Aufrüschbar - Clara Ott - E-Book

Aufrüschbar E-Book

Clara Ott

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Beschreibung

Endlich ist es so weit! Zusammen mit ihrer besten Freundin Cosima eröffnet Lotte das Kreativatelier Aufrüschbar, in dem die beiden langweilige Mainstreammode in trendige Unikate verwandeln. Sie haben ein Jahr Zeit, erste Erfolge vorzuweisen, ehe Cosimas Eltern ihre finanzielle Unterstützung streichen. Neben ihrer aufregenden Karriere entwickelt sich auch Lottes Liebesleben - nur leider eher im Zickzack als auf Erfolgskurs. Männer wie ihr smarter Mitbewohner Moritz, der erfolgreiche Clubbesitzer Benjamin oder der Schauspieler J.J. bestärken Lotte in ihrer Theorie vom 'Nullten Sex'. Die lautet: Mit einem Mann über Sex zu reden ist oftmals aufregender, als ihn zu praktizieren. Und nachhaltiger, denn es erhöht die Wahrscheinlichkeit, mit diesem Mann weiterhin Kontakt zu haben. Aber Theorie und Praxis in Einklang zu bringen ist gar nicht so leicht. So wacht Lotte nicht nur einmal neben einem Mann auf, der doch gerade nicht dort liegen sollte.

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Seitenzahl: 340

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Clara Ott

Aufrüschbar

Roman

INHALT

Prolog

»Mein Leben ist ein Roman, der auf wahren Ereignissen beruht.«

Frédéric Beigbeder, »Der romantische Egoist«

Unschuldsmoment. Ich erwache langsam und befinde mich in einem Zustand der friedlichen Leere. Doch dann schleichen sich mitten in diesen ruhigen Dämmerzustand mein Bewusstsein, die Erinnerungen und die Realität. Mein Unschuldsmoment zerplatzt. Es fühlt sich an, als reiße mir jemand meine gemütliche Bettdecke in meinem kalten Schlafzimmer weg. Vielleicht spüre ich ein ungutes Ziehen in der Bauchgegend. Vielleicht hämmern hinter meinen Augen üble Kopfschmerzen. Vielleicht liegt auch jemand neben mir, mit dem ich letzte Nacht unnötigerweise Sex hatte. Die Realität nach dem Unschuldsmoment ist nicht immer ein Grund aufzuwachen.

Aber heute, am 1. März, ist das anders. Ich wache auf und liege nicht mehr neben mir. Im vergangenen halben Jahr habe ich nicht einfach nur viel erlebt, es sind Dinge passiert, die der Bezeichnung »Lebenserfahrung« würdig sind. Was für ein halbes Jahr, Lotte Rügenbach. Manchmal reicht ein halbes Jahr für ein ganzes Leben.

Elasthan

Das Schild hängt schief.« Zumindest von hier aus betrachtet. Cosima wackelt etwas gefährlich in ihren hochhackigen Stiefeln auf der obersten Leiterstufe herum. Wenigstens hält sie sich mit einer Hand an der rosa Hausfassade fest, mit der anderen an unserem Ladenschild. Auf weißem Grund steht in verschnörkelten goldenen Buchstaben »Aufrüschbar« darauf.

»Schief gibt es nicht, Lotte. Nur die falsche Perspektive.«

Okay, schließlich ist die alte Hausfassade auch nicht perfekt. Eigentlich bilden das schiefe Schild, die alte Holzleiter, Cosimas graues Strickkleid und ihre zerzausten, roten ­Locken sogar ein richtig harmonisches Bild, in das auch die hässliche grüne Bohrmaschine passt. Und der Hamburger Nieselregen an diesem 1. September, dem Eröffnungstag unserer »Aufrüschbar«.

Wieder auf dem Bürgersteig, springt Cosima erneut in die Luft, umarmt mich und schwingt die Bohrmaschine gefährlich nah an meinem Kopf vorbei. Ich verschütte Champagner über meine Wildlederstiefel. Über meine nagelneuen, grauen, etwas zu teuren Wildlederstiefel. Aber betrachten wir es als Taufe der »Aufrüschbar«, als Taufe des Bürgersteigs vor unserem Laden, als Taufe meiner neuen Stiefel und als Besiegelung unserer Freundschaft.

Cosima von Goldhagen. Lotte Rügenbach. Zwei Geschäftsfrauen im Champagnerregen auf der Sonnenseite des Lebens. Oder so.

»Cin cin, Cosima, ich bin so stolz auf uns.« Cosima und ich entwickeln nämlich seit unserem fünften Lebensjahr Geschäftsideen. Die Idee mit der Musikschule, in der ausschließlich One-Hit-Wonder-Musiker unterrichten, finde ich bis heute noch grandios. Aber jetzt stehen wir mit 28 Jahren vor der »Aufrüschbar«, unserem Änderungsatelier. Mit dem Fokus nicht etwa auf gekürzten Hosenbeinen, kaputten Mantelreißverschlüssen oder gerissenen Jeans. Sondern auf der Verschönerung durchschnittlicher Massenware. Bei uns soll Kleidung individualisiert werden, weg von Mainstream-Mode hin zu detailverliebten Kleidungsstücken. Zielgruppe sind alle Hamburger, die zu faul zum Selbernähen sind und sich statt öder H&M-Strickjacke oder schlichtem Adidas-Hoodie ein einzigartiges Teil wünschen. Neue Knöpfe, andersfarbige Reißverschlüsse, abgeschnittene Ärmel, ein Jutebeutel aus einem alten Mantel und so weiter. Enormes Erfolgspotenzial, nachhaltig, kreativ, weil man dadurch seiner Mode eine zweite Chance gibt. So haben wir auch Cosimas Eltern überzeugt, uns im ersten Jahr finanziell zu unterstützen. Sie ist Einzelkind und kommt aus einer schwerreichen hanseatischen Reederdynastie.

»Cosima, unglaublich. Nach dem ganzen Renovierungsstress und der kräftezehrenden Bürokratie. Ich kann es kaum fassen. In drei Stunden stehen wir in unserem Laden, betrunken und unsere Freunde können uns endlich offiziell Aufträge geben.«

»Lass uns neuen Champagner holen. Wie spät ist es?« Ich muss mich kurz an die rosa Hausfassade lehnen. Mir ist schwindelig. Zwei Gläser Champagner habe ich schließlich schon getrunken, ehe ich das dritte verschüttet habe. Und gegessen habe ich vor lauter Nervosität noch nichts außer drei Croissants und einer Banane.

»Unser Laden ist so hübsch!« Weiß gestrichener Dielenboden, weiße Wände und helle Holzmöbel. Den Stuck an der hohen Decke haben wir teilweise golden streichen lassen. Vorne ist der Verkaufsraum, in dem ich mit den Kunden aus Kommoden und Regalen Stoffe, Knöpfe und unzählige Accessoires aus­suchen werde. Cosimas Refugium ist der eigentliche Atelierraum.

