Aufs Ganze - Sonia Mikich - E-Book

Aufs Ganze E-Book

Sonia Mikich

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Beschreibung

Von schräg unten nach oben. Gleich zu Anfang ihres Buchs stellt sich Sonia Mikich vor: »Scheidungswaise, Kleineleutekind, Britin, Halb-Serbin, Linke, Feministin, Kabarettistin, Punksängerin, Akademikerin, Auslandskorrespondentin, kinderlos, zwei Mal Gattin, Abenteuerin, Kriegsreporterin, Chefredakteurin.« Das Ergebnis dieser Vielfalt: ein hinreißendes autobiografisches Buch, das vor Abenteuern und extremen Erlebnissen fast aus den Nähten platzt. Und weil Sonia Mikich auch eine so faszinierende Erzählerin ist, nimmt sie ihre Leserinnen und Leser mit auf eine regelrechte Achterbahnfahrt durch ihr Leben und über den Globus. Im Mittelpunkt: ihre langjährige Arbeit für den WDR und die ARD als Journalistin, Moderatorin und Programmverantwortliche. Mut und Risikobereitschaft zeigte sie aber nicht nur in ihren Reportagen aus Tschetschenien oder Afghanistan, Ex-Jugoslawien und den USA. Ähnlich spannend, dramatisch und manchmal auch komisch lesen sich Sonia Mikichs Geschichten über die Welt der Medien, über ihre turbulente Kindheit zwischen England, Jugoslawien und dem Ruhrpott, ihre rebellischen Aufbruchsjahre zwischen Pop und Politik in der Gegenkultur der 70er Jahre sowie ihre Portraits von Menschen aus der ganzen Welt, die ihre Freunde und Freundinnen geworden sind, auch ihre Lebensgefährten. Eine Einzelgängerin, die vom Rand her die Welt beobachtet: lächelnd, staunend und mit den Schultern zuckend, weil Menschen interessant und fehlbar sind – wie sie selbst. 

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Seitenzahl: 321

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Sonia Mikich

Aufs Ganze

Die Geschichte einer Tochter aus scheckigem Haus

Inhaltsverzeichnis

Pothos – Sehnsucht nach dem heftigen Leben

London – Tochter aus scheckigem Haus

Herne – ab in den Pott

Der Herr Kaiser

Mönchengladbach – betucht und betulich

Rebel Rebel I – Weltverbesserung

Rebel Rebel II – Frauen, Musik, Anlauf

Quotzen und Höhenflüge

Die Veteraninnen von Stalingrad

Jasmin – Gefährtin aus Tschetschenien

Endlich Afghanistan

Paris – Foie-gras-Hölle

Halbe Serbin – ein Krieg nimmt mir Jugoslawien

Colin – irische Risse

Maine – Small Town America

Fa-fe-fi-fo-fu – Gesangsstunden bei Teresa

Achterbahn I – das Leben in der Anstalt

Achterbahn II – Gefühl und Härte

Achterbahn III – oben ist es kalt

Ein guter Tod – Anne und Stanko

Oh Hellas – ochi heißt nein

Dank

Inhaltsverzeichnis

Pothos – Sehnsucht nach dem heftigen Leben

Ich gehörte nie ganz dazu – und ich kann bis heute nicht aufrichtig sagen, ob mir der Zustand der Außenseiterin missfiel oder gerade recht schmeckte. Da war ja kein dauerndes Leiden, ich bemühte mich nicht sehr um eine Mitgliedschaft im Klub der jeweiligen Mehrheit ringsum, sondern schaute vom Rand herüber. Und wenn mich Partner, Vorgesetzte, Verwandte, Nachbarn, Mitschüler und Mitschülerinnen wahlweise als schräg, anders, exzentrisch, unvorhersehbar einstuften – wie praktisch. Nichts verhüllte besser als Extrovertiertheit, und ein bisschen Rebellenaura kam im Alltag gemäßigter Zonen einfach super.

 

Bitte aussuchen: Scheidungswaise, Kleineleutekind, Britin, Halb-Serbin, Linke, Feministin, Kabarettistin, Punksängerin, Akademikerin, Auslandskorrespondentin, Kinderlose, 2 x Gattin, Abenteurerin, Kriegsreporterin, Chefredakteurin. Alles mehr oder weniger ernsthaft betrieben. Manchmal glücklos, manchmal triumphierend. Wer ich bin und wie viele – nein, für die Antwort brauchte ich weder Philosophie noch Psychoanalyse. Doppelt und dreifach leben, ins Füllhorn greifen und mühelos sich noch viel mehr vorstellen, das schien mir ein gesundes Prinzip zu sein.

Gab es Niederlagen? Misserfolge? Abstürze? Verluste? Peinliches? Und wie! Und genug davon war meine eigene Schuld. Inzwischen schaue ich aber mit höflicher Indifferenz auf meine Schwächen und Fehler und verzichte auf jede Selbstoptimierung. Im Gegenteil, die Dunkelstunden waren ein Gewinn: Seht her, man kann Mist bauen, Gemeinheiten erleben, die Flughöhe verlieren und doch ein Gramm Komik darin entdecken. Scheiß drauf.

 

»Zwei Gefühle verlassen mich eigentlich nie: das des unaufhörlichen Staunens und die innere Bereitschaft, alles lächerlich zu finden.«

Danke, Stanisław Lem, so ungefähr taumele, treibe und fliege ich durch viel Geschehen. Und in den meisten Fällen fühlte ich mich wie die Katze, die die Sahne gekriegt hat …

Ein Journalismusbuch wird dies nicht, kein weiteres »Die Krise der Medien und neue Wege zum Publikum«. Ich habe im Leben so viel über Journalismus geschrieben oder gelehrt, so viele Medienanalysen gefressen, der Geschmack daran ist vergangen. Ein Enthüllungswerk über einen großen Sender wird’s auch nicht, obwohl verführerisch einfach. Ein nicht einflussloser Verleger meinte mal, ein Insider-Buch mit den Skandalen, Intrigen und Bosheiten bekannter öffentlich-rechtlicher Bildschirmfürsten – heute auch Fürstinnen – wäre ein Bestseller ohne viel Anstrengung. Doch nachträgliche Häme ist schlechter Stil.

