Aufstieg der Schattendrachen - Liz Flanagan - E-Book + Hörbuch

Aufstieg der Schattendrachen Hörbuch

Liz Flanagan

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Beschreibung

Zehn Jahre ist es her, seit die Drachen wieder erwachten … Joe träumt seit Langem von einem eigenen Drachen! Aufgeregt und voller Hoffnung macht er sich auf den Weg zur Geburtszeremonie. Ob sich heute endlich ein neugeborener Drache für ihn entscheidet? Doch eine Katastrophe ereignet sich für Joe, und die Welt scheint sich in einen dunklen und gefährlichen Ort zu verwandeln. Dank der Hilfe eines neuen Freundes und einer unerwarteten Entdeckung könnte sein Wunsch dennoch in Erfüllung gehen. Ist er bereit, ein großes Wagnis auf sich zu nehmen und über sich selbst hinauszuwachsen? Die Zeit drängt, denn schon bald erwacht der Vulkan …

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Zeit:8 Std. 12 min

Sprecher:Dagmar Bittner

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Liz Flanagan

Aufstieg der Schattendrachen

Legenden der Lüfte

Aus dem Englischen von Bettina Münch

 

 

 

Natürlich für Christoph xx

Prolog

Zwei Drachen flogen durch die Dunkelheit. Sie atmeten abgehackt und keuchend, ihre Flügel bewegten sich schwerfällig, jeder Schlag kostete sie Kraft. Ihre beschuppten Flanken waren blutüberströmt.

»Die Drachen müssen sich ausruhen«, schrie Milla, deren schwarze Haare unter dem blauen Schal hervorquollen. Ihr Gesicht war voller Asche. »Sie schaffen es sonst nicht.«

»Doch, das werden sie! Sie müssen!«, schrie Thom mit rauer Stimme und grimmiger Miene zurück. »Wir müssen Arcosi erreichen, bevor es zu spät ist, Milla.«

Wie um seine Worte zu unterstreichen, schoss von den Hängen unter ihnen heißer Dampf empor, der Thoms scharlachroten Drachen nur um Haaresbreite verfehlte. Dieser kippte abrupt nach rechts und verlor dabei fast die Kontrolle.

»Thom!«, schrie Milla. »Alles in Ordnung?« Sie drehte sich um, drängte ihren Drachen, tiefer zu fliegen, und starrte suchend in die Dunkelheit.

»Siehst du? Es ist so weit. Der Vulkan bricht aus. Uns bleibt nur noch wenig Zeit. Wir müssen es versuchen!«, kam es von unten.

Angespannt kauerten die beiden Reiter auf dem Rücken ihrer Drachen. Sie wandten sich nach Westen und trieben ihre Gefährten zu einer letzten Anstrengung an.

»Beeil dich, Iggie, beeil dich! Und wenn es das Letzte ist, was wir tun. Wir müssen sie vor der Gefahr warnen. Wir müssen ihnen sagen, was sie tun sollen«, flüsterte Milla ihrem Drachen zu.

Der Himmel hinter ihnen war mit übersät mit rotgoldenen Funken.

1. Kapitel

Sechs Monate früher

Jowan Thornsen träumte vom Fliegen. Seine Hände umklammerten einen purpurroten schuppigen Hals, der Wind zerrte an seinen Haaren, das Meer glitzerte unter ihm, während sein Drache durch die Lüfte sauste …

Als Jo aufwachte, lächelte er immer noch. Dann verblasste der Traum, und er setzte sich ruckartig auf, weil ihm klar wurde, welcher Tag heute war. Der Tag der Schlüpfzeremonie fiel mit seinem zwölften Geburtstag zusammen. Seine Freunde Amina und Conor waren überzeugt, dass es Glück bedeutete. Und jetzt träumte er auch noch von einem Drachen? Das musste ein gutes Omen sein. Heute war der Tag, an dem sich sein Leben für immer verändern würde. Womöglich war er heute Abend mit einem frisch geschlüpften Drachen verbunden. Er würde in die Drachenschule von Arcosi ziehen. Seine gepackte Tasche stand bereit. Er war aufgeregt und konnte nicht länger still im Bett liegen.

Er sprang auf und zog seine Hose und das zerknitterte Hemd vom Vortag an. Die bereitgelegten neuen weißen Kleider ließ er unangetastet liegen. Sie waren für die Zeremonie. Am liebsten wäre er laut singend und jubelnd losgelaufen, doch es war noch früh am Morgen, daher schlich er leise nach unten, vermied die knarrenden Dielenbretter und sprang die letzten drei Stufen auf einmal hinab. Aus dem Schlafzimmer seiner Eltern drang kein Laut.

Draußen kräuselte sich der Rauch aus dem Küchenschornstein in den mit rosa Wolken übersäten blauen Himmel. Jo spähte durch einen Spalt in die Küche. Matteo, der Koch, war nirgends zu sehen, allerdings stand ein großer Teller mit dampfenden Zimtschnecken auf dem Arbeitstisch. Die mochte Jo am liebsten. Leise schlich er hinein und schnappte sich zwei Schnecken, an denen er sich prompt die Finger verbrannte. Als er sie in die Hosentasche steckte, spürte er die Hitze durch den verschlissenen Leinenstoff. Dann huschte er durch die Hintertür hinaus, lief eilig durch den Garten und kletterte auf die hohe Steinmauer des Übungsplatzes, auf dem er viele Stunden an seinen Schwertkünsten gearbeitet hatte.

Dort hockte er wie eine Taube und schaute über die Dächer von Arcosi, während ihm der Wind ins Gesicht wehte und ihn wieder an seinen Traum erinnerte. Jo breitete die Arme aus, als wären es Flügel, und ihm wurde ganz leicht ums Herz. Sein Blick glitt über die Schiffe, die tief unter ihm im Hafen lagen, und hinaus auf das blasse Meer, das sich in sämtliche Himmelsrichtungen erstreckte. Heute hatte er zum ersten Mal die Chance, sich mit einem Drachen zu verbinden. Er schaute auf das Wasser und stellte sich vor, darüberzufliegen. Es war so nah, dass er es schmecken konnte. Es würde genauso sein wie in seinem Traum.

In diesem Moment verdunkelte sich der Himmel, und ein Drache mit saphirblauen Flügeln glitt tief über ihn hinweg. Die Erde knirschte, als der Drache mit dumpfem Flügelschlag auf dem Übungsplatz landete.

»Milla!« Jo sprang von der Mauer, um seine Cousine zu begrüßen. »Ich dachte, du wärst zu beschäftigt, um heute vorbeizukommen.«

»Für deinen Geburtstag bin ich nie zu beschäftigt, Jo!« Milla rutschte von ihrem Drachen, und Jo fiel ihr um den Hals. »Drachenzähne aber auch! Ich schwöre, du bist seit letzter Woche schon wieder gewachsen.«

Es stimmte. Jo wuchs so schnell, dass ihm jede Nacht die Beine wehtaten. Ständig stieß er sich irgendwo an, so ungewohnt war sein neuer Körper für ihn. Doch das war nicht das Einzige, was neu für ihn war: Seltsame, extreme Stimmungen erfassten ihn wie Sturmwinde. Sie verschwanden ebenso schnell, wie sie kamen, deshalb behielt er diese Stimmungsschwankungen für sich und hoffte, niemand würde etwas bemerken.