»Lotte, es ist schon fast vier. Wann kommen denn endlich die Jungs?«

Wir stoßen mit dem letzten Rest aus der Veuve-Clicquot-Flasche an und mich beschleicht leichte Panik, die ich mir aber nicht anmerken lassen will. Sonst wird Cosima noch nervöser, als sie eh schon wegen ihres Liebhabers Lasse ist.

»Moritz hat die Stehtische und den Kühlschrank schon aus der Agentur geholt und sammelt wohl gerade Jonas ein.«

»Hoffentlich, Lotte. Ruf Moritz lieber mal an.«

»Hast du denn mein Kleid fertig?«

Cosima wollte mein dunkelblaues Wickelkleid mit einer roten Kante verzieren, die Ärmel abtrennen, einen roten Gürtel drumnähen und einen weißen Blusenkragen am Dekolleté einsetzen. Klingt vielversprechend – auch wenn ich es mir noch nicht so richtig vorstellen kann.

Sie wühlt sich durch den Kleiderhaufen auf dem Sofa. Nicht auffallend hektisch, aber ich ahne, dass sie das Kleid nicht fertig bekommen hat. Schon nach zwei Wochen hat Cosima ein unglaubliches Chaos verursacht, sodass die »Aufrüschbar« wirkt, als hätten wir bereits seit drei Jahren geöffnet. Nicht schlimm, sondern eher gut für unsere Seriosität.

Ich gehe im Kopf lieber schon mal Alternativen durch: Vielleicht sollte ich wirklich den schwarzen Minirock tragen, den Cosima zu Testzwecken komplett aus Krawatten genäht hat? Oder das rote Etuikleid, an dem sie eine kleine Handtasche befestigt hat? Die Tasche lässt sich nicht abmachen, aber gerade deshalb kann man ganz wunderbar darin tanzen.

»Du, Cosima, brauchst nicht mehr zu suchen. Ich nehme das rote Etuikleid. Das passt doch auch besser, wenn du nachher dein grünes anziehst.«

Sie strahlt und hört mit dem Gewühl auf. »Prima! Dann kann ich bei meinem Kleid nämlich noch die Träger fertig machen.«

Ihr Kleid war früher ein hässliches schulterfreies Cocktailkleid, mit sagenhaft vielen Chiffonrüschen. Sie hat die Rüschen um die Hälfte reduziert, das Kleid gekürzt und aus den abgeschnittenen Volants einen enormen Schalkragen genäht. Bei ihrem Modedesignstudium an der ESMOD in Berlin und Paris hat sie viel gelernt, aber das Wichtigste ist, dass sie gern experimentiert und vor nichts zurückschreckt.

Cosima setzt sich mit ihrem Champagnerschwips an die Nähmaschine. Ich kenne mich nicht wirklich mit dem Nähen aus, dafür aber mit Verkauf und Organisation. Die letzten fünf Jahre habe ich in verschiedenen Bars und Cafés gejobbt. Zuletzt im »Schanzenglück«. Aber um die Finanzen werden wir uns ohnehin zusammen mit Cosimas Vater Richard von Goldhagen kümmern. Beziehungsweise mit seinem Steuerberater.

»Deine Eltern werden stolz auf dich sein, Cosima.« So wie wir auf unsere Geschäftsidee.

Cosima hatte damals ein neues Kleid an, bei dem sie die Knöpfe ausgetauscht, die Taille gerafft und die Ärmel abgeschnitten hatte. Ursprünglich wirkte sie damit wie eine biedere Hochschwangere, danach jedoch wie eine selbstbewusste Jungfrau. Als eine Frau im gleichen Kleid zufällig neben ihr stand und irritiert fragte, woher Cosimas Kleid sei, kam uns die Idee mit dem Laden in den Sinn. Spontan bei Gin Tonics.

»Selbstverständlich sind sie stolz. Jetzt sehen sie ihr Geld wenigstens mal, statt dass es unsichtbar auf dem Konto versauert.«

Bei Richard und Christine von Goldhagen stehen wir tief in der Schuld. Als Cosimas Eltern mit dem Makler vor dem kleinen Ladenlokal in der unscheinbaren Nebenstraße in St. Pauli standen, hätten sie uns das zugesicherte Darlehen zwar fast wieder gestrichen, aber zum Glück haben wir sie dennoch von der Idee ihrer einzigen Tochter überzeugen können. Und mich kennen sie schließlich auch, seit ich drei Jahre alt bin.

»Lasse hat den Dielenboden wirklich toll abgeschliffen.« Bis vorgestern Nacht, der Arme. Aber er hatte es angeboten. Bei so viel Einsatz kann er eigentlich auch mal langsam seine Freundin verlassen. Für Cosima.

»Ja, ich liebe ihn für alles, was er macht. Apropos Traummänner: Ruf mal deinen Mitbewohner an, Lotte.«

Bitte lass uns nicht im Stich, Moritz. Das Einzige, was bei ihm sicher ist, ist seine einschlägige Leidenschaft für Frauen und Karohemden.

»Lottchen! Sind gleich da.« Sicher.

»Wo seid ihr denn jetzt?«

»Wir suchen einen Parkplatz.«

»Ihr könnt euch doch einfach vor die Tür stellen.« Die Straße ist eigentlich zu eng dafür. Aber wenn sie schnell rausspringen, geht das bestimmt.

»Wir sind schon zweimal bei euch vorbeigefahren. Es ist viel zu eng für Zweite-Reihe-Parken. Aber gut. Bis gleich.«

Cosima säuselt währenddessen im Nebenzimmer direkt in Lasses Ohr. Ich stelle mich lieber schon mal ans Schaufenster und gucke. Obwohl ich gar nicht weiß, mit was für einem Auto sie überhaupt kommen. Es regnet jetzt leider in Strömen. Nicht gut. Sie werden fluchen. Vor allem Moritz.

Moritz, 33 Jahre. Nicht nur ein erfolgreicher Werbetexter, sondern auch in der Frauenbranche ein Held. Aber im Gegensatz zu seinem beruflichen Engagement benutzt er beim Flirten eher das Copy-and-Paste-Prinzip: Bier, Sex, nicht mehr anrufen. Aus Bequemlichkeit nimmt er die meisten Frauen lieber mit zu sich. Zu uns. Was für Britta, unsere gemeinsame Mitbewohnerin, und mich heißt, dass samstags und sonntags fremde Mädels unser Bad blockieren. Um sich für Moritz hübsch zu machen, so gut es nach einer durchfeierten und durchvögelten Nacht mit einem fremden Mann in einer unbekannten Wohnung eben geht. Vor allem, wenn man in seiner kleinen Handtasche keinen Platz für Wimperntusche oder Deo hatte. Ein kompliziertes Unterfangen, bei dem man sich dann heimlich an fremdem Schminkzeug zu schaffen macht. Die Frauen tun mir leid – weil ich das Gefühl, am Morgen danach in einem fremden Bade­zimmer zu stehen, selbst gut kenne. Man denkt »Oh, wonach riecht wohl sein Aftershave?«, »Ist seine Dusche sauber?« und »Wie schön, er benutzt auch Zahnseide?«. Und verwechselt diese Alltagsgewohnheiten mit einer gemeinsamen Basis für Liebe. Schuld sind die ausgeschütteten Glückshormone.

