Drachentochter - Liz Flanagan - E-Book

Drachentochter E-Book

Liz Flanagan

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Beschreibung

Auf der Insel von Arcosi regierten vor langer Zeit die Drachen und ihre Drachenreiter die Lüfte. Jetzt sind diese aber nur noch Legende. Als die Protagonistin Milla Zeugin eines Mordes wird, wird sie plötzlich zur Hüterin der letzten vier Dracheneier und ist gezwungen, diese geheim zu halten, was dazu führt, dass sie dabei alle und alles in Gefahr bringt, was ihr eigentlich lieb ist. Glühende Freundschaft, vergessene Familie und das Streben um Macht kollidieren, als Millas Versuch, die Dracheneier und später die Drachen zu beschützen, dazu führt, dass ihre eigene Vergangenheit aufgedeckt wird.

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Liz Flanagan

Drachentochter

Legenden der Lüfte

Aus dem Englischen von Bettina Münch

 

 

 

Für meine Töchter, die ich liebe und bewundere.

Erster Teil

1. Kapitel

Am Tag, als die Drachen nach Arcosi zurückkehrten, versteckte sich Milla in einem Apfelsinenbaum. Mit derselben Beharrlichkeit, mit der ihr die Zweige in den Rücken stachen, ihr die Arme zerkratzten und die schwarzen Locken zerzausten, ignorierte sie alle, die nach ihr riefen. Sie war klein genug, um komplett im dichten grünen Blattwerk zu verschwinden, was den Baum zwischen dem Hauptteil des Gelben Hauses und seinem Küchentrakt zu einem idealen Versteck machte.

Wenn sie den Kopf drehte, konnte sie über die Gartenmauer auf die Dächer der Stadt hinabsehen und die Schiffe zählen, die sich dem Hafen näherten. Sie atmete den heißen Geruch von Arcosi ein, dieser rastlosen Stadt, die sie liebte: staubige Steine, übel riechende Straßenrinnen, fauligen Fisch, Salz, Gewürze und Blüten.

Das Versteck ermöglichte Milla die erste Pause an diesem Tag. Das Zittern in ihren Beinen und ein leichtes Schwindelgefühl verrieten ihr, dass sie eine Mahlzeit verpasst hatte. Sie streckte die Hand aus und pflückte eine sonnenwarme Apfelsine, schälte sie mit ihren schmutzigen Fingernägeln und saugte den Saft aus dem Fruchtfleisch, bis er ihr übers Kinn lief. Dann schleuderte sie das Beweisstück über die Gartenmauer.

Allmählich fühlte sie sich besser. Sie war sicher, dass ihr niemand mit Absicht zu viel Arbeit aufbürdete. Bloß rief jeder, der das jüngste Dienstmädchen sah, sofort: »Milla! Es gibt Arbeit für dich!«, ohne zu ahnen, dass ein halbes Dutzend anderer bereits das Gleiche getan hatte. Für Milla war es eine Frage der Ehre, niemals Nein zu sagen oder zuzugeben, dass sie zu müde war. Sie machte sich nützlich. Unentbehrlich. Sie würde nie wie eine streunende Katze auf der Straße landen. Denn in diesen merkwürdigen Zeiten, in denen die Soldaten des Herzogs Tag und Nacht durch die Straßen streiften und sich Gerüchte schneller verbreiteten, als ein Habicht fliegt, fühlte sich die Stadt an wie ein großes Tier, das ausgehungert aus einem langen Schlaf erwachte. Mit ihren zwölf Jahren wusste Milla, dass jeder Mensch einen sicheren Ort brauchte. Einen Platz, an den er gehörte.

In diesem Moment hörte sie Stimmen näher kommen. Sie riefen ausnahmsweise nicht ihren Namen.

Zwei Gestalten blieben fast direkt unter ihr stehen. Milla erkannte Lanys, das zweite Dienstmädchen, und einen seltsamen Mann, der einen dunkelblauen, salzverkrusteten Umhang trug und ihn weit über das Gesicht gezogen hatte. Wahrscheinlich hatte Lanys am Tor aufgepasst, während die Wachen beim Brunnen eine Pause einlegten.

»Warten Sie. Ich hole meinen Herrn – wenn Sie mir das Erkennungszeichen geben wollen?« Lanys war vorsichtig. Alle wussten, dass man nicht jeden x-beliebigen Reisenden zum Tor hereinlassen durfte. Nicht in diesen Zeiten.

»Hier, nimm. Aber gib es nur Nestan.« Die tiefe Stimme des Fremden zitterte. Und sein Akzent? Milla konnte ihn nicht zuordnen, was selten vorkam. Seine Aussprache klang ein wenig ungeübt, die lang gezogenen Vokale des Norländischen, der offiziellen Sprache auf der Insel Arcosi, waren ihm nicht vertraut.

»Bitte, nehmen Sie Platz.« Lanys wies auf die steinerne Bank neben dem Springbrunnen. »Wenn ich zurückkomme, bringe ich Ihnen eine Erfrischung.«

Doch der Fremde setzte sich nicht.

Milla hätte fast aufgeschrien, als er mit der Hand in das Geäst neben ihrem linken Fuß griff. Die Hand war tiefbraun und faltig wie ein Pfirsichkern. Sie umklammerte eine merkwürdig geformte Packtasche, wie ein Futtersack für ein Maultier, nur kleiner. Ohne aufzusehen, hängte der Mann die Tasche an ebenjenen Ast, auf dem Milla saß. Er schaute dabei immer wieder über die Schulter und merkte nicht, dass in dem ausgewählten Versteck ein Mädchen kauerte.

Milla starrte die Packtasche an: Sie hatte vier tiefe Beutel aus gewebter Seide, von denen jeweils zwei auf einer Seite des breiten Asts herabhingen. Sie waren rundlich ausgebeult, als enthielten sie Wasserkrüge. Milla hatte noch nie etwas Schöneres gesehen als diese Tasche, sie fühlte sich von ihr angezogen wie eine Motte vom Licht einer Kerze. Vorsichtig stupste sie gegen einen der Beutel – er war fest und gut gepolstert – und versuchte zu erraten, was er enthielt. Was musste so dringend versteckt werden? Edelsteine? Gift? Feuerpulver? Hastig zog sie die Hand zurück und vergewisserte sich, dass die Packtasche nicht hinunterfallen und sie mitsamt dem Apfelsinenbaum in ein Häufchen Asche verwandeln würde.

Plötzlich drang eine neue Stimme zu ihr, sodass sie vor Schreck fast vom Baum fiel. Milla war bekannt für ihr gutes Gehör, aber diese Person musste Federn unter den Füßen haben, wenn sie sich so leise anschleichen konnte.

»Wo ist sie?«, zischte die neue Stimme so leise und drohend, dass Milla die Worte kaum verstand. »Gib sie mir.«

Wer war das? Sie spähte durch die dunkelgrünen Blätter.

Eine Hand in einem Handschuh presste dem Mann im Umhang ein Messer an die Kehle.

»Auf der Stelle!«, sagte der Neuankömmling. Er war ganz in Schwarz gekleidet und trug eine schwarz-goldene Maske, als wäre er auf dem Weg zur Abendveranstaltung im Palast.

Der erste Mann antwortete nicht. Stattdessen rammte er dem Angreifer den Ellbogen in die Rippen und versuchte sich loszureißen. Für einen kurzen Moment blitzte auf der Innenseite seines Handgelenks eine merkwürdige Tätowierung auf: ein Kreis mit einer Art Vogel darin.

Der maskierte Fremde war schneller. Sein Messer bohrte sich in den Hals des Mannes. Ein dünner Blutfaden lief die Klinge hinab.

Milla machte sich bereit, vom Baum zu springen – wenn sie genug Schwung hatte, konnte sie vielleicht beide von den Füßen fegen –, da hörte sie in der Ferne die wütende Stimme ihres Herrn: »… meine Tochter weiß genau, dass wir nach Sonnenuntergang im Palast erwartet werden …«

Milla umklammerte den Ast so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Sie sollte springen. Sofort. Aber nicht eines ihrer Glieder gehorchte ihr.