»Jetzt bist du so groß, dass du mich im Kreis herumschwingen kannst.« Milla löste sich aus seiner Umarmung. Ihre Augen leuchteten, die schwarze Locken umrahmten ihr Gesicht. »Wag ja nicht, das auszuprobieren, sonst hetze ich dir Iggie auf den Hals.«

Jo lachte über ihren scheinbar ernsten Ton. Sie mochte eine der ersten Drachenreiterinnen von Arcosi und inzwischen fast fünfundzwanzig sein, aber sie war immer noch jederzeit zu einem Schabernack aufgelegt, und dafür liebte er sie.

Er streckte die Hand nach ihrem riesigen blauen Drachen aus, der ihn mit einem von Funken begleiteten Knottern und heftigem Kopfnicken so begeistert begrüßte, dass er Jo fast umwarf. Iggie war mindestens doppelt so groß wie das größte Zugpferd auf der Insel, und seine Flügel waren gewaltig. Jo strich ihm über den schuppigen Hals. Vielleicht würde er bei Sonnenuntergang selbst einen Drachen besitzen und durfte einen echten, lebenden Drachen in den Armen halten. Was wäre das für ein Geburtstagsgeschenk!

»Dort habe ich früher auch immer gesessen«, sagte Milla und zeigte auf die Mauer. »Man hat den besten Blick über die Stadt. Wollen wir?«

Sie kletterten hinauf und setzten sich nebeneinander. Ein schemenhafter Vollmond machte der aufgehenden Sonne Platz, aber die Luft war immer noch kalt.

»Alles Gute zum Geburtstag, Jo. Das hier ist für dich.« Milla reichte ihm einen kleinen Lederbeutel.

»Vielen Dank«, sagte er und zog die Kordel auf. Als er den Beutel vorsichtig umdrehte, rutschte etwas Kleines, Glänzendes in seine Handfläche. Es sah aus wie eine Münze an einer dicken Silberkette.

»Es ist der gleiche Anhänger wie meiner«, sagte Milla und berührte die Schmuckmünze, die sie immer um den Hals trug.

Jo hob die silberne Münze in die Höhe und betrachtete die Gravur: ein Kreis, der den Vollmond darstellte, mit einem fliegenden Drachen darunter. Das Symbol ihrer Familie, der alten Drachenreiter von Arcosi.

»Oh, Milla.« Jo suchte nach Worten. »Das ist perfekt. Ich werde die Kette heute tragen, damit sie mir Glück bringt.«

»Ich helfe dir mit dem Verschluss.« Milla schob Jos gewellte braune Haare zur Seite und schloss die Kette in seinem Nacken. »So! Genau wie es sein soll.«

Er berührte den Anhänger, das kalte Metall schmiegte sich an seine Kehle. »Hier, ich habe auch etwas für dich: Frühstück!«, sagte er dann. Er gab Milla eine Zimtschnecke und zupfte seine auseinander.

»Ooh, noch warm und frisch aus dem Ofen. Matteos Zimtschnecken sind genauso gut wie Josis«, sagte Milla, als sie sich mit einem Nicken bedankte.

»Sag das lieber nicht zu laut.« Jo grinste sie an. Das Temperament seiner Mutter war ebenso legendär wie ihre Backkünste. Josi gehörte heutzutage zur besten Gesellschaft von Arcosi; jeder wusste, dass sie eine Nachfahrin der alten königlichen Familie war. Doch als Milla noch ein Kind gewesen war, hatte Josi als Köchin im Haus der Thornsens gelebt und ihre wahre Identität verborgen.

»Also«, sagte Milla bedächtig. »Heute ist dein großer Tag.«

»Hm-hm«, murmelte Jo, den Mund voller Gebäck.

»Bist du bereit?«, fragte sie.

»Ich fühle mich bereit.« Er zögerte und spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte, als er beschloss, sich ihr anzuvertrauen. »Heute Morgen habe ich von einem Drachen geträumt. Einem purpurroten Drachen. Ist dir das mit Iggie auch so gegangen …?«

Milla lächelte, als sie sich zurückerinnerte. »Ja, ein paar Mal. Ich konnte ihn nicht genau erkennen. Aber ich wusste, dass er blau war und dass wir zusammen fliegen würden.«

»Ja, genau!«, sagte Jo erleichtert. »So hat es sich auch bei mir angefühlt.«

Und dann hielt er es plötzlich nicht mehr aus. »Gibt es denn ein purpurrotes Ei? Wie viele sind es? Du hast sie doch gesehen, nicht? Nun sag schon, Milla!«, bettelte er.

»Du weißt, dass ich das nicht kann.« Millas braune Augen hielten seinem Blick stand, sie leuchteten lebendig und verschmitzt.

Er wertete das als ein Ja. Es gab ein purpurrotes Ei! Er hatte es gewusst.

Milla gähnte ausgiebig, und zum ersten Mal fielen Jo die dunklen Ringe unter ihren Augen auf. »Ist alles in Ordnung?«, fragte er.

»Hab letzte Nacht nicht viel geschlafen«, erwiderte sie. »Es gab Ärger in der Unterstadt. Tarya musste ein paar Drachenreiter losschicken, damit sie ihre Truppen unterstützen.«

»Ärger mit der Bruderschaft?«, mutmaßte Jo.

»Mit wem sonst?« Milla verzog das Gesicht.

Nachdem kurz vor Jos Geburt die Drachen nach Arcosi zurückgekehrt waren, hatte man die arcosische Armee halbiert. Auf der Insel wurden einfach nicht mehr so viele Soldaten gebraucht, seit die Drachen Arcosi beschützten. Also wurde die Hälfte der Soldaten ausbezahlt und entlassen. Einige von ihnen waren davon wenig begeistert, schlossen sich zusammen und nannten sich »die Bruderschaft«. Sie lungerten herum, stifteten Unruhe und pöbelten, aber niemand nahm sie richtig ernst.

»Tarya kann nichts dafür!«, nahm Jo seine Schwester in Schutz, die die oberste Heerführerin von Arcosi war. »Sie hat sich den entlassenen Soldaten gegenüber sehr großzügig verhalten.« Das hatte er seinen Vater viele Male sagen hören.

»Das tut sie immer noch, und genau da liegt das Problem.« Milla seufzte. »Ich verstehe, dass sie die Kerle nicht verbannen kann, weil es ihnen womöglich Sympathien einbringen würde, aber …« Sie brach ab.

»Aber?«, hakte Jo nach. Er hatte die Männer gesehen: Sie trugen immer noch ihre alten Uniformen, so zerlumpt und verblichen sie inzwischen auch waren. Sie hingen an Straßenecken herum, tranken am helllichten Tag und versuchten, die Leute von ihren Vorstellungen zu überzeugen. »Sie sind doch harmlos … oder?«

»Tut mir leid, Jo.« Milla legte ihm die Hand auf die Schulter. »Ich sollte dich nicht mit meinen Sorgen behelligen, nicht an deinem Geburtstag. Lass dir die Schlüpfzeremonie von mir nicht verderben. Wie fühlst du dich?«

Jo zögerte und dachte ernsthaft über die Frage nach. »Aufgeregt? Ein bisschen nervös.«

»Mach dir keine Gedanken – alle Drachen sind gesund.«

»Bist du sicher?«, fragte er besorgt.

