Phantastische Erzählungen aus dem Grenzgebiet zwischen Realem und Irrealem (Deutsche Ausgabe) - Iwan Sergejewitsch Turgenew - E-Book

Phantastische Erzählungen aus dem Grenzgebiet zwischen Realem und Irrealem (Deutsche Ausgabe) E-Book

Iwan Sergejewitsch Turgenew

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Beschreibung

Diese Ausgabe von "Phantastische Erzählungen aus dem Grenzgebiet zwischen Realem und Irrealem" wurde mit einem funktionalen Layout erstellt und sorgfältig formatiert. Iwan Turgenew (1818-1883) war ein russischer Schriftsteller. Er war einer der Ersten in der russischen Literatur, der die alltäglichen Nöte und Ängste der russischen Gesellschaft thematisierten. Er war ein Meister der Charakterzeichnung, seine Figuren lässt er aus vielen kleinen und kaum wahrnehmbaren Einzelheiten erstehen. Turgenew zählt auch zu den bedeutendsten europäischen Novellendichtern. Inhalt: Drei Begegnungen Visionen Der Hund Das Lied der triumphierenden Liebe Ein Traum Aus dem Buch: "Ebenso unmöglich war auch die Annahme, daß die fünfundvierzigjährige Witwe Anna Fjodorowna Schlykowa und jene reizende junge Frau, die ich gestern gesehen hatte, eine und dieselbe Person seien. Auch Pelageja Fjodorowna zeichnete sich, wie sie mir geschildert wurde, keineswegs durch Schönheit aus; beim bloßen Gedanken, daß die Frau, die ich in Sorrent gesehen hatte, den prosaischen Namen Pelageja und dazu noch Badajewa tragen sollte, zuckte ich die Achseln und lachte höhnisch. Und doch, dachte ich, habe ich sie erst gestern abend mit eigenen Augen in diesem Hause gesehen, ja, mit eigenen Augen!"

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Iwan Sergejewitsch Turgenew

Phantastische Erzählungen aus dem Grenzgebiet zwischen Realem und Irrealem

(Deutsche Ausgabe)

Unheimliche Geschichten über die dunklen Seiten der menschlichen Psyche

Books

- Innovative digitale Lösungen & Optimale Formatierung -
2017 OK Publishing
ISBN 978-80-272-0292-8

Inhaltsverzeichnis

Drei Begegnungen
Visionen
Der Hund
Das Lied der triumphierenden Liebe
Ein Traum

Drei Begegnungen

Inhaltsverzeichnis

I.
II.

I.