»Lassen Sie mich nach Lady Tarya suchen, während Sie zum –« Lanys Worte brachen abrupt ab. Sie und Nestan mussten den bogenförmigen Eingang zum Hofgarten erreicht haben.

Milla hörte ein leises Klirren, als Nestan sein Schwert zog. Seine Kriegsverletzungen mochten ihn etwas langsamer machen, trotzdem würde Milla bei einem Kampf nicht gegen ihn wetten. Sie reckte den Hals, um durch die Blätter zu schauen.

Der Maskierte wandte sich den beiden zu und zerrte den wehrlosen Mann mit sich.

Dieser keuchte trotz der Klinge am Hals: »Niemals!«

Das war sein letztes Wort.

Später war Milla froh, dass der Angreifer mit dem Rücken zu ihr gestanden hatte.

Sie sah immer noch vor sich, wie es plötzlich blutrot gegen den Terrakottatopf spritzte. Hörte den Körper schwer zu Boden sacken. Sah das verschwommene Schwarz, als der Mörder floh.

Lanys schrie gellend auf, was die Wachen aus dem Küchengarten lockte.

»Ergreift ihn! Ein schwarz gekleideter Mann, maskiert, mit einem Messer!«, rief Nestan ihnen zu. »Schnell! Er entwischt uns.«

Milla hörte das Trampeln der Stiefel, als die Wachen des Hauses die Verfolgung aufnahmen und zum Tor hinausrannten. Sie hörte Nestan herankommen, das metallische Kratzen, mit dem sein Schwert wieder in die Scheide fuhr.

Mit fest zusammengekniffenen Augen klammerte sie sich an ihren Ast und konzentrierte sich nur darauf, zu atmen und sich nicht zu übergeben. Das erforderte ihre ganze Kraft. Sie hatte schon viele Hafenschlägereien erlebt oder mitbekommen, wie die Soldaten des Herzogs Stadtbewohner davonschleiften. Aber noch nie hatte sie mit angesehen, wie jemand ermordet wurde. Sie hätte es verhindern können. Warum hatte sie nicht gehandelt, als sie die Gelegenheit dazu hatte? Stattdessen hatte sie sich wie eine Maus versteckt. Und jetzt war ein Mann tot.

Milla öffnete die Augen und atmete bebend ein.

»Er wusste es«, sagte Nestan wie zu sich selbst.

Milla beobachtete ihn durch eine Lücke im Blattwerk.

Er starrte auf die größer werdende tiefrote Pfütze vor seinen Füßen und drehte mit der Linken unentwegt eine Münze zwischen Fingern und Daumen. »Er wusste, dass ich kommen würde, wenn er mir diese Münze schickt. Jetzt werden wir nie erfahren, welche Nachricht es wert war, dafür zu sterben.«

»Er … er … er kannte das Passwort«, stotterte Lanys. »Deshalb … deshalb habe ich das Tor geöffnet.« Ihr rotbraunes Haar leuchtete in der Sonne, als sie auf die Knie sank, und ihre Hände flatterten wie auffliegende Tauben. »Ich weiß nicht, wie der maskierte Mann hereingekommen ist …«, flüsterte sie. »Es tut mir leid.«

»Ja, das ist das eigentliche Rätsel. Der Mörder wusste genau, wann meine Wachen heute Pause machen. Ich frage mich …« Nestan verstummte.

Milla war eine treue Dienerin: Sie sollte ihrem Herrn erzählen, was der Fremde im Baum versteckt hatte. Etwas, das so wertvoll war, um dafür zu töten. Etwas, das wertvoll genug war, um dafür zu sterben. Aber ihr fehlten ausnahmsweise die Worte. Ihr Mund war wie ausgetrocknet, in ihrer Kehle stieg es sauer auf, ihr Magen rumorte. Sie saß zitternd auf ihrem Ast und klammerte sich fest.

Einer der Wachmänner, die die Verfolgung aufgenommen hatten, kam in den Hof zurückgeeilt. »Wir haben ihn verloren, Herr. Es ist zwecklos zwischen all den Leuten.«

Wie klug der Mörder war! Heute fand der Jubiläumsball des Herzogs statt: Auf den Straßen der Stadt wimmelte es von Feiernden in festlicher Kleidung, und alle waren maskiert. Es war ein Ding der Unmöglichkeit, den Mann wiederzufinden, begriff Milla.

Nestan unterbrach seine Grübeleien. »Macht das hier weg, bevor es die Zwillinge zu sehen bekommen«, sagte er mit einem Fingerschnipsen zu Lanys und dem Wachmann. »Und verdoppelt die Wachen am Tor.« Während er hinkend davonging, rief er: »Wo stecken meine Kinder überhaupt? Isak? Hat irgendjemand Tarya gesehen?«

Lanys stand auf und stolperte ihrem Herrn hinterdrein, beide verschwanden im kühlen Inneren des Hauses. Der Wachmann bückte sich, hob die Leiche des verhüllten Mannes an und schleifte ihn fort, nur eine leuchtend rote Spur auf den Steinplatten blieb zurück.

Wie konnte der Ball des Herzogs wichtiger sein als das Leben eines Mannes, das vor ihren Augen ausgelöscht worden war?, fragte Milla sich benommen.

Die merkwürdige Packtasche hing schimmernd am Ast. Sie rief nach ihr wie ein süßes, verlockendes Lied. Zitternd streckte Milla einen Finger aus und berührte die Seide. Solange das ganze Haus in Aufruhr war, würde sie die Tasche lassen, wo sie war: Lanys würde sie ihr doch nur auf der Stelle wegnehmen.

»Ich komme später zurück«, sagte sie und sprang vom Baum. Ihre Knie gaben nach, sie taumelte, fing sich wieder und blinzelte die Sterne fort, die vor ihren Augen tanzten.

Einen Augenblick lang starrte sie auf das Blut und machte sich bewusst, dass das hier real war. Es war wirklich geschehen. Und sie fragte sich, ob jemand diesen Toten vermissen würde. Wieder wurde Milla übel. Wie beengend ihr Leben doch war! Ihre Pflichten zogen sich wie eine Schlinge um sie zusammen.

Sie tat das Einzige, was in ihrer Macht stand: »Es tut mir leid«, wisperte sie dem Blut des Mannes zu. »Ich passe auf deine Tasche auf, das verspreche ich dir.«

Dann lief sie los, um die Zwillinge daran zu erinnern, dass sie sich beeilen mussten.

2. Kapitel

Ein Blick nach Westen zeigte Milla, dass ihr nicht viel Zeit blieb. Die untergehende Sonne stahl dem Meer die Farbe, bis es blassblau war wie ein Starenei.

Wenn die Zwillinge zum Ball des Herzogs zu spät kamen … Wenn Nestan glaubte, dass alles ihre Schuld wäre … Milla rannte, obwohl ihr immer noch die Beine zitterten. Sie sauste über den polierten Boden von Nestans Lieblingsraum, mit den nach Südwesten ausgerichteten riesigen Bogenfenstern, durch die der Herr auf seine Schiffe und Lagerhäuser hinabblicken konnte.

Lanys war mit einem großen Wasserkrug und einer Hand voll Lumpen auf dem Weg nach draußen. Ihr Gesicht, so weiß wie geronnene Milch, spiegelte Millas eigenen Schrecken.

»Wo hast du denn gesteckt?«, fauchte Lanys giftiger als sonst. »Die Zwillinge müssen sich fertig machen, aber ich habe für den Herrn etwas Dringendes zu erledigen, also musst du dich darum kümmern. Warum hat er dich noch mal hier angestellt?« Selbst inmitten des Grauens brachte Lanys es fertig, ihr eins auszuwischen.

»Ich suche die Zwillinge ja schon!« Milla war es gewohnt, ihre Gemeinheiten zu ignorieren. Es drehte sich ihr fast der Magen um, als sie begriff, welchen Auftrag Lanys erledigen musste. »Hast du sie gesehen?«

»Tja, ich dachte, Isak wäre auf dem Übungsplatz.« Lanys legte den Kopf schief und lauschte. »Aber mit wem schimpft der Herr dann oben …?«

Milla wartete nicht länger. Sie sprang, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinauf und folgte den lauten Stimmen. Vor Isaks Zimmer presste sie sich an die Wand und spähte durch die offene Tür.

