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Mariana Caplan bietet mit ihrem Buch eine überaus nützliche, umfangreiche und klar gegliederte Anleitung zur Entwicklung von Unterscheidungsvermögen auf dem spirituellen Weg an. Gerade hier im Westen, wo das Leben nicht in eine uralte geistig-spirituelle Matrix eingebunden ist, aus der heraus jeder intuitiv weiß, was ein spiritueller Weg und was ein Guru (im wahren Sinne des Wortes) ist, gibt es auf dem Gebiet der Spiritualität viel Verwirrung. Östliche Weisheit geht nicht nur mit westlicher Tiefenpsychologie eine fruchtbare Beziehung ein, sondern wird oft auch von den Schattenseiten der westlichen Kultur mit ihrer Oberflächlichkeit, ihrer Fast-Food-Mentalität, ihrem Materialismus und ihrem Streben nach schnellen Resultaten in Anspruch genommen.Caplan stellt überzeugend dar, dass Erleuchtungserlebnisse nicht das Ziel und das Ende des spirituellen Weges bedeuten, sondern eher einen Einstieg darstellen. Sie macht deutlich, dass wirkliche spirituelle Entwicklung durch einen erbarmungslosen Prozess der Konfrontation mit uns selbst, mit unseren Ängsten und Widerständen, mit unserer gesamten Konditionierung geschieht, meistens langwierig und mühsam ist und durch viele Krisen führt. Dabei erweist sich oft der Schock einer schweren Krise als heilsam und wachstumsfördernd, besonders, wenn es uns möglich ist, sie in diesem Zusammenhang zu sehen.
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Seitenzahl: 439
Veröffentlichungsjahr: 2010
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Amerikanische Originalausgabe: Mariana Caplan: Eyes Wide Open.
Cultivating Discernment on the Spiritual Path.
Published by: Sounds True, Boulder, Colorado Deutsche Ausgabe:
Mariana Caplan: Augen auf!
Der Weg der spirituellen Unterscheidungskraft.
Übersetzt von Anama Frühling, erschienen bei: advaitaMedia – Weisheit aus der Stille
Am Gutspark 1
23996 Saunstorf
www.advaitamedia.com
Übersetzung:
Anama Frühling, Hamburg
Cover, Coverfoto, Satz:
Katharina Joanowitsch, Hamburg
©advaitaMedia GmbH
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Natonalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte biografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar ISBN 978-3-936718-21-8
Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Funk, Fernsehen und sonstige auch elektronische Kommunikationsmittel, fotomechanische oder vertonte Wiedergabe sowie auszugsweisen Nachdrucks vorbehalten.
Ich widme dieses Buch meinem Lehrer Lee Lozowick, der mich sprirituelle Unterscheidungskraft lehrte; meinen Eltern Herbert und Mollie Caplan, die mir das Leben schenkten; und meinen Lesern, die mir den Anlass zum Schreiben gaben.
Es ist besser, gut zu reisen, als anzukommen.DER BUDDHA
Inhalt
Vorwort
Danksagungen
Einführung
Augen auf! – der Weg der spirituellen Unterscheidungskraft
Kapitel 1
Was ist Spiritualität überhaupt?
Der spirituelle Marktplatz
Der Aufstieg und Fall großer Gurus und großer Schüler
Es geht nicht um Erleuchtung
Was willst du wirklich?
Das Bedürfnis nach einer umfassenden Spiritualität
Kapitel 2
Ansteckende spirituelle Krankheiten
Die Unvermeidlichkeit von ansteckenden spirituellen Krankheiten
Die Verbreitung von ansteckenden spirituellen Krankheiten durch Kultur, Lehrer und Ego
Zehn ansteckende spirituelle Krankheiten
Der tödliche Virus: „Ich bin angekommen!“
Die Verhütung von ansteckenden spirituellen Krankheiten
Tests für spirituell übertragene Krankheiten
Unsere Irrtümer zugeben
Kapitel 3
Die geistige Einstellung
Es geht nur um die Einstellung
Zwölf Einstellungen, die für die Entwicklung von Unterscheidungsvermögen auf dem spirituellen Weg wichtig sind
Die Notwendigkeit der Selbsterforschung
Kapitel 4
Die Psychologie des Egos
Sichtweisen über das Ego
Gesunde Ich-Entwicklung
Psychologie und Ego
Mami, Papi und das Labyrinth der Emotionen
Das Wesen von Projektion
Eine karmische Sichtweise der Psychologie
Kapitel 5
Spiritueller Materialismus und spirituelle Umgehungsstrategien
Spiritueller Materialismus
Spirituelle Umgehungstendenzen
Wenn alles nur Illusion ist, warum muss ich dann an meinen Mami-Papi-Problemen arbeiten?
Spirituelles Umgehungstendenzen in neuen religiösen Bewegungen
Wenn spirituelle Lehrer sich nicht mit ihren alten Geschichten befasst haben
Kapitel 6
Die Heilungskrise
Der Riss
Die Krise als Chance verstehen
Die dunkle Nacht der Seele
Bodenlosigkeit
Die Trauer des Egos
Kapitel 7
Das tantrische Prinzip
Die Untrennbarkeit von Nicht-Dualität und Dualität
Die Verwandlung von Gift in Medizin
Die Praxis der Nicht-Ablehnung
Beschränkung und Sublimierung: Das tantrische Brahmacharya
Kapitel 8
Pandoras Geheimnis: das Entmystifizieren des Schattens
Ein neuer Blick auf den Pandoramythos
Warum wir die Dunkelheit in uns fürchten
Die Psychologie des Schattens
Die Arbeit mit dem Schatten
Eine neue Einstellung zur Sünde und die Abschaffung von Scham
Kapitel 9
Der Körper (engl. body) als Bodhi-Baum: die Notwendigkeit der Verkörperung
Was ist Verkörperung?
Um geheilt zu werden, musst du fühlen
Verkörperung und Ausgleich der drei Zentren des Menschen
Jangalykayamane: Der Urwaldarzt
Kapitel 10
Die Vereinigung von Psychologie und Spiritualität
Psychologie und Spiritualität: Ein einziger Weg oder zwei Wege?
Ein Prozess gegenseitiger Vervollkommnung
Auf dem Wege zu einer neuen Psychologie
Erleuchtete Dualität
Kapitel 11
Die Frage des Lehrers
Die spirituellen Möglichkeiten der Schüler-Lehrer-Beziehung
Die psychischen Herausforderungen der Schüler-Lehrer-Beziehung
Die psychische Herausforderung, ein Lehrer zu sein
Kapitel 12
Om mani padme werd erwachsen!
Selbstverantwortung
Der wesentliche Wert einer Übungspraxis
Danken und Preisen
Ein Liebesbrief des Göttlichen
Anmerkungen
Glossar
Bibliographie
Über die Autorin
Vorwort
Zum ersten Mal in der Geschichte hat eine große Anzahl von Menschen Zugang zu den fortgeschrittensten spirituellen Lehren. Das ermöglicht ihnen, mit spirituellen Übungswegen in Kontakt zu treten, die zuvor nur für wenige Auserwählte wie Eremiten, Mönche und Heilige zur Verfügung standen. Das ist eine wunderbare Gelegenheit, die für eine große Anzahl von Menschen die Möglichkeit eröffnet, zu ihrem wahren Wesen zu erwachen und dennoch ein gewöhnliches Leben zu führen.
Gleichzeitig bringt das jedoch auch eine ganze Reihe von neuen Fallstricken, Missverständnissen und irregeführtem Streben mit sich, die Mariana Caplan in diesem Buch verständnisvoll erforscht und aufgelistet hat. Wenn man daran interessiert ist, die Art von umfassender Spiritualität, die sie befürwortet, zu leben und zu praktizieren, kann man gewiss Nutzen aus diesem Führer ziehen, der beschreibt, wie man eine der unerlässlichsten Zutaten der verkörperten Spiritualität entwickelt: Unterscheidungsvermögen.
Selbst unter den besten Umständen verläuft der Weg der spirituellen Entwicklung nicht so geradeaus vorwärts wie es zunächst erscheinen mag. Ein Grund dafür ist, dass er uns in eine höhere Ordnung der Wahrheit einführt, die oft im Widerspruch steht zu unserer gewöhnlichen Denk- und Wahrnehmungsweise. Im Buddhismus werden diese beiden Realitätsebenen als die absolute und die relative Wahrheit bezeichnet. Gewisse Sichtweisen, die aus der absoluten Ebene stammen wie „nichts ist real“, „lass deinen Geist los“, „gut und schlecht sind nur Illusion“, „lass das Ego einfach fallen und gib dich hin“ können leicht zu Instrumenten des Selbst-Betruges und der Perversion werden und großen Schaden anrichten, wenn sie auf falsche oder unklare Weise angewandt werden.