Inhaltsverzeichnis

Vor Jahren jagte ich mit besonderer Vorliebe in der Nähe des Kirchdorfes Glinnoje, das etwa zwanzig Werst von meinem Gute entfernt liegt. Es ist wohl das beste Jagdgebiet im ganzen Landkreise. Nachdem ich alle Felder und Gebüsche nach Wild abgesucht hatte, ging ich noch regelmäßig gegen abend zum Moorgrunde – es war der einzige Moorgrund in der ganzen Gegend – und begab mich erst von dort zu meinem gastfreundlichen Wirte, dem Dorfschulzen von Glinnoje, bei dem ich in der Jagdzeit immer Quartier nahm. Vom Moor hatte ich bis zum Dorfe kaum zwei Werst zu gehen; der Weg führte durch eine Niederung, und nur auf der halben Strecke mußte ich über einen nicht sehr hohen Hügel steigen. Auf diesem Hügel liegt ein kleiner Landsitz, der aus einem unbewohnten Herrschaftshaus und einem Garten besteht. Ich kam fast immer während des Sonnenuntergangs vorbei, und das von den Strahlen der Abendsonne übergossene Haus mit den vernagelten Fensterläden erinnerte mich jedesmal an einen blinden Greis, der aus seinem Kämmerchen hervorgekrochen war, um sich in der Sonne zu wärmen. Der arme Greis sitzt so allein an der Straße; statt des Sonnenlichtes sieht er schon längst nur ewiges Dunkel; er fühlt aber noch die Sonne auf seinem Gesicht, das er zu ihr wendet, und auf seinen erwärmten Wangen. Das Haus sah so aus, als ob darin schon lange niemand gewohnt hätte; doch im winzigen Hofgebäude wohnte ein freigelassener Leibeigener, ein hochgewachsener Greis mit silberweißem Haar und ausdrucksvollem, doch immer unbeweglichem Gesicht. Er saß meistens auf der Bank vor dem einzigen Fenster seines Häuschens und blickte nachdenklich und bekümmert in die Ferne; so oft er mich sah, erhob er sich von der Bank und verbeugte sich vor mir mit jener langsamen Feierlichkeit, die nur den Leibeigenen der alten Zeit, die zur Generation unserer Großväter und nicht zu der unserer Väter gehören, eigen ist. Ich versuchte manchmal, ihn in ein Gespräch zu ziehen, er war aber ungewöhnlich wortkarg: das einzige, was ich von ihm erfahren konnte, war, daß das Gut, in dem er wohnte, der Enkelin seines früheren Herrn gehörte, einer Witwe, die noch eine jüngere Schwester hatte; daß die beiden irgendwo »hinter dem Meere« wohnten und das Gut niemals aufsuchten; daß er selbst nur den einen Wunsch hatte, baldmöglichst sein Leben zu beschließen: »Ich kaue und kaue meinen Bissen Brot, und manchmal ärgert es mich, daß ich so lange daran kauen muß.« Dieser Greis hieß Lukjanytsch.

Einmal jagte ich länger als gewöhnlich; es gab besonders viel Wild, ich schoß gut, auch war das Wetter ganz besonders für die Jagd geeignet – vom frühen Morgen an war der Tag still, trüb, gleichsam vom Abend durchdrungen. Ich war weit vom Dorfe abgekommen, und als ich den bekannten Landsitz erreichte, war es nicht nur ganz dunkel geworden, sondern auch der Mond war schon aufgegangen, und die Nacht beherrschte den Himmel. Ich mußte am Garten vorbei; ringsumher war eine seltsame Stille…

Ich durchquerte die breite Landstraße, bahnte mir vorsichtig den Weg durch die staubbedeckten Brennnesseln hindurch, lehnte mich an die niedere Hecke und sah in den Garten hinein. Der nicht sehr große Garten lag vor mir regungslos, ganz vom silbernen Mondlicht überflutet und gleichsam beruhigt, feucht und duftend; er war nach alter Mode angelegt und bestand aus einer länglichen Rasenfläche, die von schnurgeraden Wegen durchschnitten war; die Wege trafen sich in ihrer Mitte bei einem runden Beet, auf dem Astern wucherten; hohe Lindenbäume umrahmten das Ganze wie mit gleichmäßigem Band. Dieses Band war nur an einer Stelle auf der Strecke von etwa zwei Klaftern durchbrochen, und durch diese Öffnung konnte man ein Stück des niedrigen Herrenhauses sehen; zwei Fenster des Hauses waren zu meinem größten Erstaunen erleuchtet. Hie und da standen auf der Rasenfläche junge Apfelbäume, und durch ihre dünnen Zweige hindurch blaute der milde Nachthimmel und flutete das einschläfernde Mondlicht; vor jedem der Apfelbäume lag auf dem silbrig schimmernden Rasen sein Schatten. Auf der einen Seite des Parkes waren die Linden vom Mondlicht übergossen und standen bleich und grün da; auf der anderen Seite waren sie schwarz und undurchsichtig; in ihrem dichten Laub erhob sich ab und zu ein seltsames verhaltenes Geflüster; es war mir, als ob sie mich in ihren Schatten auf die sich zwischen ihnen verlierenden Gartenwege locken wollten. Der ganze Himmel war voller Sterne; ihr blaues, mildes Licht ergoß sich geheimnisvoll über die Erde, auf die sie still, doch gespannt herabzublicken schienen. Leichte Wölkchen zogen ab und zu an der Mondscheibe vorbei und verwandelten ihren ruhigen Glanz in einen verschwommenen doch hellen Nebelfleck… Alles schlief. Die durch und durch warme, durch und durch duftende Luft war regungslos; ab und zu erzitterte sie so leise, wie das von einem herabgefallenen Zweig erschütterte Wasser… In allen Dingen lag eine eigentümliche Sehnsucht, eine Erwartung… Ich beugte mich über die Hecke: gerade vor mir erhob sich aus dem verwilderten Gras eine Mohnblume auf ihrem schlanken Stengel; ein großer runder Tautropfen glänzte matt auf dem Boden des Blütenkelches. Alles schlief, alles träumte einen süßen Traum; alles stand regungslos da, blickte nach oben und wartete… Worauf wartete diese warme, wache Nacht?