 

Hier ein Häppchen, immerhin:

 

Da war der dringende Wunsch nach einer Gehaltserhöhung. Zu verhandeln mit dem damaligen Fernsehdirektor Günter Struve, einem Machtmenschen, einem Impresario. Mit aufgeregtem Stimmchen piepste ich, warum ich eine höhere Gehaltsstufe wert wäre. So belastbar! So innovativ! So vielversprechend! Die Verkaufsargumente waren nicht synchron mit der bangen Körperhaltung, und Frauenstimmen gehen gern mal eine Terz höher, wenn angespannt. Er strahlte mich an und fegte dergleichen Anmaßung für die nächsten Jahre weg:

»Liebe Frau Mikich, Sie sind doch immer so gut angezogen, wozu brauchen Sie mehr Geld?«

Arrogant und paternalistisch. Nein, ich hatte keine schlagfertige Antwort parat, ich verstummte leicht errötend und ließ ihn das Thema wechseln. Coaching, gleiche Gehälter, mächtige Frauenbeauftragte waren noch lange nicht in Sicht …

Das änderte nichts an einem unbegrenzten Willen zum Glück und an meiner Überzeugung, »ich will« sagen zu dürfen. Schon als Kind gefielen mir Erzählungen von verwirklichten Träumen. Alexander von Mazedonien, der Große, war mein erster Held. Einer, der sich alles zutraute und keine Grenzen kannte. Was für eine Reise, 35000 Kilometer, zehn Jahre, um das Ende der Welt zu sehen. Irgendwo an einem Punkt stürzte alles ins Nichts, und er hatte keine Angst davor. Vergleichbar mit der Mondlandung, über zwei Jahrtausende später.

Nach diesem Traum von Alexander dem Großen suchte ich später auf Reisen in Griechenland, in der Türkei, in Ägypten und Afghanistan. Ruinen, Orte, Namen – die Spuren seiner Eroberungen lehrten mich fantastische Geschichten von globalem Handel, religiöser Toleranz, philosophischer Blüte. Für mich war das vor allem die Geschichte von unerhörter Hartnäckigkeit und pothos. Ein Schlüsselbegriff, heftige Sehnsucht.

Alexander hieß: das Unmögliche zu tun.

Für den Westen war er ein Held und Eroberer, Begründer des Hellenismus in Asien. Im Osten war er ein Kriegsverbrecher, Schlächter und ein Ungeheuer. Im Koran war er Dhual Qarnain, der »Zweigehörnte«, der geheimnisvolle Verteidiger gegen die Barbaren Gog und Magog. In der Bibel, Buch Daniel, war sein Reich dargestellt als das dritte Tier der Apokalypse. In der orthodoxen Kirche durfte er eine Art St. Georg sein.

Ich verfiel also der Fantasie von einem jungen, schönen, gebildeten Blonden, der Aristoteles kannte, Frauen und Männer verführte und es sich mit seinem ungeheuren Reichtum hätte bequem machen können. Und so wollte ich viel später als Fernsehjournalistin eine vierteilige Doku über ihn machen, »Alexander now!«, ohne Ruinen und Professoren und stattdessen mit heutigen Menschen, die ich auf seiner Wegstrecke finden würde.

Ach, ach, ach. Mein Chef sah mein Exposé – und keine Notwendigkeit. Sah kein großes Publikum, das sich für Alexander und 35000 Kilometer interessieren könnte. Kein pothos. Das beste Projekt, das die ARD je nicht senden würde.

Schluss mit Heldenverehrung und Kränkung. Zum Auftakt: Als ich mit neun Jahren und ohne Sprachkenntnisse von England nach Deutschland, von London nach Herne im Ruhrgebiet katapultiert wurde, tastete ich mich in die ungeschriebenen Codes und Mutproben der Gangs meiner Nachbarschaft hinein. Eins war: Denk dir etwas Ekliges aus und zwinge andere mitzumachen. In diesem Fall hatte einer der großen Jungen, ein richtiger Oschek, den Einfall, Regenwürmer auszubuddeln, zu braten und die Kleineren zu zwingen, sie zu essen. Ich wollte auf keinen Fall als Ische, als fades Mädel, gelten, besorgte eine Pfanne und half fleißig mit, weinenden Kindern vorzugaukeln, das wäre das Leckerste, was sie seit Pommes rot-weiß je gekriegt hätten. Und die Jungs nahmen mich in ihre Bande auf.

Eine echte Mitläuferin des Gräuels. Gemeiner Opportunismus. Über den Zwang, im ARD-Boys-Klub Unverdauliches hinunterzuschlucken – später. In London fing alles entschieden zivilisierter an.

Inhaltsverzeichnis

London – Tochter aus scheckigem Haus

Das Leben ist eine komische, tragische, politische, anstrengende und hochinteressante Angelegenheit, die ich nicht missen möchte. Ich habe fest vor, weiter ausführlich zu existieren. Und falls ich – jetzt noch keinesfalls entschieden – in einem dieser trendigen Friedwälder lande, keimen weiteres Leben und gute Energie. Bis jetzt jedenfalls kann ich mit robuster Tatsächlichkeit aussprechen: Ich habe genug für zwei, drei Leben in mein Dasein gequetscht, aufregend, opulent und so unvorhersehbar für eine Tochter aus gemischten Verhältnissen. Meine Herkunft war kurios, Außenseiterstoff. Mangel an materiellen Gütern war lange an der Tagesordnung. Und Mädchen waren unfertige Frauen, weder binär noch fluid oder Kanzlerin. Gleiche Startchancen? Nun ja.

 

Dennoch: Die Welt war meine Auster, und kaum konnte ich einen sinnvollen Satz sprechen, hatte ich den festen Willen, glücklich zu werden. Obwohl unser sozialer Status irgendwo weiter unten war. Obwohl meine Mutter ihren ersten Lohn als Zimmermädchen in Londoner Spitzenbleiben bekam und sie deswegen bis ins hohe Alter immer Trinkgeld im Hotelzimmer zurückließ. Obwohl mein Vater oft wochenlang abwesend war, um – zunächst als Kellner – in großen Hotels in Südengland zu arbeiten. Obwohl wir oft umzogen. Obwohl ich ein europäischer Mischling war mit thüringisch-jugoslawischem Input und auch noch einem Schuss Norditalien und Lothringen dabei. Obwohl Sicherheit, feste Wohnsitze und andere Privilegien sich noch lange nicht ankündigten.

 

London, 1959: »Ich möchte Alice spielen …« Genau, die Hauptrolle in einer Theateraufführung von »Alice in Wonderland«. Auch eine Achtjährige versucht sich zu definieren, und ich war überzeugt, so schlau wie Alice zu sein, so angstfrei, so neugierig. Die girl scouts, die Pfadfinderinnen-Gruppe von Hammersmith, stellte gerade das Ensemble zusammen, und ich fixierte die Leiterin, hob die Hände, hier bin ich, schau doch her. Ich war eine von etwa zehn brownies, so hießen die braun uniformierten, künftigen Pfadfinderinnen zwischen sechs und neun.