Die jetzigen Eier waren erst das zweite Gelege seit dem Großen Drachensterben. Vor zwei Jahren hatte sich in den Drachenhallen von Arcosi eine schreckliche Krankheit ausgebreitet und mehr als die Hälfte der Drachen hinweggerafft. Jos Bruder Isak, der genau wie Milla einer der ersten Drachenreiter gewesen und nun der oberste Drachenwächter von Arcosi war, hatte vor Kummer über Nacht schlohweiße Haare bekommen.

»Isak hat sie nicht aus den Augen gelassen«, sagte Milla. »Er hat die Eier gehütet, als wären es seine eigenen.«

Heute musste auch für alle anderen ein aufregender Tag sein, begriff Jo plötzlich. Als das Große Drachensterben einsetzte, hatte niemand die Drachen retten können: weder Milla mit ihren Heilkünsten noch Isak mit seiner Klugheit, weder Tarya mit ihren kämpferischen Fertigkeiten noch Herzog Vigo mit all seiner Macht. Jo hatte die Gerüchte gehört. Die Leute flüsterten sich zu, es sei ein Zeichen, diese jungen Leute wüssten nicht, was sie tun, und besser jemand anders übernähme die Führung der Stadt. Daher waren sie alle darauf angewiesen, dass heute alles gut ging.

Allerdings nicht so sehr wie er.

Als Jo den Kopf senkte, bemerkte er, dass er seinen silbernen Anhänger fest umklammerte. Bitte lass mich heute an die Reihe kommen, wünschte er sich. Bitte lass mich kein Watschler sein!

Das war ein Schimpfwort für Leute, die sich nicht mit einem Drachen verbanden. Jemand, der auf der Erde bleiben musste: ein Watschler! Jemand, der nie auf dem Rücken eines Drachen fliegen würde. Die Kinder flüsterten es einander vor jeder Schlüpfzeremonie zu. Eigentlich durfte man das nicht sagen. Die meisten Menschen auf der Insel waren Watschler. Und nur wenige glückliche Drachenreiter. Aber das hielt die Kinder nicht davon ab, zu beten, zu träumen und sich zu wünschen, dass sie von einem Drachen erwählt wurden.

Seit die Drachen zurückgekehrt waren, hatten sich sämtliche Nachkommen in Jos Familie mit einem Drachen verbunden. »Ach, Milla, ich hoffe wirklich, dass alle Eier gesund sind. Egal, mit wem sie sich verbinden.«

»Ist schon gut, Jo!«, sagte Milla mit verständnisvollem Blick. »Was dir bestimmt ist, wird nicht an dir vorübergehen.«

Jo nickte beruhigt.

»Komm, lass uns aufbrechen. Es wird Zeit, dass wir uns fertig machen.« Sie rutschte ans Ende der Mauer, sprang herunter und landete geschickt auf beiden Füßen.

Jo folgte seiner Cousine. Er spürte, wie seine Anspannung wieder zunahm. Die Luft roch nach Salz und Holzfeuer, und in der Ferne hörte er die Rufe der Fischersleute im Hafen, es waren die Geräusche der zum Leben erwachenden Insel.

Iggie kletterte von dem Platz herauf, an dem er in den ersten Sonnenstrahlen gedöst hatte. Zu Jos Überraschung kam er zuerst zu ihm und legte ihm die riesige Stirn an die Brust.

»Er wünscht dir viel Glück«, erklärte Milla. »Von uns beiden …«

Dankbar kraulte Jo Iggie zwischen den Augen, schließlich wusste er, dass das Herz des Drachen ganz und gar seiner Cousine gehörte. »Danke, Ig«, flüsterte er so leise, dass nur der Drache es hören konnte. »Hoffen wir, dass du heute noch einen frisch geschlüpften purpurnen Drachen kennenlernen darfst.«

Iggie schloss die riesigen grünen Augen zur Hälfe und knurrte leise. Jos ganzer Körper vibrierte davon.

Er entspannte sich. Es würde alles gut gehen. Heute würde der beste Geburtstag seines Lebens werden.

 

Als Jo im Gelben Haus die Treppe hinaufstürmte, um sich umzuziehen, hörte er seine Eltern über ihn sprechen. Er hörte das Klock und Klack vom Gehstock seines Vaters, mit dem dieser auf und ab marschierte.

»Und warum ist er dann nicht hier?«, fragte sein Vater gerade. »Was könnte wichtiger sein?«

»Nestan, mein Lieber«, erwiderte die Mutter. »Reg dich nicht auf. Er wird nicht zu spät kommen. Er war so aufgeregt, dass er die Tage gezählt hat. Vielleicht ist er einfach –«

»Ich bin hier!« Jo stieß die Tür zum Schlafzimmer auf. »Tut mir leid, ich hab mich mit Milla unterhalten und die Zeit vergessen.«

Seine Mutter stürzte als Erste auf ihn zu. »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Jo!« Sie zog ihn innig an sich und drückte ihm einen dicken Kuss auf die Wange. Sie trug bereits ihre feierlichste Kleidung: ein blutrotes Kleid mit einem passenden Seidenschal über den schwarzen Haaren. »Hier ist dein Geschenk von uns.« Sie zeigte aufs Bett.

Neben seinen weißen Kleidern für die Zeremonie lag ein großes Paket.

Jo sauste hinüber, schnappte sich das Paket und riss es ungeduldig auf. Es enthielt eine pelzbesetzte Kappe und lange seidengefütterte Lederhandschuhe, die gleichermaßen bequem und warm waren. Beim Fliegen konnte einem kalt werden, hatte Milla oft gesagt. Sobald sein Drache groß genug war, um ihn zu tragen, würde er diese Sachen brauchen. Drachenreiter trugen immer die Farbe ihres Drachen. Und die Geschenke waren … purpurrot! Dieselbe Farbe wie in seinem Traum.

Woher wussten sie das?

»Danke«, flüsterte er voller Freude über diesen Beweis, dass sie an ihn glaubten.

»Du kannst die Sachen später anprobieren, hinterher …«, sagte Josi.

»Herzlichen Glückwunsch, Jo«, sagte sein Vater und zog ihn mit einem Arm an sich. »Da wäre noch das hier, jetzt, wo du zwölf bist.« Von seiner Schulter hing ein großer, zylinderförmiger Behälter an einer Lederschnur. Nestan schwang ihn nach vorn, packte die Schnur und reichte seinem Sohn den Behälter.

Jo nahm ihn entgegen. Sein Gewicht und die glatte Textur kamen ihm bekannt vor. Eine Erinnerung stieg in ihm auf, aus den Tagen, als er seinem Vater wie ein kleiner Schatten überallhin gefolgt war, ihm unendlich viele Fragen gestellt und von früh bis spät geduldige Antworten erhalten hatte.

Er stand im Arbeitszimmer seines Vaters und war noch so klein, dass er kaum über die Tischplatte schauen konnte.

»Was ist das?«, hatte Jo gefragt und auf einen glatten schwarzen Lederbehälter gedeutet.

»Das ist mein Überlebensset«, hatte Nestan ihm erklärt. »Es hat mir bei Schiffbrüchen schon dreimal das Leben gerettet.«

»Wie denn?«, fragte Jo, der kein Wort verstand.