Einem spirituellen Lehrer, einer spirituellen Lehre oder Praxis zu begegnen, kann die Türen zu inneren Reichtümern öffnen, die sich berauschend anfühlen wie Verliebtheit. Wenn wir uns verlieben, geraten wir in Versuchung zu denken: „Das ist Liebe; endlich habe ich sie gefunden.“ Dennoch sind frühe Verliebtheiten nur ein kleiner Einblick in eine viel tiefere, größere Dimension von Liebe, und um diese vollkommen zu erkennen, ist eine Reise innerer Transformation erforderlich. Ebenso wie Verliebtheit uns kaum dafür qualifiziert, die Herausforderungen einer fortlaufenden Beziehung oder Ehe zu meistern, sind leicht erworbene Einblicke in spirituelle Wahrheiten etwas ganz anderes als das Erlangen wahrer spiritueller Erkenntnis. Wirkliche gelebte spirituelle Entwicklung geschieht durch einen erbarmungslosen Prozess der Konfrontation mit uns selbst, der es erfordert, durch alle unsere Ängste und Widerstände hindurchzugehen. Das bezieht die Klärung von Hindernissen, all der alten Wunden, Verteidigungsmechanismen, Vorwände, Forderungen, Fixierungen und Leugnungen mit ein, die wir aus der Vergangenheit mit uns herumtragen.
Dennoch hat sich jetzt im Westen eine oberflächliche Spiritualität weit verbreitet, die unmittelbare Einblicke in die eigene Essenz verspricht, während sie ansonsten wenig von dem spirituellen Bewerber verlangt. Sie predigt einen einseitigen Absolutismus, oft im Namen von Advaita Vedanta, wo man nichts tun muss als in diesem Moment zu seiner göttlichen Natur zu erwachen und schon wird sich alles andere offenbaren. Das übt sicherlich einen gewissen Reiz aus in einer Kultur, die auf sofortige Ergebnisse ausgerichtet ist, in der die Menschen nichts davon hören wollen, wie langsam, beschwerlich und fordernd der spirituelle Weg wirklich ist. Nein, wir sind fertig mit den alten spirituellen Praktiken. Den neo-Vedantins zufolge brauchen wir keine Praxis: Praxis ist eine Anstrengung, die unser Erwachen nur hinauszögert, weil man eine Praxis ausübt, um irgendwohin zu gelangen. Warum nicht Zeit sparen und einfach auf der Stelle erwachen? Es ist schon hier, also vergiss die Praxis. Sei einfach.
Diese einseitige Sicht beruht, wie es bei vielen Fallstricken des Weges üblich ist, auf einer gewissen Wahrheit: Ja, es ist wahr, wir können unsere letztendliche Natur jederzeit in einem kurzen Moment erkennen. Ja, es ist ziemlich leicht, wenn man erst einmal weiß, wonach man sucht und wie man sich dahinein entspannen kann. Aber nein, das macht noch keinen spirituellen Weg aus, weil es nicht mit der anderen Ordnung der Realität klarkommt: den relativen Verwicklungen von Karma, Konditionierung, eingefleischten Gewohnheitsmustern, unbewussten Identitäten, psychischen Wunden und Selbsttäuschungen aller Art.
Eine simplifizierende Formel wie die Mahnung der neo-Vedantins: „Sei still und sei einfach“ ist, wie wenn man sagte: „Du brauchst nur zu lieben, dann wird Beziehung einfach sein.“ Ja, aus einer letztendlichen Sichtweise brauchte man den spirituellen Weg niemals zu gehen, denn wir sind in unserer Essenz schon vollkommen, genauso wie wir sind. Aber auf der relativen Ebene, wo wir unbewusst mit allen Arten von verborgenen Dämonen, Geistern und Tyrannen identifiziert sind, bewirken die Übungspraktiken des Weges mehr als nur unsere wahre Natur zu enthüllen. Sie sind auch dafür geschaffen, uns bei der Befreiung von diesen inneren Hindernissen für die Wahrheit, die Liebe und die Weisheit zu helfen. (Um diese Hindernisse aus dem Weg zu räumen, kann, wie ich in einem großen Teil meiner Arbeit vertreten habe, engagierte psychologische Arbeit eine wichtige, wenn nicht unerlässliche Rolle für die spirituelle Entwicklung spielen.)
Wie also entwickelt man dann am Besten die Unterscheidungsfähigkeit, die erforderlich ist für die Klärung der komplexen Beziehung von absoluter und relativer Wahrheit, um das zu erkennen, was man auf dem spirituellen Weg pflegen und was man meiden sollte? Nach den östlichen Traditionen ist die essentielle Natur des Bewusstseins wie ein kosmischer Spiegel, der die Gesamtheit aller Phänomene, richtig und falsch, wirklich und unwirklich, klar und verwirrt, gleichermaßen widerspiegelt und enthüllt, ohne an ihnen festzuhalten oder die eine oder andere Seite abzulehnen. Solch ein alles umfassendes, alles einschließendes Bewusstsein mag zunächst wie der Gegensatz von Unterscheidungskraft erscheinen. Aber Padmasambhava, der Vater des tibetischen Buddhismus, belehrt uns eines Besseren in seinen berühmten Worten: „Mein Geist ist so weit wie der Himmel und meine Aufmerksamkeit für jede Einzelheit ist so fein wie ein Sandkorn“. Nach Padmasambhava ist der weite Geist offenen, spiegelgleichen Bewusstseins, der das ganze Spiel unserer Erfahrung zulässt und willkommen heißt, auch die Grundlage für präzise Unterscheidung in den relativen Situationen unseres Lebens. Denn nur dadurch, dass wir das ganze Panorama dessen, was in uns wirklich und was unwirklich ist, sehen und erkennen, können wir unterscheiden, was wir pflegen und was wir meiden sollten. Wahlloses Bewusstsein und unterscheidende Weisheit sind gleichermaßen unerlässlich für spirituelle Entwicklung.
Was uns erlaubt, uns zu öffnen und den konditionierten Geist zu weiten, während wir das Schwert der Unterscheidungskraft schärfen, ist eine meditative Praxis, die uns helfen kann, tief in die Natur und den Prozess unserer laufenden Erfahrung zu blicken. Sich mit einer echten Lehre, einem authentischen Lehrer und einer Tradition spiritueller Praxis zu verbinden, die ihre Wirksamkeit über viele Generationen hinweg bewiesen hat, ist gleichermaßen eine große Hilfe.
Inzwischen kann ein Buch wie dieses ein Anfang sein, um viele der Verzerrungen und Missverständnisse, die zu Fehlstarts, Sackgassen, Umwegen und Katasprophen-Szenarios, die so häufig auf dem spirituellen Weg vorkommen, zu vermeiden.
John Welwood
Danksagungen
Ich möchte mich bei den vielen Menschen, die bei diesem Projekt geholfen und es unterstützt haben, bedanken. Zunächst und vor allem möchte ich meinem schreibenden „Engel“, meiner persönlichen Lektorin und Freundin, Nancy Lewis, danken, die mich viele Jahre lang großzügig mit ihrer Liebe, ihrer Aufmerksamkeit und ihrem kritisches Urteilsvermögen beim Schreiben unterstützt und mir geholfen hat, dieses Buch in die Welt zu bringen. Es gab viele Lehrer, Mentoren und spirituelle Freunde, deren Führung auf dem Weg und Beitrag zu diesem Buch, ob direkt oder indirekt, von unschätzbarem Wert waren. Dazu zählen mein eigener Lehrer, Lee Lozowick, aus der Tradition der westlichen Bauls; Sufi Sheikh Llewellyn Vaughan-Lee; John Welwood; Arnaud Desjardins; Jorge Ferrer und Gilles Farcet. Ich möchte auch meiner Freundinnenschar in der ganzen Welt, Vipassana, Devi, Bhavani, Karen, Simone, Clelia, Joanne, Regina, Lesley, Kyla, Valerie, Marianne, Ute und Ines, danken. Sie sind meine Heldinnen, mein Anker und der Beweis für die Richtigkeit meines Glaubens an die Möglichkeit einer besseren Welt. Ich möchte besonders meiner Familie danken, darunter meinem Vater Herb Caplan und meinen Brüdern Joel und Nathan, die unermüdlich ihre exzentrische Tochter und Schwester unterstützt haben. Ich danke meiner Mutter, Mollie Caplan, die vor vielen Jahren von uns ging, aber, als ich noch ein Baby war, in ihr Tagebuch schrieb, dass ich eines Tages Bücher schreiben würde. Schließlich möchte ich noch der Belegschaft von Sounds True für ihre Sorgfalt, ihren Respekt und ihre Vision danken, besonders Kelly Notaras, Tami Simon und Jaime Schwalb. Euch allen meinen allerherzlichsten Dank für eure überfließende Großzügigkeit.