 

Konnte sie meine offensichtliche Eignung, meinen strahlenden Ehrgeiz einfach übersehen? Ja doch, konnte sie. Die großen Mädchen bekamen die großen Rollen: Alice, das weiße Kaninchen, die kiffende Raupe, der Dodo-Vogel, die Grinsekatze, die rote Königin, der Märzhase, die falsche Suppenschildkröte usw. Eins der wichtigsten Kinderbücher Englands, auch wenn der Autor Lewis Carroll doch arg fixiert war auf kleine Mädchen. Sein Buch ist ein Kosmos des Unlogischen und Schrägen, und mir gefiel später sehr, dass Ende der 1960er die US-Rockgruppe Jefferson Airplane die dazu passende LSD-Hymne schuf, »White Rabbit«. Mit der unmissverständlichen Aufforderung »feed your head«.

 

Das Casting kam und ging, und ich blieb übrig, mit anderen brownies. Schmachvoll. Schmerzlich. Ungerecht. Die erste Niederlage meines Lebens, und ich mochte diese Offenbarung überhaupt nicht. Da erfand die Leiterin aus Mitleid mit uns Kleinen ein dreiminütiges Menuett der Garnelen, die um den Schildkrötensupperich und den Greif und die Terrine mit Erbsensuppe tanzen sollten. Doch nicht einmal zum mickrigen shrimp reichte es, ich wurde Ersatzgarnele, falls jemand ausfiel, und verarbeitete die katastrophal schlechte Entscheidung der Leiterin mit mühsamer Gefasstheit. Das erklärt alles, alles, was später kam. Von der Ersatzgarnele zur öffentlich-rechtlichen Chefredakteurin. In Silicon Valley nennen sie es wohl fail forward.

 

»Aber gibt es denn den Teufel?« Als Kind interessierte ich mich für Übernatürliches und Außergewöhnliches. Feen, Peter Pan, Ivanhoe, Marshall Tito und der jugoslawische Exilkönig Peter II. waren mein Fantasievolk. Alle gleich wirklich, gleich betörend. Gleichzeitig mit der Zahnfee und dem Rentierschlitten des Weihnachtsmanns lernte ich Stalin und Trotzki kennen, ich hörte die Namen, wenn meine Eltern abends mit ihren Jugo-Freunden Karten spielten. Oder ich las Kinderbücher, Comichefte. Oder tagträumte grenzenlos. Meine Mutter war begeisterte Cineastin und fand jede Fantasterei von mir großartig und einer Antwort wert.

 

»Nein, Teufel ist einfach ein Wort für das ganz Dunkle und Böse, das passieren kann oder das dich dazu bringt, etwas Böses oder Falsches anzustellen. Wie zum Beispiel zu lügen oder frech zu sein oder zu viele Süßigkeiten zu essen.«

 

Meine deutsche Mutter war eine kirchenferne Protestantin, die fest an die Glücksversprechen der Gegenwart glaubte. Mein serbischer Vater ein Atheist aus einer orthodoxen Popenfamilie. Und die Vielvölkerclique der Eltern war sehr weltlich, dem Pokerspiel, Kinobesuch, Geldverdienen und Fremdgehen zugetan. Sie waren zwischen 20 und 30, hungrig, nach dem Zweiten Weltkrieg von der großen Neuordnung Europas erfasst und halt nach England geworfen worden. Serben, Kroaten, Bosnier, Slowenen, Weißrussen, Montenegriner, Polen – sie waren wanderndes Mittel- und Osteuropa, um dem Elend oder einer Ideologie zu entkommen. Die einen fast Analphabeten, die anderen aus Akademikerfamilien ohne Zukunft in den kommunistischen Satellitenstaaten. Bitterarm, bildschön und zum Erfolg in der kalten Fremde verdammt, wo sie nicht wirklich willkommen waren. Sie arbeiteten an ihren Akzenten, passten sich an, entwickelten Vorlieben für Hunderennen und die Queen, puhlten aus ihrem Flüchtlings- und Exilantendasein ein britisches Lebensgefühl heraus.

 

Durchkommen! Weiterkommen! Ankommen! Meine Leute.

Wie mochte ich die Namen mit kehligen Vokalen und schnellen Zischlauten! Der sexy Tonči und seine busige Milena, die elegante Rujića, die pausbackige Marina, meine beste Freundin. Dragoslav mit der kleinen Schuhmanufaktur und seine herrische Mutter Tetka Vida. Dušan, ein edler und bleicher Junggeselle, Bojana mit den dicken Oberarmen, der wuselige Svetozar. Gane, der tragische Verehrer meiner Mutter, der mir »Winnie The Pooh« vorlas. Alle interessanter als Tom, Dick und Harry der englischen Mehrheitsgesellschaft.

 

Meine jungen, naiven, sonnigen Eltern: Anneliese aus Herne, eine 18-jährige Deutsche, noch vor kurzem BDM-Mädel und mittelaschblond bezopft, schrieb sich nach dem Notabitur in ein Ausbildungsprogramm der britischen Besatzer ein, um Krankenschwester in Oxford zu lernen und den Ruhrgebietstrümmern zu entfliehen. Jetzt eine peroxide blonde, ein weißblondes Ausrufezeichen, eine Marilyn Monroe der Immigrantenszene.

Stanko, Antikommunist und Antifaschist aus Jugoslawien, verliebte sich ausgerechnet in eine Tochter der einstigen Okkupanten und schob so die Hoffnung auf ein Studium beiseite, um schnell Geld zu verdienen. Wie die jeweiligen Familien den Skandal bearbeiteten, da nun das politisch, sozial und ethnisch ganz Verkehrte in ihre Welt einbrach und dann noch Fleisch wurde! Mit gerade 20 Jahren wurde Anneliese Mutter – meine.

»Anneliese, wie konntest du einen Jugo wollen?«

»Stanko, musste es eine Deutsche sein?«

Ein paar Jahre ging es gut, mein Vater neigte zum Zocken, meine Mutter zum Sparen, beide zum Feiern. Und ich, ich wurde ein fröhliches, stilles und abenteuerlustiges Einzelkind in einem Dorf mit etwas Kosmos drum herum. 64, Holland Road, Kensington, London, in den späten 50ern.

 

Ab wann weiß ein Kind von sich? Ein »Ich« habe ich wohl zum allerersten Mal mit drei oder vier wahrgenommen, bei meiner eigenen Taufe. Denn nur alle Jubeljahre kam der »richtige«, der orthodoxe Bischof vom continent (wie Festland-Europa damals hieß und heute wieder) in die jugoslawische Exilgemeinde von Ladbroke Grove. Er hakte dann Hochzeiten, Taufen und allgemeine Seelsorge hintereinander ab. Meine religiös unterentwickelten Eltern waren eine Zeit lang nicht ganz so pleite und investierten in eine für sie völlig überflüssige Symbolhandlung, und schon war ich kein Heidenkind mehr.

Mir war diese Taufe nicht geheuer, mein Patenonkel, ein weißrussischer Dentallabor-Besitzer, trug mich dreimal um das Taufbecken, wo ich dann mit viel Gesang dreimal unter Wasser getunkt wurde, im Namen der Dreifaltigkeit. Die leichte Taufkleidung wurde pitschnass und durchsichtig, das fand ich doch unangenehm. Immerhin waren kleine Jungen meiner Altersgruppe unter den gerührten Zuschauern und Zuschauerinnen, und ich war recht scheu in Körperdingen.