Da. Ein Bulli vor unserer Tür.

»Sie sind da, Cosima.« Lächeln hilft immer, vor allem, wenn die Sonne nicht scheint.

»Scheißwetter!« Moritz und Jonas fluchen schon beim Aussteigen. Lächeln, Lotte.

Moritz hat einen hellblauen Kapuzenpullover an, der sich binnen Sekunden dunkelblau verfärbt. Wenigstens trägt Jonas, typisch Lehrer, eine alberne Funktionsregenjacke.

»Toll, dass ihr da seid, danke!« Cosima und ich bringen die Steh­tische rein, Moritz und Jonas den Kühlschrank mit dem fetten Bier-­Logo.

»Und das merkt niemand, wenn der am Wochenende fehlt?«

»Wenn schon. Ich bringe ihn ja morgen zurück.«

Ich bewundere Moritz’ ständige Zuversicht.

Cosima stopft sofort die Bierflaschen in den Kühlschrank. Perfekt. Dann schaut sie uns an. »Fahrt ihr jetzt zu Frieda und holt das Essen?«

Frieda, unsere liebste Freundin. Eine ausgebildete Köchin, ausgezeichnete Konditorin und geborenes Küchenorganisations­talent. Sie ist immer und überall für die kulinarische Verpflegung zuständig, was herrlich ist.

»Muss ich da auch mitkommen?« Jonas lehnt sich genervt und mit verschränkten Armen an die Ladentheke und rollt mit den Augen. Ein großer, blonder Surferboy, die Schülerinnen lieben ihn. So wie Frieda. Nur weiß Jonas das nicht. Denn Friedas Liebesrezept gleicht eher einem Diätprogramm. Sie ist konsequenter Single und knutscht niemals mit dem Falschen. Niemals.

Vor einem Jahr, als ich in Moritz’ und Brittas WG zog, hat sie sich jedoch auf den ersten Blick verliebt. In Jonas. Aber weil sie Enttäuschungen fürchtet und strikt gegen Sex ohne Liebe ist, reagiert sie aus Unsicherheit abweisend, arrogant und wie Cosima und ich finden: absolut unauthentisch. Aber das ist ein anderes Thema.

»Jonas, Frieda hat köstliche Lammfrikadellen mit Roquefort und Preiselbeerdip gemacht.« Mein Part als Freundin kann nur sein, sie in gutem Licht darzustellen. Und bei dem Wort »Frikadellen« lächelt Jonas immerhin.

»Geil, Frikadellen. Ich hoffe, die gute Frieda hat auch wieder ihre meisterlichen Sardellen-Salami-Bruschettas gemacht.«

»Lass dich überraschen. Cosima, du wartest auf Lasse, oder?«

»Ja, ich wische so lange die Dielen noch mal. Habt ihr ja alle schön dreckig gemacht. Ich glaub, Lotte, weiße Dielen sind doch nicht so clever. Oder wir brauchen eine Fußmatte.«

In Hamburg braucht man wirklich eine Fußmatte.

Polyacryl

Als wir ins Auto steigen, kommt Lasse mit seinem italienischen Rennrad um die Ecke. Er ist erst 24, sieht aber aus wie Mitte dreißig. Er trägt meistens Vollbart und Hornbrille, ist eigentlich kein Heimwerker, sondern Freizeit-DJ, und arbeitet bei einem kleinen Hamburger Musiklabel.

Er hat Cosima auf dem Flohmarkt kennengelernt. Beide wollten denselben Schallplattenspieler von einem Händler kaufen. Erst stritten sie sich um das Vorkaufsrecht, dann kaufte Lasse den Schallplattenspieler für sie und Cosima schenkte ihm ein Lächeln. Sie verbrachten den ganzen Nachmittag mit dem Plattenspieler auf dem Flohmarkt, danach den Rest des Wochen­endes und verabschiedeten sich am Montag. Ohne einen einzigen Kuss, aber schwer verliebt. Obwohl Lasse eine Freundin hat. Seitdem lieben sie sich in Affärenform.

»Hey, Lotte!« Lasse umarmt mich kurz, während die Jungs schon in den Bulli steigen.

»Lasse, grüß dich. Cosima wartet im Laden auf dich.«

Seliges Lächeln. Lasse sieht aus, als wäre er gerade aus dem Club gekommen. Was auch durchaus sein kann.

»Dann bis später. Ach ja, ich soll dich von Benjamin ­grüßen.«

Was? Benjamin? Der hat sich schon über drei Wochen nicht bei mir gemeldet.

»Echt?« Ich dachte, er weiß nicht mal mehr, wie ich heiße. Geschweige denn, dass ich existiere.

»Ja, mit dem war ich bis eben im ›Egon‹ feiern. Unglaublich geiler Abend.«

Benjamin Schmidt, 32 Jahre, Clubbesitzer und meine Ex-­Affäre. Ihm gehören die zwei besten deutschen Clubs, das Hamburger »Egon« und die Berliner »Rakete«. Letztes Jahr wurde er von der GQ zum zweitbegehrtesten Junggesellen Deutschlands gekürt, bekam bereits diverse regionale Wirtschaftspreiseund obwohl er aussieht wie ein Laufstegmodel, ist er unglaublicherweise immer charmant, höflich und nett. Keine Spur von Arroganz. Es wirkt, als habe er die Clubs eher für seine Freunde und den Spaß am Leben eröffnet als für den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Erfolg.

»Danke.« Sag einfach danke, Lotte. Und frag Lasse nicht, ob Ben mit einer anderen geknutscht hat. Steig ins Auto. Schließlich ist und war es nur eine Affäre, die auf Sex basiert hat. Zwar mit dem begehrtesten Junggesellen Hamburgs – der dich aber nicht liebt.

Lasse grinst mich an und dreht sich zu Cosima um, die verliebt hinter der regennassen Scheibe der »Aufrüschbar« auf ihren Liebhaber wartet.

Ach, Lotte, du bist selbst schuld. Emotionale Verwicklung ist dein Erzfeind. Aber was erwartest du auch von einem dahergelaufenen Clubbesitzer, der dich vor einer Theke in seinem eigenen Club anquatscht und mit dem du beim zweiten Date direkt in die Kiste springst? Bye bye, Mr. Nightclub. Ich habe jetzt schließlich auch einen Laden und bin sehr beschäftigt. Und wichtig. Und unverliebt. Vor allem Letzteres.

Jonas fährt wie ein Irrer durch den Regen. Wenigstens hat er extrem laut Queens of the Stone Age angemacht, was bedeutet, dass wir uns nicht unterhalten können, was ich gut finde. ­Gonna leave you, wie passend. Regen, Chaos im Kopf, Benjamin, Ladeneröffnung. Und nur noch eine Stunde, bis ich wieder in der »Aufrüschbar« sein muss. Durchatmen.