Einführung
Augen auf! – der Weg der spirituellen Unterscheidungskraft
Alles wovor wir die Augen schließen, alles wovor wir weglaufen, alles was wir verleugnen, verunglimpfen oder verachten, wird uns schließlich besiegen. Was unangenehm, schmerzlich oder böse erscheint, kann zu einer Quelle von Schönheit, Freude und Stärke werden, wenn man ihm mit Offenheit begegnet.
HENRY MILLER, Im Wendekreis des Steinbocks
Ich war neunzehn Jahre alt und in meinem zweiten Jahr am College in Ann Arbor in Michigan, als ich endlich erfuhr, dass es so etwas wie einen spirituellen Weg gibt. Wie so viele junge Leute, die sich nach etwas Größerem sehnen, hatte ich mich mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln, von Alkohol über politischen Aktivismus bis hin zum Reisen, auf die Suche gemacht. Ich hatte angefangen zu reisen, als ich fünfzehn war, und zu der Zeit, als ich aufs College kam, hatte ich einen großen Teil von Zentralamerika und Europa bereist, aber mein Durst war nicht gestillt, im Gegenteil, er war nur noch gewachsen. Ich fand die tiefen Antworten, nach denen ich suchte, einfach nicht.
Im Sommer vor meinem neunzehnten Geburtstag traf ich auf einer Reise durch Zentralamerika einen Mann, der zwanzig Jahre lang durch die Welt gereist war, etwas wovon ich immer geträumt hatte, und ich war neugierig, ob er die Antworten, die er suchte, gefunden hatte. Nachdem wir uns einige Tage lang unterhalten hatten, fragte ich ihn schließlich: „Warum reisen Sie?“ „Um Freiheit zu finden“, antwortete er mir. „Haben Sie sie gefunden?“ fragte ich beharrlich weiter. „Nicht wirklich“, gab er zu.
Nach meiner Rückkehr ins College entdeckte ich das damals einzige spirituelle Buchgeschäft in Ann Arbor. Ich erinnere mich genau daran, wie ich das Geschäft zum ersten Mal betrat. Meine Augen sprangen von einem Bücherbord zum nächsten. Ich war geblendet und erstaunt von den Themen dieser Bücher: Meditation, Psychologie, Tibetischer Buddhismus, Zen, Sufismus, Mystik, Schamanismus, Selbsthilfe, Metaphysik und noch mehr. Ich begriff zum ersten Mal, dass es einen spirituellen Weg gab; es gab tatsächlich viele spirituelle Wege. Und ich begriff auch, dass ich nicht allein war. Überall auf der Welt dürsteten Menschen nach etwas Größerem. Es gab viele gangbare Wege, denen man folgen konnte. Ich war zu Hause….oder etwa nicht?
Einerseits fühlte ich mich wirklich so, als wäre ich nach Hause gekommen. Andererseits hatte ich keine Ahnung, wo ich anfangen sollte. Hunderte von Wegen und Tausende von Büchern standen vor mir – wie sollte ein Mensch da seine Reise beginnen? Und wie konnte man, wenn man einmal auf dem Weg war, mit Intelligenz und Klarheit vorgehen? Wie sollte ich mich in dieser scheinbar unendlichen Menge von Wahlmöglichkeiten zurechtfinden, wie konnte ich das für mich Richtige dazwischen herausfinden, und wie konnte ich wissen, ob ich mich nicht täuschte?
Wie ich im Laufe der nächsten zwanzig Jahre erfahren sollte, wird es nicht notwendigerweise leichter, diese Fragen zu beantworten. Stattdessen reifen sie zu immer subtilerer Schwierigkeit. Als ich mich tiefer auf den spirituellen Weg einließ, nahm die Notwendigkeit für mich zu, klar sehen zu lernen, die Augen aufzumachen, so dass ich auf eine sinnerfüllte Weise durchs Leben gehen konnte, die einen Unterschied machte - mit Leidenschaft und Kreativität. Spirituelle Urteils- oder Unterscheidungsfähigkeit, im Sanskrit viveka khyatir genannt, wird als die „krönende Weisheit“ auf dem spirituellen Weg bezeichnet.
Patanjali sagt in seinen Yoga Sutras, dass Unterscheidungskraft so machtvoll ist, dass sie die Fähigkeit hat, Unwissenheit zu zerstören und sich der Quelle des Leidens selbst zuzuwenden. Unterscheiden bedeutet „als getrennt und unterschiedlich zu erkennen und auszuwählen, was wahr, passend oder besonders gut ist“. Diejenigen, die spirituelle Unterscheidungskraft besitzen, haben diese Fähigkeit hinsichtlich spiritueller Fragen gelernt und können beständig intelligente, ausgeglichene und richtige Entscheidungen in ihrem Leben und in Bezug auf ihre spirituelle Entwicklung treffen. Sie halten die Augen offen und sie sehen klar.
Viveka khyatir wird für ein machtvolles Werkzeug gehalten, das die Fähigkeit hat, den physischen, psychischen, energetischen und feinstofflichen Körper des Menschen auf allen Ebenen zu durchdringen. In Light on the Yoga Sutras of Patanjali erklärt B. K. S. Iyengar, dass der spirituell Praktizierende durch den fortlaufenden Fluss bewusster Unterscheidung
seinen Körper erobert, seine Energie kontrolliert, seinen Geist schult und ein gesundes Urteil entwickelt, durch das er richtig handelt und erleuchtet wird. Aus dieser Erleuchtung heraus entwickelt er vollkommene Bewusstheit seines Wesenskerns, erlangt tiefstes Wissen und gibt sein Selbst der Höchsten Seele hin.1
Dieses Buch ist ein Versuch, tief in das Labyrinth des spirituellen Weges einzudringen und über die Möglichkeit einer wahrhaft integrierten, verkörperten, psychospirituellen Transformation nachzudenken. Wir werden zusammen erforschen, wie man am besten den unvermeidlichen Blockaden begegnet, die wir auf dem spirituellen Weg antreffen werden, so dass wir ein kühnes, intelligentes und ausstrahlendes Leben spiritueller Transformation leben können. Wir werden lernen, wie die Erforschung und Einschätzung verschiedener Übungssysteme, Wege und Lehrer uns helfen kann, intelligente spirituelle Entscheidungen zu treffen. Und wir werden lernen, zwischen Wahrheit und Falschheit zu unterscheiden, zwischen einer Leidenschaft, die uns bindet und einer Leidenschaft, die uns befreit.
Als wir kleine Kinder waren und uns den großen Geheimnissen des Lebens neugierig zuwandten, wie dem Tod, der Frage, wie wir hierher gekommen sind und der Herausforderung, vor die uns die menschlichen Emotionen stellen, hatten nur wenige von uns einen Vater oder eine Mutter, die uns hinsetzte und liebevoll im Wesentlichen Folgendes sagte:
Du bist hier in ein großes Geheimnis von unermesslichen Freuden und überwältigenden Nöten geraten. Du selbst bist ein Ausdruck dieses Geheimnisses. Die Menschen lernen auf viele verschiedene Weisen sich selbst und das Leben zu verstehen, aber das Wichtigste ist, erwachsen zu werden und seine eigenen Entscheidungen treffen zu lernen – klare und positive Entscheidungen, die dich erfüllen und die einen Beitrag zur Welt leisten. Ich möchte dir helfen, kluge Entscheidungen zu treffen, vor allem was deine spirituelle Reise angeht. Wenn du alt genug bist, werde ich dir verschiedene spirituelle und religiöse Wege und Übungsmöglichkeiten zeigen. Und inzwischen, solange du klein bist, werde ich dir helfen zu lernen, dir einen Weg durch die emotionalen Herausforderungen zu bahnen, die zum Menschsein dazugehören.
Die meisten von uns haben nie eine so weise und reife Einführung in die ungeheuren Herausforderungen, Privilegien und Möglichkeiten des Lebens, in das wir hineingeboren sind, erhalten. Die Erwachsenen in unserem Leben lehrten uns nicht, wie man eine weise spirituelle Wahl trifft, weil sie, mit seltenen Ausnahmen, selbst nicht wussten, wie man das macht. Unsere Schulen lehrten uns nicht mit unseren Emotionen fertig zu werden, weil die meisten Lehrer selbst mit ihren Emotionen nicht fertig wurden. In der Höheren Schule wurde kein Fach angeboten, das uns lehrte, unsere spirituellen Wahlmöglichkeiten zu erkennen, weil es keine kollektive Anerkennung und Wertschätzung dafür gab, Seele und Geist zu erziehen. Wenn wir Glück genug hatten, diese Dinge zu lernen, haben wir sie entweder aus eigenem Antrieb gelernt oder hatten das seltene Glück, von weisen, reifen und erfahreneren Menschen geführt zu werden.
