Leb wohl, Thorsten - Elisabeth Swoboda - E-Book

Leb wohl, Thorsten E-Book

Elisabeth Swoboda

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Beschreibung

Der Sophienlust Bestseller darf als ein Höhepunkt dieser Erfolgsserie angesehen werden. Denise von Schoenecker ist eine Heldinnenfigur, die in diesen schönen Romanen so richtig zum Leben erwacht. Das Kinderheim Sophienlust erfreut sich einer großen Beliebtheit und weist in den verschiedenen Ausgaben der Serie auf einen langen Erfolgsweg zurück. Denise von Schoenecker verwaltet das Erbe ihres Sohnes Nick, dem später einmal, mit Erreichen seiner Volljährigkeit, das Kinderheim Sophienlust gehören wird. »Es war eine großartige Idee von dir, dieses Haus zu mieten, mein Lieber!« rief Helen Leistinger-Krumbach mit ihrer angenehm klangvollen, geschulten Stimme aus. »Dieses Haus ist genau der richtige Ort, um ein neues Leben zu beginnen! Schluß mit dem ewigen Kofferpacken, mit dem Herumzigeunern, mit all der Hektik!« »Es freut mich, daß dir das Haus gefällt«, gab Klaus Krumbach leise zurück. Auch er war während seiner Ausbildung zum Schauspieler darauf gedrillt worden, jede Klangfärbung seiner Stimme stets unter Kontrolle zu haben, dennoch fiel es ihm jetzt schwer, ein Zittern zu unterdrücken und sich den Anstrich heiterer Zuversicht zu geben. Er wagte seiner Frau nicht in die Augen zu sehen, aus Angst, sie könnte seine innersten Gedanken lesen. Helen lief mit beschwingten Schritten zu dem großen Fenster und blickte hinaus auf die Terrasse. »Der Garten wirkt ziemlich vernachlässigt«, stellte sie kritisch fest. »Auf dem Rasen liegt noch das welke Laub vom Vorjahr, die Sträucher gehören zurechtgestutzt, auch die Bäume benötigen einen Radikalschnitt.« »Ich werde einen Gärtner kommen lassen«, versprach Klaus, trat neben Helen und legte einen Arm um ihre Schultern. Er war ein gutaussehender Mann, groß, kräftig, mit dichten brünetten Haaren, scharf geschnittenen Gesichtszügen und blitzenden graublauen Augen. Obwohl er nur selten in Fernsehspielen in Erscheinung trat und nie für längere Zeit an einem der großen Theater engagiert gewesen war, gab es immer wieder Fanpost für ihn. Briefe von Verehrerinnen, denen es nicht nur seine Schauspielkunst angetan hatte. Helen neckte ihn gern wegen der Bewunderung, die viele ihrer Geschlechtsgenossinnen ihm zollten. Sie fand diese anhimmelnden Briefe überaus komisch und verspürte nie den geringsten Stich der Eifersucht, so sicher war sie sich, daß die Liebe ihres Gatten einzig und allein ihr gehörte. »Einen Gärtner?«

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Sophienlust Bestseller – 64 –

Leb wohl, Thorsten

Warum er seine liebe Tante Marianne verlassen musste …

Elisabeth Swoboda

»Es war eine großartige Idee von dir, dieses Haus zu mieten, mein Lieber!« rief Helen Leistinger-Krumbach mit ihrer angenehm klangvollen, geschulten Stimme aus. »Dieses Haus ist genau der richtige Ort, um ein neues Leben zu beginnen! Schluß mit dem ewigen Kofferpacken, mit dem Herumzigeunern, mit all der Hektik!«

»Es freut mich, daß dir das Haus gefällt«, gab Klaus Krumbach leise zurück. Auch er war während seiner Ausbildung zum Schauspieler darauf gedrillt worden, jede Klangfärbung seiner Stimme stets unter Kontrolle zu haben, dennoch fiel es ihm jetzt schwer, ein Zittern zu unterdrücken und sich den Anstrich heiterer Zuversicht zu geben. Er wagte seiner Frau nicht in die Augen zu sehen, aus Angst, sie könnte seine innersten Gedanken lesen.

