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Iwan Sergejewitsch Turgenews "Aufzeichnungen eines Jägers" ist eine Sammlung von erzählerischen Skizzen, die das ländliche Russland des 19. Jahrhunderts lebendig werden lassen. In einem eindrucksvollen literarischen Stil verbinden sich hier Naturbeschreibungen mit tiefgreifenden Charakterstudien, die sowohl von der Schönheit als auch von der sozialen Misere der russischen Gesellschaft geprägt sind. Turgenew gelingt es, durch den scheinbar simplen Alltag der Landbewohner nicht nur deren Herausforderungen, sondern auch ihre Träume und Sehnsüchte authentisch widerzuspiegeln. Die originelle Erzählweise, gepaart mit einer melancholischen Reflexion über die Menschlichkeit, positioniert das Werk im Kontext des Realismus und des 19. Jahrhundert, wo es als eines der einflussreichsten Zeugnisse der russischen Literatur gilt. Iwan Sergejewitsch Turgenew wurde 1818 in eine wohlhabende Familie geboren und verbrachte seine Kindheit im ländlichen Russland. Seine Erlebnisse und Beobachtungen als Freizeitjäger und seine kritische Auseinandersetzung mit den sozialen Strukturen des Zarenreiches prägten maßgeblich seine literarische Stimme. Durch seine europäische Bildung und seine Reisen durch Westeuropa erlangte er zudem eine breite Perspektive, die es ihm ermöglichte, die komplexen Dynamiken zwischen Mensch und Natur sowie die gesellschaftlichen Spannungen in Russland tiefgehend zu analysieren und zu verarbeiten. "Aufzeichnungen eines Jägers" ist nicht nur ein eindrucksvolles Zeugnis der russischen Seele, sondern auch eine Einladung an den Leser, in die vielfältigen Facetten einer oft übersehenen Landkultur einzutauchen. Turgenews Schilderungen regen zum Nachdenken über die menschliche Existenz und die eigene Verbindung zur Natur an. Dieses Buch ist für jeden Leser, der sich für die Wechselwirkungen zwischen Kultur, Natur und Gesellschaft interessiert, von unschätzbarem Wert. In dieser bereicherten Ausgabe haben wir mit großer Sorgfalt zusätzlichen Mehrwert für Ihr Leseerlebnis geschaffen: - Eine prägnante Einführung verortet die zeitlose Anziehungskraft und Themen des Werkes. - Die Synopsis skizziert die Haupthandlung und hebt wichtige Entwicklungen hervor, ohne entscheidende Wendungen zu verraten. - Ein ausführlicher historischer Kontext versetzt Sie in die Ereignisse und Einflüsse der Epoche, die das Schreiben geprägt haben. - Eine Autorenbiografie beleuchtet wichtige Stationen im Leben des Autors und vermittelt die persönlichen Einsichten hinter dem Text. - Eine gründliche Analyse seziert Symbole, Motive und Charakterentwicklungen, um tiefere Bedeutungen offenzulegen. - Reflexionsfragen laden Sie dazu ein, sich persönlich mit den Botschaften des Werkes auseinanderzusetzen und sie mit dem modernen Leben in Verbindung zu bringen. - Sorgfältig ausgewählte unvergessliche Zitate heben Momente literarischer Brillanz hervor.
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Veröffentlichungsjahr: 2023
Diese Werksammlung präsentiert Iwan Sergejewitsch Turgenews Aufzeichnungen eines Jägers als zusammenhängenden Zyklus von Prosastücken aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. Der Band vereint die vollständig überlieferten Skizzen in einer Folge, die den Blick eines reisenden Beobachters bündelt und so ein Panorama des ländlichen Russlands eröffnet. Ziel dieser Ausgabe ist es, die Vielfalt der Texte zu bewahren und zugleich ihre innere Einheit sichtbar zu machen: nicht als Roman mit fortlaufender Handlung, sondern als Folge eigenständiger Beobachtungen, deren Resonanzen sich über die Gesamtheit hinweg vertiefen und eine charakteristische Stimme der europäischen Erzählliteratur hörbar werden lassen.
Im Kern handelt es sich um Erzählungen und Skizzen, die Nähe zu Reisebildern, Milieustudien, Porträts und gelegentlich essayistischen Passagen gewinnen. Die Texte stehen für sich, teilen aber Tonfall, Perspektive und Erfahrungsraum. Der Ich-Erzähler ist ein Jäger und Wanderer, der Landschaften durchstreift, Gespräche führt, Menschen begegnet und Beobachtungen notiert. Diese Form bietet Raum für präzise Momentaufnahmen, für atmosphärische Szenen und für verdichtete Einsichten, ohne die Offenheit und Beweglichkeit einzubüßen, die das Genre der Skizze seit jeher auszeichnet.
Der Rahmen ist einfach und wirkungsvoll: Ein Jäger, unterwegs auf Wegen, die Wald und Steppe kreuzen, tritt in Kontakt mit Bauern, Gutsbesitzern, Verwaltern, Jägerknechten, Handwerkern und Reisenden. Aus alltäglichen Situationen entstehen kleine Welten, in denen Sprache, Gestik und Umgebung miteinander korrespondieren. Nicht das Außergewöhnliche ist leitend, sondern das genau Gesehene. Die Sammlung bewahrt die Ausgangssituation jeder Skizze, verschließt aber das Weitere, um dem Leser die eigene Entdeckung zu ermöglichen. So entsteht eine Literatur des Hinsehens, getragen von Nähe ohne Vereinnahmung und von Distanz ohne Kälte.
Stilistisch verbindet Turgenew realistische Genauigkeit mit lyrischer Empfindung. Die Naturbeschreibung besitzt eine Eigenkraft, die Stimmungen trägt und Figuren konturiert, während Dialoge soziale Positionen, Bildung, Herkunft und Temperamente hörbar machen. Ironie erscheint zurückhaltend und dient dem Freilegen von Haltungen, nicht dem Spott. Charaktere werden nicht durch plötzliche Enthüllungen, sondern durch leise Verschiebungen sichtbar: ein Blick, eine Wendung im Gespräch, eine Geste vor wechselndem Licht. Der Satzfluss bleibt ruhig und klar, die Bilder präzise; so entsteht eine Prosa, die die Zeit überdauert.
Die Figuren entfalten sich im Gespräch und in der Beobachtung. Wiederkehrende Gestalten und Motive knüpfen Fäden zwischen den Skizzen, ohne eine feste Fabel zu bilden. Der Jäger als Ich-Erzähler ist weniger Held als Medium: Er hört zu, stellt Fragen, begleitet, wartet, schweigt und lässt sprechen. Aus dieser Haltung erwächst eine Ethik der Darstellung, die dem Einzelnen Geltung verschafft und dabei soziale Ordnungen nicht verschweigt. Die Vielgestaltigkeit der Stimmen – dialektal, gebildet, schroff, zurückhaltend – verleiht den Texten eine akustische Tiefe, die über den Augenblick hinausweist.
Die vorliegende Zusammenstellung reicht von Chorj und Kalinytsch und Jermolai und die Müllerin über Das Himbeerwasser, Mein Nachbar Radilow und Der Einhöfer Owsjanikow bis zu Lgow und Die Bjeschin-Wiese. Sie umfasst Kassjan aus Krassiwaja-Metsch, Burmistr, Das Kontor und Der Birjuk ebenso wie Zwei Gutsbesitzer, Lebedjanj, Tatjana Borissowna und ihr Neffe und Der Tod. Hinzu treten Die Sänger, Pjotr Petrowitsch Karatajew, Das Stelldichein, Der Hamlet des Schtschigrowschen Kreises, Tschertopchanow und Nedopjuskin, Das Ende Tschertopchanows, Die lebendige Reliquie, Es klopft! sowie der Epilog Wald und Steppe.
Natur ist in diesen Texten kein bloßer Hintergrund, sondern Akteur und Resonanzraum. Wälder, Wiesen, Sümpfe, Flüsse und die weite Steppe modellieren Wahrnehmung, Arbeit und Ruhe, und sie strukturieren die Zeit des Erzählens. Tages- und Jahreszeiten, Nebel, Wind und Nacht schaffen atmosphärische Übergänge, in denen Gesichter und Stimmen anders erscheinen. Eine Wiese, ein Waldsaum, ein Feldweg bilden dabei oft den Ort, an dem die Grenzen zwischen Beobachtung und Erinnerung, Gegenwart und Andeutung durchlässig werden. So gewinnt die Beschreibung des Raums die Kraft, innere Zustände zu spiegeln.
Die soziale Beobachtung richtet sich auf Lebensbedingungen, Verhältnisse der Arbeit, Sitten und Umgangsformen, ohne in eine Programmschrift zu kippen. Gutsverwaltung, dörfliche Selbstorganisation, Handelsorte, Amtsräume und Festanlässe werden sichtbar und in ihren Spannungen ausgeleuchtet. Titel wie Burmistr, Das Kontor, Lebedjanj oder Die Sänger markieren unterschiedliche Ausschnitte aus einem größeren Bild. Indem die Skizzen auf Einzelfälle fokussieren, legen sie Strukturen frei: Macht und Abhängigkeit, Gewohnheit und Wandel, Bildung und Unwissen, Stolz und Verwundbarkeit.
In der Komposition verbinden sich das Momenthafte und das Nachhaltige. Viele Skizzen erschienen zunächst einzeln in periodischen Publikationszusammenhängen und wurden später zum Zyklus gefügt. Diese Entstehungsweise erklärt die Eigenständigkeit der Stücke ebenso wie ihre innere Verklammerung. Motive, Landschaften und Namen kehren wieder, Perspektiven verschieben sich, Erzählweisen variieren, und dennoch bleibt der Ton erkennbar. Die Sammlung ermutigt daher zu zwei Lektüren: zur einzelnen Skizze als abgeschlossener Miniatur und zum Ganzen als sich verdichtender Erfahrungsraum.
Die anhaltende Bedeutung der Aufzeichnungen eines Jägers liegt in ihrer Verbindung von künstlerischer Form und sozialer Aufmerksamkeit. Die Texte haben die Entwicklung der realistischen Prosa maßgeblich mitgeprägt und die Wahrnehmung ländlicher Lebenswelten im 19. Jahrhundert erweitert. Sie trugen zu Diskussionen über die Bedingungen auf dem Land und über Formen des menschlichen Zusammenlebens bei, ohne den literarischen Anspruch zu mindern. Bis heute sind sie ein Maßstab für erzählerische Genauigkeit, für die ethische Kraft des Hinschauens und für die Sensibilität gegenüber Sprache, Milieu und Natur.