Aber verdammt, wieso fährt Jonas ausgerechnet hier lang? Mir wird schlecht, obwohl es schon über ein Jahr her ist, dass mich der doofe Julian im »Roccoco« verlassen hat. Durchatmen, Lotte Rügenbach. Ich bin seit einem Jahr nicht mehr durch diese Straße gefahren – was nicht leicht ist, weil sie eine wichtige Verbindungsstraße ist. Julian, der Arsch. Damals hatte ich an einen romantischen Abend mit Wein, Pasta und meiner großen Liebe gedacht. Herausgekommen ist ein Abend mit Wein, zu viel Pasta und Liebeskummer, nachdem Julian mir debil grinsend gestanden hatte, fremdgegangen zu sein. Wobei es eher einer Begründung als einem Geständnis gleichkam. Nach drei Jahren: basta, Ende, finito.

Ich war damals kurz davor, seinen VW Golf zu zerkratzen. Doch statt zu trauern, ließ ich mir von ihm sämtliche gemeinsam gekauften Einrichtungsgegenstände, von der Gabel bis zur Waschmaschine, in bar auszahlen, fuhr mit Cosima von dem Geld zwei Wochen nach Kapstadt und zog danach in die erstbeste WG, die ich per Internet fand. Zu Moritz und Britta. Nach drei Jahren Pärchendasein gefällt mir das WG-Leben erstaunlich gut, wenngleich ich mich damals schon in einer ­Eigentumswohnung in Winterhude gesehen habe. Aber alles ist für etwas gut. Queens of the Stone Age. Julian ist ein ­Höhlenmensch.

»Hey, Lotte. Ist schon alles geschnippelt, gekocht und verpackt. Nur die Muffins brauchen noch zehn Minuten, ich hab sie nämlich doch spontan mit Zwetschgenmarzipan gemacht, aber die Frikadellen und Bruschettas sind fertig, das Sushi auch, die Brote hab ich gebacken, die Gemüsespieße sind auch paletti und was noch? Ach so, die Torte, schau mal.«

Mit einer hastigen Umarmung folge ich Frieda in die Küche und werfe im Vorbeigehen meine Jacke an die Garderobe. Hinter mir kommen die Jungs rein, aber werden von Frieda im Doppelpack ignoriert. Ihre Taktik lautet nämlich, alle beide links liegen zu lassen, damit es nicht auffällt, dass sie in einen der zwei Männer verknallt ist.

Trotz ihrer merkwürdigen Anti-Flirt-Taktik muss man Frieda einfach lieben. Sie ist die beste Sous-Chefin der Welt und Cosimas und mein moralisches Gewissen.

»War eine ganz schöne Friemelarbeit mit dem Blattgold. Aber die Marzipanmasse in Pink sieht super aus, hab ich dank Roter Bete hingekriegt.«

Wir stehen vor drei Millionen Kalorien in Form einer zweistöckigen weiß-pink-goldenen Torte, dekoriert mit Knöpfen aus gefärbtem Marzipan.

»Die sieht wirklich wundervoll aus. Vielen Dank.« Sieht aus wie eine Hochzeitstorte. Ganz oben auf dieser puren Sünde steht »Aufrüschbar« in schönster Konditoren-Schnörkelschrift.

»Die müsst ihr nachher gemeinsam anschneiden. Wie ein Brautpaar, das bringt Glück.«

Jonas schnappt sich ein Stück Brot und erntet dafür einen bösen Blick. Aber Frieda wäre nicht Frieda, wenn sie nicht auch das gekonnt und höflich überspielen würde.

»Ach, Lotte! Ich find es ganz prima, dass ihr das gewagt habt. Wenn ich reiche Eltern hätte, würde ich ein eigenes Restaurant mit Konditorei aufmachen.«

Frieda hält jedem von uns einen Spieß hin, auf dem etwas Undefinierbares steckt.

»Was ist das?« Offensichtlich weiß auch Moritz nicht genau, was Frieda da gezaubert hat.

»Das sind lila Kartoffeln, gelbe Kirschtomaten und dazu gibt es nachher einen Kräuterdip aus püriertem Mangold. Ich wollte mal ein bisschen mit Farben experimentieren.«

Trotz Farbverwirrung schmeckt es köstlich.

»Lasst uns mal alles einpacken, dann kannst du, Moritz, noch weiter an deiner Kampagne arbeiten und ich die Sportschau gucken.« Jonas ist der geborene, durchorganisierte Lehrer. Er steht neben Frieda. Obwohl sie extra nicht lächelt, kann ich an ihren Augen ablesen, dass sie ihn anhimmelt. Sie würden unwahrscheinlich gut harmonieren. Frieda ist zwar zwei Köpfe kleiner als Jonas, aber neben einem großen blonden Mann sieht eine kleine blonde Frau einfach bildschön aus. Und so sportlich und athletisch Jonas ist, so kurvig ist Frieda. Gegensätze ziehen sich an. Wenn sie nur normal miteinander reden würden. Das kann doch niemand konsequent durchziehen.

»Jonas, sei vorsichtig mit meiner Torte!« Ach, sie liebt ihn.

Nachdem wir das Essen in die »Aufrüschbar« gebracht haben, fährt uns Jonas in die WG, eine 5-Zimmer-Altbau-Wohnung in Eimsbüttel. Unsere Mitbewohnerin Britta ist quasi unsichtbar; ihr Freund wohnt in Köln und sie fährt fast jedes Wochenende zu ihm. Auch heute ist sie mal wieder nicht da. Die Jungs verziehen sich ins Wohnzimmer.

Ich brauche dringend beruhigende Musik, mixe eine Playlist aus Feist, Damien Rice und Bon Iver und springe unter die Dusche. Gestern habe ich in der Zeitung eine Statistik gelesen, dass die meisten Menschen beim Duschen an Sex denken. Jetzt, wo ich dusche, muss ich natürlich an die Statistik denken, nicht an Benjamin. Es war ja auch lediglich eine zweimonatige Affäre. Wir hatten vielleicht zehnmal Sex. Nein, mehr. Ein Dutzend Mal? Das sind immer noch elfmal zu viel.

Ich werde niemals vergessen, wie mir ein Neuseeländer namens Hamish die verschiedenen Stufen der Emotionen beim Sex erklärt hat. Er hatte recht, auch wenn es sehr ernüchternd klang.

Erster Sex, One-Night-Stand: Beide sind sich noch fremd, aber scharf aufeinander. Das Rumknutschen ist heiß, wild und aufregend, die Augen sind oft geschlossen. Vor lauter Leidenschaft ist der Liebesakt meist eher kurz.

Zweiter Sex mit dieser Person: Beide geben sich mehr Mühe, öffnen gelegentlich die Augen, um sich daran zu erinnern, wen sie vor sich haben. Es wird mehr geküsst und ein Orgasmus ist ein Muss. Alles andere wäre frustrierend und gefährdet das dritte Mal.

Dritter Sex mit dieser Person: Es darf jetzt romantisch werden; nach dem Sex gibt es ein Nachspiel und Umarmungen. Durch die neu gewonnene Nähe und intime Vertrautheit kommen bei der Frau Gefühle ins Spiel. Beim Mann vielleicht auch.