Helen lief mit beschwingten Schritten zu dem großen Fenster und blickte hinaus auf die Terrasse. »Der Garten wirkt ziemlich vernachlässigt«, stellte sie kritisch fest. »Auf dem Rasen liegt noch das welke Laub vom Vorjahr, die Sträucher gehören zurechtgestutzt, auch die Bäume benötigen einen Radikalschnitt.«

»Ich werde einen Gärtner kommen lassen«, versprach Klaus, trat neben Helen und legte einen Arm um ihre Schultern. Er war ein gutaussehender Mann, groß, kräftig, mit dichten brünetten Haaren, scharf geschnittenen Gesichtszügen und blitzenden graublauen Augen. Obwohl er nur selten in Fernsehspielen in Erscheinung trat und nie für längere Zeit an einem der großen Theater engagiert gewesen war, gab es immer wieder Fanpost für ihn. Briefe von Verehrerinnen, denen es nicht nur seine Schauspielkunst angetan hatte. Helen neckte ihn gern wegen der Bewunderung, die viele ihrer Geschlechtsgenossinnen ihm zollten. Sie fand diese anhimmelnden Briefe überaus komisch und verspürte nie den geringsten Stich der Eifersucht, so sicher war sie sich, daß die Liebe ihres Gatten einzig und allein ihr gehörte.

»Einen Gärtner?« wiederholte Helen lachend. »Aber Klaus, du Dummer, hast du vergessen, daß ich aus einer Gärtnerei stamme? Meine Eltern hatten sich dem Gärtnerberuf mit Leib und Seele verschrieben, meine Geschwister haben diese Leidenschaft geerbt. Nur ich bin aus der Art geschlagen, ich wollte schon von klein auf Schauspielerin werden.« Sie seufzte, hob den Kopf, warf ihre schulterlangen blonden Haare zurück und fuhr entschlossen fort: »Mit der Schauspielerei ist es nun ein für allemal bei mir vorbei.«

»Vielleicht änderst du deine Meinung noch«, warf Klaus halbherzig ein.

»O nein, gewiß nicht! Dem Streß und dem ständigen Kleinkrieg mit Theaterdirektoren, Regisseuren, Kollegen, Kritikern und Publikum bin ich nicht mehr gewachsen. Die gräßliche Operation, die ich nun glücklich hinter mir habe, war gewissermaßen ein Einschnitt in meinem Leben, eine Warnung. Ich spüre es genau… Ich habe nur dann eine Chance, wenn ich meinen Lebensstil von Grund auf ändere. Von nun an spiele ich nur noch das brave Hausmütterchen und die Gärtnerin. Du mußt mir lediglich Werkzeug besorgen. Rechen, Baumschere, Säge, Rasenmäher, Leitern…«

»Kommt nicht in Frage! Du darfst dich nicht überanstrengen«, unterbrach Klaus seine Frau.

»Aber Klaus, Liebster, ich fühle mich prächtig!« Helen löste sich von dem Mann und drehte sich übermütig im Kreis, so daß ihr weiter dunkelroter Kaschmirrock um ihre Beine flatterte. »Ich könnte Bäume ausreißen!« behauptete sie, obwohl sie nach der raschen Bewegung nach Atem ringen mußte.

»Helen, um Himmels willen, du mußt dich schonen!« warnte der Mann.

»Ich habe mich lange genug geschont. Im Krankenhaus, nachdem die Ärzte an mir herumgeschnipselt hatten, fühlte ich mich hundeelend. Doch das ist nun vorbei… Erledigt! Der Kuraufenthalt danach hat mich wiederaufgebaut. Ich bin kerngesund. Ich habe diese schreckliche Krankheit überwunden. Oder bist du anderer Meinung?« Sie warf ihrem Mann einen Blick zu, in dem ein verzweifeltes Flehen lag.

Klaus hatte das Gefühl, als ob sein Herz sich zusammenkrampfte. Er kannte die Wahrheit, der Oberarzt hatte ihn rufen lassen und sie ihm mitgeteilt. Seither klammerte sich Klaus wider besseres Wissen an den Strohhalm, daß vielleicht ein Wunder geschehen könnte. Trotz der Schwierigkeiten, die sie ihm im Laufe ihrer zehnjährigen Ehe bereitet hatte, trotz ihres Egoismus und ihrer Verständnislosigkeit für andere liebte er seine Frau über alles.