Sie wartete auf einen Laut; diese lauschende Stille wartete auf eine lebendige Stimme, – doch alles schlief. Die Nachtigallen hatten schon lange zu schlagen aufgehört … und das plötzliche Summen eines vorbeifliegenden Käfers, das Schnappen der Fische im Setzteiche hinter den Linden am anderen Ende des Gartens, das Zwitschern eines verschlafenen Vogels, ein Schrei in weiter Ferne, so weit, daß kein Ohr unterscheiden konnte, ob es ein Mensch, ein Tier oder ein Vogel war, – ein kurzes rasches Getrabe auf der Straße: alle diese schwachen Töne vertieften nur die Stille… Mein Herz war von einem eigentümlichen Gefühl erfüllt; es war wie eine Erwartung und zugleich wie die Erinnerung an ein entschwundenes Glück; ich wagte mich nicht zu rühren, ich stand unbeweglich vor dem regungslosen, vom Mondlicht und Tau übergossenen Garten und blickte, ohne selbst zu wissen warum, unverwandt auf die beiden Fenster, die rötlich durch das weiche Dunkel schimmerten. Und plötzlich ertönte im Hause ein Akkord, – er ertönte und rollte wie eine Woge durch die Stille… Die unheimlich klingende Luft antwortete mit einem lauten Echo… Ich fuhr unwillkürlich zusammen.

Dem Akkord folgte eine weibliche Stimme… Ich horchte gespannt auf und… wie soll ich nur mein Erstaunen schildern? – vor zwei Jahren hatte ich in Italien, in Sorrent dasselbe Lied und dieselbe Stimme gehört… Ja, ja…