Die vorliegende Anordnung folgt der Logik eines wachsenden Panoramas: Früh stehen Begegnungen und charakteristische Paare, sodann erweitern sich Räume, Berufe, Orte und Stimmungen, bevor mit Wald und Steppe ein epilogischer Blick die Landschaft als verbindendes Element hervorhebt. Jede Skizze bleibt für sich verständlich; zugleich entstehen, liest man vorwärts oder quer, Querbezüge. Diese Offenheit ist Programm: Der Band lädt zu unterschiedlichen Lektüregängen ein, zu konzentriertem Lesen einzelner Texte ebenso wie zum Durchlauf, der Atem, Ton und Rhythmus des Zyklus erfahrbar macht.
Wer diese Sammlung aufschlägt, begegnet einer Prosa, die ihren Gegenständen Zeit lässt. Sie bietet keine Sensation, sondern Genauigkeit; keine Thesen, sondern Formen der Aufmerksamkeit. Darin liegt ihr Reiz und ihre Dauer. Der Jäger als Erzähler scheint zu verschwinden und schafft gerade dadurch Raum für Welt. Indem der Band die Skizzen vollständig und in ihrer charakteristischen Vielfalt vereint, macht er das Werk als Ganzes sichtbar: als literarische Schule des Sehens, als Dokument seiner Epoche und als Einladung, im Einzelnen das Allgemeine zu entdecken und im Vorübergehenden das Bleibende.
Iwan Sergejewitsch Turgenew (1818–1883) gehört zu den prägenden Autoren des russischen Realismus im 19. Jahrhundert. Seine Prosa verbindet genaue Beobachtung des Landlebens, psychologische Feinzeichnung und diskrete Gesellschaftskritik. Früh begründete er seinen Rang mit einem Zyklus von Landschafts- und Figurenstudien, der in der hier versammelten Sammlung gipfelt. Diese Prosastücke öffneten europäischen Lesern einen neuartigen Blick auf die russische Provinz und gaben zugleich Debatten im Zarenreich über Ordnung, Freiheit und Verantwortung Nahrung. Turgenew galt als Brückenbauer zwischen russischer Tradition und westeuropäischer Moderne: ein stilistisch maßvoller Humanist, der Empathie mit formaler Disziplin und philosophischer Skepsis verband.
Er erhielt eine breite Bildung an den Universitäten von Moskau und Sankt Petersburg und setzte sein Studium in Berlin fort. Dort prägten ihn die deutsche Philosophie, insbesondere der Hegelianismus, sowie die historisch-philologischen Methoden des Unterrichts. In Petersburg stand er in engem geistigem Austausch mit dem Kritiker Wissarion Belinski, dessen Forderung nach gesellschaftswachsender Literatur Turgenews Richtung bestätigte. Der junge Autor näherte sich den sogenannten Westlern an, deren Rationalismus und Reformoptimismus er mit eigener Skepsis modulierte. Aus dieser Mischung entstand sein Verfahren: präzise Anschauung, gedämpfte Ironie, dialogische Charakterzeichnung und ein Erzähler, der Beobachtung vor Urteil stellt.
In den späten 1840er Jahren begann Turgenew jene ländlichen Skizzen zu veröffentlichen, die sein Ansehen begründeten und in dieser Sammlung geschlossen vorliegen. Gleich die frühen Stücke wie Chorj und Kalinytsch, Jermolai und die Müllerin, Mein Nachbar Radilow oder Der Einhöfer Owsjanikow zeigen das Programm: eine gebildete Beobachterfigur, Begegnungen auf Wegen, Feldern und in Gutshäusern, und eine Sprache, die auf nüchterne Genauigkeit setzt, ohne poetische Anmutung zu verlieren. Figuren aus verschiedenen Ständen treten einander gegenüber; kleine Konflikte, zufällige Gespräche und Landschaftseindrücke offenbaren Strukturen, die das Land prägen, ohne daß der Erzähler agitierend auftritt.
Besonders eindrucksvoll sind Turgenews Naturschilderungen, die niemals bloße Kulisse sind. In Die Bjeschin-Wiese oder Lgow wird der Raum zu einer eigenen, sinnlich vibrierenden Instanz, die Stimmung und Erkenntnis trägt. Lebedjanj verbindet Marktszene und Charakterstudie. Das Himbeerwasser oder Das Kontor verbinden Topographie, Arbeitsrhythmus und soziale Lage zu stillen Parabeln. Die Erzählweise bleibt episodisch, doch die Detailgenauigkeit schafft eine dichte Gegenwart. Tiere, Wetter, Pflanzennamen und Geräusche strukturieren das Wahrnehmen, während Dialoge die Figuren in ihrer Würde zeigen. So entsteht eine poetische Ethnographie der Provinz, die den Leser führt, ohne ihn zu belehren, und gerade dadurch moralische Aufmerksamkeit weckt.
Die Sammlung artikuliert leise, aber vernehmbare Kritik an der Leibeigenschaft und ihren Folgen. In Der Birjuk, Burmistr oder Zwei Gutsbesitzer treten Autorität, Abhängigkeit und Gewohnheitsrecht in alltäglichen Situationen zutage. Kassjan aus Krassiwaja-Metsch zeigt eine eigenwillige, geistig reiche Gestalt aus dem Volk, die gängigen Klischees widerspricht. Zeitgenossen erkannten in diesen Stücken eine humane, reformorientierte Stimme, die den öffentlichen Diskurs mitprägte. Turgenew ging es weniger um Programmatik als um Anschauung; doch die Wirkung war politisch spürbar. Konflikte mit der Zensur und zeitweilige Restriktionen begleiteten die Rezeption, ohne den nachhaltigen Einfluss der Skizzen zu mindern.
Mit fortschreitender Arbeit weitete Turgenew Form und Ton. Die Sänger verbindet Dorfgeselligkeit mit Kunstreflexion, während Der Hamlet des Schtschigrowschen Kreises einen ironisch introspektiven Typus porträtiert. Tatjana Borissowna und ihr Neffe und Pjotr Petrowitsch Karatajew arbeiten an der Psychologie der Gutsgesellschaft; Jermolai und die Müllerin oder Das Stelldichein erkunden Grenzbereiche von Gefühl, Zufall und Konvention. In Tschertopchanow und Nedopjuskin und Das Ende Tschertopchanows variiert er Motive des Aufstiegs und Verfalls, ohne zur Fabel zu verhärten. Späte Stücke wie Die lebendige Reliquie, Der Tod oder Es klopft! vertiefen die existentielle Dimension. Epilog: Wald und Steppe rahmt Beobachtung und Erinnerung.
Seit den 1850er Jahren verbrachte Turgenew lange Aufenthalte in Westeuropa, besonders in Deutschland und Frankreich, und stand mit bedeutenden Autorinnen und Autoren in Verbindung. So vermittelte er zwischen literarischen Öffentlichkeiten und verteidigte einen kosmopolitischen, dialogischen Begriff von Kultur. In seinen späten Jahren konsolidierte er Stil und Haltung, ohne seine Skepsis gegenüber Dogmatismus zu verlieren. 1883 starb er in Frankreich. Die hier versammelten Skizzen bleiben ein Schlüssel zu seinem Werk: Sie zeigen die russische Landschaft als moralischen Resonanzraum und begründen eine Form des realistischen Erzählens, deren Takt, Milde und Genauigkeit bis heute nachwirken.
Iwan Sergejewitsch Turgenew verfasste die Aufzeichnungen eines Jägers vor allem zwischen 1847 und den frühen 1850er Jahren. Die Skizzen entstanden in einer Epoche, die vom Spätabsolutismus unter Nikolaus I., vom Fortbestand der Leibeigenschaft und von enger Zensur geprägt war. Der Erzähler ist ein adliger Jäger in den zentralrussischen Gouvernements, deren Wälder, Wiesen und Flüsse den Schauplatz bilden. Die Sammlung porträtiert Landbevölkerung und Gutsbesitzer, ohne auf dramatische Handlung angewiesen zu sein. Titel wie Chorj und Kalinytsch, Jermolai und die Müllerin oder Die Bjeschin-Wiese verankern die Texte konkret im ländlichen Alltag und verknüpfen individuelle Lebenswelten mit den Machtverhältnissen der Zeit.
Politisch rahmt die Periode der Strenge der 1830er und 1840er Jahre die Entstehung des Werks. Das Regime stützte sich auf den Staatsapparat, die Geheimpolizei und eine vorbeugende Zensur. Leibeigenschaft blieb der Grundpfeiler vieler Gutswirtschaften, mit Arbeitsdiensten und Abgaben, Reisebeschränkungen und der Gerichtsbarkeit des Grundherrn über Leibeigene. In diesem Setting sind Gestalten wie der Förster im Birjuk oder der Gutsverwalter im Burmistr nicht nur Figuren, sondern Ausdruck eines rechtlich abgesicherten Systems. Die Skizzen reagieren auf diese Ordnung, indem sie nicht agitieren, sondern zeigen, wie sie konkrete Beziehungen, Konflikte und Zwänge formt.
Intellektuell war Russland von Debatten zwischen Westlern und Slawophilen geprägt. Turgenew, durch Studien in Moskau, Petersburg und Berlin mit europäischem Denken vertraut, neigte zu westlich-liberalen Reformideen, zugleich aber sensibel für russische Sprache, Sitte und Dorfkultur. Diese Spannung prägt den Ton vieler Skizzen: Bewunderung für Volkskraft und Gesangskultur trifft auf Kritik an institutioneller Rückständigkeit. In Kassjan aus Krassiwaja-Metsch oder Zwei Gutsbesitzer erscheinen Volksfrömmigkeit, eigensinnige Individualität und adlige Provinzialität nebeneinander. Die Sammlung wird so zu einem literarischen Forum, das Bedürfnisse nach rechtlicher und sozialer Erneuerung aus der konkreten Provinzerfahrung heraus plausibel macht.
Literarisch schließt das Werk an die Natural School und den sich formierenden kritischen Realismus an. Zentral war die Forderung nach Pravda žizni, der Wahrheit des Lebens, die Vissarion Belinski programmatisch erhob und Turgenew früh ermutigte. Statt idealisierender Typen liefert Turgenew Beobachtungsprosa, die Umwelt, Redeweisen und Handwerke notiert. Die Form der Skizze – wie in Mein Nachbar Radilow oder Der Einhöfer Owsjanikow – erlaubt Momentaufnahmen und sozial-ethnografische Details, die die Ideendiskussion mit Konkretem unterfüttern. Publikationsorte waren führende Journale wie Sovremennik, deren feuilletonistische Offenheit und Reichweite den Texten eine Resonanz im gebildeten urbanen Publikum verschaffte.