»Klaus, warum antwortest du mir nicht?«

Der Mann riß sich zusammen. Schließlich war er Schauspieler. Was ihm auf der Bühne und im Fernsehstudio gelang, mußte er auch im Privatleben fertigbringen. Er lächelte und erklärte mit überzeugender Festigkeit: »Selbstverständlich bist du jetzt gesund! Trotzdem darfst du dir noch nicht zuviel zumuten. Du mußt deine Kräfte einteilen. Diese Operation war keine Kleinigkeit.«

»Nein, das war sie nicht!« Mit einem kleinen Aufschrei flog Helen in seine Arme und schmiegte ihren blonden Kopf an seine Brust. »Ich bin keine vollwertige Frau mehr«, schluchzte sie. »Ich kann dir keine Kinder mehr schenken.«

»Unsinn«, murmelte der Mann und streichelte besänftigend Helens Haar. »Für mich bist du die Beste und Schönste, das weißt du. Abgesehen davon – wir wollten doch gar keine Kinder mehr. In unserem Alter…«

»Ja, ja, erinnere mich nur daran, daß ich schon neununddreißig bin!« fiel Helen ihrem Mann ins Wort. Jetzt lag ein schriller Ton in ihrer sonst so angenehmen Stimme. »Neununddreißig! Für eine Schauspielerin ist das eine Katastrophe! Die schönsten Rollen schnappen einem die Jüngeren weg, oft genug sind das dumme Dinger ohne den geringsten Funken von Talent. Das einzige, was sie verstehen, ist, dem Produzenten schöne Augen zu machen. Und die Herren fallen prompt auf die hübschen Lärvchen herein. Es ist zum Kotzen!«

»Reg dich nicht auf«, bat der Mann.

Die Frau holte tief Atem. »Du hast recht, mein Lieber. Ich habe meinen Beruf samt meinem Ehrgeiz und allem sonstigen Drum und Dran an den Nagel gehängt. Meine Gesundheit geht vor. Nicht wahr, Klaus, du bist doch ebenfalls der Ansicht, daß die vielen beruflichen Aufregungen schuld an meiner Krankheit hatten? Es heißt ja, daß Krebs durch seelischen Streß hervorgerufen werden kann.«

»Gewiß, Liebes!«

»Ich werde also der Schauspielerei nicht nachtrauern, sondern mich einzig und allein einem harmonischen Familienleben widmen. Das erscheint mit die beste Garantie gegen einen Rückfall.«

»Gewiß, Liebes«, wiederholte Klaus.

»Ein Glück, daß du einen Fünfjahresvertrag an einer renommierten Bühne ergattern konntest. Wir müssen nun allein von deiner Gage unseren Lebensunterhalt fristen, aber ich denke, es wird zu machen sein.«

»Gewiß, Liebes«, murmelte Klaus zum drittenmal.

»Schließlich ersparen wir uns in Zukunft die teuren Hotelrechnungen«, überlegte Helen halblaut. »Ich werde selbst kochen und den Haushalt versorgen. Es wird ganz amüsant werden.«

»Wie oft muß ich dir noch erklären, daß du dich nicht überanstrengen darfst? Ich will unbedingt eine Putzfrau anstellen, die dich unterstützt.«

»Lieb von dir, Klaus! Du bist der beste Ehemann, den man sich vorstellen kann.« Helen wischte sich ein paar Tränen aus den Augenwinkeln. Ihre Stimmung wechselte ununterbrochen, von einer Sekunde auf die andere konnte bei ihr ein vergnügtes Lachen in ein herzzerreißendes Weinen umschlagen. Das war allerdings keine Folge ihres labilen Gesundheitszustandes, sie war schon immer launenhaft gewesen.

»Wollen wir unseren Gang durch das Haus fortsetzen?« erkundigte sich Klaus.

»Gern.« Helen strahlte schon wieder, was dem Mann mehr ins Herz schnitt als ihr Schluchzen. Die Tränen hatten ihre Wimperntusche ein wenig verschmiert, aber das nahm Klaus nicht wahr. Was ihm auffiel, waren die eingefallenen Wangen und die vielen harten Linien um Augen und Mund. Ihr Lachen klang in seinen Ohren gekünstelt, er konnte nur hoffen, daß sie selbst es nicht so empfand und auch nichts von seiner eigenen dumpfen Niedergeschlagenheit merkte.