»Und das sagst du mir jetzt?« Isaks Stimme war kaum wiederzuerkennen. Sie klang heiser vor zurückgehaltenen Tränen. »Du kannst doch nicht einfach …«

Milla hörte, wie er ein Schluchzen unterdrückte. Weinte er wegen des toten Mannes? Sie schob sich näher heran.

Steif und leicht zusammengekrümmt stand Isak mit dem Rücken zu seinem Vater am Fenster. Sein Atem ging seit seiner Krankheit im letzten Jahr immer noch keuchend und seine Augengläser waren verrutscht. Er nahm sie ab: Zwei kleine runde Glasscheiben, die mit einem Draht verbunden waren, der auf die Nase gesetzt wurde. Nestan hatte die ungewöhnliche Konstruktion von einer langen Reise mitgebracht und Isak trug sie die ganze Zeit. Jetzt leerte er eine kleine Glasphiole mit seiner Arznei, fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und setzte seine Gläser wieder auf.

Während Millas Herz immer noch Purzelbäume schlug, entschied sie, das zu tun, was sie am besten konnte: zuhören.

»Besser?« Nestan musterte seinen Sohn Isaks angestrengte Atmung beruhigte sich allmählich. »Ich habe es dir gesagt, sobald alles eingefädelt war. Und ja, ich kann. Genau das ist der springende Punkt.« Nestan wurde lauter. Er streckte die Hand aus, als wollte er Isak am Arm packen. Überlegte es sich dann aber anders und rieb sich stattdessen über den Bart. Es klang wie ein Kratzen.

Milla wurde selbst im schwülwarmen Korridor plötzlich kalt, sie schlang die Arme um den Leib. Was hatte er arrangiert? Es musste sehr wichtig sein, wenn selbst Nestan, der mit distanzierter Ruhe eine Leiche betrachten konnte, aufgewühlt wirkte. Millas Gedanken wanderten zurück zu dem ermordeten Mann und seiner geheimnisvollen Packtasche. Sie stellte sich vor, wie die Tasche dort hing und auf sie wartete. Dann schob sie den Gedanken beiseite und lauschte dem Ende von Nestans nächstem Satz.

»… ich will euch geben, was ich nicht hatte. Was ich mir erarbeiten musste. Warum begreifst du das nicht?«

»Vielleicht, weil ich nicht du bin?«, sagte Isak keuchend. »Weil ich etwas anderes will? Und das wüsstest du auch, wenn du dir die Mühe machen würdest, mit mir zu reden.«

Milla zuckte zusammen, doch es stimmte. Nestan war entweder auf Reisen oder sehr beschäftigt, er suchte nur selten die Gesellschaft seiner Zwillinge. Deren Mutter Vianna war vor zehn Jahren gestorben. Seitdem hatten die beiden mehr Freiheiten genossen als andere Kaufmannskinder, bis Nestan das schließlich aufgefallen war und er andere Saiten aufzog. Er hatte ihnen einen Unterrichtsplan aufgebrummt, den beide hassten.

»Womit habe ich nur so ein verzogenes Kind verdient? Begreifst du denn nicht, welches Glück du hast? Das ist keine Strafe, Isak!«, brüllte Nestan seinen Sohn an.

»Wirklich? Komisch, genau so fühlt es sich an. Wie eine Strafe dafür, dass ich nicht der Sohn bin, den du haben wolltest!« Isak fuhr herum. Er hatte die Sonne im Rücken, daher konnte Milla seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen. »Ich sehe doch, wie du uns anschaust – deinen kränklichen Sohn und deine draufgängerische Tochter –, als würdest du uns am liebsten gegeneinander austauschen.«

Nestan schnappte nach Luft, als hätte man ihn geschlagen.

Milla hielt sich erschrocken den Mund zu. Isak brüllte nie. Er war still. Ironisch. Lustig. Gutmütig. Durch seine laute Stimme wirkte dieser Tag noch unwirklicher und entsetzlicher als ohnehin schon.

Kaum eine Handbreit voneinander entfernt, starrten sich Vater und Sohn in die Augen. Der dreizehnjährige Isak war fast so groß wie Nestan.

»Tarya wird das ganz genauso sehen, wenn du ihr erzählst, was du mit ihr vorhast. Wir sind keine kleinen Kinder mehr. Wir sind nicht deine Schoßhündchen, die du züchten und verschachern kannst. Nimm dich in Acht, Vater. Sonst stellst du vielleicht eines Morgens fest, dass wir das Nest verlassen haben.«

Nein, nein, nein! Tarya und Isak durften das Nest nicht verlassen! Was redete er da? Milla schüttelte den Kopf und versuchte vergeblich, aus den Einzelteilen dieses Streits schlau zu werden.

»Willst du mir drohen?« Nestans Stimme wurde leise. Er rückte noch näher an Isak heran, eine Hand wanderte zum Schwert an seinem Gürtel.

»Ich fasse es nicht«, sagte Isak entrüstet. »Willst du etwa mit dem Schwert auf mich losgehen? Wir wissen ja alle, wie gut das in dieser Stadt funktioniert.« Seine Stimme troff vor Bitterkeit. »Dabei bist du nicht einmal Soldat, jedenfalls nicht mehr. Wir haben ohnehin nur dein Wort darauf, dass du es jemals warst. Wahrscheinlich bist du im Suff vor einer Schänke gestürzt und hast dir dabei das Bein verletzt.«

Nestan starrte ihn an.

»Ach, vergiss es. Ich gehe jetzt.«

»Das kannst du nicht. Wir müssen zum Palast. Du weißt, wie viel davon abhängt … Das darfst du nicht aufs Spiel setzen!«

Isak schob sich an seinem Vater vorbei und ging aus dem Zimmer.

Milla legte ihm die Hand auf den Arm. »Warte!«, sagte sie leise, doch er lief wortlos die Treppe hinab, während Milla vergeblich die Hand nach ihm ausstreckte.

Aus dem Zimmer drang ein Geräusch. Nestan taumelte rückwärts und sackte in Isaks Sessel zusammen. Mit beiden Händen umklammerte er sein linkes Bein, das vor Jahren nach einer Verletzung steif geblieben war, und kämpfte leise fluchend gegen einen Krampf an.

Dann rannte Milla die Treppe hinab. Von Isak war nichts mehr zu sehen. Dafür stand Lanys mit weit aufgerissenen Augen draußen und entsorgte das rot gefärbte Wasser aus ihrem Krug und den fleckigen Lumpen. »Was ist los? Was hast du jetzt wieder angestellt?«

»Wo ist er hin?«, stieß Milla hervor. Der Geruch des blutgetränkten Wassers stieg ihr in die Nase. Sie würgte und musste aufpassen, um sich nicht an Ort und Stelle zu übergeben.

»Raus.« Lanys zeigte zum Haupttor, wo nun vier Wachen postiert waren. »Aber …?«

Milla blieb keine Zeit, ihr alles zu erklären. Statt Isak nachzulaufen, wirbelte sie herum und nahm die Abkürzung durch die Küche, wo Josi, die Köchin, fluchte wie ein Seemann.

»Tut mir leid, Josi«, rief Milla atemlos. »Ich erkläre es dir später!« Am liebsten hätte sie die Arme um Josis breite Mitte gelegt und ihr schluchzend berichtet, was sie in der letzten Stunde erlebt hatte. Sie sah den toten Mann immer noch vor sich: die Lache aus dickem rotem Blut, die immer größer und größer wurde.

Stattdessen befahl sie ihren Füßen weiterzulaufen. Sie durchquerte den Küchengarten und sprang über Skalla, den dicken Hauskater, ohne auf sein Fauchen zu achten. Die Hühner flatterten erschrocken auseinander und gackerten empört.

