Aufregung um Julia - Elisabeth Swoboda - E-Book

Aufregung um Julia E-Book

Elisabeth Swoboda

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Beschreibung

Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. »Es …, es tut mir leid, aber diesen Samstag habe ich keine Zeit«, stieß Wilma Heindl hastig hervor. Sie spürte, dass sie dabei rot wurde, und ärgerte sich darüber. Fieberhaft suchte sie nach einer Ausrede, aber es dauerte doch eine Weile, bis sie hinzufügte: »Ich …, ich habe Mama versprochen, zu Hause zu bleiben und ihr zu helfen. Sie …, wir erwarten am Sonntag Gäs­te, und Mama nimmt es mit den Vorbereitungen immer sehr genau.« »Bedeutet das, dass wir uns auch am Sonntag nicht sehen können?«, fragte Helmut Krenn. In seiner angenehmen Stimme schwang Bedauern, aber nicht die geringste Spur von Miss­trauen mit, sodass Wilma sich einerseits geschmeichelt fühlte, sich andererseits jedoch ein bisschen schämte. Das Lügen fiel Wilma schwer, aber umgekehrt hatte sie Angst, ihren neuen Freund zu verlieren, sobald er die Wahrheit über sie erfuhr. Und sie wollte ihn nicht verlieren. Er war so nett und sympathisch, dabei humorvoll und aufmerksam. Es tat ihr wohl, seine Bewunderung zu genießen. Mit Freuden hätte sie ihm den Sonntag gewidmet, aber sie hatte Pflichten, die wichtiger waren. So zwang sie sich dazu, ruhig zu erwidern: »Nein, leider, auch mit Sonntag ist es nichts. Ich kann Mama mit den Gästen nicht im Stich lassen.« »Und wenn ich nun ebenfalls käme?«, schlug Helmut vor. Erschrocken wandte Wilma ihrem Begleiter ihr Gesicht zu. Sie saß neben ihm in Helmuts kleinem Wagen, der in einem stillen Seitengässchen der Stadt stand. Ein paar Häuser weiter lag das Mietshaus, in dem Wilma wohnte.

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Sophienlust – 343 –

Aufregung um Julia

Warum ihre Mutter Angst um sie hatte...

Elisabeth Swoboda

»Es …, es tut mir leid, aber diesen Samstag habe ich keine Zeit«, stieß Wilma Heindl hastig hervor. Sie spürte, dass sie dabei rot wurde, und ärgerte sich darüber. Fieberhaft suchte sie nach einer Ausrede, aber es dauerte doch eine Weile, bis sie hinzufügte: »Ich …, ich habe Mama versprochen, zu Hause zu bleiben und ihr zu helfen. Sie …, wir erwarten am Sonntag Gäs­te, und Mama nimmt es mit den Vorbereitungen immer sehr genau.«

»Bedeutet das, dass wir uns auch am Sonntag nicht sehen können?«, fragte Helmut Krenn. In seiner angenehmen Stimme schwang Bedauern, aber nicht die geringste Spur von Miss­trauen mit, sodass Wilma sich einerseits geschmeichelt fühlte, sich andererseits jedoch ein bisschen schämte.

Das Lügen fiel Wilma schwer, aber umgekehrt hatte sie Angst, ihren neuen Freund zu verlieren, sobald er die Wahrheit über sie erfuhr. Und sie wollte ihn nicht verlieren. Er war so nett und sympathisch, dabei humorvoll und aufmerksam. Es tat ihr wohl, seine Bewunderung zu genießen. Mit Freuden hätte sie ihm den Sonntag gewidmet, aber sie hatte Pflichten, die wichtiger waren. So zwang sie sich dazu, ruhig zu erwidern: »Nein, leider, auch mit Sonntag ist es nichts. Ich kann Mama mit den Gästen nicht im Stich lassen.«

»Und wenn ich nun ebenfalls käme?«, schlug Helmut vor.

Erschrocken wandte Wilma ihrem Begleiter ihr Gesicht zu. Sie saß neben ihm in Helmuts kleinem Wagen, der in einem stillen Seitengässchen der Stadt stand. Ein paar Häuser weiter lag das Mietshaus, in dem Wilma wohnte. Sie hatte Helmut gebeten, nicht unmittelbar davor zu halten.