Unterscheidungsvermögen zu entwickeln, hindert uns nicht daran, Fehler zu machen, aber es hilft uns, die Lektionen des Lebens klarer und schneller zu lernen, Herausforderungen in gute Gelegenheiten zu verwandeln und unnötige Hindernisse zu vermeiden. Unterscheidungsvermögen lehrt uns, gut zu leben und mit dem Gefühl zu sterben: Ich habe ein gutes Leben geführt. Ich habe so viel Selbst-Gewahrsein erworben, wie mir möglich war, und ich habe einen Zweck auf der Erde erfüllt. Wir können wissen, dass unser Leben nicht umsonst war, dass wir das Leben berührt haben und dass wir zutiefst vom Leben berührt worden sind.
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Einer meiner Mentoren, der Soziologe und Bestsellerautor Joseph Chilton Pearce, sagt, wenn er etwas über ein Thema lernen möchte, schreibt er ein Buch darüber. Dann wartet er auf das Feedback seiner Leser über seine falschen Standpunkte und ebenso auf die persönlichen Geschichten, die das Buch hervorlockt. 1999 veröffentlichte ich mein viertes Buch: Auf halbem Weg zum Gipfel der Erleuchtung – Die Gefahren und Irrtümer verfrühter Ansprüche erleuchtet zu sein. Ehrlich gesagt war ich über die weithin positive Reaktion auf das Buch überrascht. Ich hätte mir nicht vorstellen können, dass Menschen bereit und begierig sein könnten, mehr als fünfhundert Seiten Berichterstattung darüber zu lesen, wie wir uns im Namen des spirituellen Lebens selbst betrügen und betrügen lassen. Mein nächstes, 2002 veröffentlichtes Buch mit dem Titel Do You Need a Guru? Understanding the Student-Teacher Relationship in an Era of False Prophets sprach direkt die komplizierten Herausforderungen und komplexen Strukturen der Schüler-Lehrer-Beziehung in der zeitgenössischen westlichen Kultur an.
Seit der Veröffentlichung dieser beiden Bücher habe ich Briefe von Hunderten von Menschen bekommen, die ihr Leben dem spirituellen Weg gewidmet haben. Sie sind unvermeidlich der Selbsttäuschung und der Desillusionierung begegnet – ob diese nun sie selbst und ihre eigene Tendenz zu ichbezogener Verwirrung oder ihre spirituellen Lehrer und Gemeinschaften betreffen. Wenn ich meine Mailbox öffne, begegne ich täglich bewegenden Geschichten von Menschen, die sich nach Glück, Sinn, Erfüllung und Wahrheit sehnen und die den Mut aufbringen, den Hindernissen, die der Wahrheit entgegenstehen, ins Auge zu sehen, gleichgültig, wie weh es tut. Sie sind spirituelle Krieger, Reisegefährten auf dem spirituellen Weg, die sich dafür einsetzen, eine bessere Welt zu schaffen und ihr Leben als Gelegenheit betrachten, sich selbst auf immer tiefere Weise zu verstehen. Was auch immer sie durchgemacht haben, sie haben ihren Optimismus und ihren Wunsch, spirituell zu wachsen, nicht aufgegeben. Sie sehen, dass selbst die Desillusionierung sie für tiefere Schichten der Wahrheit empfänglich gemacht hat und sie haben gelernt, dass Unterscheidungskraft eine notwendige Fähigkeit ist, die man auf dem spirituellen Weg entwickeln muss.
Seit ich jene beiden Bücher geschrieben habe, haben sich einige meiner Auffassungen geändert, andere dagegen nicht. Was sich nicht geändert hat, ist meine Wahrnehmung von um sich greifender Selbsttäuschung, Verwirrung, Oberflächlichkeit und Materialismus, die einen großen Teil unserer zeitgenössischen westlichen Kultur durchdringen, insbesondere die New Age Variante. Mir ist viele Male fast das Herz gebrochen bei den Hunderten von Geschichten über Enttäuschung und Betrug, die ich gehört habe: Geschichten über den Verrat eines Lehrers, über spirituelle Skandale und über Menschen, die die Tiefe ihrer eigenen psychischen Verletzung entdeckten und andere durch ihre spirituelle Verwirrung verletzten. Ich habe auch beobachtet, wie sich mein eigenes Leben entfaltet hat, und ich entdecke weiterhin immer subtilere Schichten von Blindheit, die die Klarheit in vielen wichtigen Aspekten meines Lebens beeinträchtigen. Ich habe gesehen, dass ich mich weiterhin im Namen der Spiritualität auf zunehmend feineren Ebenen betrüge. Ich sehe diese Tendenz ebenso in mir selbst wie im Leben von spirituellen Lehrern, Psychotherapeuten, Suchenden und Praktizierenden.
Das Leben auf dem spirituellen Weg befreit uns keineswegs von menschlichem Irrtum und lehrt uns im Idealfall, mehr die Verantwortung für unsere Verwirrung und unsere Fehler zu übernehmen. Der entscheidende Unterschied zwischen diesem Buch und den beiden vorhergehenden besteht darin, dass in diesem Buch der Finger nicht nach außen zeigt, sondern ganz und gar auf uns selbst. Dieses Buch handelt nicht von Gurus und spirituellen Lehrern, sondern von dir und von mir – obgleich dieses „von dir und von mir“ eben diese Gurus und spirituellen Lehrer auch mit einschließt, weil absolut niemand befreit ist von diesen Fallgruben und Fallstricken, die fester Bestandteil des spirituellen Weges sind. Dieses Buch handelt davon, die volle Verantwortung für unser ganzes Leben zu übernehmen, sowohl für unsere natürliche Ausstrahlung und unser größtes spirituelles Potential wie auch für unsere Verwirrung und unser unentwickeltes Wissen.
Selbsttäuschung entfaltet sich mit zunehmender Subtilität, wenn wir uns von unserem falschen Selbst zu den authentischeren, wahreren Aspekten unserer Erfahrung hin bewegen. Der unsichere und schlüpfrige Boden des spirituellen Weges darf nicht unterschätzt werden; seine Fallgruben sind ebenso zahlreich wie die Schritte, die man macht, und wir alle fallen hinein. Aber je besser wir die Straße kennen, desto leichter können wir ihre Schlaglöcher vermeiden.
Der italienische Psychiater und Begründer der Psychosynthese, Roberto Assagioli, weist darauf hin, dass eine vollständige Psychotherapie nicht nur psychische Störungen behandeln, sondern darüber hinaus spirituelles Erwachen fördern und dann intelligent mit den Schwierigkeiten und neuen Herausforderungsstufen, die ein Erwachen mit sich bringt, umgehen sollte. Wenn wir neue Schichten unseres Bewusstseins zutage fördern, entdecken wir unvermeidlich auch das, was in uns auf persönlicher, familiärer, kultureller und historischer Ebene nicht vollkommen und nicht geheilt ist. Das ist kein Problem, das man fürchten und nichts Falsches, das man berichtigen müsste, sondern ein notwendiger und gesunder Aspekt spiritueller Entfaltung, dem man mit zunehmend scharfer und wirksamer Unterscheidungsfähigkeit begegnen muss.
Vor einigen Jahren suchte ich den buddhistischen Lehrer Jack Kornfield auf. „Ich möchte dir eine Frage stellen“, sagte er. „Bist du auf halbem Weg zum Gipfel der Erleuchtung?“ Er war nicht der erste, der mir im Laufe der Jahre diese Frage stellte, und meine innere Antwort war immer die gleiche: Ich bin noch längst nicht auf halbem Weg zum Gipfel! Es wäre äußerst vermessen, den Anspruch zu erheben, auf halbem Wege oder gar irgendwo „angekommen“ zu sein. Ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass die Möglichkeiten spiritueller Entfaltung buchstäblich grenzenlos sind und dass der Berg spiritueller Entwicklungsmöglichkeit keinen Gipfel hat.
Ich glaube, dass die meisten von uns ihr Leben damit verbringen, im Vorgebirge des metaphorischen spirituellen Berges herumzuspielen. Gleichgültig, ob wir mit dem Etikett „spiritueller Lehrer“ versehen sind, Hunderte von spirituellen Erscheinungen hatten oder dreißig Jahre lang ernsthafte spirituell Praktizierende waren, wir alle lernen noch, unsere Schuhbänder zu binden und unsere Schritte vorsichtig zu setzen. Manchmal klettern wir den „Berg“ hoch genug hinauf, um irgendeine Aussicht zu haben, aber wir stolpern und fallen auch ständig. Der Weg ist unendlich und menschliche Integration ist eine Ehrfurcht gebietende und mühsame Aufgabe. Es gibt außergewöhnliche Meister und Heilige, von denen einige in diesem Buch erwähnt werden, die eine wahrhaft große Vision hatten und gelernt haben, in ihr zu verweilen. Aber wir übrigen bleiben zurück mit der bescheidenen Aufgabe tiefer und lebenslanger Selbsterforschung und dem Knüpfen spiritueller Bündnisse, so dass wir zusammen lernen können, wie man diesen Weg mit Eifer und Leidenschaft geht.