Vieni pensando a me segretamente…

Ja, ich habe die Töne erkannt… Es war damals so gewesen: Nach einem längeren Spaziergang am Meeresstrande kehrte ich heim. Ich ging mit schnellen Schritten die Gasse entlang; die Nacht war schon längst hereingebrochen, – eine herrliche südliche Nacht, keine stille und melancholische wie bei uns, sondern eine helle, strahlende und üppige Nacht, schön wie eine glückliche Frau in der Blüte ihres Alters; das Mondlicht war ungewöhnlich hell; die großen strahlenden Sterne schienen sich auf dem dunklen Himmel zu bewegen; die schwarzen Schatten hoben sich scharf auf der vom Mondlicht fast gelb gefärbten Erde ab. Zu beiden Seiten der Straße zogen sich Gartenmauern hin; Orangenbäume erhoben hinter ihnen ihre krummen Äste, mit schweren goldenen Früchten beladen, die bald aus dem dichten Laube hervorschimmerten und bald unverhüllt, im vollen Mondlichte, glühten. Auf vielen Bäumen leuchteten zarte weiße Blüten; die Luft war von einem starken, fast unerträglichen, doch unbeschreiblich süßen Duft erfüllt. Während ich so nach Hause ging, waren mir alle diese Wunder, offen gesagt, nicht mehr neu; ich hatte nur den einen Wunsch, – möglichst schnell mein Hotel zu erreichen. Und plötzlich erklang aus einem kleinen Pavillon, der sich über einer Gartenmauer erhob, eine weibliche Stimme. Sie sang ein Lied, das ich nicht kannte, doch in den Tönen lag etwas so sehr Lockendes, die Stimme selbst schien von einer so leidenschaftlichen und glücklichen Erwartung, die wohl auch in den Worten des Liedes lag, durchdrungen, daß ich unwillkürlich stehen blieb und den Kopf hob. Im Pavillon waren zwei Fenster; doch die Jalousien waren herabgelassen, und durch die schmalen Spalten drang ein ganz schwacher Lichtschein. Die Stimme wiederholte noch zweimal die Worte »Vieni, vieni« und hielt inne; dann ließ sich noch ein leises Klirren von Saiten vernehmen, als ob eine Gitarre auf einen Teppich gefallen wäre, ein Kleid rauschte, ein Dielenbrett knarrte… Die hellen Lichtstreifen in einem der Fen« ster erloschen: jemand war von innen ans Fenster getreten und hatte sich gegen das Fensterkreuz gelehnt. Ich trat zwei Schritte zurück. Plötzlich knarrte das Fenster, der Laden wurde aufgeklappt; eine schlanke Frauengestalt, ganz weiß gekleidet, steckte für einen Augenblick ihren reizenden Kopf heraus und rief, die Arme gleichsam nach mir ausstreckend: »Sei tu?« Ich war ganz verwirrt und wußte nicht, was ich sagen sollte, doch die Unbekannte schrie in diesem Augenblick schwach auf und prallte zurück; der Laden wurde wieder zugeschlagen, und der Lichtschein wurde auf einmal matter, als ob man die Lampe in ein anderes Zimmer getragen hätte. Ich blieb uns beweglich stehen und konnte lange nicht zu mir kommen. Das Gesicht der Frau, das ich in diesem kurzen Augenblick gesehen hatte, war unbeschreiblich schön. Es war viel zu schnell meinen Blicken entschwunden, als daß ich mir jeden einzelnen Zug hätte merken können; doch der ganze Eindruck war ungemein stark und tief… Ich hatte schon damals das Gefühl, daß ich dieses Gesicht nie vergessen werde … Das Mondlicht übergoß die Wand des Pavillons und fiel gerade auf jenes Fenster, in dem ich sie erblickt hatte; mein Gott! – wie wunderbar glänzten im Mondlicht ihre großen dunklen Augen! Wie herrlich fielen ihre halbaufgelösten, schwarzen Flechten auf die runde Schulter herab! Wie viel verschämte Zärtlichkeit lag in der leichten Neigung ihres Oberkörpers, wie viel Liebessehnsucht in ihrer Stimme, als sie mich anrief, – wie hell klang das rasche Flüstern! Nachdem ich noch recht lange an dieser Stelle gestanden hatte, trat ich etwas zur Seite, in den Schatten der gegenüberliegenden Mauer und blickte von dort aus verständnislos und etwas blöde auf den Pavillon. Ich lauschte … lauschte gespannt und aufmerksam… Ich glaubte hinter dem dunkel gewordenen Fenster bald ein leises Atmen zu hören, bald ein seltsames Rascheln und ein leises Lachen. Plötzlich hörte ich in der Ferne Schritte … sie kamen immer näher; am Ende der Straße zeigte sich ein Mann von gleichem Wuchse wie ich; er kam mit schnellen Schritten zu der Pforte, die in der Mauer dicht neben dem Pavillon angebracht war und die ich vorher nicht bemerkt hatte, klopfte zweimal, ohne sich umzublicken, mit dem eisernen Ring, wartete eine Weile, klopfte noch einmal und stimmte leise an: »Ecco ridente…« Die Pforte ging auf und er schlüpfte lautlos hinein. Ich fuhr auf, schüttelte den Kopf, spreizte die Arme auseinander, drückte mir den Hut in die Stirne und ging ziemlich mißvergnügt nach Hause. Am nächsten Tage ging ich bei der gräßliehen Sonnenglut wohl zwei Stunden lang in der Straße am Pavillon auf und ab, doch ohne jeden Erfolg. Am gleichen Abend verließ ich aber Sorrent, ohne Tassos Haus besichtigt zu haben.