Die Olivenhaine erstreckten sich auf steilen Terassen nach Westen, und die Ziegen, die dort angebunden waren, hörten auf zu grasen und starrten Milla mit ihren gelben Augen an. Über einen alten, knorrigen Olivenbaum kletterte sie auf die Mauer des Übungsplatzes. Es würde ihr nicht einfallen, unangekündigt durch das Tor einzutreten – auf die Art konnte man schnell einen Finger verlieren.

Sie hielt kurz inne, um zu verschnaufen. Wieder sah sie den toten Mann vor sich und diesmal war die Übelkeit stärker. Sie drehte sich um und erbrach sich über die Mauer des Übungsplatzes. Keuchend spuckte sie kräftig aus, ehe sie sich mit dem Ärmel ihrer Tunika den Mund abwischte. Hoffentlich würde niemand die wässrige, orange gefleckte Pampe entdecken. Dann konzentrierte sie sich wieder auf ihre Aufgabe.

Auf dem von Mauern umgebenen Platz kämpften zwei Menschen. Ihre Schwerter klirrten. Beide trugen Helme und ein Lederpolster, das Brustkorb und Oberschenkel schützte. Richal Finn, Nestans Anführer der Wache, lieferte sich einen Zweikampf mit seinem besten Zögling. Dieser war Finn fast ebenbürtig. Das wusste Milla nur zu genau, denn sie hatte sich einmal überreden lassen, Finn zu vertreten, als der keine Zeit hatte. Ihre blauen Flecken sprachen für sich. Heute wurden Finns Hiebe geschickt abgewehrt, umgangen und erwidert.

Milla hob die Hand und wies mit dem Kopf nach hinten, um Finns Aufmerksamkeit zu erregen und ihn daran zu erinnern, was in diesem Moment die eigentliche Aufgabe seines Schützlings war. Es funktionierte.

Finn kniff konzentriert die Augen zusammen. Dann erkannte er seine Chance und schlug mit einem schnellen Sprung seinem Gegner das Schwert aus der Hand, das klirrend gegen die Steinmauer flog.

»Das reicht für heute«, sagte er. »Euer Vater braucht mich, mein Herr.« Er nahm den Helm ab, unter dem ein gebräunter Schädel mit lichter werdendem Haar zum Vorschein kam, dann verbeugte er sich kurz und schlüpfte an seinem Schützling vorbei. Auf dem Weg nach draußen hob er den Kopf und begegnete Millas Blick mit seinen tiefblauen Augen. Er schien sie zu mustern, irgendetwas zu überprüfen.

Milla dankte ihm mit einem Nicken. Finn war kein Dummkopf. Er unterrichtete beide Zwillinge schon seit mehr als zehn Jahren. Er wusste genau, was vor sich ging. Nach den neuen Unterrichtsregeln durfte nur noch Isak das Kämpfen erlernen. Aus Treue und Zuneigung zu den Zwillingen gab Finn vor, sich daran zu halten. Sollte Nestan ihn zur Rede stellen, konnte er behaupten, von nichts gewusst zu haben.

Finn erwiderte Millas Nicken und ging davon.

»Was? Aber wir haben doch gerade erst angefangen, Finn! Du bist zu spät gekommen!«, rief sein Schützling, verblüfft über das abrupte Ende der Stunde, und ging ihm mit ausgebreiteten Armen nach. Dann entdeckte die behelmte Gestalt Milla, die wie eine Katze auf der Mauer hockte. »Was tust du da oben, Milla?«

»Es ist Zeit, wir müssen uns beeilen!« Milla sprang auf den Platz hinunter und begann den ledernen Harnisch aufzuschnallen. Wenn sie sich auf alltägliche Dinge konzentrierte, wurde sie ruhiger. Selbst das Zittern ihrer Beine konnte sie auf diese Weise fast ausblenden. Und den Ruf der seidenen Packtasche auch. »Ich soll dich für den Ball ankleiden! Was hast du ausgerechnet heute hier unten verloren?«

Der Krieger zog den ledernen Helm vom Kopf, und eine zerzauste Masse blonder Locken fiel um das wunderschöne Gesicht von Tarya Thornsen – die als ihr Bruder Isak verkleidet war.

»Tut mir leid. Ich weiß, wie wichtig dieser Tag ist – wirklich! Ich habe einfach die Zeit vergessen. Ich wollte dir keinen Ärger machen. Aber ich musste etwas Dampf ablassen, bevor ich mich den ganzen Abend wie eine perfekte Dame benehme. Jetzt kannst du mich mit Perlen und Seide behängen, ich werde ganz brav sein – versprochen!«

»Das Problem ist nur, dass Isak gerade weggelaufen ist. Er hat deinen Vater angeschrien.«

»Isak? Bist du sicher?«, fragte Tarya. Und dann, ein wenig sanfter: »He, was ist los? Du siehst schrecklich aus.«

»Nichts«, log Milla, die den Kopf senkte und an einer steifen Schnalle zerrte. Dafür war jetzt keine Zeit. Außerdem hatte sie dem Blut eines toten Mannes ein Versprechen zugeflüstert. Für Milla waren Versprechen bindend.

»Also gut, lass den Harnisch, ich kann gut in diesen Sachen laufen. Wenn wir Isak noch rechtzeitig finden wollen, müssen wir uns beeilen.«

3. Kapitel

»Bilgendreck!«, fluchte Tarya. »Warum ausgerechnet jetzt? Er hat wirklich ein Gespür für den richtigen Zeitpunkt, mein lieber Bruder!«

Eigensinnig war Nestans Beschreibung für seine Tochter. Starrköpfig nannte Isak seine Zwillingsschwester. Hitzig würden die Dienstboten vielleicht sagen und dabei die Augen verdrehen. Milla würde andere Begriffe wählen: Treu würde sie sagen. Und mutig.

Taryas Augen waren so blau wie der allmählich dunkler werdende Himmel über ihnen. »Zum üblichen Platz, oder?«

Milla nickte. Sie wussten beide, dass sich Isak an Bord eines Schiffes am wohlsten fühlte, oder, falls das nicht ging, am Hafen.

»Hoffentlich schaffen wir es vor Sonnenuntergang dorthin und wieder zurück. Wenn wir zu der blöden Zeremonie des Herzogs nicht pünktlich kommen, wandern wir womöglich alle auf die schwarze Liste.«

»Du bleibst hier«, sagte Milla schnell. »Ich geh allein. Du musst dich fertig machen. Ich habe dir das rosa Seidenkleid aufs Bett gelegt …« Bei der Vorstellung, zum Hafen hinunter- und wieder zurückzulaufen, wurde ihr schwindlig vor Erschöpfung, aber sie biss die Zähne zusammen. »Außerdem werden Patrouillen unterwegs sein und du kennst nicht alle Abkürzungen.« Milla bewegte sich in den gewundenden Straßen von Arcosi wie eine Katze, sie kannte jede Gasse und jeden geheimen Weg.

»Nein, ich mache das!«, sagte Tarya. »Er ist schließlich mein Zwillingsbruder. Und es ist meine Familienehre, die auf dem Spiel steht. Außerdem zitterst du wie Espenlaub und hast Erbrochenes auf deiner Tunika. Bist du krank?«

»Mir geht es gut, das ist bloß Apfelsine«, log Milla erneut. Heute Abend wollte sie auf keinen Fall zurückgelassen werden. Also richtete sie sich auf und bezwang das Zittern in ihren Beinen.

»Na schön«, schnaufte Tarya. »Dann erzählst du mir eben nicht, was los ist! Aber lass mich wenigstens mitkommen. Mich und mein freundliches Schwert?« Mit hochgezogenen Augenbrauen klopfte sie auf den Knauf ihrer Waffe. Dank des abgebrochenen Kampfs mit Finn sprühte sie immer noch vor Energie.

»Na schön«, sagte nun auch Milla. »Komm mit.« Sie lotste Tarya auf die Mauer des Übungsplatzes, führte sie in einem Halbkreis um das Haus herum und zeigte ihr die hervorstehenden Steine, über die sie auf die zwei Stockwerke tiefer liegende nächste Straßenebene hinunterklettern konnten. »Aber wir müssen den kürzesten Weg nehmen.«

»Warum kenne ich diesen Geheimzugang zu unserem eigenen Haus nicht?«, fragte Tarya, die Milla hinterherkletterte.