Lotte Rügenbachs liebste Sex-Theorie lautet dagegen:

Nullter Sex: Mit einem Mann über Sex zu reden ist oftmals heißer, wilder und aufregender, als ihn zu praktizieren. Und nachhaltiger. Er macht am nächsten Tag nämlich oft glücklicher als jeder Orgasmus. Zumal man sich nach garantiert jedem nullten Sex respektvoll in die Augen blicken kann. Und mit hoher Wahrscheinlichkeit weiter Kontakt hat – was ja nicht nach jedem (egal, ob gutem oder miesem) Sex der Fall ist.

Bei Hamish hat es damals jedenfalls auch geklappt.

Kaum aus der Dusche, ruft meine hysterische Mama an.

»Lotte! Bist du schon aufgeregt? Also wir sind es. Dein Vater holt gerade deine Brüder vom Bahnhof ab. Wir fahren um sieben los, oder? Soll ich noch was mitbringen, außer der Bowle?« Meine Mama. Die Bowlekönigin. Diese Eigenschaft hat sie mir vererbt. Ansonsten eher nichts.

»Danke, das reicht absolut. Und toll, dass Tim und Ole kommen.«

Meine 26-jährigen Zwillingsbrüder studieren in Bremen. Der eine BWL, der andere VWL. Sie wollten nicht das Gleiche studieren, nun sitzen sie doch das komplette Grundstudium in einem Hörsaal. Als eineiige Zwillinge haben sie schon immer alles zusammen gemacht: Brille mit elf, mit 14 Jahren Sex mit Eva, mit 19 Jahren Zivi im gleichen Altersheim und jetzt das Studium in Bremen. Der einzige Unterschied ist, dass Ole 18 Minuten älter und ein wenig lauter ist als Tim.

»Papa kommt später mit Oma Gerda nach.«

»Bis dann.« Durchatmen.

Eine Viertelstunde später stehe ich geföhnt, geschminkt und im roten Etuikleid in unserem Flur. Irgendwie passen die schwarzen Pumps nicht dazu. Dabei habe ich sie letzte Woche extra einen Abend lang eingelaufen beziehungsweise eingetanzt (gut, betrunken zu Elektro in einem heißen, überfüllten Club rumstehen kann man vielleicht auch nicht gerade Tanzen nennen). Perfekt wären die silbernen Riemchensandalen von Britta. Aber das darf ich nicht. Oder doch? Es ist schließlich ein Notfall.

Da Britta ihr komplettes Gehalt als Marketingassistentin in Schuhe investiert, trägt sie die meisten davon höchstens einmal. Wenn überhaupt, denn einige warten in den Originalkartons noch auf ihren ersten Auftritt. 589 Euro, reduziert auf 399 Euro. Vor übermorgen wird sie nicht wiederkommen. Ich werde die Schuhe putzen und dann einfach wieder in den Schrank stellen.

33 Sekunden später und acht Zentimeter größer gefalle ich mir wesentlich besser.

»Lottchen!« Moritz bleibt auf dem Weg zum Badezimmer im Flur stehen und starrt mich an, als würde ich gerade nackt einen Handstand machen und dabei Seifenblasen in die Luft pusten. Ein sehr gutes Zeichen.

»Hab dich fast gar nicht erkannt. Aber sind das nicht Brittas Schuhe?« Moritz ist der einzige Mann, der auf Schuhe achtet. Und das auch bloß, weil er auf Frauen in hochhackigen Schuhen steht.

»Nur schade, dass deine Haare jetzt so kurz sind.«

Ich habe sie in einem Anfall des Loslassens vor einigen Wochen abschneiden lassen. Als ich mit Cosima zur letzten Inspiration (und am voraussichtlich letzten freien Wochenende für lange Zeit) in Paris war. Ich kann kein Französisch. Die Friseurin konnte kein Englisch. Und so hatte sie mir aus meinem kinnlangen Haar einfach im Handumdrehen einen raspelkurzen Bob gezaubert. Einfach so. Nicht hässlich, aber eben nicht das, was ich wollte. Ich lief zwei Tage geschockt durch Paris, bevor ich mir eine überdimensionale Sonnenbrille von Yves Saint Laurent kaufte, mit der ich mich umgehend besser und zumindest ein bisschen wie eine französische Filmdiva fühlte. Und wieder in Hamburg, sagte mir Benjamin, dass er Frauen mit kurzen Haaren ohnehin viel lieber möge. Doch seitdem hat er sich auch nicht mehr gemeldet – wenn man von den betrunkenen Grüßen durch Lasse um sieben Uhr morgens mal absieht. Aber egal. Denn ab heute gehe ich eine ernsthafte Beziehung mit unserem Laden ein. Kein Platz für Liebe in Lottes Leben.

»Ach, die Haare wachsen doch superschnell wieder nach.« Ich sage das so überzeugt, dass ich es fast selbst glaube.

»Siehst ein bisschen aus wie Jean Seberg.« Meint er die blonde Schauspielerin aus den Siebzigern, die zwar hübsche Kulleraugen hat, aber keine Haare?

Moritz verschwindet im Bad. Ach, was sind schon Haare? Schließlich machen wir eine Änderungsschneiderei auf und keinen Beautysalon.

Baumwolle

Unschuldsmoment. Alles dreht sich, meine Füße tun weh. Von Brittas unbequemen Designerschuhen. Meine Wimpern und Augen sind verklebt, weil ich gestern keine Lust hatte, mich abzuschminken. Und mein Kopf rächt sich, weil ich zu faul war, vor dem Schlafen eine Kopfschmerztablette zu nehmen. Mist. Aber die Ladeneröffnung war wirklich so, wie Cosima und ich es uns erhofft haben. Alle waren da. Alle – sogar ihr Exlovervom Stadtmagazin, der uns für die nächste Ausgabe interviewt hat. Das Bier wurde leer. Der Champagner auch. Wie zufrieden die von Goldhagens waren. Und mein Papa. Meine Mama hat immerhin unsere Einrichtung gelobt. Und Frieda hat zwar nicht mit Jonas geredet, aber bei den vielen Menschen ist das kaum aufgefallen. Moritz ist ziemlich früh angetrunken abgehauen, weil er noch eine Affäre treffen wollte. Oder eine neue aufspüren, das weiß ich nicht.

Es gab ja auch schon die erste neugierige Laufkundschaft. Wir waren leider leicht angesäuselt, als wir die Aufträge angenommen haben. Künftig klappt das hoffentlich besser. Unsere Kunden dürfen sich ja beliebig viele Knöpfe, Schleifen, Nieten und Buttons aussuchen und ich fürchte, gestern waren wir etwas zu großzügig. Ob Cosima auch solche üblen Kopfschmerzen hat? Ich muss aufstehen. Und mich abschminken, neu schminken und eine professionelle Geschäftsführerin abgeben.