Mag sich nun der Leser das Erstaunen vorstellen, das mich ergriff, als ich in der Steppe, in einer der gottvergessensten Gegenden Rußlands die gleiche Stimme und das gleiche Lied wiedererkannte… Jetzt wie damals war es in der Nacht; wie damals erklang die Stimme ganz plötzlich aus einem erleuchteten unbekannten Zimmer; wie damals war ich ganz allein. Das Herz klopfte mir und ich fragte mich, ob das Ganze nicht ein Traum sei. Da erklang das letzte »Vieni« … Wird denn auch jetzt das Fenster aufgehen? Wird sich wieder eine Frauengestalt zeigen? Das Fenster ging auf. In seinem Rahmen erschien eine Frau. Ich erkannte sie sofort, obwohl ich fünfzig Schritt von ihr entfernt war, obwohl der Mond in diesem Augenblick von einem leichten Wölkchen verdeckt war. Es war sie, meine Unbekannte aus Sorrent. Diesmal streckte sie aber nicht wie damals ihre entblößten Arme vor sich aus, sondern hielt sie auf dem Fensterbrett gekreuzt und blickte stumm und unbeweglich in den Garten. Ja, sie war es, es waren ihre unvergeßlichen Züge, ihre unvergleichlichen Augen. Sie trug wieder ein weites weißes Gewand, schien aber etwas voller als in Sorrent. Ihr ganzes Wesen atmete Siegesbewußtsein und Liebe, triumphierende, ruhige, glückliche Schönheit. Sie blieb ziemlich lange unbeweglich am Fenster stehen, blickte dann ins Innere des Zimmers zurück, richtete sich plötzlich auf und rief dreimal mit lauter und heller Stimme: »Addio!« Die herrlichen Töne ihrer Stimme hallten weit durch die Nacht, zitterten lange nach und erstarben über den Linden des Gartens, im Felde hinter mir und überall. Alles um mich her wurde für einige Augenblicke von dieser Frauenstimme erfüllt, alles widerhallte die Stimme, sie selbst schien in allen Dingen zu tönen… Sie schloß das Fenster, und nach einigen Augenblicken erlosch auch das Licht im Hause.

Als ich wieder zu mir kam – ich muß gestehen, daß es, noch eine ganze Weile dauerte – ging ich sofort am Garten entlang zum versperrten Tor und blickte über den Zaun. Im Hofe konnte ich nichts Außergewöhnliches wahrnehmen; in einer Ecke stand unter einem Schuppen ein Reisewagen. Der Vorderteil des Wagens war mit Straßenkot bespritzt und schien im Mondlichte grellweiß. Die Läden des Hauses waren wie immer geschlossen. Ich vergaß vorher zu sagen, daß ich vor diesem Tage eine ganze Woche nicht in Glinnoje gewesen war. Ich ging über eine halbe Stunde ganz verdutzt vor dem Zaune auf und ab, so daß ich zuletzt die Aufmerksamkeit des alten Hofhundes auf mich lenkte; er bellte mich aber nicht an, sondern sah mich ungewöhnlich ironisch mit seinen zusammengekniffenen halbblinden Augen an. Ich verstand den Wink und zog mich zurück. Ich war aber noch nicht eine halbe Werst gegangen, als ich plötzlich hinter mir den Hufschlag eines Pferdes hörte… Nach einigen Augenblicken sprengte ein Reiter auf einem Rappen an mir vorbei; für einen kurzen Augenblick wandte er mir sein Gesicht zu, so daß ich unter der tief in die Stirne gedrückten Mütze eine Adlernase und einen schönen dichten Schnurrbart sehen konnte; er schwenkte vom Wege nach rechts ab und verschwand sofort im Walde. »Das ist er also,« sagte ich mir mit einem eigentümlichen Gefühl. Ich glaubte ihn erkannt zu haben; seine Figur erinnerte wirklich an die des Unbekannten, den ich zu Sorrent in die Gartenpforte eintreten gesehen hatte. Nach einer halben Stunde war ich schon in Glinnoje. Ich weckte meinen Quartierwirt und begann ihn sofort auszufragen, wer im Nachbarsgute angekommen sei. Als er endlich begriff, was ich von ihm wollte, antwortete er mir, daß die Gutsherrinnen eingetroffen seien.