Dafür träumte ich schrecklich gerne. Meine Lieblingsträume machten mich abwechselnd zur Indianerprinzessin, die die Holland Road nach Büffelherden absuchte. Oder zur Ritterin auf imaginärem Pferd, wobei ich eigens eine Klipp-Klapp-Laufart entwickelte und etwas gaga durch die Nachbarschaft trabte, immer hinter dem Drachen her. Zu Weihnachten oder zum Geburtstag bekam ich folgerichtig Gummischwerter, Indianerkostüme, Federschmuck oder Zauberstäbe. Keine Puppen oder Stofftiere. Auch pinke Kettchen nicht oder rosa Schleifchen. Puppen waren Tricks, um kleine Mädchen ans Haus zu binden, an die Puppenküche, ans Puppenbettchen, ans Puppenkleidchen. Dieses Gesäusel und Gequietsche um Papa-Mama-Kind konnte ich schon damals nicht leiden. Meine einzige Puppe Suzy nahm ich auseinander, zerteilte die Gliedmaßen, schraubte den Kopf ab, färbte den Rand des Halses mit rotem Lippenstift ein und hing Suzy an den Haaren auf, so wie es edle Ritter mit bösen Rittern machten. Zum Glück fiel meinen Eltern die Freude am Hinrichten nicht so richtig auf.

Erwachsene waren ohnehin mit Arbeitsleben, Beziehungsgeflechten und Freizeitaktivitäten befasst, weniger mit ihren Kindern, diese liefen irgendwie mit. Ich wurde geliebt, war ein pflegeleichtes Kind und hatte keinerlei Anspruch, die Aufmerksamkeit meiner Eltern auszusaugen. Sie waren hocherfreut, dass ich während der Poker-Marathonsitzungen klaglos Zigaretten holen ging, und ich wurde vertraut mit filterlosen »Senior Service« für die ganz harten Männer, golden eingepackte »Benson and Hedges« für die Aufgestiegenen. »Peter Stuyvesant« war Favorit meiner Mutter, und an hohen Festtagen (wenn jemand beim Hunderennen gewonnen hatte) bekamen die Frauen eine Packung »Sobranie« geschenkt, schwarzes Papier mit Goldfilter. Russisches Angeberzeug.

London war nie ein Luftkurort, schon gar nicht in den 50ern, als noch mit Kohle geheizt wurde. Peasoup, Erbsensuppe, gefährlich für die Bronchien, aber irgendwie gottgegeben. Kurz nach meiner Geburt verpestete eine Smog-Wolke die Hauptstadt tagelang, tötete Tausende: The Great Fog of 1952. Auch viele Jahre danach war ein klarer Himmel mit rosigem Sonnenuntergang eine seltene Kostbarkeit, die mich umso mehr entzückte, und bis heute weiß ich, dass Sonnenuntergänge niemals tot zu fotografieren sind.

Eine meiner Lieblingsfantasien war der Tod Gottes: Über den rot-goldenen Abendhimmel zog ein gigantischer Leichenzug. Der unvorstellbar große, glitzernde Sarkophag wurde von Zehntausenden Engeln gezogen, anschwellende Musik, unendliche Trostlosigkeit – das Ende von allem. So konnte ich mich selbst zum Weinen oder Fürchten bringen. Dass Gott sterben musste, war vermutlich dem Film »The Pride and the Passion« zu verdanken mit Sophia Loren, Cary Grant, Frank Sinatra, in dem von spanischen Befreiungskämpfern eine riesige Kanone tausend Kilometer geschleppt wird, um die napoleonischen Franzosen zu verjagen. Dank meiner Mutter kannte ich sehr früh alle Kostümfilme der Epoche.

In Notting Hill Gate, ein paar Haltestellen von uns entfernt, war mein Paradies: ein großes Kino mit roten Plüschsitzen und Platzanweiserinnen in schwarzen, schicken Kleidern und weißen Handschuhen. Unglaublich elegant und bewundernswert, fand ich. Ich erinnere Orangensaftersatz in kleinen Pappkartons, die viel zu schnell ausgetrunken waren, und 1000 kleine Leuchten an der Decke. Meine Mutter nahm mich schon als Vorschulkind in Doppelvorstellungen mit, Geld für Babysitter gab es nicht, und ich schlief im Dunklen ein und wachte vom Flimmern zwischendurch auf und betete die Wesen auf der Leinwand an, ohne die Handlung zu verstehen. Was aber war ein Schauspieler, wie ging das? Kirk Douglas mit dem Kinn-Grübchen war Wikinger-Fürst, der auf den Rudern des Drachenbootes tanzte und ein Auge an Tony Curtis’ Falken verlor, aber warum hatten die beiden einen Zwilling in einem anderen Film? Und noch einen Bruder in einem weiteren? Warum waren sie so viele?

 

Der Teufel beschäftigte mich auch ungemein. Mir schienen viele Märchen um ihn herum ein Erfolgsrezept zu sein: Seele verkaufen, gute Gegenleistungen bis kurz vor dem Tod genießen, dann dem dummen Zausel durch heftiges Bereuen in der Kirche oder ähnliche Strategien von der Schippe springen.

Ohnehin macht mich meine DNA stark gegen das Böse. Der serbische Großvater und andere Vorfahren waren Popen oder hatten Popen geheiratet. Fromme Männer mit Bart, auf den Familienfotos haben sie entschieden jüngere und ziemlich schöne Ehefrauen. Bis zu sechs Generationen zurück konnte ich später recherchieren. Wer aber noch gottesfürchtiger leben wollte, blieb unverheiratet. Einer der Heiligsten, Milutin Nikanor Grujic, ein berühmter Theologe und Poet, wurde später Bischof und Politiker, der 1848 die Geburtsstunde der autonomen Wojwodina verantwortete. Na ja, ein Jahr Selbstständigkeit, und dann hegte die k.u.k. Monarchie die Wojwodina als Provinz wieder ein, und mein Verwandter wurde dann doch nicht Oberhaupt aller orthodoxen Serben. Immerhin belohnte ihn Franz Joseph I. mit einer Geheimratsstelle am Hofe und allerlei Orden.