»Wenn ein Schiff untergeht, bleibt dir nicht viel Zeit«, hatte sein Vater erklärt und nach dem zylinderförmigen Behälter gegriffen. »Drei Dinge haben mich gerettet: Glück, mein Schwimmvermögen und das hier.«

»Was ist da drin?«

»Feuerstein und Zunder, eine Klinge, Angelschnüre, Haken, eine Ölhaut, ein Kompass …« Nestan öffnete den Behälter und kippte den Inhalt auf den Schreibtisch. »Alles, was man zum Überleben braucht.«

Und nun hielt Jo sein eigenes Überlebensset in der Hand. »Boah, danke, Vater«, sagte er gerührt. Dann fügte er scherzhaft hinzu: »Gehst du davon aus, dass ich es brauchen werde?«

»Es ist eine Tradition. Wir sind ein Seefahrervolk«, sagte Nestan. Ein Lächeln zupfte an seinen Mundwinkeln, seine blauen Augen waren von Lachfältchen umgeben. »Früher erhielt jedes Norländerkind an seinem zwölften Geburtstag sein eigenes Überlebensset. Trag es immer bei dir und hoffe darauf, dass du es niemals brauchen wirst.«

»Na, heute zumindest nicht, oder?« Jo stellte den Behälter aufs Regal und wandte sich den weißen Kleidern zu, die er heute Vormittag tragen musste, als wäre er ein leeres Blatt weißes Pergament, bis sich sein purpurroter Drache mit ihm verband.

»Ich denke, da können wir sicher sein. Und wenn du dich schnell umziehst, schaffen wir es auch noch rechtzeitig.« Nestan fuhr sich über seinen kratzigen weißen Bart, während er sich mit der anderen Hand auf seinen Gehstock stützte. »Dein Bruder und deine Schwester warten schon auf dich.« Trotzdem rührte sich Jo noch nicht vom Fleck.

Jos Mutter schlang einen Arm um Nestans Taille. Seine Eltern standen da und betrachteten ihn mit merkwürdigem Blick, ihr Lächeln wirkte ein wenig wacklig und gerührt.

»Was?« Jo starrte sie an. »Haben wir es nun eilig oder nicht? Was ist los?«

»Oh, nichts ist los, Jo!«, sagte Josi. »Wir sind einfach nur so stolz auf dich.«

Das war ein neuer Gedanke für ihn. »Ich habe doch noch gar nichts getan.«

»Wir sind stolz auf dich«, wiederholte sein Vater, der heftig blinzelte und sich dann räusperte: »Ganz gleich, was heute geschieht.«

Jos Mutter wischte sich eine Träne von der Wange. »Seht mich nur an! Ich ruiniere noch den Stoff, dabei hat die Zeremonie noch nicht einmal angefangen.« Sie schniefte laut und wischte sich das Gesicht am Ärmel ihres Mannes ab.

»Geht schon mal vor, ich komme gleich runter. Wir werden uns nicht verspäten – versprochen!« Jo wandte sich ab, um sein Gesicht zu verstecken, weil ihm gerade etwas klar wurde: Wenn heute alles gut ging, würde er mit seinen Eltern nie wieder unter einem Dach leben. Er war in Gedanken so mit seinem Drachen beschäftigt gewesen, dass er diesen Teil völlig ausgeblendet hatte. Schlagartig wurde ihm klar, dass er für all das bereit war: bereit, erwachsen zu werden und sein Elternhaus zu verlassen; bereit, seine Eltern wirklich stolz zu machen; und mit Sicherheit bereit für seinen Drachen.

2. Kapitel

Die Insel Arcosi war in heller Aufregung. Es ging zu wie auf einem riesigen Ameisenhügel. Glockengeläut hallte bergauf und bergab durch die steilen, gewundenen Straßen und rief alle zur Schlüpfzeremonie auf den Marktplatz in der Nähe des Hafens.

Jo und die anderen Anwärter versammelten sich in der schattigen Straße oberhalb des Marktplatzes und warteten darauf, dass man sie rief. Unter den wachsamen Blicken von vier Drachenwächtern verabschiedeten sie sich von ihren Eltern.

»Viel Glück, Jo«, raunte seine Mutter ihm ins Ohr, als sie ihn umarmte. Dann trat sie zurück und strich ihm die Haare glatt, die ihm, wie immer, über der Stirn vom Kopf abstanden.

Er sah ihr an, dass sie noch mehr sagen wollte, aber er wandte sich seinem Vater zu, der in der Menge nach Isak und Tarya Ausschau hielt. Mit einem Anflug von Besorgnis bemerkte er, wie alt sein Vater aussah, als er dort auf seinem Gehstock lehnte, seine Haare leuchteten im Sonnenlicht schlohweiß.

»Wiedersehen, Vater.« Jo kam Nestan mit einer hastigen Umarmung zuvor. »Geht lieber runter, damit eure Plätze nicht weg sind.«

Nestan nickte. »Wir finden dich schon, hinterher.«

Hinterher. Wenn er, ganz vielleicht, einen Drachen im Arm halten würde! Jo versuchte, es sich vorzustellen: ein zappelndes purpurrotes Drachenjunges in seinen Armen. Seine Aufregung wurde immer größer.

Jo sah seinen Eltern hinterher, als sie auf dem heißen, überfüllten Marktplatz ihre Plätze suchten. Heute gab es dort keine Buden. Stattdessen saßen die Menschen in steil angeordneten Sitzreihen, als wären sie in einem Theater und warteten auf den Beginn der Vorstellung. Festliche Flaggen mit den Symbolen von Arcosi und Sartola wehten im Wind. Und genau in der Mitte lag, wie eine Bühne, ein sonnenbeschienener, kreisrunder Platz und wartete auf die Ankunft der Drachen und der Eier. Jos Magen verknotete sich vor Anspannung.

»Jo!«

Als er sich umdrehte, sah er seine Freunde, Amina und Conor, auf sich zustürmen, die ebenfalls in Weiß gekleidet waren. Sie mussten vor ihm angekommen sein. Er war froh, dass er mit ihnen zusammen Anwärter war.

»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!« Das war Amina, die vor Energie nur so sprühte und sich zu ihm durchdrängte. Um den Kopf trug sie ein neues weißes Tuch, das zu ihrem weißen Gewand passte.

»Amina!« Plötzlich kam Jo der Tag noch heller vor.

Conor folgte etwas langsamer und versetzte ihm einen leichten Stoß. »Nur weil du Geburtstag hast, bekommst du noch lange nicht den ersten Drachen, klar?«

»Natürlich nicht!« Jo grinste Conor an. »Aber wer weiß?«

»Anwärter!«, rief ein Drachenwächter, um sie auf sich aufmerksam zu machen. »Die Eier werden bald ankommen. Es dauert nicht mehr lange: Habt Geduld und nehmt eure Plätze ein.«

»Ha, der Teil dauert immer länger, als man denkt«, sagte Amina, die ungeduldig auf den Zehenspitzen wippte. »Das weiß ich noch von der letzten Zeremonie. Sie trauen sich nicht, die Kutsche schneller fahren zu lassen, damit die Eier nicht zu stark erschüttert werden. Wir haben also noch Zeit, dir deine Geschenke zu geben!«

»Jetzt?«, fragte Jo. »Aber sie werden uns gleich aufrufen.« Alles andere wurde zweitrangig.

»Nein, letztes Mal haben sie ewig gebraucht«, sagte Conor. »Alles Gute zum Geburtstag, Jo.« Er zog ein Päckchen aus der Tasche und gab es ihm. »Vorsichtig. Schneid dir nicht den Daumen ab. Ich weiß, wie ungeschickt du dich manchmal anstellst, Kumpel.«

Jo wickelte einen weichen Lederbeutel aus. Er öffnete ihn und holte ein kleines Messer mit einem Griff aus Elfenbein heraus, in den ein Flammen speiender Drachenkopf geschnitzt war.