»Was für Gutsherrinnen?« fragte ich ungeduldig.

»Nun, die Herrschaften,« antwortete er sehr träge.

»Ja, was für Herrschaften?«

»Nun, wie Herrschaften eben sind …«

»Sind sie Russinnen?«

»Was denn sonst? Selbstverständlich Russinnen.«

»Nicht Ausländerinnen?«

»Wie?«

»Sind sie schon lange hier?«

»Nein, erst seit kurzem.«

»Bleiben sie lange hier?«

»Das weiß ich nicht.«

»Sind sie reich?«

»Auch das weiß ich nicht. Vielleicht sind sie reich.«

»Ist nicht auch ein Herr mit ihnen gekommen?«

»Ein Herr?«

»Ja, ein Herrl«

Der Schulze seufzte auf.

»O Gott!« sagte er gähnend. »N–n–nein, ein Herr ist nicht dabei … Ich glaube nicht, daß einer dabei ist. Ich weiß es nicht!« fügte er plötzlich hinzu.

»Was gibt es hier noch für Nachbarn in der Nähe?«

»Was für Nachbarn? Nun, es sind eben verschiedene da.«

»Verschiedene? Und wie heißen sie?«

»Wer – die Gutsherrinnen oder die Nachbarn?«

»Die Gutsherrinnen.«

Der Schulze seufzte wieder auf.

»Wie sie heißen?« murmelte er. »Gott weiß, wie sie heißen! Die Ältere heißt, glaube ich, Anna Fjodorowna, und die Jüngere … Nein, ich weiß nicht, wie die Jüngere heißt.«

»Weißt du wenigstens, wie sie mit ihrem Familiennamen heißen?«

»Familiennamen?«

»Ja, mit dem Familiennamen, dem Zunamen.«

»Zunamen … Ja so. Das weiß ich bei Gott nicht.«

»Sind sie noch jung?«

»Nein, das nicht.«

»Wie alt?«

»Ja, die Jüngere wird so über die Vierzig sein.«

»Es ist alles nicht wahr, was du mir sagst.«

Der Schulze schwieg eine Weile.

»Nun, Sie werden es wohl besser wissen. Ich weiß von nichts.«

»Von dir werde ich wohl doch nichts anderes zu hören bekommen!« rief ich geärgert aus.

Da ich aus Erfahrung wußte, daß man von einem Russen, wenn er schon einmal angefangen hat, solche Antworten zu geben, nichts herausbekommen kann (ich hatte übrigens den Mann aus dem tiefsten Schlafe geweckt, er war noch ganz verschlafen und fiel bei jeder Antwort, die er mir gab, ein wenig vorn über, während seine Augen kindliches Erstaunen ausdrückten und er offenbar große Mühe hatte, die vom Honig des ersten Schlummers zusammengeklebten Lippen aufzureißen), – so gab ich alle weiteren Versuche auf. Ich verzichtete auf das Abendbrot und ging in meine Scheune schlafen.