Die Figur des Jagenderzählers ist historisch funktional. Die Jagd war ein aristokratisches Freizeitritual, zugleich aber ein sozialer Passierschein durch Feuchtwiesen, Forste, Vorwerke und Mühlen. So werden Begegnungen mit Bauern, Kleinadeligen, Verwaltern, Fuhrleuten oder Sängern plausibel, ohne die Hierarchien zu leugnen, die sie strukturieren. Landschaften des Gouvernements Orjol, Kursk und Tambow bilden die topografische Matrix. Lgow, Lebedjanj und die Bjeschin-Wiese verweisen auf reale Orte und Biotope der Mitte Russlands. Das Terrain ist nicht bloß Kulisse, sondern stabiler Rahmen einer Gesellschaft, deren Mobilität, Bildungschancen und rechtliche Handlungsspielräume stark ungleich verteilt blieben.
Ökonomisch arbeitete ein Großteil der Güter mit Frondiensten oder Geldpacht, organisiert durch Gutsbeamte. Der Burmistr, häufig ein privilegierter Leibeigener, bündelte lokale Macht und vermittelte die Anordnungen des Herrn. Das Kontor steht für buchhalterische Rationalität, die sich mit Willkür mischt. Solche Funktionsfiguren spiegeln ein Übergangsstadium zwischen älteren Herrschaftsformen und sich ankündigenden Reformen. Die Skizzen zeigen, wie Ernte, Forst, Pferdehandel und Kleinhandwerk im Spannungsfeld von Naturzyklen und Herrschaftsritualen funktionieren. Zugleich lassen sie erkennen, wie intransparente Verwaltung, Korruption und Gewalt den Alltag strukturieren, ohne in polemische Abrechnung zu verfallen.
Ein zentrales Moment ist die Individualisierung bäuerlicher Stimmen. Statt der anonymen Masse treten unverwechselbare Charaktere auf, deren Erfahrungen, Dialekte und Würde sichtbar werden. Chorj und Kalinytsch kontrastiert Lebensentwürfe innerhalb derselben Rechtslage; Der Birjuk zeigt Pflichttreue und Härte als existenzielle Haltung, nicht als bloßen Typus. Solche Porträts hatten eine diskursive Wirkung: Sie stützten die These, dass die Leibeigenschaft nicht wegen ökonomischer Ineffizienz allein, sondern wegen ihrer Entwürdigung des Menschen problematisch sei. Damit arbeiteten die Skizzen an einer moralischen Sensibilisierung, die politische Forderungen der Reformbewegung vorbereitete.
Die Sammlung ist auch ein Archiv mündlicher Kultur. Erzählungen am Feuer, Aberglaube, Liedgut und Wirtshauskunst treten hervor. In Die Sänger wird Kunst als Fähigkeit einer dörflichen Gemeinschaft ernst genommen, nicht als bloßes Spektakel. Die Bjeschin-Wiese bewahrt Kindersprache, Furcht- und Heldenerzählungen, die im Schatten der Nacht eine eigene Logik entfalten. Historisch markiert dies das wachsende Interesse der gebildeten Elite an Volkskunde, das in den 1840er Jahren zunimmt. Die Texte halten eine Kultur fest, die bald durch Schulpflicht, Wehrreformen, Marktintegration und Migration überformt werden sollte, ohne ihren Eigenwert zu verlieren.
Handel und Verkehr bilden eine weitere Zeitschicht. Lebedjanj knüpft an die Bedeutung von Jahrmärkten im russischen Binnenhandel an, in denen Pferde, Leinwand, Pelze oder Metallwaren zirkulierten. Lgow erinnert an Knoten ländlicher Wege und Flussübergänge. Als 1851 die Eisenbahn zwischen Petersburg und Moskau eröffnet wurde und in den 1850er und 1860er Jahren weitere Strecken entstanden, veränderten sich Reichweite und Tempo der Mobilität. Die Skizzen dokumentieren die Welt kurz vor dieser Beschleunigung: Wege sind holprig, Nachrichten langsam, Kontakte lokal. Gerade diese Langsamkeit macht soziale Nähe, Kontrolle und Gerüchte zu wirksamen Kräften.
Familien- und Geschlechterordnungen erscheinen, ohne zum Leitmotiv zu werden. In Tatjana Borissowna und ihr Neffe oder Jermolai und die Müllerin tritt sichtbar zutage, wie ländliche Haushaltsgemeinschaften, Vormundschaften, Heiratsstrategien und moralische Erwartungen geregelt sind. Rechtlich blieb der Spielraum von Bäuerinnen und abhängigen Personen eng; bei Adligen mischten sich patriarchale Normen mit partikularen Gewohnheiten. Historisch markiert dies eine Übergangsphase, in der Bildungszugänge langsam wuchsen und Wohltätigkeit, Hausunterricht oder Lesekreise erste Alternativen schufen. Turgenew nutzt diese Konstellationen, um Macht und Mitgefühl im Nahraum sichtbar zu machen, ohne private Schicksale zu exponieren.
Die Intelligenzija steht in einzelnen Skizzen als selbstreflexive Gruppe zur Debatte. Der Hamlet des Schtschigrowschen Kreises gibt einem zerrissenen, übergebildeten, politisch lähmten Typus der 1840er Jahre Kontur, der später als überflüssiger Mensch bezeichnet wurde. Historisch spiegelt sich darin die Sackgasse nach den gescheiterten liberalen Hoffnungen der 1830er Jahre und das Fehlen legaler Beteiligungsformen am öffentlichen Leben. Pjotr Petrowitsch Karatajew oder Das Stelldichein streifen ähnliche Milieus von Kleingutsbesitzern, Beamten und Bildungsbürgern, deren Selbstbilder, Routinen und moralische Ausflüchte sich im Provinzalltag verfestigen.
Die Entstehung fällt in eine Phase der Repression. Nach den europäischen Revolutionen von 1848 verschärfte Russland die Überwachung, und Prozesse gegen oppositionelle Zirkel signalisierten Grenzen des Sagbaren. Turgenew selbst wurde 1852 kurz inhaftiert und anschließend unter Polizeiaufsicht auf sein Gut verbannt. In dieser erzwungenen Ruhe ordnete er Materialien, stellte die Skizzen zusammen und arbeitete an ihrer Buchfassung. Die Erfahrung zeigte, wie eng Literatur und Politik verflochten waren: Selbst scheinbar harmlose Natur- und Sittenbilder konnten als Kritik verstanden werden. Die Jägerfigur bot Deckung, ohne die kritische Stoßrichtung zu verwischen.
Die Rezeption im Imperium verband ästhetische Bewunderung mit sozialer Debatte. Führende Kritiker würdigten die Genauigkeit der Beobachtung und die neue Würde, die bäuerlichen Stimmen eingeräumt wurde. In den Journaldiskussionen galt die Sammlung manchen als Muster einer humanistischen, gesetzesfreundlichen Reformhaltung, anderen als zu sanft. Zensurbehörden tolerierten vieles, weil offene Anklage vermieden wurde; dennoch blieb die Publikation heikel. Belesenheit und Nachdrucke verbreiteten die Texte über die Hauptstadt hinaus. Leser erkannten in Typen wie dem Burmistr, dem Förster im Birjuk oder Kleingutsherren aus Zwei Gutsbesitzer bekannte Strukturen und Verhaltensweisen.
Die moralische Wirkung der Sammlung wurde von Zeitgenossen häufig mit den Emanzipationsdebatten verbunden. Nach dem Krimkrieg 1853 bis 1856 verlor das Regime an unangefochtener Autorität, und die großen Reformen der 1860er Jahre nahmen Gestalt an. Es ist quellenmäßig schwer zu messen, wie konkret die Skizzen politische Entscheidungen beeinflussten; doch sie schufen ein Klima der Empathie und machten Missstände anschaulich, die Juristen, Verwaltungsbeamte und Publizisten in Reformargumente übersetzten. In dieser indirekten, aber nachhaltigen Weise wirkten Chorj und Kalinytsch, Der Einhöfer Owsjanikow oder Der Tod in den Diskurs hinein, der 1861 zur Aufhebung der Leibeigenschaft führte.
Die Textgeschichte ist mehrstufig. Viele Skizzen erschienen zuerst in Zeitschriften und wurden 1852 als Buch gesammelt; spätere Ausgaben ergänzten und ordneten neu. In einigen Editionen kamen weitere, thematisch verwandte Texte hinzu; Die lebendige Reliquie entstand erst in den 1870er Jahren, wurde aber von Herausgebern in den Komplex eingeordnet. Deutsch- und französischsprachige Übersetzungen verbreiteten die Sammlung bereits in den 1850er Jahren in Europa; besonders in Frankreich trug sie zu Turgenews Reputation als moderner russischer Prosautor bei. Damit prägte das Buch das europäische Bild des russischen Dorfes vor Tolstoi und Dostojewski.
Natur ist in den Skizzen mehr als Kulisse; sie fungiert als historischer Akteur. Waldwirtschaft, Flussauen, Jagdgründe und Steppe strukturieren Arbeit, Festzeiten und Konflikte. Der Epilog Wald und Steppe fasst diese räumliche Ordnung zusammen und deutet sie als bleibenden Rahmen einer sich wandelnden Gesellschaft. Im 19. Jahrhundert begannen Forstordnungen, Meliorationen und landwirtschaftliche Experimente, traditionelle Nutzungen zu verändern. Turgenews genaue, jahreszeitlich getaktete Beschreibungen dokumentieren eine Wissensökologie, die später durch Wissenschaft, Markt und Technik überformt wurde. So konserviert das Buch eine Erfahrungswelt, deren Langsamkeit und Nähe zur Natur politisch aufschlussreich ist.
Langzeitdeutungen schwankten zwischen liberaler Anerkennung und radikaler Skepsis. In der späten Zarenzeit würdigte man die Sammlung als stilbildend und human, während radikal-demokratische Kritiker ihre reformistische Mäßigung bemängelten. Nach 1917 kanonisierte die sowjetische Literaturgeschichtsschreibung Turgenew als frühen Kritiker der Leibeigenschaft; zugleich relativierte man seine soziale Diagnose als bürgerlich. In westlichen Lesarten des 20. Jahrhunderts hob man die modern-realistische Technik und die ökologische Sensibilität hervor. Germanophone Ausgaben nahmen teils spätere Erzählungen wie Es klopft! auf, um thematische Resonanzen zu betonen, auch wenn diese nicht zur ursprünglichen Kernfolge gehören.