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Für einen Menschen, der nach Wahrheit hungert, ist das am schönsten was am wahrsten ist. Wenn auf der Straße zur Wahrheit unterwegs zu sein aber bedeutet, dass man lernen muss, was unwahr ist, und der Unbewusstheit und den Hindernissen in sich selbst zu begegnen, nimmt ein Mensch, der die Wahrheit liebt, diese Herausforderung frohen Herzens an. Jedes Mal, wenn wir die Unwahrheit entlarven und ihr ins Auge sehen, sind wir der Wahrheit so viel näher.
Dieses Buch soll Suchende und ernsthaft spirituell Praktizierende aus allen Traditionen unterstützen. Durch meine persönlichen und beruflichen Recherchen habe ich das Privileg gehabt, vielen Menschen zu begegnen, die ich für die größten spirituellen Lehrer, Psychologen, Yogis, Heiler und religiösen Führer der Welt halte, und einen längeren Zeitraum mit ihnen zu verbringen. Viele der Zitate in diesem Buch sind persönlichen Interviews und Gesprächen mit diesen Menschen entnommen. Die Lehren, die in diesem Buch enthalten sind, stammen aus Forschungen, Experimenten und Erfahrungen mit vielen verschiedenen spirituellen Traditionen und Wegen, unter denen sich Sufismus, yogische Traditionen, Tantrischer Buddhismus, Judaismus, Hinduismus, Taoismus, Traditionen des Vierten Weges, Schamanismus, der Diamond Approach ebenso wie die Tradition der westlichen Bauls unter der Führung meines Lehrers, Lee Lozowick, befinden. Ich habe mich auch intensiv mit den psychologischen Traditionen des Westens beschäftigt, sowohl mit den traditionellen Richtungen als auch mit grenzüberschreitenden körperorientierten Psychotherapien. Es ist mein tiefer Wunsch, dass dieses Buch für Menschen aller religiösen und spirituellen Traditionen, ebenso wie vieler psychologischer Schulen, von Nutzen ist, und dass die Lücken in meiner Kenntnis gewisser religiöser Traditionen nicht die Relevanz des Grundprinzips spiritueller Unterscheidungskraft, das hier betrachtet wird, in den Schatten stellen.
Ein Buch über Unterscheidungsvermögen ist eher ein Buch über Fragen als über Antworten. Es versucht, einige der Fragen, die die größten Herausforderungen auf dem spirituellen Weg betreffen, aus verschiedenen Perspektiven zu behandeln, so dass wir lernen können, wie man die richtige Frage zur richtigen Zeit stellt und wie man Wahrheit von Falschheit unterscheidet. Wir sind aufgerufen, „ jetzt die Fragen zu leben“ mit den Worten des Dichters Rainer Maria Rilke, damit wir „vielleicht dann allmählich, ohne es zu merken, eines fernen Tages in die Antwort hinein leben.“2
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Es soll einen chinesischen Ausdruck geben, der besagt: „Mögest du in interessanten Zeiten geboren werden.“ Sei es nun ein Segen oder ein Fluch, wir sind tatsächlich in „interessanten“ Zeiten geboren. Die Ressourcen unseres Planeten schwinden und das Schicksal der Erde selbst steht auf dem Spiel. Kriminalität, Armut und Unwissen sind weit verbreitet. Religionen brechen zusammen und viele junge Leute entscheiden sich gegen die Religionszugehörigkeit ihrer Eltern. Wir sind in einer Zeit geboren, in der es hinsichtlich des Körpers, der Gefühle und des Geistes wenig oder gar keine Erziehung gibt. Als die angesehene buddhistische Lehrerin und Friedensaktivistin Schwester Chan Khong zum ersten Mal nach Amerika kam, nachdem sie zahllosen Waisen im Vietnam Krieg geholfen hatte, rief sie aus, dass sie in den Jahren ihrer Arbeit mit Waisen nichts gesehen hatte, dass der Armut des Geistes und der spirituellen Entfremdung nahe kam, die sie in der westlichen Kultur vorfand. Jene, die in den verschiedenen Kulturen überall auf der Welt durch die Jahrhunderte hindurch den spirituellen Weg beschritten haben, waren nicht gefeit gegen Skandal, Enttäuschung und die Herausforderungen, die gerade das Menschsein auf dem spirituellen Weg mit sich bringt, aber verschiedene kulturelle Bedingungen und verschiedene historische Epochen stellen tatsächlich vor unterschiedliche Herausforderungen.
Nach dem Sufi Scheich Llewellyn Vaughan-Lee ist eines der einmaligen Merkmale unserer Zeit, dass „wir vergessen haben, dass wir vergessen haben“. Wir haben nicht nur die Berührung mit unserer tieferen spirituellen Natur verloren, sondern wissen oft noch nicht einmal, dass das der Fall ist. Wie können wir uns daran erinnern, wer wir wirklich sind, und erkennen, wie wir wachsen müssen, wenn wir nicht einmal wissen, dass wir etwas vergessen haben.
Der Psychologe Abraham Maslow schrieb: „Es scheint immer klarer zu werden, dass das was wir in der Psychologie „normal“ nennen, eine Psychopathologie des Durchschnitts ist, so undramatisch und so weit verbreitet, dass wir sie gewöhnlich nicht einmal bemerken. Wir leben in wirren Zeiten, wenn wir hinsichtlich unserer Werte so in die Irre gegangen sind, dass wir nicht einmal mehr wahrnehmen, wie sehr wir aus dem Gleichgewicht geraten sind.
Noch ein anderer Aspekt der „interessanten Zeiten“, in denen wir leben, hat mit dem Massenimport von Techniken, die nicht westlichen Ursprungs sind, in unsere westliche Kultur zu tun. Die neuen und wichtigen Perspektiven, die diese spirituellen Möglichkeiten uns bieten, bringen auch ihre eigenen Herausforderungen mit sich. Jede mystische Tradition entsteht aus einem besonderen kulturellen Zusammenhang, der Familie und soziale Strukturen, Sprache und Beziehung zur Erde mit einschließt. Die westliche Psyche ist deutlich verschieden von der östlichen oder eingeborenen Psyche und nicht alle Aspekte irgendeiner östlichen oder schamanischen Tradition lassen sich auf die westliche Psyche übertragen. Im Fall von Tantra, Yoga und vielen populären schamanischen Praktiken geht der größere spirituelle Zusammenhang häufig während des Übertragungsprozesses verloren.
Es ist wichtig zu erkennen, dass die meisten zeitgenössischen spirituellen Traditionen einfach nicht geschaffen wurden, um die in den Zellen gespeicherte psychische Wunde zu durchdringen, die von der Art Trauma verursacht wird, die in der westlichen Kultur vorherrscht und durch zerbrochene Familien, Abtrennung von unserem Körper und unserem Wesen sowie der Entfremdung von authentischen Quellen spiritueller Weisheit erzeugt wird. Jeder Versuch, aus östlichen oder eingeborenen Kulturen hervorgegangene spirituelle Techniken zu verpflanzen – so Kultur übergreifend und objektiv ihre Weisheit auch zu sein scheint – muss die manchmal radikal anderen psychischen, kulturellen und historischen Umstände berücksichtigen, in denen diese Techniken entstanden und stimmig waren.
Llewellyn Vaughan-Lee sagt über die interessanten Zeiten, in denen wir leben:
Die Menschheit hat einen verzerrenden Schleier über alles gelegt. Selbst wenn man nach innen blickt, ist alles verzerrt. Man kann es nicht ändern. Wenn man etwas sagt, wird etwas anderes daraus. Die Menschen haben diese Verschleierung geschaffen, und in dieser Verschleierung findet spirituelle Praxis statt und werden spirituelle Wege gemacht.3
Die Anwesenheit von Schleiern ist als solches kein Problem; es ist eher eine Herausforderung, der man begegnen muss, indem man Unterscheidungsvermögen ausbildet und sich der Komplexität und der Variablen bewusst wird, die an diesem Prozess beteiligt sind. Interessante Zeiten verlangen kreative Lösungen. Wenn es viele Schleier gibt, die unsere Klarheit beeinträchtigen, ist die Ausbildung von Unterscheidungsvermögen umso wichtiger. Dieses Buch spricht viele der deutlich erkennbaren Herausforderungen an, denen wir als spirituell Suchende und Praktizierende in diesen interessanten Zeiten in der westlichen Welt gegenüberstehen und betrachtet eingehend die feinen Unterscheidungen, die wir machen müssen, damit wir effektiver die Möglichkeiten des spirituellen Weges nutzen und seine Schlaglöcher umgehen können.