»Vater und ich haben es letzten Winter auf einer Handelsreise gefunden«, sagte Conor. »Ich habe es für dich aufgehoben.«

»Boah!« Jo testete die Klinge an seinem Daumen. »Autsch. Ist die scharf!« Ein roter Blutstropfen bildete sich.

»Ich hab dich gewarnt, Dummi«, sagte Conor.

»He.« Jo steckte die Klinge in die Scheide und stieß Conor mit dem Ellbogen an.

»Er meint Danke«, sagte Amina.

»Danke, Conor. Im Ernst.« Jo verstaute das Messer vorsichtig in der Innentasche seiner weißen Jacke.

»Ich bin dran!«, sagte Amina, holte ein winziges Päckchen heraus, das in purpurrote Seide gewickelt war, und überreichte es Jo. Ihre Augen funkelten im Sonnenlicht wie Bernstein, und der blasse Schal betonte ihre braune Haut. Sie strahlte ihn mit ihren weißen Zähnen an, umarmte ihn hastig und sagte: »Das habe ich für dich gemacht.«

»Danke.« Jo war gerührt. Beim Öffnen des Päckchens leuchtete ihm eine schillernde Farbenpracht entgegen. Auf einem kleinen Stoffstück war auf tiefblauem Hintergrund ein purpurroter Drache eingewebt; aneinandergereihte bunte Sechsecke bildeten den Saum.

Schon wieder ein purpurner Drache! Wenn das kein Zeichen ist. »Das ist unglaublich«, sagte er. »Wirklich!«

»Wann bist du so gut geworden, Amina?«, fragte Conor vornübergebeugt. Er klang beeindruckt.

»Ich habe abends daran gearbeitet, wenn ich mit meinem Tagwerk fertig war.«

»Das muss ewig gedauert haben!«, sagte Jo.

Amina bekam rosige Wangen. »Das Blau habe ich mit Indigo von den Seideninseln hergestellt.« Amina kam aus einer Weberfamilie, die von dort stammte und sich einige Generationen zuvor auf Arcosi niedergelassen hatte. »Und das Rot habe ich aus Krappwurzel selbst angemischt …«

Jo faltete das Stoffstück sorgfältig zusammen und steckte es in die Hosentasche. Der Tag wurde immer mehr zu etwas ganz Besonderem. Er wollte gern sagen, wie glücklich er war. Wie wunderbar es sich anfühlte, Freunde zu haben, die ihn so gut kannten. »Ihr beide! Es ist … ich bin … versteht ihr?« Er fand keine Worte, stand einfach nur da und grinste sie an. »Vielen Dank.«

»Gern geschehen«, sagte Conor und grinste zurück.

»Noch fünf Minuten!«, rief der Drachenwächter ihnen zu. »Stellt euch bitte auf!«

Alle starrten schweigend zum Ende der Straße. Sie hatten diesen Moment geprobt. Sie wussten, wie es ablaufen würde, dennoch war das Ganze Ehrfurcht erregend.

Sämtliche Köpfe wandten sich um und sahen der Prozession der Drachen und der Eier-Kutsche entgegen. Sie rollte langsam die breite Hauptstraße entlang, die sich wie eine Schlange um die Insel wand.

Jo erhaschte einen Blick auf die Drachenmutter Ravenna. Sie schritt vor den Drachenwächtern her, die das Gefährt zogen. Als sie das Ende der Straße passierte, füllte sie den Durchlass vollständig aus. Jo sah ihre schwarzen gefalteten Flügel und den langen geschuppten Rücken, ihre Krallen glänzten auf dem Kopfsteinpflaster. Als spürte sie seinen Blick, wandte Ravenna den riesigen Kopf, starrte ihn aus gelben Augen an und fauchte.

Jo schnappte nach Luft. Er hatte zwar vom Beschützerinstinkt der Drachenmütter gehört, aber es war etwas völlig anderes, wenn dieser sich gegen einen persönlich richtete.

Doch ihm blieb keine Zeit: Die Anwärter setzten sich ebenfalls in Bewegung und folgten der Prozession die Hauptstraße hinab. Jo schaute über die Köpfe der anderen und stellte fest, dass er der Größte von allen war.

Conor ging vor ihm, seine rotbraunen Locken zerzausten beim Gehen immer mehr. Hinter ihm kam Amina, die vor Ungeduld ganz zappelig wirkte.

Jetzt entdeckte Jo mitten auf dem Marktplatz seinen Bruder und seine Schwester. Eigentlich waren sie seine Halbgeschwister, aber in Jos Augen gab es diesbezüglich keine halben Sachen. Er liebte beide abgöttisch.

Sein Bruder, der oberste Drachenwächter von Arcosi, war berühmt dafür, jedes Buch in der städtischen Bibliothek gelesen zu haben. Groß und ruhig, mit weißen Haaren und schwarz umrandeten Augengläsern, stand Isak jetzt vor der Drachenmutter und ihrem abgedeckten Gelege. Sämtliche erwachsenen Drachen von Arcosi bildeten einen Kreis um sie – ein Dutzend insgesamt.

Als Nächstes fiel Jos Blick auf seine Schwester Tarya, die neben ihrem Ehemann, Herzog Vigo, stand. Tarya war die Befehlshaberin der Armee von Arcosi. Sie hatte die Truppen in der Revolution zum Sieg geführt, in der Vigo vor dreizehn Jahren zum Herzog wurde.

Jo fiel auf, wie müde seine Schwester aussah. Taryas wilde blonde Locken waren nach Art der Drachenreiterinnen fest an den Kopf geflochten. Sie hatte ihr Schwert umgeschnallt und trug ihre Prunkrüstung samt Armschützern. Sie war immer seine leidenschaftliche, patente Schwester gewesen, aber jetzt wirkte ihr Gesicht gräulich. Alle kannten den Grund dafür: Vor Kurzem hatte sie bekannt gegeben, dass sie ein Kind erwartete. Sie biss sich auf die Lippen, als würde sie gegen Übelkeit ankämpfen. Josi hatte ihr erklärt, dass es normal sei und sie sich bald wieder kräftiger fühlen würde. Hoffentlich musste Tarya sich nicht an Ort und Stelle übergeben – das wäre schrecklich für sie.

Neben Tarya stand ihre Stellvertreterin und alte Freundin Rosa, zusammen mit Rosas riesigem orangefarbenem Drachen Ando. Alle gingen davon aus, dass Rosa die Heerführerin vertreten würde, während sie sich um ihr Neugeborenes kümmerte. Einige waren überrascht, dass das noch nicht geschehen war.

»Halt!«, rief der Drachenwächter, der den Anwärtern vorausging.

Jo und die anderen blieben direkt vor dem Marktplatz stehen. Der Herzog würde die Zeremonie jeden Moment eröffnen, und dann sollten sie hintereinander auf den Platz ziehen, um ihre Positionen einzunehmen.

Er spürte, wie er vor Aufregung und Ungeduld am ganzen Leib zitterte.

In diesem Moment schob sich jemand zwischen Jo und Amina, beugte sich vor und murmelte über Jos Schulter: »Du glaubst wohl, heute wäre dein Glückstag, was, Geburtstagskind?«

Es war Noah aus Jos Gruppe in der städtischen Schule, die alle Kinder von Arcosi zumindest einige Jahre lang besuchten. Er war klein und drahtig, hatte ein schmales, sommersprossiges Gesicht und hellbraune Haare, die ihm ständig über die Augen fielen. Auch er trug die weiße Kleidung eines Anwärters.