Zwei charakterlich gegensätzliche Bauern stehen im Mittelpunkt: der praktische, selbstbewusste Chorj und der sanft-idealistischen Kalinytsch. In alltäglichen Gesprächen und kleinen Episoden zeigen sich Begabung, Würde und Zwänge des Dorflebens. Der Ton ist warm beobachtend mit leiser sozialer Kritik.
Der Jäger begleitet seinen ungebundenen Begleiter Jermolai zu einer Mühle, wo eine junge Frau im Mittelpunkt einer stillen Spannung steht. Zwischen Jagdalltag, Flusslandschaft und beiläufiger Begegnung blitzt die Macht sozialer Normen auf. Die Erzählung verbindet Lakonie mit verhaltenem Mitgefühl.
Ein Ausflug zu einer beliebten Quelle führt den Erzähler in die halb mondäne, halb provinziell-derbe Welt von Kur- und Gesellschaftsroutinen. Hinter spielerischer Leichtigkeit erscheinen Eitelkeit, Sehnsucht und die Grenzen ständischer Rollen. Der Ton ist heiter-ironisch mit melancholischem Nachhall.
Der Erzähler begegnet einem offenen, nachdenklichen Gutsherrn, dessen Herzlichkeit und Widersprüche ihn faszinieren. In ruhigen Gesprächen verschränken sich private Hoffnungen mit gesellschaftlichen Schranken. Die Stimmung ist freundlich, zugleich von leisem Ernst geprägt.
Ein alter Patriarch führt ein abgeschiedenes, von Gewohnheit und Hausordnung bestimmtes Gut. Aus Anekdoten und Redensarten formt sich ein Bild der alten Lebensform, die zwischen Würde und Sturheit schwankt. Humor und sanfte Wehmut halten sich die Waage.
Eine Wegstation wird zur Gelegenheit, Landschaft, Dorfleben und beiläufige Begegnungen zu skizzieren. Aus scheinbar nebensächlichen Bildern entsteht eine dichte Stimmung aus Bewegung, Erinnerung und Ortscharakter. Der Ton ist kontemplativ und bildhaft.
Nachts belauscht der Erzähler Bauernjungen, die am Feuer Geschichten erzählen. Natur, Aberglaube und Kinderstimmen verschmelzen zu einer poetischen Momentaufnahme von Furcht und Gemeinschaft. Die Erzählung lebt von Atmosphäre und dem Flüstern der Steppe.
Ein rätselhafter, naturverbundener Bauer führt den Erzähler durch Wälder und Moore. Kassyans Eigenwilligkeit und Visionen spiegeln inneren Reichtum trotz äußerer Armut. Der Ton ist respektvoll, mit leiser Mystik und Sozialkritik.
Der Verwalter eines Gutes verkörpert die nüchterne, oft harte Praxis der Herrschaft über Bauern. In nüchternen Szenen zeigt sich die Mechanik von Gehorsam, Verantwortung und Ausbeutung. Die Erzählung ist sachlich-kritisch und unpathetisch.
Ein Besuch in der Gutskanzlei eröffnet Einblicke in Registraturen, Routinen und kleine Machtspiele. Hinter Formularen und Floskeln wird die Lebenswirklichkeit der Abhängigen sichtbar. Der Ton ist satirisch-nüchtern.
Ein wortkarger Waldhüter begegnet in einer stürmischen Nacht einem Holzdiebstahl. Strenge, Armut und Mitgefühl kollidieren in einer einzigen, dichten Szene. Die Stimmung ist rau, konzentriert und moralisch vieldeutig.
Zwei benachbarte Herren werden als Gegenbilder provinzieller Eigenarten gezeichnet: Bequemlichkeit hier, Pedanterie dort. Die vorsichtig komische Zeichnung legt die Trägheit sozialer Verhältnisse frei. Der Ton ist mild satirisch.
Ein lebhafter Markttag mit Pferdehandel, Lärm und Verhandlungslisten entfaltet die Energie der Provinz. Händler, Bauern und Beobachter bilden ein bewegtes Gesellschaftspanorama. Die Erzählung ist temperamentvoll und detailreich.
Im häuslichen Mikrokosmos einer freundlichen, altmodischen Dame wachsen Zuneigung und Unbeholfenheit nebeneinander. Der Neffe verkörpert Möglichkeiten und Grenzen einer neuen Generation. Wärme, Ironie und feine Melancholie prägen den Ton.
Eine Begegnung mit Sterben und Abschied führt zu leisen, eindringlichen Reflexionen über Endlichkeit. Alltägliche Umstände lassen existentielle Fragen aufscheinen. Die Sprache bleibt konkret, ohne Pathos.
In einer Schenke steigert sich ein improvisierter Gesangswettstreit zur gemeinsamen Ergriffenheit. Unverhofftes Können und dörfliche Gemeinschaft zeigen die Würde des Alltäglichen. Die Erzählung ist lyrisch, zugleich ohne Sentimentalität.
Ein selbstzufriedener, redegewandter Herr präsentiert sich als Mann von Welt und Grundsätzen. Hinter Posen treten Leerstellen, Anpassung und Eitelkeit hervor. Der Ton ist spöttisch, aber nicht bösartig.
Ein verabredetes Treffen nimmt eine andere Wendung, als Erwartungen und Etikette kollidieren. Missverständnisse legen die Bruchlinien zwischen Wunsch und gesellschaftlicher Form frei. Die Geschichte ist leichtfüßig, mit sanfter Ironie.
Ein junger Provinzintellektueller seziert unablässig sein Innenleben und kommt doch kaum ins Handeln. Selbstkritik und Eitelkeit mischen sich zu einer tragikomischen Figur. Die Darstellung ist scharf beobachtend und psychologisch fein.
Zwei exzentrische Kleinadlige liefern sich Eitelkeiten und Prinzipienreiterei, während um sie die Zeiten sich ändern. Aus Episoden entsteht ein Bild des bröckelnden Standesbewusstseins. Der Ton schwankt zwischen Komik und Wehmut.
Die Spur eines überlebten Lebensstils führt zu einem leisen, unausweichlichen Abschied. Der Niedergang wirkt weniger spektakulär als ernüchternd. Die Erzählung ist elegisch und nüchtern zugleich.
Eine schwer gezeichnete Frau strahlt, ans Bett gefesselt, eine stille, ungebrochene Lebenszugewandtheit aus. Der Erzähler tastet sich an die Kraft von Geduld und Hoffnung heran. Der Ton ist still, ohne Rührseligkeit.
Ein rätselhaftes Klopfen begleitet eine Begegnung, die an den Rand des Übernatürlichen führt. Zufall, Vorahnung und Angst verschränken sich zu einer unheimlichen Miniatur. Die Geschichte setzt auf Stimmung statt Auflösung.
Der Erzähler bündelt seine Eindrücke von Landschaft, Menschen und Wegen zu einer kontemplativen Rückschau. Naturbild und soziale Beobachtung gehen ineinander über. Der Ton ist weit, ruhig und abschließend.
Ein reisender Jäger-Ich-Erzähler verknüpft die Skizzen, begegnet Bauern, Gutsbesitzern und Zufallsbekanntschaften und hält Naturbilder fest. Aus scheinbar beiläufigen Episoden wächst ein Gesellschaftspanorama, das Köpfe, Sitten und Stimmen nebeneinanderstellt. Die Sprache bleibt klar, anschaulich, oft dialogisch, mit feinem Humor.
Zentrale Motive sind die Würde und Verletzlichkeit der einfachen Leute, die Trägheit und Wandlungsunfähigkeit der Provinzeliten sowie die stille, souveräne Gegenwart der Natur. Immer wieder stehen Mündlichkeit, Beobachten statt Moralisieren und psychologische Nuancen im Vordergrund. Der Band entfaltet so eine leise, doch nachhaltige Kritik an Verhältnissen, ohne auf Empathie und poetische Anschaulichkeit zu verzichten.
Inhaltsverzeichnis
Wer einmal Gelegenheit hatte, aus dem Bolchowschen Kreise in den Shisdrinschen zu kommen, dem ist wohl sicher der scharfe Unterschied zwischen dem Menschenschlag im Orjolschen Gouvernement und dem Kalugaschen aufgefallen. Der Orjolsche Bauer ist klein von Wuchs, untersetzt, mürrisch, blickt unfreundlich, lebt in elenden Hütten aus Espenholz, tut den Frondienst, treibt keinen Handel, nährt sich schlecht und trägt Bastschuhe; der Kalugasche Zinsbauer wohnt in geräumigen Häusern aus Fichtenbalken, ist groß gewachsen, blickt verwegen und lustig, hat eine reine und weiße Gesichtsfarbe, handelt mit Öl und Teer und trägt an Feiertagen Stiefel. Das Orjolsche Dorf (wir meinen den östlichen Teil des Orjolschen Gouvernements) liegt gewöhnlich mitten im Ackerland, in der Nähe einer Vertiefung, die man mit den dürftigsten Mitteln in einen schmutzigen Teich verwandelt hat. Außer einigen, stets dienstbereiten Bachweiden und zwei oder drei mageren Birken sieht man auf eine Werst weit keinen einzigen Baum; Hütte klebt an Hütte, die Dächer sind mit faulem Stroh gedeckt … Ein Dorf im Kalugaschen Gouvernement ist hingegen meistens von Wald umgeben; die Hütten stehen freier und gerader da und sind mit Schindeln gedeckt; die Tore schließen fest, die Zäune hinter dem Hofe sind nicht zerstört, fallen nicht nach außen um und laden nicht jedes vorbeigehende Schwein ein … Auch der Jäger hat es im Kalugaschen Gouvernement besser. Im Orjolschen Gouvernement werden die letzten Wälder und Plätze in vielleicht fünf Jahren verschwinden, von Sümpfen gibt es aber keine Spur. Im Kalugaschen Gouvernement dagegen ziehen sich die Gehege Hunderte und die Sümpfe Dutzende von Werst hin, und das edle Federwild, das Birkhuhn, ist hier noch nicht ausgerottet; es gibt auch noch gutmütige Doppelschnepfen, und das geschäftige Rebhuhn erfreut und erschreckt durch sein plötzliches Aufschwirren den Jäger und den Hund.