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Kapitel 1, „Was ist Spiritualität überhaupt?“, beginnt mit einem Überblick über den zeitgenössischen spirituellen Supermarkt und betrachtet grundsätzliche Themen wie beispielsweise, warum heutzutage spirituelle Skandale so weit verbreitet sind und ob es auf dem spirituellen Weg überhaupt wirklich um Erleuchtung geht. Kapitel 2, „Spirituell übertragene Krankheiten“, stellt einen Katalog vieler der üblichen Fallen auf, denen der zeitgenössische spirituell Suchende auf seiner (oder ihrer) Reise höchstwahrscheinlich begegnet, während Kapitel 3, „Die Haltung des Geistes“, die Verhaltensweisen betrachtet, die wir entwickeln müssen, damit wir mit Unterscheidungsvermögen auf dem spirituellen Weg reisen können.
Kapitel 4 und 5, „Die Psychologie des Egos“ und „Spiritueller Materialismus und spirituelle Umgehungstendenzen“, untersuchen die Beziehung zwischen Ego, Psychologie und Karma und die Fallen, die entstehen, wenn unsere Entwicklung in diesen Bereichen unsicher, unklar und nicht im Gleichgewicht ist.
Die folgenden Kapitel erforschen den Wert der Unterscheidungskraft als Werkzeug der Transformation, das uns hilft Krisen wie auch alle anderen Aspekte unseres Lebens in wertvolle Gelegenheiten für spirituelles Wachstum umzuwandeln. Kapitel 6, „Die heilende Krise“, zeigt auf, wie die Reise des Abstiegs, der die meisten Menschen, die sich dem spirituellen Weg verpflichten, schließlich begegnen, sie zu der Fähigkeit führt, breitere und tiefere Aspekte und Dimensionen ihrer Erfahrung zu unterscheiden und zu durchdringen.
Kapitel 7, „Das tantrische Prinzip“, betrachtet, wie die sorgfältige Anwendung von Unterscheidungsvermögen innere und äußere Gifte buchstäblich in Medizin und gewöhnliche Erfahrungen in etwas Außergewöhnliches umwandeln kann. Kapitel 8, „Pandoras Geheimnis: das Entmystifizieren des Schattens“, illustriert weiter, wie die Anwendung von Unterscheidungsfähigkeit auf unser Schattenselbst eine wunderbare Möglichkeit für wirksame und integrierte spirituelle Transformation darstellt.
Kapitel 9 und 10, „Der Körper (engl. body) als Bodhi-Baum: Die Notwendigkeit der Verkörperung“ und „Die Vereinigung von Psychologie und Spiritualität“, untersuchen die lebendige Integration von Psychologie und Spiritualität und wie wir sie durch den Körper ausdrücken.
Ein Buch über Unterscheidungskraft wäre nicht vollständig ohne die Betrachtung ihrer Anwendung auf die Schüler-Lehrer Beziehung, die einer der schwierigsten Aspekte des spirituellen Lebens ist, den man mit klarem Kurs durchschiffen muss. Kapitel 11, „Die Frage des Lehrers“, versucht eine ausgewogene Darstellung zu geben von den einzigartigen spirituellen Vorteilen der Arbeit mit einem Lehrer und ebenso von den psychischen Herausforderungen, vor die diese Beziehung sowohl den Schüler als auch den Lehrer stellt. Schließlich, in Kapitel 12, „Om mani padme werd erwachsen!“, schließen wir unsere Betrachtung über das Unterscheidungsvermögen mit einer Reflexion darüber ab, was es heißt, sowohl psychisch als auch spirituell erwachsen zu werden und sich zu authentischer spiritueller Reife zu entwickeln.
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Als ich zweiundzwanzig Jahre alt war und gerade begann, spirituelle Themen tiefer zu erforschen, besuchte ich ein Seminar, das von den buddhistischen Lehrern und Autoren Stephen und Ondrea Levine gehalten wurde. Sie gehörten zu meinen Helden, da sie ihr Leben der Selbsterkenntnis, der Bewusstwerdung und dem Dienst an der Menschheit widmeten. Ich trank mit großem Durst die Weisheit, die sie sich klar erkennbar durch ein intensives und kompromissloses Leben spiritueller Praxis, unablässigen Studiums und Experimentierens, sowie mühsam erworbener Demut verdient hatten. Gegen Ende des Seminars hob eine Frau die Hand und klagte, dass, während Stephen und Ondrea solche vorbildlichen Praktizierenden geworden waren, ihre Vergangenheit sie selbst zu neurotisch gemacht habe, um jemals solche Tiefe und Weisheit zu erreichen.
Stephen sah die junge Frau sehr liebevoll an und erzählte dann zu unserer großen Überraschung die Geschichte der furchtbaren Vergangenheit, die Ondrea und er durchlebt hatten. Zu der Zeit, als sie sich begegneten, waren sie beide in der Reha, der eine von ihnen wegen Alkoholmissbrauch, der andere wegen Drogenabhängigkeit. Einer verbrachte Nachmittage damit, den Kopf gegen einen Felsen zu schlagen, der andere litt an schweren psychotischen Zuständen. Dann sah Stephen seine Zuhörer direkt an, als ob er zu jedem einzelnen von uns spräche, und sagte: „Seht mal, es ist ganz einfach: Buddha und Jesus waren Joe und Mike aus eurer Straße. Der einzige Unterschied zwischen ihnen und euch ist, dass sie eine entschlossene Entscheidung über ihr Leben getroffen und sich daran gehalten haben. Ihr müsst mir glauben. Wenn wir es soweit bringen konnten, kann es jeder.“
„Ich lehre, was ich lernen muss“, sagte T. Krishnamacharya, der Vorfahre des modernen Yoga. Ich biete diese Betrachtung spiritueller Unterscheidungskraft an, damit ich, damit wir uns alle einer größeren spirituellen Klarheit in unserem Leben annähern können. Mögen die Früchte unseres geteilten Studiums und unserer geteilten Erforschung einen kleinen Beitrag für das Abnehmen des Leidens und das Zunehmen des Friedens auf unserem Planeten leisten.
Was ist Spiritualität überhaupt?
Keine Frage, es gibt eine unsichtbare Welt.
Das Problem ist, wie weit ist sie vom Stadtzentrum entfernt und bis wann hat sie geöffnet?
WOODY ALLEN, Without Feathers
Als ich neunzehn Jahre alt war und im Flugzeug nach Mexiko City saß, um bei einem angesehenen aztekischen Schamanen Lehrling zu werden mit der Phantasievorstellung, ein kommender Neo-Carlos-Castaneda zu sein, schrieb ich in mein Tagebuch: „Ich bin zuversichtlich, dass ich, wenn ich wirklich hart an mir arbeite, alle Rituale erlerne und alles tue, was der Schamane mir rät, in drei Jahren erleuchtet bin.“
Mein Schamane, Kuiz, setzte mich nicht nur machtvollen aztekischen Ritualen aus und stellte mich nicht nur außergewöhnlichen Menschen vor, sondern erwies sich darüber hinaus als Alkoholiker, der wiederholt und aggressiv versuchte, sexuelle Gefälligkeiten als Lohn für seine Lehren von mir zu erpressen. Als ich meine Unwilligkeit demonstrierte, in dieser Münze zu zahlen, versuchte er mich zu zwingen, ihm die mir verbliebenen dreihundert Dollar zu geben, die ich für den Rest meines Sommers in Mexiko gespart hatte. Unnötig zu sagen, dass ich auf jener Reise mehr über spirituelle „Verdunkelung“ lernte als über spirituelle Erleuchtung, und das war erst der Anfang.
Kuiz war mein erster offizieller spiritueller Lehrer. Glücklicherweise schrieb ich Lehrer nach dieser schockierenden Desillusionierung nicht ab und gab auch nach der Enttäuschung mit dem nächsten Lehrer oder dem übernächsten nicht auf. Ich fuhr fort, bei transpersonalen Psychologen, selbst ernannten Göttinnen und Hexen, Juden, Buddhisten, Hindus und amerikanischen Ureinwohnern zu lernen. Trotz jugendlichem Alter und wenig Erfahrung wusste ich, dass die menschliche Psyche und der menschliche Geist unermesslich weit und komplex sind und dass man eine profunde und seltene Qualität von Führung braucht, um zu lernen, sich im Labyrinth der inneren Welt zurechtzufinden und ein Mensch mit Wissen und Weisheit zu werden.
Obgleich ich keinen Begriff dafür hatte, begriff ich irgendwie, dass ich lernen musste, das zu entwickeln, was ich später als spirituelle Unterscheidungskraft erkannte. Ich lernte, dass es ausgereifte Lehren und Methodologien als Leitsysteme auf dem spirituellen Weg gibt. Aber als junger Mensch mit hungrigem Herzen hatte ich noch keine Landkarte, die mich zu dem schwer fassbaren Ziel führen konnte, das ich erreichen wollte, für das ich aber keinen Namen hatte. Ich hatte keine Bedienungsanleitung, der mir helfen konnte zu verstehen, wie man seinen Weg im Leben „macht“. Erleuchtung war ein Begriff, den man in meinen Kreisen frei zur Debatte stellte, aber was das war, wer mir helfen konnte, es zu finden, wo man am besten danach suchte, wer und was auf dem Weg vermieden werden sollte und welche subtilen Fallen in mir selbst verborgen lagen, das alles blieb ein riesenhaftes Rätsel. Unterscheidungsfähigkeit war etwas, dass ich durch Versuch und Irrtum entdecken sollte.