»Warum siehst du mich so entsetzt an?«, fragte Helmut. »Wäre mein Erscheinen unter euren Gästen denn so schrecklich? Handelt es sich um so vornehme Leute, dass du dich meiner schämen müsstest?«

»Nein – o nein! Wie kommst du denn auf diese Idee? Es ist nur … Mamas Gäste sind ehemalige Schulfreundinnen von ihr – lauter ältere Damen. Meist reden sie die ganze Zeit von ihrer längst vergangenen Schulzeit – oder von ihren Kindern und Enkelkindern. Du würdest dich sehr langweilen.«

»Und du langweilst dich nicht? Wäre es nicht angenehmer für dich, wenn wir am Sonntag einen Ausflug machten, wie in der vergangenen Woche?«

»Das würde ich gern tun, aber es geht nicht«, seufzte Wilma.

»Ist es deiner Mutter denn wirklich so wichtig, dass du bei ihrem Damenkränzchen anwesend bist?«

»Äh – ja. Sei mir nicht böse, Helmut, aber dieses Wochenende können wir uns nicht treffen.«

»Schade.«

Ein unbehagliches Schweigen breitete sich aus, bis Wilma nach einem nervösen Blick auf die Uhr am Armaturenbrett feststellte: »Es ist spät geworden. Ich muss jetzt gehen. Ich danke dir für den schönen Abend, und … falls du mich anrufen möchtest, meine Büronummer hast du ja.«

»Ja. Zu dumm, dass du in der Wohnung kein Telefon hast. Ich hätte dich sonst am Sonntagmorgen angerufen, in der Hoffnung, du hättest es dir anders überlegt. Na schön, ich werde dich wegen des Wochenendes nicht länger bedrängen«, fügte er hinzu, als er Wilmas gehetzten Ausdruck wahrnahm. »Darf ich dich wenigstens bis zum Haustor begleiten?«

»Nein, die paar Schritte kann ich allein gehen. Auf Wiedersehen, Helmut!«

Wilma schickte sich an auszusteigen, doch der junge Mann hielt sie zurück. »Halt! Warte noch einen Augenblick«, bat er. »Ich möchte wissen, was mit dir los ist. Habe ich dich irgendwie beleidigt?«

»Nein. Nein, du hast mich nicht beleidigt. Ich habe dieses Wochenende keine Zeit, das ist alles. Mamas Gäste sind …« Sie hielt inne und seufzte.

»Weißt du, dass du mir Rätsel aufgibst?«, fragte Helmut mit dem schwachen Versuch zu scherzen. »Du benimmst dich manchmal so sonderbar. Ich darf nicht mit dem Wagen hinfahren. Wenn es ein bisschen später wird, schaust du ungeduldig auf die Uhr, und oft hast du überhaupt keine Zeit. Tyrannisiert dich deine Mutter?«

»Aber nein! Keineswegs!«

»Kann ich sie einmal kennenlernen? Vielleicht erlaubt sie dir, öfters mit mir auszugehen, wenn sie mich in Augenschein genommen und festgestellt hat, dass ich ein vollkommen harmloser Mensch bin.«

»Ach, Helmut!« Gegen ihren Willen musste Wilma ein wenig lachen. »Mama ist nicht so, wie du sie dir offenbar vorstellst. Sie hat nichts gegen dich und erlaubt mir auch auszugehen, sooft ich will. Wenn du wirklich Wert darauf legst, kannst du Mama selbstverständlich einmal kennenlernen, nur muss ich …, möchte ich sie vorher vorbereiten.«

»Schön, dann bereite sie vor«, meinte Helmut lächelnd. »Bekomme ich einen Gutenachtkuss? Keine Angst, niemand sieht uns. Die Gasse ist wie ausgestorben.«

Er zog Wilma an sich und küsste sie sanft auf den Mund. Sie erwiderte seinen Kuss, allerdings mit einem leichten Widerstreben, das Helmut irgendwie verletzte. Er blickte ihr nachdenklich nach, als sie mit raschen Schritten ihrem Wohnhaus zustrebte. Ein eigenartiges Mädchen, ging es ihm durch den Sinn.