Normalerweise war es ein leichter Abstieg, aber Millas Beine zitterten immer noch, deshalb rutschte sie mit dem linken Fuß ab und hing nur noch an den Fingerspitzen. »Jetzt kennst du ihn. Komm, wir müssen uns beeilen.« Das letzte Stück ließ sie sich hinabfallen, kam leichtfüßig auf und hastete in eine schmale Gasse.

Milla blieb in den dunklen Hintergassen. Ohne ihren Helm erkannte man in Tarya zu leicht die Tochter ihres Vaters. Fast die halbe Stadt hatte irgendwann für Nestan gearbeitet, und er besaß in jedem Viertel treue Freunde, die sie womöglich anhielten und fragten, warum Tarya nicht zum Palast, sondern in die entgegengesetzte Richtung lief.

»Warte!«, sagte Milla, als sie sich der Hauptstraße näherten, die sich wie eine zusammengerollte Schlange um die Insel wand. »Hier müssen wir rüber«, erklärte sie Tarya. Milla nahm sie an der Hand und lief die breite, gepflasterte Straße entlang, wobei sie sich viel zu ungeschützt fühlte. Sie gesellten sich zu den Leuten in Festtagskleidung: Manche eilten zum Ball in den Palast hinauf, andere hinunter zum Straßenfest am Kai.

»Alles in Ordnung. Wir haben jedes Recht, spazieren zu gehen«, sagte Tarya und reckte stolz den Kopf. »Zwei Freundinnen, die die Abendluft genießen … Was gibt es daran auszusetzen?«

Milla warf ihrer Freundin einen Blick zu. Glaubte Tarya das wirklich? Sie sagte nichts, hoffte aber, dass sich die schöne Illusion ihrer Freundin nicht schon bald zerschlagen würde.

Im nächsten Moment rief eine Männerstimme die Worte, vor denen Milla sich gefürchtet hatte: »Patrouille! Tretet zurück.«

Der Lärm marschierender Stiefel hallte von den hohen Häusern auf beiden Seiten der Straße wider.

Milla zog Tarya mit sich, drückte sich gegen eine Häuserwand und presste Arme und Beine an den Leib. Neben ihr stürzte eine junge Mutter nach vorn, um ihre kleine Tochter von der Straße zu zerren. Sie zog sie eng an die Brust und schimpfte: »Dass du mir nicht wieder wegläufst. Wenn du Soldaten siehst, bleibst du ganz dicht bei mir, verstanden?«

Das kleine Mädchen begann laut zu weinen.

Die Soldaten marschierten unbeirrt im selben Tempo auf sie zu, obwohl sie einen steilen Hügel bezwangen. Die Gesichter starr geradeaus gerichtet, kamen sie schweigend näher, nur das Trampeln ihrer Stiefel und das metallische Klirren ihrer Schwerter und Schilde waren zu hören. Während Milla den Soldaten entgegenstarrte, versuchte sie die Männer als Individuen zu sehen. Sie wusste, dass auch sie nur Menschen waren – dieser junge Kerl mit dem sonnenverbrannten Hals, der stämmige ältere Mann mit dem buschigen Bart –, trotzdem wirkten sie in diesem großen Pulk wie etwas anderes: etwas, das mächtiger und beängstigender war als normale Menschen.

Die Soldaten waren nun fast gleichauf. Noch einen Moment, dann wären sie vorbei. Solange sich niemand rührte oder ihnen Grund gab –

»Halt!«, befahl der Anführer. »Kontrollposition einnehmen.« Die Männer blieben wie angewurzelt stehen. Sie drehten sich um, traten zur Seite und blockierten die gesamte Straße. »Bürger! Zeigt eure Papiere!«

Milla fluchte leise und flehte in einem hastigen Stoßgebet um einen Einfall. Wenn sie nicht schnell einen Ausweg fand, saßen sie in der Falle.

Die Frau neben ihr seufzte und tastete unter ihren Umhang. »Schon wieder. Das ist das dritte Mal heute. Als hätte man auch nur für einen Fehltritt Zeit, wenn sie einen unentwegt überprüfen.«

Die Soldaten waren wie eine menschliche Barriere, die sich die Hauptstraße entlangarbeitete, sie kontrollierten Papiere und forderten die Menschen auf, ihren Namen, ihre Adresse und ihre familiäre Herkunft nachzuweisen.

»Was sollen wir tun? Ich habe keine Papiere mitgenommen«, zischte Tarya und umklammerte das Heft ihres Schwerts. »Ich wusste ja nicht, dass ich aus dem Haus gehen würde. Wenn sie uns jetzt verhaften, schaffe ich es nie zum Ball, und unsere Familie kommt mit Sicherheit auf die schwarze Liste.«

»Norländer auf der schwarzen Liste? Niemals …«, sagte Milla, die sich dafür verfluchte, dass sie so hastig aufgebrochen waren. Sie vergaß ihre Papiere sonst nie.

»Das kommt durchaus vor!«, sagte Tarya. »Die Familie meiner Freundin hat alles verloren.«

»Lasst mich los! Lasst mich gehen! Ich habe nichts getan«, protestierte ein junger Bursche, als zwei Soldaten ihn an den Armen packten. Er war kaum älter als Isak, eine Flut dunkelbrauner Haare fiel ihm über die Augen.

»Kein Identitätsnachweis? Das ist ein Verstoß gegen das Gesetz des Herzogs, wie Sie sehr wohl wissen, mein Herr.« Das letzte Wort betonte der Hauptmann höhnisch.

»Ich hatte meine Papiere in der Tasche. Sie müssen herausgefallen …« Als er begriff, was das bedeutete, begann der Junge zu flehen. »Ich kann Ihnen zeigen, wo ich wohne. Sie können meine Eltern fragen! Wir können uns die Auslösegebühr nicht leisten. Bitte!«

»Führt ihn ab!« Der Hauptmann sah nicht einmal hin, als seine Männer den Jungen fortzerrten, der sich wehrte und seine Unschuld beteuerte. Mit fordernd ausgestreckter Hand wandte er sich bereits dem nächsten verängstigten Bürger zu.

Milla schaute an der Frau vorbei. Es waren nur noch vier Leute vor ihnen, ehe die Soldaten sie erreichten. Sie suchte in allen Richtungen nach einem Fluchtweg. Da! Zwischen den Häusern gab es einen winzigen Spalt, der gerade breit genug war, um sich hindurchzuzwängen. Nicht zum ersten Mal pries Milla die ursprünglichen Bewohner von Arcosi, die die Stadt mit einem Netz aus geheimen Schmugglerwegen und versteckten Durchgängen überzogen hatten.

»Hier entlang!« Milla packte Taryas Arm und zerrte sie rückwärts in den Spalt, in dem eine winzige Gasse im Zickzack zu einer steilen steinernen Treppe führte, die man zwischen die Häuser gequetscht hatte. »Wenn wir uns beeilen, können wir der Patrouille ein Schnippchen schlagen und sie auf dem Rückweg umgehen.« Ihre Schritte dröhnten auf den ausgetretenen Stufen und sie erreichten taumelnd den Hafen.

»Da ist er!« Tarya legte noch einen Schritt zu und überholte Milla.

Wie vermutet lehnte Isak an der Hafenbrüstung und ließ den Neuankömmling nicht aus den Augen, der vor ihm vertäut war: ein schlanker Schoner mit zwei Masten, auf dem die Entladearbeiten noch in vollem Gange waren. Möwen schrien und zankten sich um einen ausgekippten Zuber mit Fischabfällen von den Marktständen, die sich im oberen Bereich der Kaianlage entlangzogen.