Als ich zur Jagd in den Shisdrinschen Kreis kam, lernte ich im Feld einen kleinen Kalugaschen Gutsbesitzer namens Polutykin kennen, einen leidenschaftlichen Jäger und folglich vortrefflichen Menschen. Er hatte allerdings einige Schwächen: Er freite zum Beispiel um alle reichen Bräute des Gouvernements; wenn ihm die Hand und das Haus versagt wurden, vertraute er sein Leid zerknirschten Herzens allen seinen Freunden und Bekannten, fuhr aber fort, den Eltern der Bräute saure Pfirsiche und andere unreife Produkte seines Gartens zum Geschenk zu schicken; er liebte es, immer wieder den gleichen Witz zu erzählen, der, wie hoch ihn Herr Polutykin auch schätzte, keinen Menschen zum Lachen brachte; er lobte die Werke Akim Nachimows und die ErzählungPinna; er stotterte; er nannte seinen Hund Astronom; sagte statt ›aber‹ – ›allein‹ und hatte in seinem Hause die französische Küche eingeführt, deren Geheimnis nach Auffassung seines Koches darin bestand, daß man den natürlichen Geschmack einer jeden Speise auf das radikalste veränderte: Fleisch schmeckte bei diesem Künstler nach Fisch, Fische nach Pilzen, Makkaroni nach Schießpulver; dafür kam bei ihm keine einzige Mohrrübe in die Suppe, ohne vorher die Gestalt eines Rhombus oder eines Trapezes angenommen zu haben. Aber abgesehen von diesen wenigen und unerheblichen Mängeln war Herr Polutykin, wie schon gesagt, ein vortrefflicher Mensch.
Gleich am ersten Tage meiner Bekanntschaft mit Herrn Polutykin lud er mich zum Übernachten ein.
»Bis zu mir sind es an die fünf Werst«, fügte er hinzu. »Zu Fuß ist es zu weit; wollen wir zuerst bei Chorj einkehren.« (Der Leser möge mir erlauben, sein Stottern nicht wiederzugeben.)
»Wer ist Chorj?«
»Einer meiner Bauern … Er wohnt ganz nahe von hier …«
Wir begaben uns zu ihm. Mitten im Walde erhob sich auf einer ausgerodeten und gepflügten Lichtung, das einsame Gehöft Chorjs. Es bestand aus einigen aus Fichtenbalken gezimmerten, durch Zäune verbundenen Gebäuden; vor dem Hauptgebäude zog sich ein von dünnen Säulchen gestütztes Schutzdach hin. Wir traten ein. Uns empfing ein junger, etwa zwanzigjähriger, hübscher Bursche.
»Ah, Fedja! Ist Chorj daheim?« fragte ihn Herr, Polutykin.
»Nein. Chorj ist in die Stadt gefahren«, antwortete der Bursche lächelnd und seine schneeweißen Zähne zeigend. »Befehlen ein Wägelchen anzuspannen?«
»Ja, Bruder, ein Wägelchen. Und bring uns Kwaß.«
Wir traten in die Stube. Kein einziges Susdalsches Bild klebte an den sauberen Balken der Wände; in der Ecke vor dem massiven Heiligenbild mit silbernem Beschlag brannte ein Lämpchen; der Tisch aus Lindenholz war frisch gescheuert und gewaschen; zwischen den Balken und an den Fensterrahmen trieben sich keine flinken Schaben herum und hingen keine nachdenklichen Kakerlaken. Der junge Bursche erschien bald mit einem großen, weißen, mit gutem Kwaß gefüllten Kruge, mit einer riesengroßen Scheibe Weizenbrot und einem Dutzend Salzgurken in einer hölzernen Schüssel. Er stellte alle diese Produkte auf den Tisch, lehnte sich an die Tür und begann uns lächelnd zu betrachten. Wir waren mit dem Imbiß noch nicht fertig, als vor der Tür schon das Wägelchen polterte. Wir gingen hinaus. Ein etwa fünfzehnjähriger, lockiger und rotbäckiger Junge saß als Kutscher da und hatte Mühe, den satten, scheckigen Hengst zu halten. Um den Wagen herum standen an die sechs junge Riesen, die miteinander und mit Fedja große Ähnlichkeit hatten. »Lauter Kinder Chorjs!« bemerkte Polutykiri.
»LauterIltisjungen!« fiel ihm Fedja ins Wort, der uns vors Haus gefolgt war. »Aber es sind noch nicht alle: Potap ist im Wald, und Sidor ist mit dem alten Chorj in die Stadt gefahren … Paß auf, Waßja«, fuhr er fort, sich an den Kutscher wendend. »Fahr schnell, du fährst doch den Herrn. Aber wo der Weg schlecht ist, sollst du langsamer fahren, sonst machst du den Wagen kaputt und bringst auch die Eingeweide des Herrn in Unruhe!«
Die übrigen Iltisjungen lächelten über diesen Witz Fedjas.
»Man setze den Astronomen herein!« rief Herr Polutykin feierlich aus.
Fedja hob nicht ohne Vergnügen den gezwungen lächelnden Hund in die Höhe und setzte ihn auf den Boden des Wagens nieder. Waßja ließ die Zügel locker. Wir rollten davon.
»Das da ist mein Kontor«, sagte mir plötzlich Herr Polutykin, auf ein kleines, niedriges Häuschen weisend, »wollen Sie hineinschauen?«
»Gerne.«
»Es ist jetzt aufgehoben«, bemerkte er, aus dem Wagen steigend, »aber es lohnt sich doch hineinzublicken.«
Das Kontor bestand aus zwei leeren Zimmern. Der Wächter, ein einäugiger Alter, kam vom Hinterhof herbeigelaufen.
»Grüß Gott, Minjajitsch«, versetzte Herr Polutykin. »Wo ist denn das Wasser?«
Der einäugige Alte verschwand und kam sofort mit einer Flasche Wasser und zwei Gläsern wieder.
»Versuchen Sie doch«, sagte mir Polutykin, »ich habe hier ein ausgezeichnetes Quellwasser.«
Wir tranken je ein Glas, während der Alte sich vor uns tief verbeugte.
»Nun, jetzt können wir, glaube ich, fahren«, versetzte mein neuer Freund. »In diesem Kontor habe ich dem Kaufmann Allilyjew vier Deßjatinen Wald um einen guten Preis verkauft.«
Wir setzten uns in den Wagen und fuhren schon nach einer halben Stunde in den Hof des Herrenhauses ein.
»Sagen Sie mir bitte«, fragte ich Polutykin beim Abendessen, »warum wohnt Ihr Chorj getrennt von den anderen Bauern?«
»Sehen Sie, er ist ein gescheiter Kerl. Vor fünfundzwanzig Jahren ist ihm sein Haus abgebrannt; da kam er zu meinem seligen Vater und sagte: ›Erlauben Sie mir, Nikolai Kusmitsch, mich in Ihrem Wald auf dem Sumpfgrund anzusiedeln. Ich werde Ihnen einen guten Zins zahlen!‹ – ›Warum willst du dich denn auf dem Sumpfgrund ansiedeln?‹ – ›Ich möchte es halt; aber bitte, Väterchen Nikolai Kusmitsch, verwenden Sie mich zu keiner anderen Arbeit mehr, legen Sie mir nur einen Zins auf, so hoch Sie wollen.‹ – ›Fünfzig Rubel im Jahr!‹ – ›Gut.‹ – ›Aber daß du pünktlich zahlst, paß auf!‹ – ›Natürlich pünktlich …‹ – So siedelte er sich auf dem Sumpfboden an. Seitdem nennt man ihn Chorj.«
»Und da wurde er reich?« fragte ich.
»Ja, er wurde reich. Jetzt zahlt er mir ganze hundert Rubel Zins, und ich werde ihn vielleicht noch steigern. Ich habe ihm schon mehr als einmal gesagt: ›Chorj, kaufe dich los …!‹ Aber der Gauner behauptet, er hätte kein Geld … Ja, wer’s glaubt …!«
Am nächsten Tag begaben wir uns gleich nach dem Morgentee wieder auf die Jagd. Als wir durchs Dorf fuhren, ließ Herr Polutykin seinen Kutscher vor einem niederen Hause halten und rief laut: »Kalinytsch, Kalinytsch!«
»Sofort, Väterchen, sofort«, erklang es vom Hof her; »ich binde mir nur den Bastschuh fest.«
Wir fuhren im Schritt weiter; hinter dem Dorf holte uns ein etwa vierzigjähriger, großgewachsener, hagerer Mann mit einem kleinen, in den Nacken geworfenen Kopf ein. Es war Kalinytsch. Sein gutmütiges, bräunliches, hier und da pockennarbiges Gesicht gefiel mir auf den ersten Blick. Kalinytsch ging (wie ich später erfuhr) jeden Tag mit seinem Herrn auf die Jagd, trug ihm die Tasche, manchmal auch das Gewehr, paßte auf, wo sich das Wild niedersetzte, brachte Wasser, sammelte Erdbeeren, baute Jagdhütten und lief den Jagdwagen holen; ohne ihn tat Herr Polutykin keinen Schritt. Kalinytsch war ein Mann vom heitersten und sanftesten Charakter, summte stets mit halber Stimme vor sich hin, blickte sorglos nach allen Seiten, sprach etwas durch die Nase, kniff beim Lächeln seine hellblauen Augen zusammen und packte oft mit der Hand seinen dünnen, keilförmigen Bart. Er ging nicht schnell, aber mit großen Schritten, und stützte sich dabei auf einen langen, dünnen Stecken. Im Laufe des ganzen Tages sprach er mich kein einziges Mal an, bediente mich ohne Unterwürfigkeit, gab aber auf seinen Herrn acht wie auf ein kleines Kind. Als die unerträgliche Mittagsglut uns zwang, Schutz zu suchen, führte er uns in seinen Bienengarten tief im Waldesdickicht. Kalinytsch sperrte uns die kleine Hütte auf, in der überall Bündel trockener, wohlriechender Gräser hingen, bettete uns in das frische Heu, zog sich eine Art Sack mit einem Netz vorne über den Kopf, nahm ein Messer, einen Topf und eine glimmende Kohle und begab sich in seinen Bienengarten, um uns eine Honigwabe zu schneiden. Wir tranken zu dem durchsichtigen, warmen Honig Quellwasser und schliefen beim eintönigen Summen der Bienen und dem geschwätzigen Rauschen der Blätter ein.
Ein leichter Windstoß weckte mich … Ich schlug die Augen auf und erblickte Kalinytsch; er saß auf der Schwelle der halbgeöffneten Tür und schnitzte sich mit dem Messer einen Holzlöffel. Ich bewunderte lange sein Gesicht, das so mild und heiter war wie der Abendhimmel. Auch Herr Polutykin erwachte. Wir standen nicht sogleich auf. Es war so angenehm, nach dem langen Marsch und dem tiefen Schlaf unbeweglich im Heu zu liegen: Der Körper ist so wonnig ermattet, das Gesicht atmet eine leichte Hitze, und eine süße Trägheit schließt die Augen. Endlich standen wir auf und trieben uns wieder bis zum Abendessen umher. Beim Abendessen brachte ich wieder die Rede auf Chorj und Kalinytsch.