Wilma gefiel ihm über alle Maßen. Er hatte sich auf Anhieb in sie verliebt, aber er wurde nicht recht klug aus ihr. Ohne sich zu zieren, hatte sie ihm erzählt, dass sie fünfundzwanzig Jahre alt sei, aber in ihrem Verhalten kam sie ihm manchmal wie eine schüchterne Fünfzehnjährige vor. Er glaubte zu wissen, dass auch sie ihn mochte, obwohl sie sich erst seit wenigen Wochen kannten. Sie waren in einem überfüllten Selbstbedienungsrestaurant zusammengestoßen, und Wilma hatte durch seine Schuld ihr Mineralwasser verschüttet. Er hatte sich entschuldigt und ihr ein neues Glas besorgt. Auf diese Weise waren sie ins Gespräch gekommen. Er hatte herausgefunden, dass sie in einem Büro arbeitete, in dem die Buchhaltung für kleinere Firmen und Einzelhandelsgeschäfte erledigt wurde. Sein eigener Arbeitsplatz in einer Versicherung lag nicht weit von diesem Büro entfernt, sodass es ihm nicht schwerfiel, Wilma von der Arbeit abzuholen oder zu Mittag mit ihr essen zu gehen.

Schon nach kurzer Bekanntschaft hatten die beiden festgestellt, dass ihre Ansichten weitgehend übereinstimmten, dass sie die gleichen Interessen hatten und an den gleichen Dingen Gefallen fanden. Sie waren ein paar Mal zusammen im Kino gewesen, hatten ein Fußballmatch besucht und dabei ausgiebig auf den Schiedsrichter geschimpft, der eindeutig die auswärtige Mannschaft bevorzugt hatte. Bei dieser Gelegenheit hatte Wilma sich als lustiger Kumpel erwiesen. Sie hatte das Spiel mit aufrichtiger Begeisterung verfolgt und nicht wie Helmuts frühere Freundinnen mehr oder minder verstohlen gegähnt. Einige Tage nach dem Match hatten sie einen Ausflug in die Umgebung von Graz unternommen, und da hatte Helmut gemerkt, dass Wilma ihm mehr bedeutete, als die Mädchen, die er vor ihr gekannt hatte. Dieses Gefühl der Verbundenheit, des wortlosen Einverständnisses hatte er bisher noch nie empfunden. Wilma hatte die würzige Waldluft tief eingeatmet, ihre grauen Augen hatten geleuchtet. Helmut hatte den Arm um ihre Schultern gelegt, und so waren sie schweigend weitergewandert. Später hatten sie sich geküsst, und da war Helmut zum ersten Mal die ängstliche Zurückhaltung, die Wilma seinen Zärtlichkeiten entgegenbrachte, aufgefallen. Er war ihr gewiss nicht unsympathisch, das bewies ihre Haltung, aber sogar ein harmloser Kuss schien ihr Angst einzujagen.

Allmählich waren Helmut weitere Ungereimtheiten in Wilmas Benehmen aufgefallen. Sie plauderte gern und ausführlich über die Firma, in der sie beschäftigt war, über die Kolleginnen, über aktuelle Tagesereignisse und über die Filme, die sie sich angeschaut hatten, aber über sich selbst und ihr Privatleben sprach sie kaum. Helmut wusste nur, dass sie mit ihrer verwitweten Mutter zusammenlebte.

Nachdem Wilmas zierliche Gestalt im Haustor verschwunden war, startete Helmut seinen Wagen und fuhr zu seiner eigenen Wohnung, die in einem Neubau am Stadtrand von Graz lag. Er hatte diese Wohnung von einer kürzlich verstorbenen Tante geerbt, aber er fühlte sich nicht richtig wohl darin, sondern kam sich in den vier Zimmern ziemlich verloren vor. Einmal hatte er seiner Mutter gegenüber einige Worte über die ihm unangenehme Größe seiner Behausung fallen lassen. Sie hatte daraufhin gemeint, er solle nicht undankbar sein. Sobald er eine eigene Familie haben würde, würden ihm die vier Zimmer vielleicht sogar noch zu eng werden.