Die Popen-Enkelin wünschte sich damals zum vermuteten Preis ihrer Seele einen Füller, mit dem alles, was ihr durch den Kopf tanzte, sofort, klar und ohne Rechtschreibfehler festgehalten würde. Schriftstellerin musste ich werden. Und der Teufel, so träumte ich, würde mir diesen Zauberfüller für meine achtjährige Seele schon geben. Also los auf die Holland Road. Natürlich würde der Teufel so aussehen wie ein Engländer, nur erheblich eleganter angezogen. Er würde nicht stinken oder Hörner haben, so viel verstand ich von Modernität. Ich würde ihn herbeilocken, wenn ich bis zur Straßenecke meinen Gaga-Galopp durchhalten könnte, ohne auf die Fugen der Pflastersteine zu treten. Der Teufel scherte sich nicht drum. Tagelang stromerte ich herum, starrte jeden Unbekannten an und beschwor, vergeblich. Wie gut, dass meine Mutter irgendwann eine Reiseschreibmaschine kaufte, auf der ich die Fantasien zu Papier brachte. Mein erster Roman sollte von einem kleinen Mädchen (!) handeln, das loszog in die Welt (!), um Abenteuer (!) zu erleben. Kein besonders origineller Plot, und ich kam nicht weit damit, weil ich mich nicht entscheiden konnte, was das kleine Mädchen an Vorräten mitnehmen müsste. Es blieb bei einer Einleitung und einer unvollständigen Liste.

 

Um zur Schule zu kommen, musste ich den Doppeldecker No. 49 nehmen und einmal an Shepherd’s Bush Green umsteigen. Das lernt sich schnell, musste auch, beide Eltern arbeiteten. Der Schaffner nannte alle ducky oder darling und passte auf, dass ich richtig ausstieg.

Shepherd’s Bush war damals nicht cool und voller BBC-Typen wie heute, sondern Kleine-Leute-Viertel mit Knallfarben aus der Karibik, dem Balkan oder Afrika, ärmer und fröhlicher als die viktorianischen Fassaden von Kensington.

Die Schule war Ort des großen Glücks: St. Stephen’s Parochial School in Shepherd’s Bush. Eine niedrige Mauer schirmte diesen wunderbaren Ort vom Ethno-Trubel des Viertels ab. Bis zum späten Nachmittag konnte man hier lesen und schreiben und singen und laufen und von Miss Gallagher, einer jungen, angenehm runden, rothaarigen Irin, herrliche Dinge lernen.

Das Schulessen bestand unweigerlich aus einer Scheibe undefinierbaren Fleisches, Kartoffelpüree und brauner Soße, gelegentlich begleitet von Wackelpudding in Feuermelderrot oder Neongrün mit Vanillesoße. Meine Mutter glaubte nicht an weibliche Fähigkeiten und kochte fast nie, außer Schnellfrühstück wie porridge, Haferbrei oder Räucherfisch in Milch gekocht, was ich mir selbst warmmachen konnte. Mein Vater machte komplizierte k.u.k.Gerichte wie Schnitzel, Fasan oder Palatschinken, diese aber selten, sodass ich versessen auf »Heinz Baked Beans« auf Toast, Spiegeleier und Spaghetti aus der Dose heranwuchs. Und Fischstäbchen mit Tomatenketchup sind bis heute wirklich nicht so übel, wenn es eng wird.

Damit ich vorurteilsfrei würde, nahmen sie mich zu Restaurants aller Nationen mit – unvergesslich die gerösteten Heuschrecken oder Aale in Gelee, die ich probieren musste. Margaret Thatcher war noch unbekannte Abgeordnete der Tory-Partei und noch nicht als knallharte, engherzige Schulministerin (»Thatcher – milk snatcher«) aktiv und der Wohlfahrtsgedanke in England noch nicht diskreditiert, und so bekam ich täglich in der Schule eine kostenlose Flasche Milch zum Frühstück. So war ich mager, aber doch kerngesund.

Vier, fünf Nationen in der Klasse, unterschiedliche Hautfarben und Religionen und alle dabei, wenn man freitags zum anglikanischen Gottesdienst getrieben wurde und gemeinsam »All things bright and beautiful« quäkte.

 

Dass ich eine deutsche Mutter hatte, sozusagen der Loser-Nation entsprungen, merkte ich früh an den Fragen der Mitschüler:

»Kennst du ein Nazi-Lied?« »Nein.«

Unter Nazis stellte ich mir seinerzeit überdimensionale Geier vor, unter Krieg eine riesige Planierraupe, die alles kaputt machte.

»Sag mal was auf Deutsch!«

»Guten Tag, danke, bitte, Wollstrümpfe.«

Das war’s. Mehr kannte ich nicht. Zu Hause sprachen meine Eltern deutsch, wenn ich nichts verstehen sollte, insbesondere und zunehmend beim Streiten. Wollstrümpfe waren diese exotischen Hüllen, die eine Oma (?) aus Herne (?) zum Winter strickte und zuschickte. Mehr als peinlich, denn richtige englische Schulkinder trugen auch im Winter zur Schuluniform Kniestrümpfe und schlotterten lieber heldenhaft. Ohnehin war Selbstmitleid verpönt, niemand ließ sich davon beeindrucken. Niemand war ein sissy, ein Weichei. Englische Schulen härten ab. Ich erinnere diesen schmählichen Moment, als Trevor, ein Junge aus Jamaika, mal Mist gebaut hatte. Die grauhaarige, kleine Schulleiterin riss ihm vor der ganzen Klasse die kurze Hose herunter, wir alle sahen den hellbraunen kleinen Kinderpopo. Mit der flachen Hand drosch sie auf ihn ein, eine vollendet englische Bestrafung – Schmerz und öffentliche Demütigung. Trevor zappelte und weinte, und wir waren wortlos auf seiner Seite.

 

Eine entsetzliche Zeit brach eines Sommers an, als wir Mädchen zum Handarbeitsunterricht abkommandiert wurden, mittwochnachmittags nach dem Mittagessen. Ich hatte und habe zwei linke Hände und fand nichts Romantisches oder Relevantes darin, den Kreuzstich zu können. Ich bekam schweißnasse Hände, wenn ich Stricknadeln sah, und hasste die Handarbeitstante. Ich entwickelte einen Plan, das erste ausgeklügelte Lügengebäude meines Lebens. Schamlos ging ich zur Lehrerin:

»Ich muss leider in den nächsten Monaten mittwochs früher nach Hause, ich bekomme Ballettunterricht, weil ich Probleme mit der Haltung habe und mein Rückgrat schief wird.«

Vielleicht hatte ich sogar einige medizinische Begriffe aufgeschnappt, jedenfalls machte sie Geräusche des Bedauerns und Verstehens und fragte nicht nach Schriftlichem. Ich war frei. Frei von Kreuzstichen, Akkuratesse, Mädchenquatsch. Nun musste ich nur noch meine Mutter austricksen. Ein paar Minuten entfernt von der Schule war ein anderer magischer Ort in der Lime Grove, das Dentallabor des weißrussischen Patenonkels. Ein flacher Anbau im verwilderten Garten seines Wohnhauses, ich liebte die bluebells dort, knallblaue Hasenglöckchen. Die zwei geschwänzten Stunden verbrachte ich fortan im Labor, Onkel Schischko log ich vor, die Lehrerin sei bis auf Weiteres krankgeschrieben, »irgendetwas, was Frauen kriegen«. Er fragte kein einziges Mal nach.