Während sie den Besichtigungsgang durch den bungalowartigen Flachbau wiederaufnahmen, zwang auch der Mann sich zur Fröhlichkeit. Er hatte das Haus samt einer geschmackvollen Einrichtung gemietet. Die Besitzer waren für einige Jahre ins Ausland übersiedelt und waren froh gewesen, innerhalb kurzer Zeit einen Mieter zu finden. Sie hatten es ihm verhältnismäßig günstig überlassen.

»Auch die Möbel sind in Ordnung«, stellte Helen nach ihrem Rundgang zufrieden fest. »Das einzige, was fehlt, ist ein Kinderzimmer. Aber das ist nicht weiter schlimm. Wir werden die Sitzgarnitur aus dem grün tapezierten Zimmer in den Salon schieben, dort können wir noch gut einige zusätzliche Sitzgelegenheiten brauchen. Wenn ich mich auch aus dem Beruf zurückgezogen habe, gänzlich versauern möchte ich nicht. Wir werden Partys geben, zu denen wir deine Freunde und Kollegen einladen. Du wirst dich wundern, was für tolle hausfrauliche Qualitäten ich entfalten werde. Ich…«

»Helen!« versuchte Klaus seiner Frau Einhalt zu gebieten, aber sie achtete nicht auf ihn, sondern sprach mit fieberhaftem Eifer weiter.

»… ich werde mich auch zu einem Vorbild an Mütterlichkeit entwickeln. Ich werde alles wiedergutmachen, was ich bisher an Thorsten versäumt habe. Wir werden gemeinsam alle Möbelhäuser abklappern, bis wir wirklich gute und auf eine kindgerechte Entwicklung abgestimmte Möbel gefunden haben. Die Wände im grünen Zimmer sind zu düster, ein Tapezierer muß her! Glaubst du, wir könnten in dem Schuppen hinter der Garage ein Pony für Thorsten halten? Als ich noch ein Kind war, war ein Pony mein größter und innigster Wunsch, den mir meine Eltern leider nie erfüllten. Thorsten soll es einmal besser haben. Ich will ihn mit einem Pony überraschen.«

Klaus strich sich eine dunkle, von wenigen grauen Fäden durchzogene Haarsträhne aus der Stirn. Es war eine Geste der Hilflosigkeit, es hatte ihm die Rede verschlagen.

»Warum bist du so stumm, Liebster?« forschte Helen und schmiegte sich an ihren Mann. »Käme ein Pony zu teuer? Können wir uns diese Ausgabe nicht leisten?«

»Darum geht es nicht«, sagte der Schauspieler nach einem Räuspern, das klang, als ob er dem Ersticken nahe wäre. »Ich bin lediglich überrascht über deine Absicht, Thorsten herzuholen.«

»Was ist daran überraschend? Er ist unser gemeinsamer Sohn. Er gehört zu uns, zu seinen Eltern.«

»Bisher warst du anderer Meinung«, murmelte der Mann. Sein Blick irrte hinaus in den verwilderten Garten und blieb an dem Schuppen hängen, in dem die Besitzer allerlei Geräte untergebracht hatten. Helens Vorhaben war Wahnsinn. Todkrank wie sie war, konnte sie sich unmöglich einen lebhaften Jungen und ein Pony auf den Hals laden. Aber das durfte er ihr nicht sagen, sie wußte ja nicht, wie ernst es um sie stand. Der letzte Liebesdienst, den er ihr erweisen konnte, war ein völliges Eingehen auf ihre Wünsche. Dabei war es notwendig, die Tatsachen zu verschleiern und fröhlichen Optimismus zu mimen. Eine Aufgabe, die dem Schauspieler die Grenzen seiner Verstellungskunst auf traurige Weise offenbarte. »Thorsten ist bei deinen Geschwistern bestens aufgehoben«, fügte er beinahe beschwörend hinzu.

Helen hatte sich ein paar Schritte von ihrem Mann entfernt. Mit gesenktem Kopf stand sie vor einem Bücherregal und fuhr mit dem Zeigefinger über die bunten Buchrücken. »Du verstehst mich nicht«, klagte sie. »Obwohl sie mich im Krankenhaus mit Beruhigungs- und Betäubungsmittel vollgestopft hatten, lag ich oft stundenlang wach. Ich durfte mich nicht bewegen, aber meine Gedanken ließen sich nicht ausschalten. Es war qualvoll. Ich mußte an die vielen Fehler denken, die ich begangen hatte. Meine schönsten Jahre hatte ich dem Beruf geopfert, ich habe mein einziges Kind meinem Ehrgeiz geopfert.«