An diese Bemerkung seiner Mutter musste Helmut jetzt denken, als er seine Krawatte auf einen Stuhl warf und den Büroanzug mit einer ausgebeulten Arbeitshose vertauschte. Die letzten beiden Tage hatte er sich nach Dienstschluss damit beschäftigt, den Boden der Terrasse mit roten Keramikfliesen auszulegen. Jetzt konnte er daran gehen, die Fugen zu verschmieren. Er hatte lange zwischen ziegelroten und moosgrünen Fliesen geschwankt und sich schließlich für die roten Fliesen entschieden, weil ihm deren längliche Form besser zugesagt hatte. Aber ob sie Wilma gefallen würden …

Ich hätte Wilma bei der Auswahl nach ihrer Meinung fragen sollen, ging es ihm durch den Sinn. Doch gleich darauf schüttelte er über sich selbst den Kopf. Es war verfrüht, derartige Überlegungen anzustellen. Und doch kam er von dem Gefühl nicht los, in Wilma die Frau gefunden zu haben, die ihm helfen würde, die ruhigen vier Zimmer in ein gemütliches Zuhause zu verwandeln. Er hatte ihr schon von der Wohnung erzählt, sie ihr aber noch nicht gezeigt. Trotzdem konnte er sich gut vorstellen, dass Wilma hier durch die Räume schritt, die von der Tante hinterlassenen Zimmerpflanzen pflegte oder mit ihren schlanken schönen Händen das Essen zubereitete.

Keines der Mädchen, die Helmut bisher gekannt hatte, hatte in ihm solche Vorstellungen und Wünsche geweckt. Ans Heiraten hatte er früher nur vage gedacht und diesen Schritt auf die fernere Zukunft verschoben. Erst nachdem er Besitzer einer Vierzimmerwohnung geworden war, hatte er begonnen, konkretere Pläne zu schmieden. Bald danach hatte er Wilma kennengelernt und sie, ohne sich dessen bewusst zu sein, in seine Pläne mit einbezogen. Er war jetzt siebenundzwanzig. Die meisten seiner ehemaligen Schulkollegen waren bereits verheiratet, etliche waren sogar schon stolze Väter. Helmut fand, dass es auch für ihn an der Zeit war, an eine feste Bindung zu denken. Er hatte eine Wohnung, eine feste Anstellung, und – was das Ausschlaggebendste war – ein Mädchen, das er liebte. Das Dumme war nur, dass Wilma ihm tatsächlich Rätsel aufgab. Da war irgendetwas, was sie ihm vorenthielt, irgendetwas, was zwischen ihnen stand.

Ich muss herausbekommen, was mit Wilma los ist, beschloss Helmut Krenn und fuhr fort, die Fugenmasse zügig zu verstreichen. Körperliche Arbeit machte ihm Spaß. Er war zwar schlank, aber dabei kräftig und gut einen Kopf größer als die zierliche Wilma. Seine Gesichtszüge waren ebenso wie sein Körper wohlproportioniert und durchaus sympathisch. Er besaß dichte dunkle Haare, die er ziemlich kurz geschnitten trug, und seine dunkelbraunen Augen hatten einen ruhigen, aber gleichzeitig forschenden Blick. Sein Charakter war unkompliziert. Bei den Arbeitskollegen war er beliebt, und die Ansprüche, die er an das Leben stellte, hielten sich in vernünftigen Bahnen. Im Moment war sein größtes Anliegen, mit sich selbst und mit Wilma ins Reine zu kommen. Er wollte wissen, woran er mit ihr war.

Außerdem gab es da noch ein Problem, und zwar den bevorstehenden Urlaub. Helmut hatte bereits fixe Pläne für die kostbarsten Wochen des Jahres gemacht. Sein heimlicher Wunsch war, dass Wilma sich daran beteiligen möge. Verschiedentlich hatte er auch schon dahingehende Andeutungen fallen lassen, doch Wilma hatte darauf nicht reagiert.

*

Während Helmut seine Terrasse verfugte und in seinen Gedanken bei Wilma weilte, saß diese in der Küche ihrer Mutter und verlängerte geschickt den Saum eines Kinderkleidchens.

»So, jetzt müsste es wieder passen«, sagte sie und hielt das Kleidungsstück ihrer Mutter hin.