An unserem ersten offiziellen Arbeitstag erscheinen Cosima und ich also beide mit einem heftigen Kater.

»Vielleicht hätten wir an einem Samstag feiern sollen, statt freitags. Cosima?«

Sie hört mir aber gar nicht zu. Sie versucht nämlich seit einer halben Stunde, unsere Notizen von gestern zu entziffern. »Was soll das denn da sein? Ein Stern? Oder ein Kreuz? Oder ein Knopf?«

»Weiß ich nicht. Vielleicht ein Herz? Oder die Initialen der Kundin?«

Ich nehme die dritte Kopfschmerztablette für heute und beobachte die etwa 18-jährige Kundin, die sich in der Kommode gerade Knöpfe und Nieten für ihren letzten Fehlkauf aussucht. Mal sehen, wie wir dieses schwarze schwedisch-chinesische Mainstreamkleid retten können.

»Ich habe es neu, aber es sitzt nicht und ist am Dekolleté zu weit. Außerdem mag ich die Länge nicht. Und es sieht spießig aus. Ich will was Buntes. Habt ihr Stoffblumen?«

Genau nach unserem Geschmack. Ich frage gar nicht erst nach, wieso sie das Kleid gekauft hat, wenn es ihr nicht hundert­prozentig gefallen hat. Kenne ich ja selbst. Aua, mein Kopf.

»Wie teuer wäre denn nur eine Schleife hier oben rechts? Mehr als zehn Euro will ich nämlich nicht ausgeben.«

»Tut mir leid, wir haben feste Preise.«

Aber individuelle Verhandlungen gehen immer. Vor allem mit einer verkaterten Verkäuferin.

»Umnähen, kürzen, zwei Stoffblumen. Wären eigentlich zwanzig Euro. Sagen wir 15?«

»Super. Und bis wann ist es fertig? Heute Abend? Ich habe nämlich ein superwichtiges Date.«

»Cosima?«

Cosima nickt, das Mädchen strahlt. Wie schön, die sorgenfreie Teenagerzeit.

Ich hoffe, Cosima erinnert sich daran, dass wir samstags nur bis 17 Uhr geöffnet haben wollen. Wir sind schließlich unsere eigenen Chefinnen. Allerdings bedeutet das im gleichen Atemzug, dass wir auch bis 19 Uhr arbeiten können. Und dabei Musik hören, Wein trinken oder singen.

»Cosima, das war unser erster offizieller Auftrag heute! Lass uns darauf anstoßen.« Mit Kaffee.

Cosima sitzt inmitten von Stoffbahnen (die eigentlich sauber im Regal liegen sollten) auf dem Boden, um sie herum ein Haufen Knöpfe. Sie erinnert mich irgendwie an Aschenputtel.

»Hatten wir nicht rote, sechseckige Knöpfe mit grüner Kante gekauft, die in der Mitte nur zwei Löcher haben?«

Ich reiche ihr einen Becher Kaffee. Vielleicht sollten wir künftig ausschließlich Wasser in der »Aufrüschbar« trinken, falls sie was verschüttet. Oder ich. Kaffee und Rotwein sind heikle Getränkefarben.

»Keine Ahnung. Vielleicht. Wozu brauchst du die denn? Bei mir hat niemand danach gefragt.«

»Bei mir auch nicht, aber die würden perfekt zu den georderten orangefarbenen passen. Schau doch mal; der Cardigan ist grün, die Knöpfe sind orange. Die Kundin wollte dazu eine Blumenstickerei auf dem Rücken. Ich dachte, ich könnte einen der Knöpfe durch den rot-grünen ersetzen.« Sie redet von einer der Kundinnen von gestern Abend.

»Aber sind die Löcher der Strickjacke dazu nicht zu klein? Wenn ich mich recht erinnere, sind die Knöpfe mindestens einen Zentimeter größer.«

»Ja, klar, das seh ich auch. Wollte das Loch einen Tick größer machen als die anderen. Dann passt es.«

»Aber Cosima, das hat die Frau doch gar nicht bestellt. Mach es lieber so, wie sie wollte. Und ist das nicht Kaschmir?«

»Ja.« Sie guckt ein bisschen ertappt. Ich muss sie aufheitern, sonst wird sie bockig. Diesen Zustand kenne ich. Sie sitzt da auf dem Boden, guckt mit hängenden Schultern zu mir hoch und zieht einen typischen Cosima-Flunsch. Ich sage ihr jetzt lieber nicht, was für ein hübsches Aschenputtel sie abgibt.

»Du bist die talentierteste Modedesignerin von Helsinki bis Mailand.« Ist das geografisch überhaupt logisch? Egal, Cosima steht auf und lächelt wieder.

»Los, schmeiß David Bowie an. Ich versuche mal, zwei Stoffblumen anzunähen.« Ich muss unbedingt besser nähen lernen.

Falls wir wirklich bald das Luxusproblem haben, dass Cosima die Auftragslage nicht bewältigen kann, will zum Glück ihre Tante Aada aushelfen. Sie ist 79 Jahre alt und die erste Person, mit der Cosima an der Nähmaschine saß. Sie hat zwar eine gute Rente und ist überhaupt nicht auf einen Nebenverdienst angewiesen, aber sie liebt Handarbeit.

»Siehst du Lasse heute noch?«

Seine Freundin ahnt sicher schon was. Er wohnt schließlich bei ihr, geht aber ständig aus und übernachtet dann »bei Freunden«. Ich hoffe für Cosima, dass er sich bald entscheidet.

»Nur, falls ich heute noch ins ›Egon‹ gehe. Willst du mal wieder mit?«

Als vor zwei Jahren monatelang über nichts anderes geredet wurde als über Benjamins neue Cluberöffnung in St. Pauli, habe ich mir unter dem Namen »Egon« eher eine Touristenfalle mit Popmusik und 18-jährigen Jugendlichen aus Pinneberg vorgestellt. Das neue Gebäude auf dem Platz einer ehemaligen Tankstelle wurde wochenlang verhüllt (was etwas albern war) und das Konzept dahinter wurde der Presse gegenüber streng geheim gehalten. Da alles so nebulös war und sich alle Hamburger darüber aufregten, bekam Benjamin so eine bessere Mund-zu-Mundpropaganda als mit jeder Facebook-Seite. Und inzwischen ist das »Egon« der beliebteste Club in Hamburg. Meiner eigentlich auch. Seit ein paar Wochen aber nicht mehr. Erst hat sich Benjamin nicht mehr bei mir gemeldet und dann habe ich seine Nummer gelöscht. Was sind schon Grüße nachts im betrunkenen Zustand? Nichts.

»Ich gehe auf keinen Fall hin.« Obwohl Moritz gestern erzählt hat, dass im »Egon« heute ein guter DJ aus New York auflegt.

»Ach, Lotte. Blick der Realität ins Auge. Es war eine Affäre und wird weiter eine sein. Und wieso auch nicht? Er war doch gut im Bett, oder nicht?« Nein. Ja.