»Du übertreibst«, warf Klaus kopfschüttelnd ein. »Du hast Thorsten nicht geopfert. Bei Marianne und Bernd geht ihm nichts ab.«

Die Schauspielerin zuckte ungeduldig ihre knochigen Schultern. »Er mußte die Liebe seiner leiblichen Mutter entbehren!« rief sie dramatisch aus. »Außerdem hat sich einiges geändert. Da war doch diese Heiratsanzeige. Du hast sie mir gezeigt. Ich hoffe, du hast daran gedacht, ein Geschenk zu schicken.«

»Ja, ich habe deinem Bruder und seiner Frau eine Garnitur geschliffener Gläser, begleitet von herzlichen Glückwünschen geschickt. Wahrscheinlich haben sie sich gewundert, daß niemand von uns persönlich aufkreuzte, aber ich – ich konnte nicht. Du lagst im Krankenhaus – ich war einfach nicht in der Verfassung, mich auf einer Hochzeit zu amüsieren. Falls Bernd uns unser Fernbleiben übelnimmt…«

»Ist das egal«, nahm Helen ihrem Mann das Wort aus dem Mund. »Wichtig ist, daß ich unser Kind nicht bei Fremden lassen werde. Es ist meine Aufgabe, mich um Thorsten zu kümmern. Es war von jeher meine Aufgabe, aber ich habe sie vernachlässigt. Vielleicht war meine Erkrankung die Strafe dafür. Weitere Kinder sind mir verwehrt, aber Thorsten bleibt mir. Ihn großzuziehen, das soll meine künftige Lebensaufgabe sein. Vielleicht – vielleicht verzeiht mir das Schicksal meine frühere Gleichgültigkeit.«

Wiederum fing Klaus einen ihrer flehenden Blicke auf. Mit schmerzlicher Eindringlichkeit spürte er, was in Helen vorging. Sie hatte einen Handel mit dem Schicksal abgeschlossen, sie wollte auf ihren Beruf, der ihr fast zwanzig Jahre hindurch das einzig Wichtige gewesen war, verzichten und sich statt dessen einem Kind widmen, das sie als winzigen Säugling in die Obhut ihrer Eltern und Geschwister gegeben hatte. Als Gegenleistung erwartete sie sich nun vom Schicksal eine Aufhebung des über sie verhängten Todesurteils. Das war typisch Helen, sie hatte nicht das Wohl des Kindes vor Augen, in erster Linie dachte sie nur an sich selbst. Alle anderen, die Geschwister, Thorsten und er, Klaus, kamen erst viel, viel später.

Dennoch konnte Klaus der Kranken nicht böse sein, dazu waren seine Liebe und die Angst vor dem unvermeidlichen Ende viel zu groß. Er eilte auf Helen zu, schloß sie in seine Arme und versicherte: »Alles soll so geschehen, wie du es möchtest. Wir werden den Jungen zu uns holen.«

*

»Die drei Tannen bitte hierher«, ordnete Andrea von Lehn an.

»Der Platz ist ungünstig«, widersprach Marianne Leistinger. »Du mußt bedenken, daß die Tannen wachsen und breiter werden. In ein paar Jahren sind ihnen dann die Äste des Nußbaumes im Weg.«

»Hm, möglicherweise war ich zu gierig, als ich drei Tannen bestellte«, bekannte Andrea, eine lebhafte junge Frau mit strahlend blauen Augen. »Eigentlich ist in unserem Garten für eine Tannengruppe überhaupt kein Platz mehr. Ich sollte mich mit einer Tanne begnügen. Aber eine einzelne Tanne neben einem Nußbaum, ob das gut wirkt?«

»Kaum«, erwiderte Marianne. Mit ihren achtundzwanzig Jahren war sie der Frau des Tierarztes altersmäßig etwas voraus, aber die beiden kannten einander von Kindesbeinen an und duzten sich. »Wie wäre es dort drüben?« fragte sie und deutete mit der Rechten auf einige Staudenrabatte, welche jetzt, im März, nicht gerade zur Zierde des Gartens beitrugen.