Ingeborg Heindl, die trotz ihrer siebenundvierzig Jahre beinahe genauso schlank und agil wie ihre Tochter war, nickte und meinte lebhaft: »Ja, es ­passt bestimmt. Ich werde es bügeln, und dann wird es wie neu aussehen. Das Kind wächst und wächst. Wenn es so weitermacht, wird es uns bald über den Kopf gewachsen sein.«

»Ach, das dauert schon noch eine Weile«, widersprach Wilma ihr lächelnd. »Julia ist ja erst fünf Jahre alt. Wo bleibt sie übrigens so lange? Ich habe es nicht gern, wenn sie erst so spät nach Hause kommt, dass ich keine Gelegenheit mehr habe, mich mit ihr zu unterhalten.«

Ingeborg Heindl zuckte mit den Schultern. »Du nimmst deine Pflichten wieder einmal zu genau«, meinte sie. »Sei froh, dass die Nachbarin Julia in den Park mitgenommen hat. Die beiden Buben von Frau Novotny sind brav und verträglich. Julia spielt gern mit ihnen. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Das Kind ist in guter Obhut. Bleib sitzen, trinke eine Tasse Kaffee und spanne aus. Das wird dir guttun.«

Wilma unterdrückte den Seufzer, der ihr auf den Lippen lag. Sie nahm die Tasse Kaffee, die die Mutter ihr reichte, entgegen und rührte nachdenklich um.

Ingeborg Heindl hatte sich ihrer Tochter gegenüber auf einen Küchenhocker gesetzt. Die beiden Frauen sahen einander sehr ähnlich. Beide hatten einen zarten Teint, mittelbraunes Haar und graue Augen. Doch während Wilmas Züge noch jugendlich glatt waren, lagen um den Mund der Älteren einige harte Linien, die Ingeborg Heindl ein missmutiges Aussehen gaben. Sie hatte vor vielen Jahren ihren Mann durch einen Autounfall verloren, und dieser Unfall hatte den Schlusspunkt unter eine nicht allzu glückliche Ehe gesetzt. Von ihrer einzigen Tochter war sie enttäuscht worden, und obwohl diese Enttäuschung mittlerweile über fünf Jahre zurücklag, war sie noch nicht darüber hinweggekommen. Sie hatte Wilma immer sehr behütet, und trotzdem hatte das Mädchen mit zwanzig Jahren ein Kind ohne Vater zur Welt gebracht. Ingeborg fand, dass das Kind Wilmas Zukunftsaussichten restlos zerstört hatte. Wer heiratete schon eine junge Frau mit einem Kind? Da sie diese Ansicht ihrer Tochter wieder und wieder zu verstehen gab, teilte Wilma sie allmählich.

»Triffst du dich am Wochenende wieder mit diesem jungen Mann, von dem du mir erzählt hast?«, fragte Ingeborg Heindl, nachdem sie ihre Kaffeetasse auf den Küchentisch gestellt hatte.

»Nein«, entgegnete Wilma einsilbig.

»Aha, du hast ihm also Julias Exis­tenz gebeichtet, und er will nichts mehr von dir wissen«, folgerte die Mutter.

»Nein, so ist es nicht. Ich meine – von Julia habe ich ihm noch nichts gesagt. Er wollte mit mir ins Kino gehen und am Sonntag einen Ausflug machen, aber …, aber ich habe ihm vorgeschwindelt, wir würden Gäste erwarten und ich müsste dir bei den Vorbereitungen helfen.«

»Aber, Kind! Um Himmels willen, warum hast du ihm denn ein Märchen aufgetischt? Ich begreife dich nicht. Anstatt dich zu freuen, dass du endlich einen passenden Mann kennengelernt hast, gebrauchst du lächerliche Ausflüchte, um nicht mit ihm ausgehen zu müssen. Also, ich begreife dich wirklich nicht. Wohin soll das führen? Oder willst du dich kostbar machen? Denkst du, er ist umso mehr hinter dir her, je seltener du Zeit für ihn hast?«

»O nein, ich will mich nicht kostbar machen«, widersprach Wilma ihr. »So raffiniert bin ich nicht.«