»Was machst du hier?« Jo wurde das Herz schwer. »Ich dachte, du hasst den Herzog und meine Schwester.«

Noahs Vater war einer der Soldaten gewesen, die wegen der Drachen nicht mehr gebraucht wurden. Er war im letzten Jahr bei einer Straßenschlägerei getötet worden, und Noah gab Vigo und Tarya die Schuld dafür, dass sein Vater seine Arbeit, seinen Stolz und sein Leben verloren hatte.

Jo und seine Freunde hatten sich bemüht, freundlich zu Noah zu sein, während dieser trauerte, aber er hatte es ihnen nicht leicht gemacht.

»Na und?« Noah kniff die Augen zusammen und starrte zum Herzog hinüber. »Warum soll ich mir einen Drachen durch die Lappen gehen lassen?«

Conor und Amina wechselten einen besorgten Blick.

»Also gut, Noah.« Conor wandte sich an den Jüngeren und sagte freundlich: »Jetzt ist es an den Drachen. Sie werden wählen, wen sie wollen.«

»Ich bin ein echter Norländer, kein Halbling wie Jo oder zugereist wie ihr beide. Natürlich wird mich ein Drache auswählen.«

Vor der Revolution, unter der Herrschaft des alten Herzogs, waren auf der Insel Menschen norländischer Abstammung privilegierter und wohlhabender gewesen als alle anderen.

»Ach, das interessiert doch niemanden mehr«, sagte Jo, der sich eine schärfere Erwiderung verkniff. Er hatte die blauen Augen seines Vaters und die schwarzen Haare seiner Mutter geerbt, während seine Haut hellbraun war. Manchmal irrten sich die Leute bezüglich seiner Herkunft. Aber er war noch nie so beleidigt worden, zumindest nicht von Angesicht zu Angesicht. »Halbling?«, wiederholte er und versuchte es mit einem Lachen abzutun. »Hast du dir das ausgedacht?« Der Begriff klang lächerlich.

»Das glaubst auch nur du!«, sagte Noah. »Aber wart’s nur ab –«

Einer der Drachenwächter kam mit finsterer Miene auf sie zu. Sie verstummten. Keiner von ihnen wollte ausgeschlossen werden. Schon gar nicht jetzt, im allerletzten Moment.

»Worauf warten die noch? Ruft uns endlich auf den Platz!«, murmelte Noah, als der Drachenwächter weitergegangen war.

Jo schaute nach vorn, um zu sehen, was los war.

Isak sprach mit der Mutter der Eier, dem wilden schwarzen Drachenweibchen Ravenna, das sich mit Lanys verbunden hatte. Früher hatte Lanys im Gelben Haus als Dienstmädchen gearbeitet und Isak bedient. Mit Milla hatte sie im ständigen Konkurrenzkampf gestanden. Jetzt stand die junge Frau steif und mit hochgezogenen Schultern da und starrte alle finster an.

Gab es ein Problem? Jo musterte Lanys: Ihr sommersprossiges Gesicht war bleich vor Sorge, und sie hatte dunkle Ringe unter den Augen. Ihr rotbraunes Haar war straff nach hinten geflochten, jeder Muskel in ihrem Körper angespannt. Jo konnte nur erahnen, wie schwer es sein musste, seinem eigenen Drachen bei der Brut zuzusehen, ohne helfen oder sich ihm nähern zu können. Brütende Drachenmütter waren gefährlich, das wussten alle. Ihr Beschützerinstinkt war so mächtig, dass sie jeden verletzen oder töten würden, der ihren Eiern zu nahe kam.

Es gab ein Gerücht, dass jemand kurz nach der Rückkehr der Drachen ein Ei zerstört hatte. Die Drachenmutter hatte reagiert und die Person getötet, ehe irgendjemand sie aufhalten konnte. Jo sah Ravenna an und begriff bestürzt, dass die anderen Drachen vor Ort waren, um die Anwärter zu schützen, nicht die Eier.

Lass uns durch, dachte er, als er Lanys ansah. Lass einfach zu, dass wir uns mit den Drachenjungen verbinden, dann bekommst du deine Ravenna zurück.

Als hätte sie ihn gehört, drehte sich Lanys um und starrte die wartenden Anwärter noch finsterer an als alle anderen.

Schließlich wandte sich Isak von Ravenna ab. Er richtete sich auf und sagte mit lauter Stimme: »Willkommen zur sechsten Schlüpfzeremonie in der Regierungszeit von Herzog Vigo …«

Applaus brandete auf, und der Jubel hallte auf dem Marktplatz wider.

Dann war er da, der Moment, auf den Jo sein Leben lang gewartet hatte.

3. Kapitel

Es war so weit. Jo stellte sich auf die Zehenspitzen, damit er zuschauen konnte, wie die Dracheneier aufgedeckt wurden.

Nun trat Herzog Vigo vor. Er wirkte ernst und unnahbar. Nicht wie der ruhige, freundliche Mann, den Jo von den Familientreffen kannte. Seine tiefe Stimme drang bis in die hintersten Reihen der Menge. »Bürger von Arcosi, liebe Gäste aus Sartola, ich heiße euch alle willkommen.«

Sämtliche Augen richteten sich auf Isaks Partner Luca, den König von Sartola, der in der vordersten Reihe neben Tarya stand. Luca nickte und winkte der Menge bei der Begrüßung lächelnd zu.

»Wir können uns glücklich schätzen, mit diesem Gelege gesegnet worden zu sein«, fuhr Herzog Vigo fort. »Und wie alle wissen, ist dies eine heilige Zeremonie, die dem Schutz des Gesetzes unterliegt.« Der Herzog machte ein strenges Gesicht, als er diese offizielle Erinnerung aussprach. Einen Moment lang herrschte völlige Stille.

Jo fragte sich, ob er damit auf die Bruderschaft abzielte. Er schaute sich eilig um, konnte aber niemanden in Schwarz entdecken.

Dann, als würde die Sonne hinter einer Wolke hervorkommen, lächelte der Herzog, und seine Miene veränderte sich völlig: »Lasst die Zeremonie beginnen!«

Isak zog das schützende Tuch von den Eiern.

Es waren fünf! Jo zählte und zählte noch einmal, um wirklich sicherzugehen.

Der ganze Markt wurde von einem ehrfürchtigen, erwartungsvollen Geraune erfüllt.

Fünf Eier. Zehn Anwärter. Die Hälfte von ihnen würde in die Drachenhalle einziehen. Die andere Hälfte niedergeschlagen nach Hause gehen. Jo hielt den Atem an und betete, dass weder er noch Conor oder Amina zu Letzteren gehörten.

Es gab ein cremefarbenes Ei, ein blaugrünes, ein goldgelbes und, was sehr ungewöhnlich war, zwei gleichfarbige: Beide waren hellviolett. In gewisser Weise war das eine Art Purpur – zwar nicht das tiefrote Purpur aus Jos Träumen, aber es kam dem recht nahe.

Ich komme, sagte er im Stillen zu den Eiern und den darin wartenden Drachen.

Milla stand in der ersten Reihe hinter ihrem riesigen blauen Drachen. Sie beugte sich an Iggies Hals vorbei, um Jo zuzulächeln, und formte mit den Lippen »Viel Glück!«.