»Kalinytsch ist ein guter Bauer«, sagte mir Herr Polutykin, »ein eifriger und dienstfertiger Mann; aber er kann seine Wirtschaft nicht in Ordnung halten, ich reiße ihn immer heraus. Jeden Tag geht er mit mir auf die Jagd … Wie soll er da seine Wirtschaft versehen können, urteilen Sie doch selbst.«
Ich stimmte ihm zu, und wir legten uns schlafen.
Am anderen Tag mußte Herr Polutykin wegen eines Prozesses mit seinem Nachbar Pitschukow in die Stadt. Der Nachbar Pitschukow hatte ihm ein Stück Land weggepflügt und auf dieser Stelle auch noch eines von Polutykins Bauernweibern mit Ruten züchtigen lassen. So begab ich mich allein auf die Jagd und kehrte gegen Abend bei Chorj ein. An der Schwelle des Hauses empfing mich ein kahlköpfiger, kleingewachsener, breitschultriger und stämmiger Alter – es war Chorj selbst. Ich sah diesen Chorj mit Neugierde an. Seine Gesichtszüge erinnerten an Sokrates: die gleiche hohe Stirne voller Beulen, die gleichen kleinen Äuglein und die gleiche Stumpfnase. Wir traten zusammen in die Stube. Der gleiche Fedja brachte mir Milch und Schwarzbrot. Chorj setzte sich auf die Bank, strich sich seinen krausen Bart und begann ein Gespräch mit mir. Er schien sich seiner Würde bewußt zu sein, sprach und bewegte sich langsam und lächelte manchmal unter seinem langen Schnurrbart hervor.
Wir sprachen über die Aussaat, über die Ernte, über das ganze Bauernleben. Er tat so, als ob er mir zustimmte, aber, ich fühlte mich nachher irgendwie geniert, und ich merkte, daß ich nicht das Richtige sprach … Es kam so sonderbar heraus. Chorj drückte sich zuweilen, wohl aus Vorsicht, schwer verständlich aus … Hier ist eine Probe unseres Gesprächs:
»Hör mal, Chorj«, sagte ich ihm, »warum kaufst du dich nicht von deinem Herrn frei?«
»Warum soll ich mich freikaufen? Jetzt kenne ich meinen Herrn und weiß, was ich ihm zu zahlen habe … Wir haben einen guten Herrn.«
»Aber die Freiheit ist doch besser«, bemerkte ich. Chorj sah mich von der Seite an.
»Gewiß«, versetzte er.
»Warum kaufst du dich dann nicht frei?«
Chorj schüttelte den Kopf.
»Womit soll ich mich freikaufen, Väterchen?«
»Tu doch nicht so, Alter …«
»Kommt Chorj unter die freien Leute«, fuhr er halblaut, wie vor sich hin, fort, »so ist jeder, der keinen Bart trägt, ein Herr über Chorj.«
»Nimm dir doch auch den Bart ab.«
»Was ist der Bart? Der Bart ist Gras, man kann ihn abmähen.«
»Also was denn?«
»Chorj wird wohl gleich unter die Kaufleute kommen; die Kaufleute haben ja ein gutes Leben, auch tragen sie Bärte.«
»Sag, du treibst doch auch Handel?« fragte ich ihn.
»Wir handeln wohl ein wenig mit Öl und auch mit Teer … Nun, Väterchen, soll ich dir das Wägelchen anspannen?«
Du verstehst deine Zunge im Zaume zu halten und bist wohl gar nicht so dumm, dachte ich mir.
»Nein«, sagte ich laut, »ich brauche kein Wägelchen; ich will morgen hier in der Nähe jagen und bleibe, wenn du erlaubst, in deinem Heuschuppen über Nacht.«
»Bitte sehr. Wirst du es aber im Schuppen bequem haben? Ich will den Weibern sagen, daß sie dir ein Laken und ein Kissen hinlegen. – He, Weiber!« rief er aufstehend. »Weiber, hierher …! Und du, Fedja, geh mit ihnen mit: Die Weiber sind doch ein dummes Volk.«
Eine Viertelstunde später geleitete mich Fedja mit einer Laterne zum Schuppen. Ich warf mich auf das duftende Heu; der Hund rollte sich zu meinen Füßen zusammen; Fedja wünschte mir gute Nacht, die Tür knarrte und fiel ins Schloß. Ich konnte recht lange nicht einschlafen. Eine Kuh trat vor die Tür und schnarchte zweimal laut; mein Hund knurrte sie mit Würde an; ein Schwein ging, nachdenklich grunzend, vorbei; irgendwo in der Nähe fing ein Pferd an, Heu zu kauen und zu schnauben … endlich schlummerte ich ein.
Fedja weckte mich beim Sonnenaufgang. Dieser lustige, aufgeweckte Bursche gefiel mir sehr gut; soviel ich merken konnte, war er auch ein Liebling des alten Chorj. Sie neckten sich beide in der freundschaftlichsten Weise. Der Alte kam mir entgegen. Kam es daher, weil ich die Nacht unter seinem Dach verbracht hatte, oder aus einem anderen Grund, jedenfalls behandelte er mich diesmal viel freundlicher als am Abend vorher.
»Der Samowar ist für dich bereit«, sagte er mir mit einem Lächeln. »Komm Tee trinken.«
Wir setzten uns an den Tisch. Ein kräftiges Frauenzimmer, eine seiner Schwiegertöchter, brachte einen Topf Milch. Seine Söhne kamen einer nach dem andern in die Stube.
»Was hast du für riesengroße Kerle!« bemerkte ich dem Alten.
»Ja«, versetzte er, indem er ein winziges Stück Zucker abbiß. »Über mich und meine Alte haben sie sich wohl nicht zu beklagen.«
»Und leben alle bei dir?«
»Alle. Sie wollen es selbst so.«
»Sind alle verheiratet?«
»Nur ein Schlingel will nicht heiraten«, antwortete er, auf Fedja zeigend, der wie früher an der Tür lehnte. »Waßja ist jung, der kann noch warten.«
»Warum soll ich heiraten?« entgegnete Fedja. »Ich hab’s auch so. gut. Was brauche ich ein Weib? Vielleicht um mich mit ihr herumzuzanken?«
»Ach, du …! Ich kenne dich schon! Silberne Ringe trägst du … Hast nur die Hausmädchen im Sinn … ›Hören Sie auf, Sie Unverschämter!«« fuhr der Alte fort, ein Stubenmädchen nachäffend. »Ich kenne dich schon, du Müßiggänger!«
»Was taugt denn ein Weib?«
»Das Weib ist eine Arbeiterin«, versetzte Chorj mit Würde. »Das Weib ist des Mannes Dienerin.«
»Was brauche ich aber eine Dienerin?«
»Das ist es eben, du liebst mit fremden Händen die Glut zusammenzuscharren. Wir kennen euch.«
»Nun, so verheirate mich. Wie? Was? Was schweigst du jetzt?«
»Hör auf, Spaßvogel. Du siehst doch, wir langweilen den Herrn. Ich werde dich schon verheiraten … Nimm’s nicht übel, Väterchen, du siehst doch, er ist noch ein dummes Kind, hat noch nicht Zeit gehabt, zu Verstand zu kommen.« Fedja schüttelte den Kopf …
»Ist Chorj daheim?« erklang hinter der Tür eine mir bekannte Stimme, und in die Stube trat Kalinytsch mit einem Büschel Walderdbeeren in der Hand, die er für seinen Freund gepflückt hatte. Der Alte begrüßte ihn herzlich. Ich sah Kalinytsch erstaunt an: Offen gestanden, ich hätte von einem Bauern eine solche zarte Aufmerksamkeit nicht erwartet.