»Isak, was soll das werden?« Tarya verschwendete keine Zeit mit einer Begrüßung. Als er keine Antwort gab, verwandelte sich ihr Ärger in Sorge. »He, was ist los? Ist alles in Ordnung?«

Isak drehte sich um und musterte seine Schwester von oben bis unten. Die untergehende Sonne spiegelte sich in seinen Augengläsern. »Als was bist du denn verkleidet? Als Kampf-Vogelscheuche? Damit wirst du auf dem Ball des Herzogs ganz sicher alle Aufmerksamkeit auf dich lenken.«

Dutzende Boote lagen hinter Isak in den schützenden Armen der Hafenmauer: die Flotte der Fischer von Arcosi und die höher aufragenden Kaufmannsschiffe. Als Milla über den rechten Arm der Hafenmauer blickte, versank ein letzter heller Sonnenstrahl ebenso schnell im Meer wie eine Münze in einer Tasche. »Die Sonne geht unter. Beeilt euch!«

»Dann hast du es also nicht einfach nur vergessen?«, stellte Tarya fest, die mit beiden Händen ihre Locken durchkämmte und trockene Blätter und Stängel herausschüttelte. »Ich habe nämlich nicht zum Spaß den ganzen Monat damit zugebracht, Tänze zu üben, und dir dabei geholfen, diesen Eid auswendig zu lernen. Und jetzt beeil dich, oder wir kommen zu spät und müssen den Rest unseres kläglichen Lebens bedauern, dass wir den Herzog beleidigt haben.«

»Seit wann ist dir das so wichtig?«, keilte Isak aus. »Was hast du davon? Ich wüsste nicht, dass du dich in letzter Zeit an irgendwelche Regeln gehalten hättest, außer du hattest Lust dazu …«

»Hört auf! Was ist los mit euch?« Milla stellte sich zwischen die Zwillinge. So etwas machten sie sonst nie. Sie traten füreinander ein. Immer. Milla wollte ihnen so gern erzählen, was sie gesehen hatte, aber die beiden waren zu erregt und die Zeit lief ihnen davon. »Seht nur! Die Sonne geht unter. Für so etwas bleibt uns keine Zeit!«

»Ich komme ja«, sagte Isak. »Gut gemacht, ihr kleinen Ziegenhirtinnen …«

Das saß. »Wir hätten es auch lassen können.«

»Tut mir leid«, murmelte Isak, ohne sie anzusehen.

Tarya nahm Isaks Hand. »Bleib einfach dicht hinter mir.« Sie machte auf dem Absatz kehrt und marschierte zurück zur Schmugglertreppe. »Eine Patrouille ist unterwegs hierher, der sollten wir besser nicht in die Arme laufen.«

Als Milla ihnen nacheilte und das Schiff passierte, das gerade angelegt hatte, blieb sie noch einmal stehen. Sie packte einen der Jungen, die Kisten ausluden, am Ärmel: »He, habt ihr einen Passagier mitgebracht?«, fragte sie leise. »Einen alten Mann in einem dunkelblauen Umhang, der eine große seidene Packtasche dabeihatte?«

»Ja, bin froh, dass wir die beiden los sind. Die haben uns Unglück gebracht. Wind aus Osten. Wen wundert’s, haben sich die ganze Fahrt über benommen wie verschreckte Katzen«, murmelte der Junge, als er sich von ihr losmachte.

Die beiden?, wunderte sich Milla. Mit wem war der ermordete Mann gereist? Und wo war diese Person jetzt?

4. Kapitel

Milla lotste die Zwillinge über die Schmugglertreppe nach Hause und scheuchte sie nach oben, damit sie sich umzogen. Nestan marschierte, auf einen geschnitzten und mit einer silbernen Spitze versehenen Gehstock gestützt, vor dem Haupttor auf und ab. Als Milla und die fein gekleideten Zwillinge schließlich auftauchten, fuhr er herum. Richal Finn lehnte in der feierlichen Aufmachung eines Schwertträgers an der Mauer, seine kurzen Haare glänzten nass, als hätte er eben noch den Kopf in den Brunnen getaucht.

»Wo habt ihr gesteckt?«, fragte Nestan leise.

Milla kannte diesen Ton. Niemand antwortete. Alle drei standen regungslos da, umklammerten ihre Masken und versuchten, wieder zu Atem zu kommen.

Nestan nahm sie der Reihe nach prüfend ins Visier. Tarya trug ihr schönstes Kleid aus rosa Seide. Milla hatte ihre blonden Locken mit einem Band aus Glasperlen hastig zu einem hohen Knoten aufgesteckt und ihr die Perlenkette ihrer Mutter umgelegt. Isak stand steif und resigniert da. Er sah gut aus, schien sich in seinem cremefarbenen Seidenhemd und dem vornehmen Anzug aber nicht sehr wohlzufühlen. In der geschlossenen Faust hielt er eine weitere Phiole mit seiner Arznei.

Milla strich ihr purpurfarbenes Kleid glatt. Heute Abend mussten selbst die Dienstmädchen fein herausgeputzt sein, deshalb hatte sie sich eines von Taryas abgelegten Kleidern geliehen. Es war das schönste Kleid, das sie je getragen hatte, ebenso wie die dazugehörigen Schuhe, die ihr nicht ganz passten. Genießerisch strich sie über den seidigen Stoff.

Mit einem vorsichtigen Seitenblick sah sie zu Nestan und betete, dass sie seiner Überprüfung standhalten würden. Isak und Tarya mussten auf dem Ball erscheinen. Milla nicht. Er konnte sie mit einem Fingerschnippen durch Lanys ersetzen.

Das würde Lanys gefallen, die ständig mit Richal Finn flirtete.

»Du siehst gut aus, Tarya«, sagte Nestan schließlich. »Die Perlen stehen dir.«

Isak richtete sich auf, weil er ebenfalls einige anerkennende Worte erwartete.

»Isak? Mach uns dort oben keine Schande.«

Isak sackte vor Enttäuschung zusammen.

»Dein Vertrauen in mich ist wirklich beruhigend«, murmelte er leise.

»Pst«, flüsterte Tarya. »Er hat das nicht so gemeint.«

»Hat sich aber so angehört«, sagte Isak verkniffen. Er sah ganz unglücklich aus, aber Nestan schien es nicht zu bemerken. Er presste stumm die Kiefer zusammen. Neben Nestans üblichem Schwert zeichneten sich unter seinem schönsten Umhang aus mitternachtblauem Samt die schwachen Umrisse einer nicht ganz so üblichen zusätzlichen Klinge ab.

Der Anblick von Nestans zusätzlicher Waffen bescherte Milla abermals ein flaues Gefühl im Magen. Aber wenn er sich entschlossen hatte, die Zwillinge heute Abend nicht zu beunruhigen, und ihnen den Mord verschwieg, dann musste sie mutig genug sein, seinem Beispiel zu folgen.

Wie immer, wenn sie aufgeregt war, flogen ihre Finger zu der goldenen Schmuckmünze an ihrem Hals. Ihrem einzigen wirklichen Besitz.

Sie zeichnete die Kontur des Motivs nach, das in das abgewetzte Metall eingestanzt war: ein fliegender Drache unter einem Vollmond.

»Wir sind spät dran«, sagte Nestan kurz angebunden und wandte sich ab.

Sie hatten bestanden! Milla würde tatsächlich zum Palast mitgehen. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen und verschwand, sobald ihr der tote Mann wieder einfiel. Sie schwor sich, in der Nähe der Zwillinge zu bleiben und auf sie achtzugeben.

»Fertig?« Tarya tänzelte die Stufen hinab, nahm den freien Arm ihres Vaters und drückte ihn, um ihre Atemlosigkeit als Aufregung zu tarnen.

»Ich bin schon eine ganze Weile fertig«, erwiderte er kühl. »Jetzt setzt eure Masken auf und lasst uns gehen!« Nestan bedeutete den Wachen, das Tor zu öffnen.

Es war dunkel und der Mond stand tief über dem Horizont: Fast ebenso rund und voll wie eine Perle war er. In dieser Nacht brauchten sie keine Lampen. Von den ärmsten Behausungen unten am Seewall bis hinauf zum Palast der vier Winde auf dem obersten Hügel von Arcosi brannten Laternen, Fackeln und Lagerfeuer und ließen die ganze Stadt wie eine Geburtstagstorte leuchten. Milla sah auf die lichterfüllten Straßen hinab und fragte sich, wo ihre anderen Freunde in diesem Moment sein mochten. Wahrscheinlich hatten sie sich am Kai versammelt. Thom würde ungeduldig auf der Hafenmauer hocken und auf das Feuerwerk warten. Rosa hatte kleine Gewürzkuchen gebacken und wollte sich für das Straßenfest eine Flasche süßen sartolischen Wein vom Verkaufsstand ihrer Eltern borgen.