»Dort wachsen im Sommer Rittersporn, Phlox, Margeriten und Glockenblumen und im Herbst Astern. Dort ist noch viel weniger Platz für die Tannen als neben dem Nußbaum.«

»Wir graben die Stauden aus und pflanzen sie anderswo wieder ein«, schlug Marianne vor. »Ich habe Hans, unseren neuen Gehilfen mitgebracht. Er ist kräftig, er schafft das im Handumdrehen.«

Der schlaksige junge Mann, der die jungen Bäume vom Lieferwagen in den Garten geschleppt hatte, nickte zustimmend und unterbreitete Frau von Lehn nun seinerseits Vorschläge, welche Stand­orte für Rittersporn, Margeriten, Phlox und die übrigen Stauden die günstigsten wären. Andrea erklärte sich einverstanden, meinte jedoch mit einem schwachen Lächeln: »Drei Tannen und ein paar Ziersträucher wollte ich haben, und nun wird beinahe der ganze Garten umgekrempelt.«

»So arg ist es auch wieder nicht«, meinte Marianne Leistinger lachend. Sie war eine hübsche, allerdings eher unauffällig wirkende Frau, mit regelmäßigen Gesichtszügen, großen graublauen Augen und dunkelblonden Haaren, deren kurzer Schnitt mehr praktisch als attraktiv war.

»Ich gebe dir und deinem Gehilfen freie Hand«, sagte Andrea. »Gestaltet alles so, wie es euch am vorteilhaftesten erscheint. Ich kann nicht länger bleiben, ich muß meinem Mann in der Praxis helfen. Ich bin ohnehin spät dran, die Sprechstunde hat längst begonnen.«

»Falls Thorsten dir lästig wird, dann schick ihn bitte wieder zu mir«, ersuchte die Gärtnerin Andrea von Lehn.

»Dein Neffe ist mir bestimmt nicht lästig. Er ist mit meinem Sohn zum Tierheim gelaufen. Sicherlich nimmt sich der alte Janosch der beiden Buben an. Vermutlich erzählt er ihnen gerade eine seiner abenteuerlichen Geschichten aus der ungarischen Pußta.« Mit raschen Schritten entfernte sich Andrea, um ihren Pflichten in der Tierarztpraxis ihres Mannes aufzunehmen.

Auch Marianne und Hans machten sich nun an die Arbeit. Es war ein milder, sonniger Tag, der schon den Frühling ahnen ließ. Nur ab und zu kam ein rauher Windstoß und wirbelte dürre Ästchen und Reste von altem Laub auf.

*

Peter von Lehn und Thorsten Krumbach standen am Zaun zur Pferdekoppel und beobachteten das ehemalige Turnierpferd Fortuna und den munteren Esel Fridolin.

»Leiten?« krähte Peterle und wies mit ausgestrecktem Zeigefinger auf die große hellbraune Stute.

Thorsten warf dem Knirps einen verständnislosen Blick zu.

»Leiten! Leiten!« wiederholte der Kleine und stampfte ungeduldig mit dem Fuß auf, weil ihn der Ältere nicht verstand.

»Er fragt dich, ob du reiten möchtest«, mischte sich Janosch Corda ein.

»Auf dem riesigen Pferd? Oh, nein!« Beinahe entsetzt schüttelte Thorsten den Kopf.

»Nicht auf dem Pferd, auf dem Esel. Fridolin ist brav. Er hat noch nie ein Kind abgeworfen. Er ist auch nicht so bockig, wie Esel manchmal sind«, erklärte der Tierpfleger. »Soll ich Fridolin von der Koppel holen?«

»Nein, danke«, wies Thorsten das Angebot des Tierpflegers höflich zurück. Janosch sah ihn ein bißchen mitleidig an. Für seine fünf Jahre war der Bub klein und schmächtig. Sein Gesicht war zart und blaß, die sanften grauen Augen und die leicht gelockten dunkelblonden Haare trugen noch zum Anstrich ängstlicher Wohlerzogenheit bei.

»Tja, wenn du nicht reiten willst, zwingen tut dich niemand«, bemerkte Janosch fast ein wenig abfällig. Er war der Meinung, daß ein richtiger Junge laut, lebhaft und für jedes Wagnis zu haben sein mußte. Dabei stellte ein Ritt auf dem zahmen Esel nun wirklich kein Wagnis dar.

Peterle schien den gleichen Gedankengang wie der Tierpfleger zu verfolgen, denn er piepste plötzlich: »Heidi leitet immer! Heidi steitet.«

»Was sagst du da? Warum redest du so undeutlich?« fragte Thorsten.