Viele schöne Nachmittage im Dentallabor folgten. Gipsabdrücke, Magnetspäne, Mikroskope und Waagen waren mein Spielzeug. Der Patenonkel brachte mir alle Planeten in richtiger Reihenfolge bei und den Unterschied zwischen Stalin und Tito, was wichtig war, denn die Jugo-Clique stritt sich unentwegt über Politik und Geschichte – sollen wir Tito nun gut finden oder nicht?

Der dicke Mann in Marshalluniform auf den Fotos hatte als Partisan mit britischer Unterstützung gegen die Nazis gekämpft, »erfolgreich«, später mit Stalin und der Sowjetunion gebrochen, »gut«, und eine Art Arbeiterselbstverwaltung entwickelt, »hoffnungsvoll«. Er wurde der Lieblingssozialist des Westens und nutzte als Anführer der Bewegung der Blockfreien den Ost-West-Konflikt aus, »geschickt«. Innenpolitisch unterdrückte er nationale Bestrebungen der Einzelvölker, insbesondere der Kroaten, »schlecht«, förderte den Personenkult, »unwürdig«, und warf den Helden meines Vaters, den Dissidenten Milovan Djilas, aus der Partei und ins Gefängnis, »böse«. Ich lernte und lernte von Schischko, und Politik war auch immer eine gute Erzählung von GROSSEN MÄNNERN, Tito, Nehru, Nasser.

Der Handarbeitsunterricht fand wochenlang ohne mich statt. Mein Betrug bringt mir was, erkannte ich, und niemandem schadet er wirklich. Bis meine Mutter unvorhergesehen den Patenonkel besuchte, einfach so. Auf hohen Hacken und wasserstoffblond wie immer wehte sie in mein stilles Glück, wurde grimmig, bestand auf Mädchentugenden und zerrte mich zur verblüfften Handarbeitslehrerin.

Kreuzstich lernte ich dennoch nicht, meine Stärke war das Lesen. Ich bildete mir darauf etwas ein und fand es völlig gerechtfertigt, dass ich die meisten Vorlesewettbewerbe gewann, auch wenn die Preise unspektakulär waren. Die Firma Cadbury bedachte mich immerhin mit einer Riesenkiste voller Schoko-Täfelchen in Lila-Blau, milk chocolate, fruit and nuts. Kein handgeschöpftes, fair gehandeltes Edelprodukt mit 85% echtem Kakaoanteil kann da mithalten, bis heute.

Ich liebte die Schule, sie war eine einzige Wundertüte guter Optionen: Linda hieß meine beste Freundin, etwas schwerfällig und gut entwickelt für ihr Alter und vor allem blond, also das Gegenteil von mir und der Jugo-Clique. Blond und blauäugig war auch Malcolm, Pferdegesicht, lange Gliedmaßen, ich wollte ihn heiraten, aber er nahm mich gar nicht zur Kenntnis. Auch nicht, als der hübsche, wenn auch kleine David um mich warb und mir einen lebenden Goldfisch in einer Klarsichttüte zur Schule mitbrachte, als Morgengabe. Lange hatte ich die fatale Neigung, mich in Blonde oder Dunkelblonde zu verlieben, und zweimal heiratete ich solche wunderbaren Wesen, die so anders aussahen als ich.

 

Shepherd’s Bush, das war der Dreiklang aus Schule, Patenonkel und dem Green, dem schmucklosen Park mit wenigen Bäumen und Sitzbänken und einem öffentlichen Tennisplatz, wo meine Eltern manchmal spielten, das kostete nicht viel. Die Eltern vertrugen sich immer sehr gut auf dem green, als wären sie ineinander verliebt, und sie gaben mir Geld für fish and chips, wenn ich die Bälle aufsammelte, und sie machten Fotos am Netz, und die Umkleideräume rochen nach feuchtem Holz. So riecht glückliche Kindheit.

 

Im Hyde Park wartete eine Statue Peter Pans auf meinen Besuch. Man erzählte mir, die Figur würde lebendig werden – erlöst durch ein Menschenkind. So oft zerrte ich die Erwachsenen hin, doch Peter Pan verharrte in seinem gusseisernen Geheimnis. Ich stellte mir vor, dass er mit mir allein sein wollte, und riss darum hin und wieder aus und marschierte durch London, sechs Kilometer Richtung Hyde Park, voller Hoffnung auf einen magischen Augenblick. Peter Pan musste mein Bruder werden, keine Frage, also hin.

Meine Eltern starben anfangs vor Angst, gewöhnten sich dann an, mich spätestens auf der Kensington High Street aufzufischen, die Strecke war ja eindeutig. Entführer, Kinderschänder, Perverse, Unfallfahrer oder schlechte Menschen im Allgemeinen schien es im London meiner Kindheit einfach nicht zu geben. Helikoptereltern waren noch nicht geboren, Kinder durften autonom sein. Mein Vertrauen in diese Ordnung der Dinge war unerschütterlich.

Ab und an adoptierte ich wildfremde Erwachsene, lief ihnen hinterher und stellte Fragen. Eine schöne Inderin wohnte ein paar Häuser weiter. Sie trug Saris in tropischen Farben, sehr anders als meine blaue Schuluniform mit Karoröckchen. Sie lebte wie viele Immigranten in einer dunklen Souterrainwohnung, die sie exotisch eingerichtet hatte, und machte mir Tee und erzählte lange Geschichten von Indien. So trödelte ich bis in die Dunkelheit bei ihr herum, was meine Eltern irgendwann mit einem Polizeibesuch quittierten. Nein, die Tochter aus gemischtem Hause hatte da nichts zu suchen. Die Jugo-Clique war doch exotisch genug.

Inhaltsverzeichnis

Herne – ab in den Pott

Alter: Neun. Status: Scheidungswaise. In meiner Klasse an der St. Stephen’s Parochial School in London gab es bereits Scheidungskinder, und ich war alt genug, zu wissen, dass Erwachsene sich trennen. Dass Mutter und Vater sich nicht mehr leiden konnten und den vielen Streitigkeiten ein Ende setzen wollten. Dennoch fällt es mir schwer, diesen Bruch zu erinnern ohne Groll auf jene Erwachsenen, die über mich verfügten, die mich nicht fragten. Ohne lange Vorbereitung ging es zum Flughafen Heathrow, von dort würde ich – allein – nach Düsseldorf fliegen und von ziemlich fremden deutschen Verwandten abgeholt werden.