Aber Milla war hier und gesellte sich zum Pulk der vornehmsten Familien von Arcosi, die alle in Samt und Seide gekleidet waren, vor Gold und Juwelen nur so strotzten und pailletten- und federbesetzte Masken trugen. Millas Blick schweifte umher, bis ihr von all dem Glitter und Glanz fast schwindlig wurde. Dann zuckte sie zusammen. Ihre Schuhe scheuerten an den Fersen und erinnerten sie daran, dass sie ein Spatz war, der versuchte, sich unter die Pfauen zu mischen.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte Isak, aufmerksam wie immer. »Ist irgendwas passiert?« Er bot Milla seine Hand an und sah freundlich besorgt zu ihr hinab.

Was, wenn sie einfach alles hinausposaunen würde? Jemand ist direkt vor meiner Nase ermordet worden. Ich habe es nicht verhindert und jetzt ist ein Mann tot. Er hat etwas Wertvolles versteckt, aber das habe ich deinem Vater nicht gesagt.

Milla wollte ihn nicht beunruhigen. Er musste gelassen bleiben, um auf dem Ball des Herzogs seine Rolle zu spielen. »Nein«, sagte sie sanft, stützte sich aber zumindest für ein paar Schritte dankbar auf seinen Arm, um nicht länger zu humpeln.

Eine stattliche Norländerin in einem bauschigen roten Satinkleid starrte verblüfft über die Schulter. Ihre Augen wanderten von Millas kurzen schwarzen Locken über die goldbraune Haut und ihr purpurnes Kleid – das nicht mehr der neuesten Mode entsprach, aber immer noch edel aussah – bis hinunter zu ihren geborgten Schuhen.

Milla wusste, dass sie eine merkwürdige Erscheinung abgab, die Außenstehende häufig verwirrte. Als Taryas Gefährtin hatte sie vieles aufgeschnappt: Sie wusste, wie man kämpfte, tanzte und dass man als feine Dame die Vokale elegant in die Länge zog, wie die Norländer es taten. Dennoch würde es immer Leute geben, die sie nach dem ersten Eindruck beurteilten.

Als sie nun den missbilligenden Blick der Frau auf sich spürte, wappnete sie sich gegen den unvermeidlichen Kommentar.

»Lässt der Herzog heute jeden rein?«, fragte die Frau laut. »Ich dachte, es wären nur Norländer geladen?«

Nestan sagte nichts, trat aber absichtlich zwischen Milla und die Frau, um ihr die Sicht zu verstellen.

Mit brennenden Wangen löste sich Milla von Isak und zeigte nach vorn: »Sieh mal! Wir sind da!«

Viele Leute legten angesichts der hohen, glatten Steinmauern, die vor ihnen aufragten, staunend den Kopf in den Nacken und rissen Mund und Augen auf: Aus nächster Nähe wurde der tägliche Anblick zu etwas Majestätischem. Zu zehnt nebeneinander wanderte die Menge durch das prachtvolle, von zwei Wachtürmen flankierte steinerne Eingangstor, das sich als Bogen über ihren Köpfen spannte. Milla sah sich unter den Gästen um, starrte jeden schwarz gekleideten Mann an, fixierte jede schwarz-goldene Maske und verglich sie mit der des Angreifers aus dem Garten. Doch es war hoffnungslos. Es gab zu viele. Sie würde niemals die richtige wiedererkennen; wahrscheinlich hatte er seine Kleider ohnehin längst gewechselt. Trotzdem konnte sie ihre Unruhe nicht abschütteln, solange sie wusste, dass sich ein Mörder unter ihnen befand.

Auf dem Palastgelände wurden aufgeregte Stimmen laut, wie das Gezwitscher von tausend Starenvögeln.

»Los, kommt, ihr zwei. Ist das nicht wunderschön?« Tarya nahm sie an den Händen und zog sie über die breiten Wege, die von akkurat beschnittenen und mit Öllampen behängten Linden gesäumt wurden. Sie durchschritten von Jasmin umrankte Laubengänge inmitten prunkvoller Rosengärten, welche die laue Nacht mit ihrem Duft erfüllten.

»Oh, seht nur!« Milla zeigte auf den Palast und vergaß für einen Moment ihre Wachsamkeit. Von Lichterketten erhellt, die aussahen wie vom Himmel gefallene Sterne, wirkte der Palast der vier Winde schöner, als sie es sich je vorgestellt hatte.

Das Hauptgebäude wurde von steinernen Bögen getragen, die an den Brustkorb eines riesigen Tieres erinnerten. An jeder Ecke ragte ein hoher Turm empor, von denen einer nach Norden, einer nach Osten, einer nach Süden und einer nach Westen zeigte. Sie reichten bis hoch in den Nachthimmel und verströmten aus Dutzenden Fenstern ihr Licht. Auf dem gefliesten Hof, bis hin zu den Stufen des Palasts, prangte das Mosaik eines gewaltigen schwarzen Feuer speienden Drachen.

Milla blieb stehen. Sie konnte kaum glauben, dass sie wirklich hier war. Bilder von Drachen fanden sich in Arcosi überall – auf dem Türsturz fast jedes einzelnen Hauses –, doch in dieser Größe hatte sie noch keines gesehen.

Die Menge wurde in das Gebäude neben dem Palast gelenkt.

»Das muss die Drachenhalle der alten Könige sein!«, flüsterte Isak, während sie Nestan und Finn durch die riesige Flügeltür folgten. Als Isak zu dem mit Mosaikfliesen dekorierten Deckengewölbe hinaufstarrte, zog er die Nase kraus, damit seine Augengläser nicht herunterfielen.

»Du meinst, eine Art Stall, aber für Drachen?«, fragte Tarya, die sich staunend umsah.

»Der schönste Stall, den ich je gesehen habe«, sagte Milla, deren Blick von den verblassten alten Wandgemälden und -teppichen angezogen wurde, die an den geschwungenen Wänden hingen. »Seht mal!« Sie zeigte auf den Wandbehang, der ihnen am nächsten war: ein fliegender Drache mit einer Reiterin auf dem Rücken, deren lange schwarze Haare wehten.

»Das ist eine Frau!«, sagte Tarya triumphierend. »Sieht aus, als hätten sie nicht alles verkehrt gemacht, wer immer sie auch waren …«

»Das sind nur Legenden …« Isak klang skeptisch.

»Es gab sie wirklich. Sie haben genau hier gelebt, in unserer Stadt.« Milla kannte die alten Lieder und Legenden, und sie hatte die Nistplätze der Drachen gesehen, die in die bröckelnden Mauern des alten Hauptplatzes eingelassen waren, aber das hier war etwas anderes, es war ein anschaulicher Beweis. Zum hundertsten Mal wünschte sie sich, früher gelebt zu haben, zur Zeit der Drachen.

Sie sah sich um und versuchte sich vorzustellen, wie es wohl gewesen war, als hier echte Drachen lebten, doch die Drachenhalle war in einen Ballsaal verwandelt worden. Dutzende im Raum verteilte Feuerschalen spendeten Wärme, Lilien in hohen Kristallvasen verströmten ihren Duft, und an einer Längsseite des Raums reihten sich zahllose Tische aneinander, die mit köstlich duftenden Speisen beladen waren. Es gab gebratenes Lamm, glänzend schwarze Oliven, deftige Getreidesalate, die mit Granatapfelkernen, Koriander und Rosinen garniert waren, geräucherten Fisch, warme Brotlaibe frisch aus dem Ofen und Millas Lieblingsessen: gebackene Pfirsiche, aus denen noch der Saft herausquoll. Milla lief das Wasser im Mund zusammen, was ihr in Erinnerung rief, wie lange sie schon nichts mehr gegessen hatte.