An diesem Tag ging ich vier Stunden später als gewöhnlich auf die Jagd und verbrachte die folgenden drei Tage bei Chorj. Meine neuen Bekannten interessierten mich. Ich weiß nicht, wodurch ich ihr Vertrauen gewonnen hatte, aber sie sprachen mit mir ganz ungezwungen. Es machte mir Vergnügen, ihnen zuzuhören und sie zu beobachten. Die beiden Freunde sahen einander gar nicht ähnlich. Chorj war ein positiver Mensch, ein praktischer, administrativer Kopf und ein Rationalist;[1q] Kalinytsch dagegen gehörte zu den Idealisten, Romantikern, begeisterten und träumerischen Naturen. Chorj hatte Verständnis für die Wirklichkeit, das heißt, er hatte sich ein Haus gebaut und etwas Geld gespart und kam mit dem Herrn und den anderen Obrigkeiten gut aus; Kalinytsch trug Bastschuhe und schlug sich mit knapper Not durch. Chorj hatte eine große Familie, die einträchtig lebte und ihm gehorsam war; Kalinytsch hatte einmal eine Frau gehabt, die er fürchtete, Kinder hatte er aber keine. Chorj durchschaute den Herrn Polutykin; Kalinytsch vergötterte seinen Herrn. Chorj liebte Kalinytsch und protegierte ihn; Kalinytsch liebte und verehrte Chorj. Chorj sprach wenig, lächelte spöttisch und wußte, was er wollte; Kalinytsch sprach immer mit großem Feuer, obwohl er auch nicht verstand, gleich manchem durchtriebenem Fabrikarbeiter, ›wie eine Nachtigall zu singen …‹ Aber Kalinytsch hatte Vorzüge, die sogar Chorj anerkannte; er verstand zum Beispiel das Blut, den Schreck und die Tollwut, zu besprechen und die Würmer abzutreiben; die Bienen gediehen bei ihm gut, er hatte, was man so nennt, eine leichte Hand. Chorj bat ihn in meiner Gegenwart, er möchte sein neugekauftes Pferd zuerst in den Stall führen, und Kalinytsch erfüllte die Bitte des alten Skeptikers mit gewissenhafter Würde. Kalinytsch stand der Natur näher, Chorj dagegen den Menschen und der Gesellschaft; Kalinytsch liebte nicht zu räsonieren und glaubte alles blind; Chorj erhob sich sogar zu einer ironischen Lebensauffassung. Er hatte viel gesehen, wußte viel, und ich lernte von ihm eine Menge Dinge. So erfuhr ich zum Beispiel, daß jeden Sommer vor der Ernte in den Dörfern ein kleines Wägelchen von besonderem Aussehen erscheint. In diesem Wägelchen sitzt ein Mann im Kaftan und verkauft Sensen. Bei Barzahlung kostet die Sense von einundeinviertel bis einundeinhalb Rubel in Assignaten, auf Kredit aber drei Papier-und einen Silberrubel. Alle Bauern nehmen die Sensen natürlich auf Kredit. Nach zwei oder drei Wochen kommt er wieder und verlangt sein Geld. Der Bauer hat seinen Hafer eben gemäht und ist also bei Geld; er geht mit dem Händler in die Schenke und rechnet dort mit ihm ab. Einige Gutsbesitzer kamen auf den Gedanken, die Sensen selbst für bares Geld zu kaufen und an die Bauern zum Selbstkostenpreis auf Kredit abzugeben; die Bauern waren aber damit unzufrieden und grämten sich sogar: Man nahm ihnen das Vergnügen, die Sense mit den Fingern zu beklopfen, zu hören, wie sie klingt, sie in den Händen hin und her zu wenden und an die zwanzigmal den schlauen Händler zu fragen: »Was meinst du, Bursch, ist die Sense auch nicht zu … du weißt wohl, was ich meine?« Dasselbe wiederholt sich auch beim Ankauf von Sicheln, bloß mit dem Unterschied, daß sich hier auch die Weiber hineinmischen und den Händler oft sogar in die Notwendigkeit versetzen, sie zu ihrem eigenen Nutzen zu prügeln. Am meisten haben aber die Weiber bei folgender Gelegenheit zu leiden. Die Lieferanten des Materials für die Papierfabriken beauftragen mit dem Ankauf der Hadern eigene Personen, die man in manchen Landkreisen ›Adler‹ nennt. So ein ›Adler‹ bekommt vom Geschäftsmann etwa zweihundert Rubel in Assignaten und zieht damit auf Beute aus. Aber im Gegensatz zu dem edlen Vogel, von dem er seinen Namen hat, überfällt er seine Opfer nicht offen und kühn; im Gegenteil: der › Adler ‹ wendet List und Schlauheit an. Er läßt sein Wägelchen irgendwo im Gesträuch hinter dem Dorf stehen und begibt sich zu Fuß hintenherum ins Dorf wie ein zufälliger Wanderer oder ein müßiger Spaziergänger. Die Weiber wittern sein Nahen und schleichen ihm entgegen. Das Geschäft wird in der größten Eile abgeschlossen. So ein Bauernweib gibt dem ›Adler‹ für einige Kupfermünzen nicht nur alle ihre unnützen Lumpen her, sondern oft sogar das Hemd des Mannes und den eigenen Rock. In der letzten Zeit haben es die Weiber vorteilhaft gefunden, sich selbst den Hanf zu stehlen und auf diese Weise zu‹ verkaufen, besonders den Sommerhanf – das ist eine wichtige Erweiterung und Vervollkommnung der › Adler‹-lndustrie! Dafür sind nun auch die Bauern ihrerseits schon gewitzigt und greifen beim leisesten Verdacht oder beim bloßen Gerücht, daß ein ›Adler‹ in der Nähe sei, zu Korrektions-und Vorbeugungsmaßregeln. Und in der Tat, das ist doch kränkend! Der Hanfverkauf ist ihre Sache, und sie verkaufen ihn wirklich, doch nicht denen in der Stadt – in die Stadt müßten sie sich doch selbst schleppen –, sondern durchfahrenden Aufkäufern, welche in Ermangelung einer Waage das Pud zu vierzig Handvoll rechnen – aber man weiß doch, was für eine Handfläche der Russe hat und was bei ihm ›eine Handvoll‹ bedeutet, besonders wenn er sich Mühe gibt!
Ich, der ich unerfahren war und nur wenig auf dem Lande gelebt hatte, bekam viele solche Erzählungen zu hören. Chorj erzählte aber nicht nur, sondern fragte auch mich über vieles aus. Als er erfuhr, daß ich im Ausland gewesen war, entbrannte seine Neugierde … Kalinytsch blieb hinter ihm nicht zurück; aber ihn rührten mehr Beschreibungen der Natur, der Berge und Wasserfälle, der ungewöhnlichen Gebäude und der großen Städte; Chorj interessierte sich mehr für administrative und politische Fragen. Er nahm alles der Reihe nach durch: »Haben die es dort wie wir oder anders…? Sag doch, Väterchen, wie ist es nun…?«
»Ach, Herr,, dein Wille geschehe!« rief Kalinytsch während meiner Erzählungen.
Chorj schwieg, zog seine buschigen Augenbrauen zusammen und ließ nur ab und zu die Bemerkung fallen: »Das würde bei uns nicht gehen, das aber ist gut, das ist Ordnung.«
Alle seine Fragen kann ich nicht wiedergeben, und es hat auch keinen Zweck; aber aus unseren Gesprächen gewann ich eine Überzeugung, die meine Leser wohl nicht erwarten – die Überzeugung, daß Peter der Große im Grunde genommen ein echter Russe gewesen ist, Russe gerade in seinem Reformwerk. Der Russe ist so sehr von seiner eigenen Kraft und Stärke überzeugt, daß er bei Gelegenheit nicht abgeneigt ist, sich selbst Gewalt anzutun: Er interessiert sich wenig für seine Vergangenheit und blickt kühn in die Zukunft. Was gut ist, das gefällt ihm, was vernünftig ist, das will er haben, woher es aber kommt, ist ihm vollkommen gleich. Sein gesunder Menschenverstand macht sich gern über die trockene Vernunft des Deutschen lustig; aber die Deutschen sind, nach den Worten Chorjs, ein interessantes Völkchen, bei dem er sogar manches lernen möchte. Infolge seiner besonderen Stellung und seiner faktischen Unabhängigkeit sprach Chorj mit mir über vieles, was man aus einem anderen – wie sich die Bauern noch ausdrücken – mit keinem Hebel herausbringen oder mit keinem Mühlstein herausmahlen könnte. Er hatte für seine Stellung volles Verständnis. In meinen Gesprächen mit Chorj hörte ich zum erstenmal die einfache, kluge Rede des russischen Bauern. Seine Kenntnisse waren in ihrer Art sehr umfassend, aber lesen konnte er nicht; Kalinytsch konnte wohl lesen. »Dieser Gauner hat es gelernt«, bemerkte Chorj. »Ihm sind auch niemals Bienen eingegangen.«
»Hast du deinen Kindern das Lesen beibringen lassen?«
Chorj schwieg eine Weile. »Fedja kann es.«
»Und die anderen?«
»Die anderen nicht.«
»Warum?«
Der Alte antwortete nicht und brachte das Gespräch auf etwas anderes. Wie klug er übrigens war, hatte er doch viele Vorurteile und manchen Aberglauben. Die Weiber verachtete er zum Beispiel aus tiefster Seele und machte sich, wenn er gut aufgelegt war, über sie lustig. Seine Frau, eine zänkische Alte, lag den ganzen Tag auf dem Ofen und tat nichts als brummen und keifen; die Söhne schenkten ihr keine Beachtung, aber ihre Schwiegertöchter hielt sie in der Furcht des Herrn. Nicht umsonst singt im russischen Volkslied die Schwiegermutter: ›Was bist du mir für ein Sohn, was für ein Herr im Haus! Du schlägst nicht dein Weib, deine junge Frau …‹ Einmal versuchte ich für die Schwiegertöchter einzutreten und in Chorj Mitleid zu erwecken; aber er entgegnete mir ruhig: »Was brauchen Sie sich mit diesem … Unsinn abzugeben, sollen sich die Weiber nur herumschlagen … Wenn man sie auseinanderzubringen versucht, so wird es noch schlimmer, es lohnt auch nicht, sich die Hände zu beschmutzen.« Die böse Alte kroch manchmal vom Ofen herunter, rief den Hofhund aus dem Flur herein und bearbeitete seinen mageren Rücken mit der Ofengabel; oder sie stellte sich unter den Dachvorsprung und ›kläffte‹, wie sich Chorj ausdrückte, alle Vorbeigehenden an. Ihren Mann fürchtete sie jedoch und zog sich, wenn er es befahl, wieder auf den Ofen zurück. Besonders interessant war es, dem Streit zwischen Chorj und Kalinytsch zuzuhören, wenn die Rede auf Herrn Polutykin kam. – »Den sollst du mir nicht anrühren, Chorj«, sagte Kalinytsch.
»Warum läßt er dir aber keine Stiefel machen?« entgegnete jener.
»Ach, Stiefel …! Was brauche ich Stiefel? Ich bin ein Bauer …«
»Auch ich bin ein Bauer, aber sieh …«
Bei diesem Worte hob Chorj seinen Fuß und zeigte Kalinytsch einen Stiefel, der wohl aus Mammutshaut zugeschnitten war.
»Ach, du bist doch was ganz anderes!« antwortete Kalinytsch.
»Nun, er hätte dir wenigstens Geld für Bastschuhe geben können, du gehst doch mit ihm auf die Jagd und brauchst wohl jeden Tag ein neues Paar.«
»Er gibt mir Geld für Bastschuhe.«
»Gewiß, im vorigen Jahre hat er dir ein Zehnkopekenstück geschenkt.«
Kalinytsch wandte sich geärgert weg, und Chorj wälzte sich vor Lachen, wobei seine kleinen Äuglein ganz verschwanden.
Kalinytsch sang recht angenehm und spielte die Balalaika. Chorj hörte ihm lange zu, neigte dann den Kopf auf die Seite und fiel mit klagender Stimme in seinen Gesang ein. Besonders gern hatte er das Lied ›Du mein Schicksal, Schicksal!‹ Fedja ließ sich keine Gelegenheit entgehen, den Alten zu necken. »Was bist du so trübsinnig, Alter?«
Aber Chorj stützte die Wange in die Hand, schloß die Augen und fuhr fort, sein Schicksal zu beklagen … Dafür gab es zu anderen Zeiten keinen fleißigeren Menschen als ihn: Ewig machte er sich zu schaffen – entweder besserte er den Wagen aus oder stützte den Zaun oder sah das Pferdegeschirr nach. Auf besondere Reinlichkeit hielt er übrigens nichts und sagte mir einmal auf meine diesbezügliche Bemerkung, daß es in der Stube doch nach einer Menschenwohnung riechen müsse.
»Schau nur«, entgegnete ich ihm, »wie sauber es Kalinytsch in seinem Bienengarten hat.«
»Sonst würden die Bienen nicht leben, Väterchen«, sagte er mit einem Seufzer.