Noch immer bewegte sich niemand.

Warum diese Verzögerung? Jo rieb sich den Nacken. Die heiße Sonne brannte auf seiner Haut. Sie juckte förmlich vor Ungeduld. Sein Gesicht glühte. Um sich abzulenken, musterte er die Menge, und sein Blick blieb an dem einzigen Gesicht hängen, das kummervoll aussah. Es gehörte Winter, einer der Drachenlosen. Sie hatte ihren Drachen während des Großen Drachensterbens vor zwei Jahren verloren. Damals waren auch einige Drachenlose gestorben. Die meisten waren jedoch von der Insel geflohen, weil sie nicht mit der Erinnerung an ihren Verlust leben konnten. Nur Winter war geblieben.

Es gab Gerüchte über einen Geist in dem verlassenen Wohnquartier im Nordwesten der Insel – dem Schattenviertel –, aber Jos Eltern hatten immer gesagt, dass es nur Winter sei, die in ihrem grauen Kleid und einem dunklen Umhang aus den Schatten auftauchte und wieder verschwand.

Ihre Mutter lebte immer noch in der Unterstadt, aber Winter lief Tag und Nacht durch die Straßen und sprach mit ihrem toten Drachen Jin. Die Menschen waren freundlich zu ihr, begleiteten sie sanft nach Hause und gaben ihr zu essen, dennoch war sie hager und abgerissen wie eine Vogelscheuche und wirkte wesentlich älter als vierzehn.

Normalerweise sah sie mit ihren grauen Augen einfach durch die Menschen hindurch. Heute aber fiel ihr Blick auf Jo, und was dieser darin sah, war unerträglich: abgrundtiefer, unvorstellbarer Schmerz. Er musste den Blick abwenden.

»Anwärter! Kommt und setzt euch im Kreis auf den Boden. Aber nicht zu nah. Lasst den Eiern Platz«, rief Isak sie endlich heran.

Die Menge hielt den Atem an. Alle Augen waren auf die Anwärter gerichtet. Conor führte sie an.

Jo wusste nicht mehr, wie man lief. Sein ganzer Körper hatte sich in Blei verwandelt. Die Blicke der Zuschauer lasteten schwer auf ihm.

Amina schob ihn sanft vorwärts.

Schwitzend und unbeholfen setzte er sich in Bewegung. Er trat Conor auf die Ferse, der unterdrückt fluchte.

Dann blieb er abrupt stehen, sodass Amina in ihn hineinlief.

»Jo! Reiß dich zusammen«, flüsterte sie.

»Tut mir leid! Tut mir leid!«, murmelte er den beiden zu. Sein Herz raste. Schließlich waren sie am Ziel und standen ganz vorn. Ravenna knurrte leise.

»Verteilt euch, bildet einen Kreis, keiner näher als der andere!«, erinnerte sie Isak und wies auf ihre Plätze. »Und jetzt setzt euch hin!«

Jo ließ sich mit zitternden Beinen sinken. Er spürte, wie ihm der Schweiß über den Rücken lief.

Amina saß kerzengerade da, ausnahmsweise ruhig und feierlich.

Conor schien von innen heraus zu leuchten.

Jo sah in die Runde und musterte die Gesichter seiner Konkurrenten. Sie wirkten entweder ernst, eifrig oder nervös. Alle, bis auf Noah, der ihm gegenübersaß und ihn grimmig anfunkelte.

Jo wandte den Blick ab und konzentrierte sich auf die Eier.

In der nun folgenden Stille machte es klar und deutlich Knacks.

4. Kapitel

Der erste Drache schlüpfte aus dem blaugrünen Ei. Er schob seinen schillernden dunkelgrünen Kopf durch den Riss und purzelte dann ganz heraus, als die Schale entzweibrach. Er sah aus wie eine kleine Eidechse mit einem Höcker auf dem Rücken, dort, wo sich seine gefalteten Flügel befanden. Jo saß auf den Knien, beugte sich vor und lauschte angestrengt. Komm, Drache, nimm mich! Ich bin hier!, rief er dem Schlüpfling trotz seines Traums in Gedanken zu. Es war ihm plötzlich egal, welche Farbe sein Drache hatte. Bei früheren Zeremonien hatte er gesehen, wie die Kinder singend oder pfeifend nach einem Jungen riefen. Er horchte in sich hinein, ob so etwas auch in ihm aufstieg. Doch er hörte nur ein dumpfes Rauschen in den Ohren.

Dann rief Tiago, der älteste Junge, von der anderen Seite des Kreises: »Lina! Li-na!« Sein rundes, offenes Gesicht war ganz und gar auf das Drachenjunge konzentriert. Auf Kinn und Wangen zeigten sich hier und da erste Ansätze eines Barts, und in seinen braunen Augen schimmerten Tränen.

Bluffte Tiago?, fragte Jo sich und hielt gespannt die Luft an. Aber nein. Der kleine grüne Drache wurde bei Tiagos Ruf ganz munter und versuchte, im gleichen Rhythmus zu antworten.

Isak traf seine Entscheidung: »Du kannst zu Lina gehen, Tiago. Füttere sie und halte sie warm.«

Jo hatte das Gefühl, als bekäme er nicht genügend Luft.

Noch vier Eier übrig.

Das cremefarbene war das nächste. Oben entstand ein winziges Loch. Jo konnte den Eizahn des Schlüpflings erkennen – den winzigen Knubbel auf seiner Nase –, mit dem er von innen gegen die Schale pickte.

Diesmal war es die Kleinste von ihnen, Flavia, ein winziges Mädchen aus Sartola, das nur wenige Plätze links von Jo saß und kaum alt genug wirkte, um hier zu sein. Sie hatte dünne Storchenbeine und riesige Augen, ihre schwarzen Haare waren im Nacken kurz geschnitten. Mit einer überraschend tiefen, trillernden Melodie sang sie dem kleinen Drachen laut vor. Noch bevor er ganz geschlüpft war, schob der Kleine den Kopf aus der Schale und zirpte zurück.

Es vergingen schmerzhaft lange Minuten des Wartens, bis er sich langsam herausgekämpft hatte und das kleine Mädchen ihn hochnehmen konnte. Sie musste dafür an Jo, Conor und Amina vorbeigehen, und er sah in den Gesichtern seiner Freunde, dass sie ebenso niedergeschmettert waren wie er. Zumindest durchlitten sie die Sache gemeinsam. Für einen kurzen Moment gestattete er sich, an später zu denken, sich vorzustellen, wie sie drei darüber sprachen und sich gegenseitig trösteten.

Zu Noah schaute Jo nicht.

Die beiden Auserwählten hielten ihre Schlüpflinge fest, sprachen zärtlich auf sie ein, fütterten sie mit Hühnerfleisch von einem Tablett und ließen sie aus kleinen Silberschalen Quellwasser trinken. Isak behielt alles im Blick, seine blauen Augen hinter den Gläsern waren undurchdringlich. Fast halb geschafft. Aus der Menge stieg leises Gemurmel auf: Die Erleichterung war immer noch mit Anspannung durchmischt. Dies war eine heilige Zeremonie, und niemand würde sich rühren, ehe Isak die abschließenden Worte gesprochen hatte.