Die Stewardessen waren reizend zum allein reisenden Kind mit niedlicher Baskenmütze, und ich plapperte aufgeregt von möglichen Abstürzen – bekommen dann alle einen Fallschirm? Gibt es sie in Kindergrößen? Die Mitpassagiere rollten mit den Augen über meinen nicht versiegenden Unverstand. Der abholenden und sehr ernsten deutschen Familie übergab ich ein großes Glas Maxwell Instant Coffee, irgendwie war das ein schickes Ding aus dem Duty-free-Laden, das Fortschritt bedeutete.

London verlieren. Den Vater verlieren. Die Schule wechseln und zack, zack Deutsch lernen. Diese fremden Menschen hören, wie sie über meine geschiedene Mutter sprachen, die sich so zweifelhaft aufführte, die sich schminkte, ihre Nägel erdbeerrot färbte und enge Kleider trug. Alfons C., mein Großvater, nannte so etwas »nuttig« und »undeutsch«. Ich verstand schlecht und wusste doch ungefähr, was damit gemeint war. Ich schwieg dazu, soviel ich nur konnte. Meine schöne, junge, weltstädtische Mummy parkte mich also in Herne bei ihrer Familie, um sich eine »neue Existenz« aufzubauen, zunächst als Büchereihilfskraft, dann als Übersetzerin bei der britischen Militärpolizei in Rheindahlen. Ich sah sie nur an Wochenenden. Ich liebte sie heftig, und sie sollte mit mir ausschließlich Freude verspüren und keine Klagen hören.

 

Die Wohnung der Großeltern war eng, vier Zimmer, dunkles Bad, kleiner Balkon, Kohleheizung. Ich schlief auf einer Couch im Fernsehzimmer, hatte ein kleines Fach im Küchenschrank unten rechts, worin ich meine englischen Kinderbücher aufbewahrte und sehr wenig Eigenes. Am schönsten war es in der Küche, dort machte ich die Schularbeiten, während Großmutter Elli kochte, putzte, nähte und das Radio ununterbrochen lief. Die Skala auf dem Gerät webte Träume von Stavanger, Athinai, Beograd, Simferopol, Vatican, überall würde ich irgendwann mal hinreisen, aber bis dahin nach dem Mittagessen Schulfunk hören und dort »Neues aus Waldhagen« erfahren, bisschen Soap und bisschen Sozialkunde. Und natürlich alle Englisch-Lehrstunden hören, die verstand ich ja im Schlaf, und sie machten das Heimweh besser. Auch ein Kind musste im Haushalt mithelfen: mittwochs die Treppe putzen, kleine Einkäufe machen, spülen. Dafür durfte ich Rabattmarken in Hefte kleben und sie am Jahresende einlösen und das Geld behalten.

Herne, Vinckestraße 14: Da wohnten außerdem mein Onkel Ulli, nur vier Jahre älter als ich. Er sprach ein wenig Englisch und wurde mein großer Bruder, außerdem meine junge Tante Dagmar, die bereits arbeiten ging und ihre hochtoupierte Farah-Diba-Frisur kräftig mit Taft einsprühte. Geld für meinen Unterhalt kam von meinem fernen Vater, hochwillkommen, denn mein Großvater verdiente nicht viel und musste nun auch mich ernähren und kleiden.

Ulli und ich waren für die Bestückung des großen Küchenherds zuständig, wo immer ein Kohlefeuer brannte. Jeden Tag treppauf und treppab, im Keller lagerte auch das Anmachholz, das ich hochtragen durfte. Ich zerriss gern die WAZ, legte das Holz drauf, dann kamen kleine Kohlestücke drüber und – Wärme! Oben auf der Platte wurde gebraten und gekocht, in die verschiedenen Klappen kamen Schmorgerichte oder Kuchen. Einen Warmwasserbehälter gab es auch, den benutzte die Großmutter kaum, weil der Schamott krümelte und das Wasser trübte.

Im Herbst wurden Kohlen, Briketts und manchmal Eierkohlen geliefert, ich weiß nicht mehr, ob die Familie vom Kohle-Deputat meines mittleren Onkels Winni profitierte. Als Steiger hatte er das Recht auf kostenlose Lieferungen, und so wurden in der Vinckestraße noch sehr lange Küchenherd und Heißwasserboiler im Bad damit versorgt, Staub hin und her.

 

Im Weltkrieg hatte mein Großvater Alfons C. Glück, zunächst in Frankreich stationiert, ohne Kampfhandlungen, dafür mit der Möglichkeit, der Familie feine Lebensmittel zu schicken. Eines Tages schenkte er mir eine leicht ramponierte Schmuckschatulle, blau emailliert mit Goldfüßchen. Die hatte er im französischen Innenministerium mitgehen lassen, auch wenn er es vornehmer ausdrückte. Später wieder großes Glück, ein Schuss in Russland machte ihn zum Invaliden, er kam kurz vor der entsetzlichen Schlacht in Stalingrad wieder nach Hause, mit steifem Arm und ohne Glauben an den Endsieg.

Opa stammte ursprünglich aus Norditalien, sein Vater Ferdinand Hannibal C. hatte sein Geld in Deutschland mit Terrazzoböden und -treppen verdient und verschwand recht früh aus den Erzählungen. Nur ein Foto erinnert an ihn, weißer Sommeranzug und Strohhut, zufrieden vor dem Terrazzo-Treppenaufgang am Herner Rathaus stehend. Da hatte er wohl einen feinen Auftrag an Land gezogen und die Familie C. steingewordene Bürgerlichkeit.

Die Großmutter war aus Thüringen ins vermutete Eldorado Ruhrgebiet eingewandert, um im Gemüseladen zu verkaufen und mit vierzehn ihr Herz an den Großvater zu verlieren und früh schwanger zu werden. Bei den Wandervögeln sangen sie sentimentale Volkslieder, er zur Mandoline, sie zur Gitarre, brave Menschen, die an Familie, Bildung und Ehrgeiz glaubten.

 

»Ohne Fleiß kein Preis« – grausam schnell wurde ich zu einer Leistungswilligen, lernte Deutsch, lernte Anpassung. In der Volksschule musste ich im ersten Halbjahr noch keine Schularbeiten machen, sondern zunächst Schreibschrift lernen, eine elende Folter. Die praktischen englischen Druckbuchstaben, die ich völlig beherrschte, wichen Schnörkeln an idiotischen Stellen, das große D hatte links unten eine unerklärliche Blase, das kleine m und n Haken zum Aufhängen, ß war einfach unheimlich und beim kleinen z verkrampfte sich meine Hand vollends. Dazu die Hilfsstriche oben und unten, damit die kleinen Buchstabensoldaten aufrecht in Reih und Glied standen: zu Befehl! Schiefertafeln fand ich grob und schwer, auch wenn das am Bindfaden baumelnde Schwämmchen nützlich war, um mein Totalversagen bei der deutschen Schönschrift immer wieder wegzuwischen. Und die vielen Rätsel der Sprache: So beteten wir – evangelische Volksschule – jeden Morgen »… das walte Gott, Vater, Sohn und Heiliger Geist«, und niemand sagte mir, dass »walte« kein Adjektiv ist und Gott darum auch keine Sache.