»Cosima. Ich will aber keine von seinen tausend Weibern sein. Und offenbar hat er mich schon längst ausgetauscht, sonst hätte er sich ja mal innerhalb der vergangenen drei Wochen gemeldet.«

Ich will nicht wie die anderen Frauen jede Woche in seinem Club an der Theke stehen, mit der verzweifelten und armseligen Hoffnung, dass er Feierabend macht und dann im Wohnzimmer mit einem weitertanzt.

Wenn ich da war, bin ich immer vor ihm gegangen. Was natürlich auch nicht allzu clever war, weil ich dann zu Hause im Bett lag und auf einen Anruf oder eine SMS von ihm wartete. Ich war wie eine Pizza, inklusive Pizza­bringdienst. Aber das war ja jetzt Vergangenheit.

»Cosima? Kann man Heißhunger auf Pizza und One-Night-Stands vergleichen?«

»Quatsch. Pizza liegt schwer im Magen. One-Night-Stands sind oberflächlich und sollten das auch bleiben.«

Wie schlau sie ist. Dabei hatte sie vor Lasse jahrelang nur Affären – und One-Night-Stands.

»Du musst es machen wie ich. Du musst dir aus der Affäre heraus einen Mann zum Verlieben suchen. Dann gehst du mit dem neuen Mann auch nicht so schnell ins Bett. Weil du ja Sex mit der Affäre hast und den anderen erst mal kennenlernen und dich mit ihm anfreunden kannst. Ich hab mit Lasse, wie du weißt, an unserem ersten Wochenende nicht mal geknutscht.«

Obwohl Cosimas Taktik logisch und erfolgreich zu sein scheint, weigere ich mich innerlich, das auch so zu handhaben. Außerdem ist Lasse immer noch liiert.

»Es muss doch Sex von Anfang an plus Liebe geben. Ich gerate einfach offenbar immer an die Falschen.«

»Nein. Es liegt nicht immer an den Kerlen, du trägst doch auch deinen Teil dazu bei. Und Benjamin hat dich immerhin wieder grüßen lassen.«

Toll. »Mit dem bin ich durch.«

»Überleg es dir mit heute Abend. Lasse holt mich nach Ladenschluss ab. Wir gehen erst zu Antonio und später zu mir. Komm doch einfach dazu.«

Cosima und ich lieben das »Antonios«. Antonio ist der 65-jährige Chef, sein Sohn Luigi Cosimas Ex-Affäre. Sie trennt sich immer im Guten von ihren Lovern. Eine bewundernswerte Kunst. Ich lasse es lieber auslaufen. Oder lasse mich verlassen.

»Heute eher nicht. Vielleicht nächste Woche. Ich will unbedingt mal wieder Spaghetti Frutti di Mare essen. Und ­Tiramisu.«

Das Ladentelefon klingelt.

»›Aufrüschbar‹, Cosima von Goldhagen am Apparat.«

Wie seriös sie klingen kann. Aber nur am Telefon. Seriös sieht Cosima heute wirklich nicht aus. Sie trägt extrem unseriöse kurze Lederhotpants über einer gepunkteten Strumpfhose, darüber eine weite Bluse und einen roten Gürtel. Sie hält das Telefon mit der Hand zu und flüstert verschwörerisch in meine Richtung: »Ein Zeichen.«

Was denn für ein Zeichen?

Sie drückt mir das Telefon in die Hand.

»Hier spricht Lotte.«

Räuspern am anderen Ende der Leitung.­ Vertrautes Räuspern. »Ich bin’s.«

Der blödeste Satz zu Beginn eines Telefonats. Ich muss schnell einen Schluck Wasser trinken. Nicht verschlucken.

»Hallo.«

»Lotte, ich wollte mich mal melden. War leider zu beschäftigt in den letzten Tagen.«

Tagen? Er meint wohl Wochen.

»Verstehe.« Ich verstehe, dass er beschäftigt war. Schließlich wurde das »Egon« gerade unter die Top-Ten-Clubs in Europa gewählt. Mr. Business-Nighclub. Too busy to call.

»Ich habe hier gerade den Artikel über euch im Abendblatt vor mir liegen und dachte, da gratuliere ich mal kurz.«

Was will er bloß?

»Danke. Wir sind auch superzufrieden.«

Ich schaue zu Cosima rüber, die mich schulterzuckend anschaut und mir zu verstehen gibt, dass ich ihr verraten soll, was er sagt. Aber ich werde ohnehin gleich auflegen. Vorher muss ich nur noch herausfinden, was er von mir will.

»Wie geht es dir denn, Lotte? Lange nichts gehört.«

Und beim Herausfinden darf ich nicht zu begeistert über seinen Anruf klingen. Oder sein Interesse. Oder überhaupt über seine Existenz.

»Gut. Danke übrigens für die Grüße.« Ich hoffe, es klingt so beiläufig, wie er es damals zu Lasse gesagt haben muss. Grüße auszurichten ist schließlich eine zu lächerliche und lapidare Geste, um eine Frau wie mich zu beeindrucken.

»Das war ein megaguter Abend vorgestern. Du hast wirklich was verpasst. Kommst du heute Abend vorbei?«

Will er mich sehen oder fragt er nur aus Höflichkeit?

»Vielleicht. Was steht denn an?« Ich tue mal so, als wüsste ich nichts von dem DJ aus New York. Sonst denkt er noch, ich hätte mich informiert.

»Wir haben DJ Alba aus New York zu Gast. Eine talentierte, elfenhafte DJane, die feinen und tanzbaren Elektro auflegt. Das wirst du mögen.«

Benjamin hatte bisher immer ein gutes Gespür für meinen Geschmack. Beim Elektro, beim Küssen, beim Wein. Und auch wenn er hier gerade um den heißen Brei herumredet, so ist die Mischung aus einfach anrufen und ins Leben platzen leider auch genau nach meinem Geschmack.

»Klingt gut. Aber vielleicht bleibe ich heute zu Hause. Unsere Eröffnung war ziemlich alkoholreich gestern.«

»Okay. Würde mich freuen.«

Wieso, weil er Sex will?

»Mal sehen, ob ich komme. Viel Spaß, tschüss.« Das war vielleicht etwas abrupt, Lotte.

Manchmal legt man den Hörer auf und hat das Gefühl, dass das gerade das Drehbuch einer ganz miesen Soap-Opera war. Und dass man so schlecht improvisiert hat und so unglaubwürdig war, dass man den Anti-Oscar, die »Goldene Himbeere«, verdient hätte. Aber wirklich: Wieso hat er sich drei Wochen nicht gemeldet? Was will er?

»Lotte? Was war das denn bitte schön? Was hat er gesagt?«

Ach, Cosima. Wie wenig Lust ich habe, dieses Telefonat wiederzugeben.

»Keine Ahnung.« Sex?

»Er will dich sehen?«

»Ja, heute Abend.«

»Hast du nicht vorhin noch gesagt, du willst kein Pizzasex mehr sein?«

»Er hat offenbar Appetit. Aber keine Sorge, ich gehe ja nicht hin. Heute nicht und den ganzen Monat nicht.«

Nächsten Monat kommt allerdings einer meiner LieblingsDJs aus Münster.