Ich konnte lange nicht einschlafen. »Wer ist sie?« fragte ich mich in einem fort: »Eine Russin? Wenn sie eine Russin ist, warum spricht sie italienisch? … Der Schulze behauptet, sie sei nicht mehr jung … Er lügt … Und wer ist jener Glückliche? … Ich kann wirklich nichts begreifen … Welch ein seltsames Abenteuer! Ist es möglich, so zweimal hintereinander … Ich muß aber bestimmt erfahren, wer sie ist und wozu sie hergekommen ist …« Unter solchen wirren, abgerissenen Gedanken schlief ich sehr spät ein und hatte sonderbare Träume … Bald schien es mir, ich irre irgendwo in einer Wüste, in der drückendsten Mittagsglut herum und sehe über den glühend heißen gelben Sand einen großen Schatten huschen … Ich hebe den Kopf und sehe meine Schöne in den Lüften fliegen. Sie ist ganz weiß, hat große weiße Flügel und lockt mich zu sich. Ich stürze ihr nach, sie schwebt aber leicht und schnell vorbei, ich kann mich nicht von der Erde erheben und strecke vergeblich meine gierigen Arme nach ihr aus… »Addio!« ruft sie mir noch zu und entschwindet. – Warum habe ich keine Flügel… »Addio …« Und von allen Seiten klingt es: »Addio!« Jedes Sandkörnchen schreit und piepst: »Addio …« Das »i« klingt mir als unerträglicher, schneidender Triller ins Ohr… Ich bemühe mich, es wie eine Mücke zu verscheuchen, ich suche sie mit den Augen… Sie ist aber schon zu einem Wölkchen geworden und steigt langsam zur Sonne empor; die Sonne zittert, schwankt, lacht und streckt ihr lange goldene Fäden entgegen … Nun ist sie schon ganz von diesen Fäden umsponnen und löst sich in ihnen auf; ich schreie aber wie besessen: »Das ist nicht die Sonne, das ist nicht die Sonne, das ist die italienische Spinne; wer hat sie über die russische Grenze gelassen? Ich werde sie anzeigen: ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie sie in fremden Gärten Orangen gestohlen hat…« Bald träumte mir, ich gehe einen schmalen Bergpfad hinauf… Ich habe es sehr eilig: ich muß möglichst schnell irgendein Ziel erreichen, wo mich ein unerhörtes Glück erwartet; plötzlich erhebt sich vor mir ein riesengroßer, steiler Felsen. Ich suche einen Durchgang, ich suche rechts, ich suche links, kann aber keinen Durchgang finden! Und plötzlich erklingt hinter dem Felsen die Stimme: »Passa, passa quei’ colli…« Die Stimme ruft und lockt mich; sie wiederholt immer den gleichen traurigen Ruf. Ich bin von Sehnsucht erfaßt, ich werfe mich unruhig hin und her, will wenigstens einen schmalen Spalt finden… Doch wehe! Von allen Seiten erhebt sich die steile Granitwand … »Passa quei’ colli«, wiederholt wehmütig die Stimme. Mein Herz vergeht vor Sehnsucht, ich stürze mich mit der Brust gegen den glatten Stein und kratze wütend mit den Nägeln an ihm… Plötzlich öffnet sich vor mir ein dunkler Gang. Ich kann vor Freude kaum atmen und eile vorwärts… »Unsinn!« ruft mir jemand zu, »du kommst nicht durch…« Vor mir steht Lukjanytsch; er winkt mir mit den Händen und droht… Ich durchsuche eilig die Taschen, will ihn bestechen, kann aber keine einzige Münze finden … »Lukjanytsch,« sage ich ihm, »laß mich durch, ich werde dich später belohnen.« – »Sie irren, Signore,« antwortet mir Lukjanytsch mit einem seltsamen Ausdruck: »Ich bin kein Leibeigener; erkennen Sie doch in mir den berühmten fahrenden Ritter Don Quixote von La Mancha. Mein ganzes Leben lang habe ich meine Dulcinea gesucht und sie nicht finden können. Ich werde nicht leiden, daß Sie die Ihrige finden …« Und wieder ruft die Stimme beinahe weinend: »Passa quei’ colli…« – »Aus dem Weg, Signore!« rufe ich wütend aus und stürze mich auf ihn… Doch die lange Lanze des Ritters trifft mich ins Herz… ich falle tot hin, ich liege auf dem Rücken… kann mich nicht rühren… und da sehe ich: sie kommt mit einer Lampe in der Hand, sie hebt die Lampe mit einer schönen Gebärde über den Kopf, blickt sich im Finstern um, schleicht vorsichtig zu mir heran und beugt sich über mich… »Da ist er also, der Narr!« sagt sie verächtlich lächelnd: »Er ist’s, der erfahren wollte, wer ich sei… Das heiße Öl der Lampe tropft mir auf mein verwundetes Herz… »Psyche!« bringe ich mühsam hervor und erwache…