In diesem Moment ertönte eine Fanfare und ein Herold rief: »Macht Platz für Seine Gnaden, Herzog Olwar Refarson!«

Zuerst kam Reihe um Reihe die Leibgarde, alle in der schwarzen Festlivree des Herzogs. Das dunkle Dröhnen der stampfenden Stiefel übertönte Millas Gedanken. Sie schwankte und griff Halt suchend nach Taryas Hand.

Die Leibgarde stand stramm und bildete eine Gasse. Alle drehten sich erwartungsvoll um.

Milla wollte endlich den Herzog sehen, von dem sie so viel gehört hatte, und blinzelte den Schwindel fort.

Drei Menschen durchschritten das Spalier der Garde und zogen alle Blicke auf sich: der Herzog, die Herzogin und ihr Sohn.

Die drahtigen weißblonden Haare des Herzogs standen ihm wie eine Krone zu Berge und ließen ihn noch größer wirken. Er lächelte und die Menge seufzte. Die Augen des Herzogs waren vom blassesten Blau, das Milla je gesehen hatte, sein Gesicht war faltig, aber immer noch attraktiv.

Die drei bestiegen ein kleines Podest, das von goldenen Seilen begrenzt und von brennenden Messingfackeln erhellt wurde.

»Willkommen zu meinem fünfzigsten Jubliläum.« Herzog Olwar schien im Lichtkreis der Fackeln golden zu leuchten. Er nickte in die Menge hinab, als wären die Menschen dort alle seine Kinder und nicht nur der hoch aufgeschossene dunkelhaarige junge Mann an seiner Seite.

»Das ist bestimmt sein Sohn Vigo«, flüsterte Tarya Milla hinter vorgehaltener Hand zu.

»Findest du ihn auch so gut aussehend, wie alle behaupten?«, fragte Milla sie neckend. Diese Menschen mit eigenen Augen zu sehen, gab ihr das Gefühl, in ein Märchen oder einen Traum hineinspaziert zu sein.

»Weiß ich noch nicht«, sagte Tarya zögernd.

»Hmm, das würde ich schon sagen«, meldete sich Isak neben ihr zu Wort, als handele es sich um eine knifflige Mathematikaufgabe, die gelöst werden wollte.

Als hätte er sie gehört, fiel Vigos neugieriger Blick auf die Zwillinge.

Tarya und Isak steckten die Köpfe zusammen und kicherten, bis Nestan sie streng ermahnte.

Als Vigos Mutter das Kichern hörte, lächelte sie freundlich zu ihnen hinab. Herzogin Serina war beliebt in der Unterstadt. Alle wussten, dass sie ihr eigenes Vermögen besaß, mit dem sie überall in der Stadt Heilende und Hebammen bezahlte. Es wurde sogar erzählt, dass sie Kranke selbst behandelte. Die tanzenden Lichter fielen auf ihre aufgedrehten, tiefschwarzen Zöpfe und die weiße Lilie hinter ihrem Ohr. In ihrem orangefarbenen Kleid war Serina ein leuchtender Farbfleck in einem Meer aus schwarzen Uniformen.

Der Herold trat vor und räusperte sich nervös. »Zu Ehren seines fünfzigsten Geburtstags wird Seine Gnaden vom heutigen Tag an den Namen Erster Drachenfürst von Arcosi tragen«, verkündete er.

»Drachenfürst?«

»Hat er Drachen gesagt?«

Die Versammelten summten wie ein Bienenschwarm.

Milla grub die Fingernägel in ihre feuchten Handflächen, um gegen die Hitze und das betäubende Hungergefühl anzukämpfen, das sie plötzlich überkam. Doch es war zu spät. Die Welt verschwamm vor ihren Augen zu einem Ozean aus bunten Punkten. Sie griff nach Taryas Hand, als wäre sie am Ertrinken.

5. Kapitel

»Milla! Was ist mit dir?« Tarya stützte sie. »Ist dir nicht gut?«

Sie durfte nicht in Ohnmacht fallen, nicht auf dem Ball des Herzogs. Sie war hier, um Tarya zu helfen, und nicht umgekehrt. Milla kämpfte gegen den Schwindel an, beugte sich vor und schüttelte den Kopf, um den Nebel zu vertreiben. »Alles in Ordnung«, flüsterte sie. »Mir ist nur zu heiß.« Ihr Gesicht und ihr Nacken fühlten sich klamm an, ihr purpurnes Kleid schwer und feucht. Sie atmete in tiefen Zügen und zwang sich, den Worten des Herzogs zu lauschen.

»Heute ist nicht nur mein Geburtstag«, sagte dieser. »Wir feiern heute Abend auch fünfzig Jahre in Arcosi. So lange ist es her, seit unsere Ahnen und Urahnen Hunger und Seuchen in den Norlanden entflohen und wohlbehalten diese Gestade erreichten. Fünfzig Jahre, seit unsere Gebete erhört wurden und wir Arcosi fanden, das auf uns wartete: unsere Zuflucht, leer wie eine verlassene Muschel, die auf ihren Einsiedlerkrebs wartet …«

Sie alle kannten diese Geschichte: das Märchen von Arcosi.

Tarya wandte sich zu Milla. »Ich wette, den interessanten Teil lässt er aus … den, wie seine Familie im Palast gelandet ist!«

»Psst!«, sagte Milla, die sich hastig umsah, ob das jemand mitbekommen hatte. Das war Unterstadtgerede, die Sorte, für die man verhaftet werden konnte. Alle wussten, dass sich auf den ramponierten, windgepeitschten Schiffen vor fünfzig Jahren keine Adligen befunden hatten. Herzog Olwars Vorfahren waren schlicht und einfach jene gewesen, die den Mund am weitesten aufgemacht, am härtesten gekämpft und sich den schönsten Teil der verlassenen Inselstadt unter den Nagel gerissen hatten.

»Warum? Es weiß doch jeder, dass er im Gegensatz zu seiner Frau kein echter Adliger ist«, zischte Tarya zurück. »Sie musste ihn bloß heiraten, um den Frieden zu besiegeln.«

»Nicht jetzt. Und nicht hier …«, fauchte Isak seiner Schwester mit zusammengebissenen Zähnen zu. »Die Wachen schauen schon!«

»Warum?«, wiederholte Tarya. »Das ist die Wahrheit!«

Wieder drückte Milla ihre Hand und hoffte, dass sie die Botschaft verstand. Es war ein schmaler Grat zwischen Furchtlosigkeit und Leichtsinn, und sie war es gewohnt, dass Tarya sich darüber hinwegsetzte, aber heute Abend stand zu viel auf dem Spiel.

Nestan drehte sich um und funkelte die Zwillinge an. Wie ein Habicht sah er aus mit seiner dunklen Maske.

»Wir haben die alte Stadt wieder mit Leben gefüllt«, erklärte der Herzog gerade. »Und unsere Bemühungen stehen unter einem guten Stern. Unsere Schiffe werden mehr und unser Wohlstand nimmt zu. Unsere Kinder wachsen ohne Furcht auf.«

Manche vielleicht. Milla fühlte sich unbehaglich, diesem goldenen Herzog in Gedanken zu widersprechen. Tarya unterdrückte ein Gähnen.

»Zu Ehren dieses Tages – meines Geburtstags und der Ankunft unserer Vorfahren – mache ich mir das Symbol von Arcosi, der Geburtsstätte der Drachen, zu eigen.«

Bei diesem magischen Wort wurde es totenstill. Milla hielt den Atem an.

»Ich mache dieses stolze Bildnis von Arcosis Vergangenheit zu meinem Wappen. Die Drachen sind tot, auf rätselhafte Weise verschollen, genau wie die früheren Bewohner dieses Ortes …« Die Stadt war zwar voller Bilder der verschollenen Drachen: auf Schnitzereien und Statuen. Aber nicht eine dieser verwitterten Gravuren lieferte einen Hinweis darauf, wohin sie verschwunden waren.

»Wir gedenken ihrer. Wir ehren sie.« Der Herzog machte ein bekümmertes Gesicht. »Doch jetzt sind wir die Kinder dieser Stadt.« Seine Miene hellte sich auf. »Wir sind die Kinder der Drachen. Und ich bin der Drachenfürst.«