»Ruf ihn noch mal an und frag, wieso er dich sehen will. Sonst mache ich das für dich.«

»Auf keinen Fall.«

Cosima reißt mir das Telefon aus der Hand. Manchmal verhält sie sich wie eine pubertierende 13-Jährige. Drückt sie gerade auf die Anruferliste?

»Hallo, hier ist Cosima. Du, Ben, Lotte hat noch was vergessen.«

Ich fasse es nicht.

»Äh, entschuldige. Irgendwie war die Leitung gerade unterbrochen.« Wie schlecht ich lügen kann. Sag was Schlaues, Lotte. Schnell.

»Ich dachte, wir waren fertig mit Telefonieren?«

Er ist irritiert. Gut. Nutze diesen Moment, Lotte. Das ist in etwa so wie die Sekunden nach dem Orgasmus. Da können Männer nämlich nicht klar denken. Perfekt für Fragen aller Art.

»Benjamin. Wieso hast du mich eben wirklich angerufen?«

»Rufst du deswegen noch mal an?« Bei aller Peinlichkeit: Er lacht.

»Ja. Schließlich hast du dich drei Wochen nicht gemeldet.«

»Habe ich doch gesagt, Lotte. Weil ich dir zu eurer Ladeneröffnung gratulieren wollte.«

»Ja?«

»Ja. Männer sind nicht so kompliziert, wie du immer denkst.«

»Na, dann ist ja gut.«

»Wieso hätte ich denn sonst anrufen sollen?«

»Vielleicht weil du nach drei Wochen mal wieder guten Sex willst.«

»Ist das schon so lange her mit uns? Dann sollten wir uns ja heute erst recht mal wieder sehen.«

Ich schätze seine selbstbewusste Schlagfertigkeit.

»Mal schauen. Ich muss jetzt auflegen, da kommt ein neuer Kunde.«

»Ich setze dich plus vier auf die Gästeliste, du verrücktes Huhn.«

»Danke. Achtung, ich lege jetzt auf.«

Das war besser. Nicht hollywoodreif, aber zumindest authentisch.

»Wusste ich es doch. Er will einfach nur mal wieder knutschen. Also, alles super!«

Cosima schenkt mir Kaffee nach. Im Hintergrund hat sie jetzt Opernarien von Verdi angemacht. Das beruhigt sie, wenn sie konzentriert nähen will, und mich jetzt auch, wo ich konzentriert nähen lernen will. Und mich überhaupt mal auf meine Arbeit statt auf Sex konzentrieren möchte.

»Lotte. Auch wenn ich weiß, dass du mehr von Bennilein willst als Sex, kannst du doch trotzdem heute Abend ­mitkommen.«

»Nein, danke. Ich bevorzuge heute Kuschelsex mit meinem Sofakissen. Und jetzt zeig mir mal bitte, wie man einen Reiß­verschluss sauber abtrennt.«

Cut.

Cupro

Nouvelle Vague, Coldplay, Eddie Vedder. Manchmal ist er auch ganz offensiv und macht Barry White an. Moritz und seine Frauenvernaschmusik. Unglaublich, wie konsequent er diese Masche durchzieht. Nicht jedes Wochenende, aber sicher zweimal im Monat. Gern an Samstagen wie heute, weil er dann den Sonntag zum Erholen nutzen kann. Meistens bedeutet das eine stundenlang besetzte Küche, ein belegtes Badezimmer und lautes Rumgestöhne am Ende des Flurs. Er liebt nicht nur Sex auf dem Küchentisch, sondern auch in der Badewanne. Wenigstens befindet sich unser Klo in einem extra Raum.

»You're the first, the last, my everything.« Neben Barrys Schmalzstimme vernehme ich im Treppenhaus den Essens­geruch. Fisch. Bei jedem Date kocht Moritz Pasta mit Lachs, manchmal variiert er das Gericht auch und nimmt Jakobsmuscheln oder Scampi. Da es sich meistens nur um einmalige Dates handelt, eine äußerst clevere Strategie von ihm.

Durch die halb offene Küchentür sehe ich langes blondes Haar und höre künstliches, hysterisches Lachen. Die Arme. Sie ist sicher aufgeregt, schwitzt und friert gleichzeitig, denkt angestrengt über kluge Sätze nach und war schon dreimal im Bad, um sich nachzuschminken und ihrem Spiegelbild einzureden, dass Sex beim ersten Date keineswegs verwerflich ist. Ich sollte sie heimlich vorwarnen und ihr sagen, dass es, egal, wie sie sich ins Zeug legt, kein Übermorgen geben wird. Moritz Brahmhoff wird ihr morgen höflich einen Kaffee kochen. Und nach einem leidenschaftlichen Abschiedskuss, der für sie Liebe und für ihn au revoir bedeutet, wird er rumfloskeln und ihr sagen, dass sie in den nächsten Tagen mal telefonieren sollten. Aber dann wird er sich nicht mehr melden, geschweige denn auf ihre Anrufe oder SMS reagieren. Ein schlechtes Gewissen kennt Herr Brahmhoff eben nicht, nur schlechten Sex und komplizierte Frauen. Zudem hat er ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein, sodass er enttäuschte Frauen beim Wiedersehen in seinen Lieblingsbars meistens extra mit dem falschen Vornamen begrüßt und sich so weitere Probleme erspart. Ein Arschloch, aber als Mitbewohner eine reizende Person.

Während ich meine Jacke aufhänge und meine Stiefel ausziehe, kommt Mr. Womanizer bereits aus der Küche, offenbar zwischen Hauptgang und Dessert. Wie immer lässig, aber stilvoll gekleidet. Trotz eines eher durchschnittlichen Outfits – Turnschuhe, Jeans, schwarz-graues Karohemd – sieht er keineswegs durchschnittlich aus. Er ist schließlich Werber und in puncto Selbstmarketing besonders gut. Die Jeans ist nicht irgendeine blaue Hose, sondern eine teure, die Sneakers sind limitiert und das Hemd ist maßgeschneidert. Samt »M.S.B.«-Initialen: Moritz Sebastian Brahmhoff.

»Komme gleich wieder, Jenny.«

Wie er säuseln kann.

»Na, du Frauenheld?«

»Na, du Businessfrau?« Er boxt mir in die Rippe und mustert mein Outfit. Ich trage heute, als Kontrast zu meinem unprofessionellen Kater, nämlich einen wirklich seriösen Bleistiftrock und eine Designerbluse.

»Ist das eine Bluse von Britta?«

Britta hat Cosima und mir ein paar Kleidungsstücke geschenkt, die sie nicht mehr braucht. Alles Designerware. Diese Bluse ist von Missoni, mit dem typischen Zickzack-Muster. Der Schnitt war allerdings viel zu weit und etwas bieder, ehe sich Cosima der Bluse angenommen hat. Nun ist es eine Wickel­bluse mit tiefem V-Ausschnitt und ohne Spießerkragen.

»Hast du Eis und Wein für mich übrig?«