»Leider bist du es nicht«, betonte Ingeborg. »Sonst wäre alles ganz anders gekommen. Aber darüber zu jammern ist sinnlos. Was passiert ist, ist passiert. Und Julia ist ein liebes Kind. Ich habe sie sehr gern.«

»Ich habe sie eben auch gern, und deshalb möchte ich das Wochenende mit ihr verbringen. Unter der Woche habe ich ohnehin so selten Zeit für sie. Ich habe das Gefühl, dass sie in mir eher eine große Schwester sieht, aber nicht die Mutter. Du bist für sie die eigentliche Mutter.«

»Beklagst du dich darüber?«

»Nein, selbstverständlich nicht. Ich bin dir für alles, was du für uns getan hast, sehr, sehr dankbar. Ich wüsste nicht, wie ich ohne deine Hilfe zurechtkäme. Ich muss ja arbeiten gehen. Wovon sollten wir sonst leben?«

»Es ist gemein – er ist so reich! Er könnte ruhig mehr für dich und das Kind tun«, bemerkte Ingeborg aufgebracht.

Wilma zog unwillkürlich ihre feingezeichneten dunklen Augenbrauen zusammen. Mit ›er‹ war der Zementwerkbesitzer Walter Kronberger, Julias Vater, gemeint. Wilma wollte nicht an die kurze Episode, mit der sie sich nach Ansicht ihrer Mutter das ganze Leben verpatzt hatte, erinnert werden. Es war damals alles so schnell gegangen. Sie hatte anfangs nicht gewusst, dass er verheiratet war, obwohl sie es sich hätte denken können, da er mehr als doppelt so alt wie sie war. Jetzt wusste sie, dass sie damals in dem Mann einen Vaterersatz gesucht hatte, als die Atmosphäre zu Hause immer unleidlicher geworden war. Sie hatte sich in eine vermeintliche Liebe geflüchtet und erst, als es zu spät gewesen war, erkannt, worauf sie sich eingelassen hatte.

»Es macht mir nichts aus, dass er nichts tut, außer die Alimente zu bezahlen«, stieß Wilma jetzt ärgerlich hervor. »Ich könnte es nicht ertragen, wenn er …, wenn er versuchte, mit mir …, mit mir wieder Kontakt aufzunehmen, und sei es auch nur, um Julia zu besuchen. Ich will diesen Mann nie wieder sehen. Ach, und überhaupt, ich habe genug von den Männern. Erst heucheln sie einem Liebe vor – und dann lassen sie einen im Stich.«

»Das stimmt nicht. Dein Vater …«

»Ach, hör auf mit Vater!«, rief Wilma und schämte sich gleich darauf wegen ihrer Unbeherrschtheit.

»Na ja, in gewisser Beziehung hast du recht«, räumte Ingeborg Heindl ein. »Dein Vater war kein Engel. Er hat mich zwar nie im Stich gelassen, aber leicht hatte ich es mit ihm nicht. Diese ewige Nörgelei, dieses ständige Besserwissen – hm, lassen wir das. Nicht alle Männer sind so. Du musst dich eben gut umschauen. Für dich besteht noch die Hoffnung, dass du eines Tages doch glücklich wirst.«

»Helmut habe ich Julia verschwiegen«, murmelte Wilma verzagt. »Aber es ist …, es irritiert mich. Es kommt mir wie ein Betrug vor, den ich sowohl an ihm, als auch an dem Kind begehe. Ich will Julia nicht verleugnen …«

»Unsinn«, unterbrach die Mutter ihre Tochter. »Warte erst einmal ab, wie sich deine Bekanntschaft mit diesem Mann weiterentwickelt. Falls er ein ernsthaftes Interesse an dir zeigt, na ja, dann wird dir nichts anderes übrig bleiben, als ihm Julias Vorhandensein zu gestehen. Am besten lässt du gleichzeitig durchblicken, dass das Kind bei mir, seiner Großmutter, aufwächst und dass du demzufolge eigentlich völlig ungebunden und frei bist.«

»Nein, Mutter, das könnte ich niemals!«, rief Wilma erschrocken aus. »Ich könnte nie auf Julia verzichten und sie bei dir lassen, während ich …, ich mit einem Mann zusammenlebte. Das wäre einfach …«