Es sind jetzt zwei Jahrzehnte vergangen, seit ich jene erste Reise nach Mexiko unternahm und ich fand schließlich einen integren spirituellen Lehrer, bei dem ich während des größten Teils meines Erwachsenenlebens lernte. Durch ebenso viele Irrtümer, wie ich Versuche hatte, habe ich etwas über Unterscheidungsfähigkeit gelernt und darüber, wie man zwischen verschiedenen Wegen, Übungssystemen, Lehrern und inneren Prozessen unterscheidet. Wenn auch jede menschliche Reise einzigartig ist und niemand den Weg für einen anderen gehen oder andere davor bewahren kann, ihre eigenen Fehler zu machen und ihre eigenen Lektionen zu lernen, so können wir doch lernen, wie man Unterscheidungsvermögen erwirbt. Dadurch lernen wir, zunehmend intelligente und wirksame Entscheidungen für uns zu treffen und unnötige Umwege und unnötiges Leiden, das durch einen Mangel an Erziehung und Bewusstheit hervorgerufen wird, zu vermindern. Das „Schwert der Unterscheidungskraft“, das in vielen spirituellen Traditionen beschrieben wird, ist unser größter Schutz auf dem spirituellen Weg.
Da sich weiterhin zeitgenössische spirituelle Bewegungen in der westlichen Kultur ausformen, gibt es eine wachsende Zahl von Schulen und Zugängen, die sich auf verschiedene Aspekte der spirituellen Integration konzentrieren. Da dieses Buch sich auf die Weisheit vieler Traditionen und Übungssysteme gründet, bietet es ein vollständiges Modell für Transformation an, das für die Praktizierenden aller Religionen und spirituellen Traditionen anwendbar ist. Es ist ein Modell, das insbesondere die schwierigen Zeiten, in denen wir leben, berücksichtigt, sowie die Feinheiten, die die Arbeit mit dem egoverhafteten Geist und der westlichen Psychologie mit sich bringt und die unbedingte Forderung, alle Ebenen in diese Transformation einzubeziehen.
Im Verlauf dieses Buches werden wir eine Vielzahl von Prozessen, Perspektiven und Prinzipien betrachten, denen die meisten Menschen, die sich für einen langen Zeitraum einem spirituellen Weg verpflichten, höchstwahrscheinlich begegnen werden. Gleichgültig in welcher Tradition sie praktizieren, Menschen, die ernsthaft ein spirituelles Ziel verfolgen, werden Herausforderungen wie Selbsttäuschung, Zusammenbruch und heilsamen Krisen, Desillusionierung ihres Traumes von der Erleuchtung und den Lehrern, die sich als erleuchtet bezeichnen, ins Auge sehen müssen. Schon allein die ungeheure Aufgabe, sich in der Komplexität der Arbeit mit der Psyche und dem Ego zurechtzufinden, verlangt eine fein abgestimmte Fähigkeit zu unterscheiden.
„Scharfe Wahrnehmung und Urteilsfähigkeit“, „die Fähigkeit zu erfassen und zu verstehen, was unklar ist“, „die Eigenschaft, weise und objektiv zu urteilen“ sind einige Definitionen von „Unterscheidungsvermögen“ in den wichtigsten Wörterbüchern. Unsere Aufgabe als spirituell Praktizierende ist es zu lernen, klar zu sehen, die Augen offen zu halten, die Wahrheit von der Unwahrheit zu unterscheiden und das, was unbewusst ist, ins Licht des Gewahrseins zu rücken.
Sich in diesen Zeiten mit Klarheit und klugem Urteil auf dem spirituellen Weg zurechtzufinden, kann eine entmutigende Aufgabe sein, und die Reise eines jeden Menschen bringt ihre eigenen besonderen Bedürfnisse mit sich. Der spirituelle Supermarkt ist hell erleuchtet und mit einer überwältigenden Menge von Waren überladen. An jedem Punkt seiner Reise eine gesunde, nährende und ökonomische Wahl zu treffen, kann eine Herausforderung darstellen. Selbst jene, die sich schon seit Jahren auf dem spirituellen Weg engagieren, werden unausweichlich mit der Herausforderung konfrontiert zu entscheiden, was in der Fülle der Praktiken und Lehrer, die zur Verfügung stehen, in einem bestimmten Stadium ihres Lebens die wirksamste Option ist, um ihre Praxis zu vertiefen.
Zur Einführung in unsere Betrachtung des Unterscheidungsvermögens als wesentliches Werkzeug auf dem spirituellen Weg beginnen wir mit einem Überblick über den Zustand der zeitgenössischen Spiritualität in der westlichen Welt. Wie haben sich Spiritualität und Erleuchtung von einer Seelensuche in das große Geschäft verwandelt? Welche Propaganda über Spiritualität und Erleuchtung wird uns auf dem spirituellen Marktplatz verkauft? Warum sind so viele große Gurus zu Ruhm aufgestiegen und dann in einen Skandal hineingeschlittert, der dazu führte, dass ihnen einst ergebene Anhänger vom spirituellen Weg enttäuscht wurden und sich wieder für das gewöhnliche Leben entschieden haben? Warum hat der Dalai Lama die Welt fasziniert und warum ist der Buddhismus ein so attraktiver und populärer Weg? Was ist Erleuchtung überhaupt? Und was ist es, was wir wirklich wollen?
Nichts ist so hungrig wie das menschliche Herz. Ein Verlangen und eine Sehnsucht nach spiritueller ebenso wie nach menschlicher Erfüllung rühren sich so tief in uns, dass die meisten von uns nicht wagen, ihre Gegenwart zuzugeben aus Angst, dass sie uns verzehren. Wir spüren einen Vulkan aufgespeicherter Möglichkeiten, der sich unter der Oberfläche unseres eigenen Bewusstseins rührt. Wir spüren, dass Universen in uns existieren. Wir ahnen diese unterirdische Existenz in uns. Wir brennen darauf, geboren zu werden: das abgekoppelte Potential in uns freizusetzen, unsere Grenzen zu überschreiten, eine Intimität mit uns selbst zu entdecken, von der wir in unserer Lebenserfahrung oder unseren Träumen einen Geschmack oder eine Ahnung bekommen haben. Diese Sehnsucht lebt in jeder Faser unserer Zellen.
Unfähig, diesen Hunger auch nur zu benennen, unterdrücken die meisten ihn und fahren mit ihrem vorhersagbaren, mechanischen Leben fort. Wie mein Freund Zak, ein Bollywood Filmproduzent, einmal zu mir sagte: „Ich wage nicht, die erste Frage über mich zu stellen, weil ich weiß, dass es die Tür zu Tausenden, Millionen, weiterer Fragen öffnen würde, und ich habe Angst, es könnte mein Leben, so wie ich es kenne, zerstören.“
Und das könnte es wirklich. Aber für viele von uns kommt ein Punkt, wo wir diesen Hunger nicht länger leugnen können. Unser Leiden ist zu groß. Unser Verstand quält uns; unser Leben klappt nicht so, wie wir uns das vorgestellt haben, oder es klappt auf einer weltlichen Ebene, aber wir haben immer noch nicht die tiefere Freude gefunden, von der wir spüren, dass sie möglich ist. Unser Gewissen nagt an uns, und wir können nicht länger leugnen, dass wir das Bedürfnis haben zu erfahren, worin unser noch ungelebtes Potential besteht. Und so machen wir uns auf die Suche nach irgendeiner Form von Führung oder Praxis, die uns helfen kann, den Hunger unseres Herzens zu stillen, und wir finden uns auf dem wieder, was man im weitesten Sinne als „spirituellen Weg“ bezeichnet.
Anderen von uns scheint der Weg entgegenzukommen und sich in ihr Leben einzufügen. Wir gehen gerade unserer gewöhnlichen Tätigkeit nach, wenn mitten darin irgendein Mensch, ein Buch oder eine Erfahrung auftaucht, unsere Welt erschüttert und so laut zu uns spricht, dass wir es nicht verleugnen können. Es kommt als eine große Offenbarung und fühlt sich dennoch so intim und vertraut an. So ist der spirituelle Weg oft. Etwas scheinbar „Neues“ erscheint in unserem Leben und dennoch wissen wir, dass es immer bei uns gewesen ist.
Ob wir nun bewusst suchen oder nicht, die Entdeckung des spirituellen Weges ist oft eine Zeit großer Feier für das menschliche Herz. Er kommt als persönlicher und intimer Übergangsritus: Ich bin gefunden worden. Oft bringt er erleuchtende Erfahrungen und Einsichten mit sich. Der Weg erscheint einfach und offensichtlich. Alles was wir tun müssen, ist lernen, verstehen, den Geist beruhigen, ein paar Übungen machen und mit der Zeit werden sich dauerhafter Frieden und Selbstkenntnis bei uns einstellen.