Wieder sah Jo zu den Anwärtern, zu allen außer Noah. Sie kauerten auf ihrem Platz im Kreis: Einige wirkten inzwischen verzweifelt; andere entschlossen. Er konnte sich jetzt nicht mit ihnen befassen und richtete den Blick auf die verbliebenen drei Eier. Als er sich den Schweiß von der Stirn wischte, merkte er, dass seine Hände zitterten. Er schob sie unter seinen Hintern.

Dann hörte er etwas: Ein weiteres Drachenjunges war im Begriff zu schlüpfen. Mit einem kräftigen Hieb im Innern entstand ein großer, gezackter Riss in der goldgelben Schale, und das Ei zerbrach knackend in drei Teile. Ein kleiner feuchter Körper lag zappelnd zwischen den Schalen.

»Oh!«, keuchte Jo.

Langsam, ganz langsam stellte sich der kleine dunkelgelbe Drache auf die Beine und hob lauschend den Kopf. Er wandte sich in Jos Richtung.

Seine funkelnden grünen Augen richteten sich genau auf ihn.

Was sollte er tun? Was sollte er sagen? Was brauchte dieses kleine Wesen? Jo wünschte inständig, erwählt zu werden. Er hatte so viel zu geben.

Doch bevor er irgendetwas unternahm, pfiff Noah eine aus drei Tönen bestehende Melodie, und der Drache sah an Jo vorbei zu ihm hinüber. Noahs Gesicht war vor Konzentration wie verwandelt. Er beugte sich vor, das honigfarbene Haar verdeckte eines seiner Augen, seine Wangen zogen sich beim Pfeifen zusammen.

Nein, das konnte nicht sein. Nicht er. Alle, aber nicht er.

Dieser Drache würde doch sicher nicht auf Noah hören?

Noah tat nur so. Bestimmt!

Jo versuchte, sich an eine Melodie zu erinnern, an irgendetwas, irgendeine Weise aus der Schule. Doch seine Erinnerungen waren wie ausgelöscht. Oh nein, nicht jetzt, wo er sie am dringendsten brauchte.

»Bitte!«, flehte er flüsternd.

Die Welt hielt den Atem an. Die ganze Stadt sah zu und wartete.

Der gelbe Drache holte Luft.

Jo sah seine schuppenbedeckten Rippen, die vor Feuchtigkeit glänzten.

Der Kleine erwiderte zirpend Noahs Töne.

Der streckte lachend die Hände aus, als der Drache auf ihn zukrabbelte. Dann nahm er sich einen Moment Zeit, um Jo einen kurzen, triumphierenden Blick zuzuwerfen.

Jo wusste, dass er ein wenig Mitgefühl haben sollte. Noah hatte schließlich seinen Vater verloren: Verdiente er da nicht einen eigenen Drachen? Er atmete tief durch und bemühte sich, seinen Neid beiseitezuschieben und sich zumindest ein bisschen für seinen Klassenkameraden zu freuen.

Es waren immer noch zwei Eier übrig.

Jo starrte sie an. Er richtete all seine Gedanken auf sie: seine ganze Konzentration, seine ganze Liebe und Kraft.

Die beiden hellvioletten Eier ruhten auf ihren Kissen.

Kommt schon, Eier. Könnt ihr mich hören? Jo wünschte sich nichts sehnlicher. Eines dieser beiden Eier war doch sicher für ihn bestimmt? Das hatte ihm sein Traum gesagt.

In diesem Moment bewegten sich die violetten Eier.

Die verbliebenen beiden Drachen würden jeden Moment schlüpfen.

5. Kapitel

Es entstand eine Pause. Sie dauerte ewig. Jos Herz klopfte schmerzhaft in seiner Brust.

Er starrte die Eier an. Sie schaukelten ein wenig. Er war nicht der Einzige, dem das auffiel. Ein Raunen ging durch die Menge. Das Schaukeln wurde stärker. Beide Eier bewegten sich im Takt, vor und zurück, vor und zurück.

Jo blickte kurz zu Isak hinüber: Selbst er wirkte überrascht. Das war noch nie vorgekommen.

Plötzlich rollten die violetten Eier aufeinander zu, stießen knackend zusammen und brachen entzwei. Jo reckte den Hals.

»Oh!« Das war Conor, rechts neben Jo. Sein Freund klang so erregt, wie Jo ihn noch nie gehört hatte.

»Vorsicht!« Das war Amina, links von ihm, mit einem Gesicht, das Jo noch nie so zärtlich und sanft gesehen hatte.

Nun krochen die kleinen Drachen unter den zerbrochenen Schalen hervor und hielten aufeinander zu. Ihre Körper umschlangen sich zuckend und feucht. Sie leuchteten in einem sehr blassen Violett.

Im selben Augenblick und wie aus einem Mund riefen Jos beste Freunde zwei unterschiedliche Namen.

»Maric!«, sagte Amina.

»Ariel!«, rief Conor.

Nein, nein, nein. Jos Herz verkrampfte sich vor Neid und bitterer Enttäuschung.

Die Drachen lauschten seinen Freunden. Wie ein Spiegelbild des jeweils anderen hoben sie den Kopf und öffneten das Maul, um heiser fiepend zu antworten.

Amina und Conor rappelten sich auf, nahmen die beiden hellvioletten Drachen und drückten sie an ihre Herzen.

Und mir nichts, dir nichts war alles vorbei.

Jos Traum war geplatzt.

Fünf Kinder liebkosten fünf Drachenjunge.

Jo saß mit leeren Händen da und spürte, wie ihm das Herz brach. Kein Drache wollte ihn haben.

Lanys stürzte sich auf Ravenna, Tränen liefen ihr übers Gesicht. »Du bist wieder da, Ravenna. Das hast du so gut gemacht, du wunderbarer Drache.«

»Lanys, du solltest eigentlich meine Aufforderung abwarten«, rief Isak mit angespannter Stimme. »Du darfst deinen Drachen jetzt wieder willkommen heißen.«

Lanys funkelte ihn aufsässig an, doch dann presste Ravenna den riesigen schwarzen Schuppenkopf an die Brust ihrer Gefährtin, um umarmt, gelobt und bestätigt zu werden, und Lanys verlor sich im Freudentaumel der Wiedervereinigung.

Jo stand plötzlich auf den Beinen, er schwankte leicht.

Die anderen drehten sich verwirrt zu ihm um. Einen Augenblick lang war er hin- und hergerissen. Noch konnte er den Rückzug antreten, sich wieder hinsetzen, sich entschuldigen und der Zeremonie ihren Lauf nehmen lassen.

Aber er tat es nicht.

Das war nicht fair. Was war mit ihm? Mit seinem Traum?

Warum wollte ihn kein Drache haben?

Er hätte alles dafür getan, alles gegeben. Er brauchte einen Drachen so sehr, dass es wehtat. Er hatte noch nie etwas anderes gewollt. Konnte nichts anderes tun, nichts anderes sein. Er war geboren, um ein Drachenreiter zu werden. Warum bloß wollte ihn keiner der Drachen haben?

Seine Zukunft war eine zugeschlagene Tür, hinter der er fassungslos zurückblieb.

Er hielt es kaum aus, Conor und Amina dort sitzen zu sehen, deren Leben nun für alle Zeit gesichert war. Dabei waren sie gar nicht darauf angewiesen! Sie hatten andere Pläne, wollten in ihren Familien arbeiten, es war alles vorbereitet. Doch am wenigsten ertrug er es, Noah anzusehen.

»Setz dich, Jowan!«, befahl Isak.

Niemand benutzte jemals Jos vollen Namen.