Ein halbes Jahr durfte ich Ausländerin sein und Fehler machen, immerhin, die anderen Kinder bekamen keine solche Nachsicht, sondern viel Untertanengeist. Stören des Unterrichts? Da schlug die Lehrerin mal kurz und hart mit dem Lineal auf die Kinderfingerlein. Widerworte? »Eine Ohrfeige hat noch nie geschadet.« Sie sprachen es nicht aus, die Lehrer, aber »hart wie Kruppstahl« zu sein, hielten sie für wünschenswerte Pädagogik.

Nach der Schule trieben wir uns auf der Bahnhofstraße herum, fuhren eine Station schwarz mit der Straßenbahn, bettelten um Pröbchen in der Drogerie oder um Lurchi-Hefte beim Schuhgeschäft Salamander. Die Luft in der Bergbaustadt Herne war schmutzig, was sonst in den frühen 60ern, beim Schnäuzen wurde es immer schwarz im Taschentuch. Wir husteten alle mehr oder weniger, darüber wurde so wenig geklagt wie über die Staublunge der Kumpel oder die Hemden, die man nie richtig weiß bekam, bis Nyltest auf den Markt kam. Doch wenn ich den Großvater manchmal von der Arbeit bei der Hibernia abholte, roch die Luft nach Methylalkohol, was ich mochte, und die Männer tranken ihre Biere in der Kneipe, bis die Kinder sie abholten, »… weil die Mutti schon wartet …«, beziehungsweise weil sie den Lohn nicht versaufen sollten. Und die Kinder wurden mit einer Limo bestochen, die Väter und Großväter angeblich noch nicht gefunden zu haben.

Ein-, zweimal im Jahr wurde Alfons C. zum Schnapsbrenner, die Küche stank tagelang. Reinen Alkohol brachte er von der Arbeitsstelle bei der Hibernia mit, klar, und kaufte dann ein bisschen Blattgold für sein »Danziger Goldwasser«, das niemand aus der Familie mochte, und Beeren für den »Aufgesetzten«, den sogar ich probieren durfte. Ich glaube, dass die Maische an irgendwelche Viecher verfüttert wurde, kann mich aber irren. Die Hühner des Nachbarn torkelten jedenfalls nie.

 

Ach Herne! So anders als London. Noch kannte niemand das Wort, meine »Integration« war nicht Kurs, Problem oder Herausforderung, sondern banal. Als mich Kinder fragten, ob ich evangelisch oder katholisch sei, und ich »orthodox« murmelte, krähten sie: »Das gibt es nicht, du lügst«, und stempelten mich als ganz eingebildete Wichtigtuerin ab, noch dazu vaterlos. Meinen Namen Mikich verunstalteten und verhöhnten sie, ausgerechnet die Wieczoreks, Kowalczyks, Foltyneks, Kwiatkowskis, Szymanskis fanden mich unmöglich ausländisch. Sowieso hatte England nur den Krieg gewonnen, weil die Amis geholfen hatten. Also bettelte ich die Großeltern an, eine richtige Religion zu bekommen, und weil der Pastor Iburg in Kirchendingen eher locker war und zuvor unsere ganze Sippe getauft oder verheiratet hatte, übersah er meine orthodoxe Vergangenheit und schrieb mich in den evangelischen Katechumenenunterricht ein. Das hinderte mich nicht daran, ab und zu in die katholische Kirche an der Bahnhofstraße zu schleichen und mir die Lungen vollzusaugen mit Weihrauch. Und ja, manchmal gab es wüste Kloppereien zwischen den Kindern der evangelischen und der katholischen Volksschule, aus Prinzip mussten die anderen von Zeit zu Zeit verhauen werden. Obwohl ich das Prinzip aus England nicht kannte, rannte ich den Banden hinterher, um zu gucken, und war immer froh, zur evangelischen Mehrheit zu gehören. Die hatte in unserer Ecke die besseren Schläger.

Sobald ich auf Deutsch gut lesen konnte, trieb ich mich nicht mehr auf der Straße bei den anderen Kindern herum. Aus der Vitrine im Wohnzimmer stahl ich Karl-May-Bände (»Schundliteratur«, so der Großvater) und las die Sagen des klassischen Altertums (»Bildung«, so der Großvater) x-mal hintereinander. Für Onkel Ulli, damals hochpubertierend, leitete ich Briefchen an die größeren Mädchen in der Schule weiter. Onkel Winni nahm mich in seinem DKW-Zweitakter mit zu einem Ausflug an die Ahr und schenkte mir eine kleine Statue von einem goldfarbenen Reh als Souvenir.

Mit Tante Dagmar ging ich zum ersten italienischen Eissalon in Herne, Campi. Sie hatte einen Freund, der später zum Verlobten mutierte, ein italienischer Schiffsoffizier namens Felice. Es wehte immer große Welt, wenn er die Vinckestraße besuchte. Nun konnte die Familie C. schlecht ausländerfeindlich sein, war sie doch verheiratet und verschwägert und verwandt mit lauter Ausländern. Aber schon wieder ein Italiener? Wie gut, dass dann Sigi aus Kärnten den Südländer verdrängte und die Tante aus dem Elternhaus und von falschen Entscheidungen befreite. Sie wohnten dann unverheiratet zusammen! Sie hörten Jazz! Sie hatten eine Stereoanlage von Braun! Sie trugen Rollkragenpullover! Mehr Coolness ging nicht in Herne, ich bewunderte sie.

Wenn die Großeltern wegfuhren oder ich beaufsichtigt werden musste, brachten sie mich bei weiteren Tanten unter. Tante Änne aus Sodingen, Tante Matta aus Wanne, Tante Selma aus der Nachbarschaft – ein Schwarm verwitweter oder unverheirateter Frauen, die zum Dunstkreis der Familie C. gehörten und jeden Samstagabend mit uns die großen Unterhaltungsshows im Fernsehen guckten, Schnittchen und Tee inklusive. Mein Opa kniff ihnen gerne in den Po oder machte zweideutige Bemerkungen über ihren Busen, und alle schrien in koketter Empörung »… aber Alfons, was machst du da?«, und er kam sich wie der tolle Hecht vor, der er vielleicht vor dem Krieg gewesen war. Meine Großmutter Elli war gleichzeitig eifersüchtig und ein bisschen stolz, dass sie den Hecht ihren eigenen nannte und die Besucherinnen nach Programmschluss doch wieder gehen mussten.

 

Opa und Oma wanderten sehr gern, der Königssee bei Berchtesgaden war ihr Sehnsuchtsort. Wegen der Nähe zum Obersalzberg? Trotz der Nähe zum Obersalzberg? Sie sprachen Hitler und die NS