„Und Gott amüsiert sich darüber, dass du einst versuchtest, ein Heiliger zu sein“, schreibt der persische Mystiker Hafiz. Wenn wir Glück haben, dauert die anfängliche Einsicht in spirituelles Leben, die großen spirituellen Flitterwochen, ebenso lange wie die Phase der Flitterwochen bei einer großen Romanze: Monate, vielleicht Jahre. Schließlich wird eine Verpflichtung eingegangen zwischen dem begrenzten Selbst und dem grenzenlosen Selbst, zwischen einem selbst und Gott oder der Wahrheit, und dann beginnt die tiefe innere Arbeit des Weges.
Der spirituelle Marktplatz
Wenn wir uns für den spirituellen Weg zu interessieren beginnen, tun wir gut daran, die Warnung zu beachten: „Käufer, pass auf!“, da authentische Spiritualität oft zu einer Ware, die man auf dem Marktplatz kauft und verkauft, herabgewürdigt und manipuliert wird. Spiritualität ist nicht nur ein Weg zu Befreiung, Wahrheit und Mitgefühl; sie ist auch ein großes Geschäft. Spiritualität hat sich bis zu einem derartigen Grad mit der kapitalistischen Kultur vermischt, dass Spiritualität jetzt buchstäblich zu einem Wirtschaftszweig geworden ist, den man überraschend leicht mit authentischer Spiritualität verwechseln kann.
In seinem Artikel „Yogis, behaving badly“ schreibt der Journalist Paul Keegan, dass es 2002 geschätzte 18 Millionen Praktizierende von modernem Yoga in den Vereinigten Staaten gab und der Markt für gesunde, umweltfreundliche Produkte auf 230 Billionen Dollar geschätzt wurde. Yogamatten kann man bei Kmart und Wal-Mart und sogar in vielen Supermärkten und Tankstellengeschäften (vielleicht für jene, die in ihrem Auto Yoga asanas üben wollen?) kaufen. Viele große spirituelle Retreat Zentren, die Kurse für alles, von bewusster Scheidung bis hin zu achtsamem Stricken, anbieten, arbeiten mit einem Budget von vielen Millionen Dollar. Plastik Buddhas können an Kaugummiautomaten gewonnen werden und in Sedona, Arizona, haben findige Vermarkter tatsächlich erklärt, dass sie die besonderen spirituellen Energiewirbel, die man dort angeblich findet, in Flaschen abgefüllt haben. Als Ergebnis der Ost-West Begegnung und der Globalisierungstendenzen, unterstützt von dem Konsumdenken, das die amerikanische Kultur charakterisiert, und seinem immer stärker werdenden nachdrücklichen Einfluss auf den Rest der Welt, ist eine Fülle von spirituellen Bewegungen aus dem Bode geschossen und verbreitet sich ebenso schnell über die Welt wie McDonald und Starbuck.
Wenn du dir nicht bewusst bist, welch einen Umfang der spirituelle Marktplatz angenommen hat, besuche eine Körper, Geist und Seele Tagung oder eine New Age Ausstellung und lass dich schockieren, erregen, entsetzen und verlocken von den Tausenden von überraschenden und nicht so überraschenden Produkten, die du dort findest. Es gibt riesige Märkte für Göttinnen-Utensilien, „spirituelle“ Bekleidung, Meditations- und Yoga-Brimborium, einschließlich Zen Wecker, Kristallpyramiden, die man sich auf den Kopf setzt, um seine Chakren zu aktivieren und Plastikapparate, die einem helfen, seine Zehen bei den Yogaübungen zu spreizen. Die Liste ist endlos und dann ist da noch der spirituelle Buchmarkt, der von allem Möglichen übersättigt ist, angefangen bei spirituell orientierten Romanzen und Fantasyliteratur bis hin zu Selbsthilfebüchern, die alles Mögliche versprechen, einen zum Schamanen auszubilden oder einen zu lehren, wie man spirituellen Sex hat.
Auch „spiritueller Tourismus“ ist ein großes Geschäft geworden, nicht nur die Art von Tourismus, die einen nach Maui führt, um Delphin Tantra zu lernen oder in den brasilianischen Regenwald, um schamanische Rituale zu üben, sondern auch die übliche, weniger leicht erkennbare Form von Wirbelwind Touren zu verschiedenen Wegen, Lehrern, Workshops und Praktiken. Es ist eine ziemliche Modeerscheinung geworden, spirituell zu sein, und wir würden uns einen großen Gefallen tun, wenn wir uns darüber im Klaren wären, ob wir unser Interesse an Spiritualität der Tatsache verdanken, dass es ein sozial angesehenes Hobby ist, oder ob es aus einem tieferen Hunger resultiert, nicht weil die eine Annäherung besser oder edler ist als die andere, sondern weil es uns hilft, uns richtig zu orientieren, wenn wir den spirituellen Marktplatz betreten.
Wie es klug ist, ein urteilsfähiger Konsument zu werden, wenn wir irgendetwas kaufen wollen, das für unser Leben Wert und Bedeutung hat, so ist es wesentlich, wenn es um Spiritualität geht. Nur die Tatsache, dass ein charismatischer Guru geschickt die Sprache der Erleuchtung benutzt, um sich und seine Lehre zu verkaufen, bedeutet nicht, dass das Produkt und der Dienst, den er anbietet, echt und von hoher Qualität sind. Fastfood-Ketten verkaufen „Nahrung“, aber der Nutzen für Ernährung und Gesundheit, den sie anbieten, ist weit von dem Nutzen entfernt, den Konsumenten von Freilandgeflügel und Weidevieh, von organisch gezogenen Früchten und organisch angebautem Gemüse haben. Wir müssen ebenso viel wissen und ebenso urteilsfähig sein, wenn wir den spirituellen Marktplatz, wie wenn wir den Supermarkt betreten. Das spirituelle Äquivalent von Fast Food wird raffiniert vermarktet und ist leicht zugänglich. Es reicht von Wochenendseminaren, die lebenslange Transformation versprechen bis hin zu so genannten „erleuchteten“ Meistern, die bereitwillig Dutzende oder sogar Hunderte ihrer Schüler beim ersten Anzeichen von spiritueller Einsicht und Erfahrung für erleuchtet erklären.
Nicht alle spirituellen Wege, Übungssysteme und Lehrer bieten die gleiche Qualität spiritueller Unterweisung an. Besondere Praktiken und Prozesse mögen zu bestimmten Zeiten auf deiner Reise hilfreich sein, sie führen dich vielleicht an die Tatsache heran, dass es eine Reise gibt, aber es ist wichtig mit der Zeit zu lernen, klare Unterscheidungen in der Vielfalt der zur Verfügung stehenden Wege, Praktiken und Lehrer zu treffen. Es ist auch wichtig, die eigene Motivation, sich mit spirituellen Themen zu befassen, genau zu prüfen. Wenn wir darauf hoffen, den wahren Reichtum zu entdekken, den spirituelle Praxis anzubieten hat, müssen wir erst einmal lernen, in der Literatur, bei den Wegen, Praktiken und Lehrern, die um unsere Aufmerksamkeit wetteifern, zwischen Rheinkieseln und Diamanten zu unterscheiden. „Narrengold existiert“, sagt Rumi, „weil es echtes Gold gibt.“
Der Aufstieg und Fall großer Gurus und großer Schüler
Als Ergebnis meiner Recherchen, der Art von Büchern, die ich schreibe, und einer Beratungspraxis, die oft Menschen anzieht, die auf die eine oder andere Weise vom spirituellen Leben enttäuscht worden sind, bin ich in ein ungewöhnliches Material spiritueller Daten eingeweiht, das wir als „Unterleib der Erleuchtung“ bezeichnen könnten. Das ist die Art von spirituellem Klatsch, die jeden ernsthaften Menschen, der sich dem Weg verpflichtet hat, schaudern ließe. Wenn man ihn ernst nimmt, offenbart er, dass absolut keiner, die Lehrer und uns selbst nicht ausgenommen, vor den Fallgruben sicher ist, denen man unvermeidlich auf dem spirituellen Weg begegnet.
Ich habe erschütternde Berichte darüber gehört, wie einige der am meisten bewunderten „erleuchteten“ Lehrer unserer Zeit in ihrem Streben nach Spiritualität ihre Kinder verließen; spirituelle Praktiken benutzten, um menschlichen Kontakt zu vermeiden und ihre Intimpartner schlecht zu behandeln, und ihr Verhalten oft mit spiritueller Terminologie und spirituellen Konzepten rechtfertigten. Skandale in Bezug auf Sex, Geld und Macht durchdringen die gegenwärtige spirituelle Szene wie ein schmutziger Virus, der sich unentdeckt ausbreitet, bis er irreparablen Schaden angerichtet hat.