Ich hatte sehr schlecht geschlafen und war schon beim ersten Morgengrauen auf den Beinen. Ich kleidete mich schnell an, nahm mein Jagdgewehr und begab mich direkt zum Landsitz. Meine Ungeduld war so groß, daß ich das mir bekannte Tor noch während des Sonnenaufganges erreichte. Ringsherum sangen die Lerchen, und auf den Birken schrien die Dohlen doch im Hause schien noch alles in tiefem Morgenschlaf zu liegen. Sogar der Hund schnarchte noch am Zaune. Von Erwartung und Ungeduld gequält und beinahe erbost ging ich im taubedeckten Grase auf und ab und blickte immerfort auf das niedere unansehnliche Haus, das in seinen Mauern jenes geheimnisvolle Wesen barg… Plötzlich knarrte leise die Gartenpforte und auf der Schwelle erschien Lukjanytsch. Er war mit einem merkwürdigen gestreiften Halbrock bekleidet, und sein langgezogenes Gesicht erschien mir mürrischer als je. Er sah mich nicht ohne Erstaunen an und wollte die Pforte gleich wieder schließen.

»Du, mein Lieber!« rief ich ihm schnell zu.

»Was suchen Sie hier um diese frühe Stunde?« fragte er mich gedehnt und dumpf.

»Sag mir bitte, man sagt, daß eure Herrin angekommen sei?«

Lukjanytsch schwieg eine Weile.

»Ja, sie ist angekommen…«

»Allein?«

»Mit der Schwester.«

»Hatten sie nicht gestern abend Besuch?«

»Nein.«

Mit diesen Worten zog er wieder die Pforte an sich.

»Warte, warte, mein Lieber… einen Augenblick…«

Lukjanytsch hüstelte und krümmte sich vor Kälte.

»Was wollen Sie denn eigentlich?«

»Sage mir bitte, wie alt ist deine Gnädige?«

Lukjanytsch sah mich mißtrauisch an.

»Wie alt die Gnädige ist? Ich weiß nicht. Sie wird wohl über die Vierzig sein.«

»Über die Vierzig! Und die Schwester?«

»Etwas jünger als vierzig.«

»Ist’s möglich! Ist sie schön?«

»Wer? Die Schwester?«

»Ja, die Schwester.«

Lukjanytsch lächelte.

»Ich weiß nicht, das kommt auf den Geschmack an. Ich finde sie nicht schön.«

»Wieso?«

»Sie ist schon gar zu unansehnlich. Ein wenig kränklich.«

»So! Und ist außer den beiden niemand hergekommen?«

»Niemand. Wer sollte denn noch herkommen?«

»Es kann ja nicht sein!… Ich…«

»Ach Herr! Sie werden mit Ihren Fragen wohl nie aufhören,« sagte der Alte geärgert. »Es ist auch zu kalt! Adieu!«

»Warte noch… Da hast du was!…« Ich reichte ihm einen Viertelrubel, den ich für ihn vorbereitet hatte; meine Hand stieß aber an die Pforte, die er mir vor der Nase zuschlug. Das Silberstück fiel zu Boden und rollte mir vor die Füße.

– Du alter Schwindler! – sagte ich mir. – »Don Quixote von La Mancha! Man hat dir wohl befohlen, zu schweigen… Warte nur, mich wirst du nicht anführen…«