getreideanbau und von lokal gewachsenem Korn. Die Abkühlung verursachte Stürme, Hagelschauer, Regenperioden, lange Winter und kühle Sommer. Ein Grad Celsius im Jahresdurchschnitt entspricht etwa zehn Tagen Vegetationsperiode. In kalten Jahren hatten die Pflanzen kaum Zeit, um reif zu werden, und der Kontinent hungerte. Zunächst reagierten die Menschen darauf mit Bittprozessionen und Gottesdiensten. Nach schlechten Ernten wurde Jagd auf Hexen gemacht, die fast immer beschuldigt wurden, das Wetter verzaubert zu haben, um die Ernte zu verderben. In den Städten kam es immer wieder zu Brotaufständen, denn Mehl wurde von Jahr zu Jahr teurer und trieb eine beharrliche Inflation an. Hungersnöte, Missernten, Seuchen und Rebellionen bestimmten das Leben zahlloser Menschen.