»Sag doch«, fragte er mich ein anderes Mal, »hast du auch dein eigenes Erbgut?«
»Ja.«
»Ist es weit von hier?«
»An die hundert Werst.«
»Nun, wohnst du auch auf deinem Erbgute, Väterchen?«
»Ja «
»Aber du ziehst wohl meistens mit dem Gewehr herum?«
»Die Wahrheit zu sagen, ja.«
»Du tust recht daran, Väterchen; schieß nur zur Gesundheit recht viele Birkhähne und wechsele recht oft den Dorfschulzen.«
Am Abend des vierten Tages schickte Herr Polutykin nach mir. Es tat mir leid, mich von dem Alten zu trennen. Ich setzte mich mit Kalinytsch in den Wagen. »Nun, leb wohl, Chorj, bleibe gesund«, sagte ich. »Leb auch du wohl, Fedja.«
»Leb wohl, Väterchen, leb wohl, vergiß uns nicht.«
Wir fuhren ab; das Abendrot begann eben zu glühen. – »Wir werden morgen schönes Wetter haben«, sagte ich, auf den heiteren Himmel blickend.
»Nein, es wird regnen«, entgegnete Kalinytsch. »Die Enten plätschern, und auch das Gras duftet so stark.«
Wir fuhren ins Gebüsch. Kalinytsch begann mit halber Stimme zu singen, indem er auf dem Bock auf und nieder hüpfte und in einem fort auf das Abendbrot schaute …
Am anderen Tag verließ ich das gastfreundliche Dach des Herrn Polutykin.
Inhaltsverzeichnis
Am Abend ging ich mit dem Jäger Jermolai auf den Schnepfenstrich … Meine Leser wissen vielleicht nicht, was der Schnepfenstrich ist. Hören Sie also.
Eine Viertelstunde vor Sonnenuntergang im Frühjahr gehen Sie mit dem Gewehr, doch ohne Hund in den Wald. Sie suchen sich am Waldsaum einen Platz aus, sehen sich um, untersuchen das Zündhütchen und wechseln Blicke mit Ihrem Begleiter. Die Viertelstunde ist vorüber. Die Sonne ist untergegangen, aber im Wald ist es noch hell; die Luft ist rein und durchsichtig; die Vögel zwitschern geschwätzig; das junge Gras glänzt lustig und smaragden … Sie warten. Im Wald wird es allmählich dunkler; das rote Licht der scheidenden Sonne gleitet langsam über die Wurzeln und Stämme der Bäume, steigt immer höher hinauf und geht von den unteren, fast noch nackten Zweigen zu den unbeweglichen, einschlafenden Wipfeln über … Nun sind auch die Wipfel selbst erloschen; der Himmel, der eben rötlich war, wird immer blauer. Der Wald duftet stärker, ein warmer feuchter Hauch kommt gezogen; der Wind erstirbt um Sie herum. Die Vögel schlafen ein, nicht alle zugleich, sondern je nach der Gattung: Da sind die Finken verstummt, einige Augenblicke später die Grasmücken, dann die Ammern. Im Wald wird es immer dunkler und dunkler. Die Bäume fließen zu großen schwarzen Massen zusammen; am blauen Himmel treten scheu die ersten Sternchen hervor. Alle Vögel schlafen. Die Rotschwänzchen und die kleinen Spechte allein zwitschern noch leise und verschlafen … Nun sind auch sie verstummt. Noch einmal erklingt über Ihnen die helle Stimme des Weidenzeisigs; irgendwo schreit kläglich eine Goldamsel; die Nachtigall läßt ihren ersten Triller erklingen. Ihr Herz ist vor Erwartung ganz matt, und plötzlich – doch nur ein Jäger wird mich verstehen – plötzlich ertönt in der tiefen Stille ein leises, eigentümliches Krächzen und Zischen, das gleichmäßige Schlagen schneller Flügel, und die Waldschnepfe fliegt, den langen Schnabel schön geneigt, hinter der dunklen Birke langsam Ihrem Schuß entgegen.
Das heißt ›auf dem Schnepfenstrich stehen‹.
Also begab ich mich mit Jermolai auf den Schnepfenstrich; aber entschuldigen Sie, ich muß Sie erst mit Jermolai bekannt machen.
Stellen Sie sich einen Mann von etwa fünfundvierzig Jahren vor, großgewachsen, hager, mit einer langen und dünnen Nase, einer schmalen Stirn, kleinen grauen Augen, zerzausten Haaren und dicken, spöttischen Lippen. Dieser Mann trug Winter und Sommer einen gelblichen Nankingrock von deutschem Schnitt, doch mit einem Gürtel; dazu eine blaue Pluderhose und eine Lammfellmütze, die ihm in einer guten Stunde ein ruinierter Gutsbesitzer geschenkt hatte. Am Gürtel waren zwei Säcke angebunden; der eine vorn, kunstvoll in zwei Hälften geknüpft, für Pulver und für Schrot, der andere hinten für Wild; die Baumwolle für die Pfropfen holte sich Jermolai aus seiner eigenen, anscheinend unerschöpflichen Mütze. Er könnte wohl für das Geld, das er aus dem Verkauf des Wildes löste, sich eine Patronentasche und eine Jagdtasche kaufen, aber diese Anschaffung war ihm überhaupt nie in den Sinn gekommen, und er fuhr fort, sein Gewehr wie bisher zu laden, wobei er die Zuschauer durch die Kunst in Erstaunen setzte, mit der er der Gefahr, das Pulver zu verschütten oder es mit Schrot zu vermischen, aus dem Wege ging. Sein Gewehr hatte nur einen Lauf und ein Feuersteinschloß und dazu noch die üble Eigenschaft, stark zurückzuprallen, aus welchem Grunde Jermolais rechte Wange immer voller war als die linke. Wie er mit diesem Gewehr treffen konnte, begriff auch der Klügste nicht, aber er traf doch. Er hatte auch noch eine Hühnerhündin namens Valetka, ein sehr merkwürdiges Geschöpf. Jermolai fütterte sie niemals. »Fällt mir gar nicht ein, einen Hund zu füttern«, sagte er. »Außerdem ist der Hund ein kluges Tier und kann selbst Nahrung finden.« Und so war es auch in der Tat: Valetka setzte zwar einen selbst gleichgültigen Vorübergehenden durch ihre ungewöhnliche Magerkeit in Erstaunen, blieb aber doch am Leben und lebte lange; trotz ihrer unseligen Lage war sie sogar kein einziges Mal entlaufen und hatte auch nie den Wunsch geäußert, ihren Herrn zu verlassen. Einmal in ihren jungen Jahren war sie wohl, von Liebe hingerissen, für zwei Tage verschwunden, aber diese Dummheiten hatte sie schon längst aufgegeben. Die hervorragendste Eigenschaft Valetkas war ihre absolute Gleichgültigkeit gegen alles in der Welt … Wäre die Rede nicht von einem Hund, so hätte ich wohl den Ausdruck ›Blasiertheit‹ gewählt. Gewöhnlich saß sie, den kurzen Schwanz untergeschlagen, da, blickte finster drein, zuckte manchmal zusammen und lächelte niemals. (Die Hunde haben bekanntlich die Fähigkeit zu lächeln, sie machen es sogar sehr nett.) Sie war außerordentlich häßlich, und kein müßiger Vertreter des Hofgesindes ließ sich die Gelegenheit entgehen, giftige Bemerkungen über ihr Äußeres zu machen; Valetka ertrug aber allen Spott und sogar Schläge mit ungewöhnlicher Kaltblütigkeit. Ein besonderes Vergnügen gewährte sie den Köchen, die sofort ihre Arbeit liegenließen und ihr schreiend und schimpfend nachsetzten, wenn sie aus einer Schwäche, die nicht nur Hunden allein eigen ist, ihre hungrige Schnauze durch die halbgeöffnete Türe der verführerisch warmen und wohlriechenden Küche steckte. Auf der Jagd zeichnete sie sich durch Unermüdlichkeit aus und hatte eine recht gute Witterung; wenn sie aber einmal einen angeschossenen Hasen erwischte, so fraß sie ihn mit Genuß bis zum letzten Knöchelchen auf, irgendwo im kühlen Schatten, unter einem grünen Busch, in einer respektvollen Entfernung von Jermolai, der in allen bekannten und unbekannten Dialekten schimpfte.
Jermolai gehörte einem meiner Nachbarn, einem Gutsbesitzer von altem Schrot und Korn. Die Gutsbesitzer von altem Schrot und Korn mögen keine Schnepfen und halten sich an das Hausgeflügel. Höchstens in außergewöhnlichen Fällen wie bei Geburtstagen, Namenstagen und Adelswahlen schreiten die Köche solcher Gutsbesitzer zur Zubereitung der langschnäbeligen Vögel; sie geraten dabei in die dem russischen Menschen so eigene Rage und erfinden so komplizierte Zutaten, daß die Gäste zum größten Teil die aufgetischten Gerichte mit Neugierde und Aufmerksamkeit betrachten, sich aber nicht entschließen, von ihnen zu versuchen. Jermolai hatte den Auftrag, für die herrschaftliche Küche einmal monatlich zwei Paar Birkhühner und Rebhühner zu liefern, durfte aber im übrigen leben, wie er wollte und wovon er wollte. Man hatte ihn aufgegeben als einen zu keiner Arbeit fähigen Menschen, als einen Schwächling, wie man bei uns in Orjol sagt. Pulver und Schrot wurden ihm nicht geliefert, wobei man dieselbe Regel befolgte, nach der er seinen Hund nicht fütterte. Jermolai war ein Mensch von besonderem Schlag: sorglos wie ein Vogel, ziemlich geschwätzig, zerstreut und dem Aussehen nach unbeholfen. Er trank gerne über den Durst, hielt es niemals lange auf einem Platz aus, schlurrte und watschelte beim Gehen und legte dabei doch an die fünfzig Werst in vierundzwanzig Stunden zurück. Er hatte schon die verschiedenartigsten Abenteuer erlebt: in Sümpfen, auf Bäumen, auf Dächern, unter Brücken genächtigt, mehr als einmal in Kellern, Schuppen und auf Dachböden eingesperrt gesessen, oft sein Gewehr, seinen Hund und die notwendigsten Kleidungsstücke eingebüßt, reichliche und kräftige Prügel bekommen, war aber nach einiger Zeit doch immer gekleidet und mit Gewehr und Hund nach Hause zurückgekehrt. Man konnte ihn keinen lustigen Menschen nennen, obwohl er fast immer guter Laune war; er machte überhaupt den Eindruck eines Sonderlings. Jermolai schwatzte manchmal gerne mit einem guten Bruder, besonders bei einem Glas Schnaps, aber nicht zu lange; mitten im Gespräch stand er auf und ging. »Wo willst du denn hin, Teufel? Es ist ja Nacht.«
»Nach Tschaplino.«
»Was sollst du dich nach Tschaplino schleppen, es sind ja zehn Werst.«
»Ich will beim Bauern Sofron übernachten.«
»Übernachte doch hier.«
»Nein, es geht nicht.«
