Augenreisser - Lukas Kellner - E-Book

Augenreisser E-Book

Lukas Kellner

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Beschreibung

Stell dir vor, du kannst es sehen… im Bruchteil einer Sekunde! Ein Mensch steht vor dir, eure Blicke treffen sich und du weißt was er in den letzten zwei Stunden getan hat. Gefühlt hat. Erlebt hat. Ist genau das die schicksalhafte Gabe von Ryan Cramer, einem Analysten des deutschen Geheimdienstes, oder entstammt die Kraft doch einer ganz anderen Welt? Einer Welt der Technologie; regiert von Big Data, Brain Interfaces und digitaler Innovation. Augenreisser ist weniger Fiktion als du es dir wünschen wirst!

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Zitatnachweise: S. 10: „Sterben. Schlafen. Nichts weiter.“ aus: Hamlet, Prinz von Dänemark von William Shakespear (1609)S. 19: aus: The Adventure of the Speckled Band von Sir Arthur Conan Doyle (1892)S. 118: „Man kann nicht von etwas wegdenken, nur zu etwas hin.“ aus: Mentale Selbstverteidigung von Oliver Kellner (2020)Originalausgabe November 2020© Lukas Kellner, 2020Covergestaltung: Daniela Kellner Cover Schriftart: „Hacked“ von David LibeauAlle Rechte vorbehalten. Das Werk darf - auch teilweise - nur mit Genehmigung des Autors wiedergegeben werden. Verlag: Waiter Serves Productions - Lukas KellnerStossberg 4, 87490 Haldenwang www.ws-productions.de, [email protected]: Vanessa SchediwyKorrektorat: Martyna JończykDruck: epubli - ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Danke an die Testleser, insbesondere Lena Pförtner, Florian Seilner und Oliver Kellner, sowie an meine Lektorin Vanessa Schediwy. Danke an den Innovationsexperten Alexander Pinker für seine faszinierende Vorlesung.

Für meinen Vater.

Prolog

 

Ryan betrat das Restaurant, das sich seinen Eingang mit einem kleinen Kino teilte. Nach einer Weile führte ihn ein Kellner zum Tisch und er nahm Platz. Vor ihm lag feines Besteck. Auf der weißen Serviette ruhte ein silbernes Brotmesser, das im Licht der Hängelampen über ihm helle Punkten an die Decke reflektierte. Ryan schenkte dem Glitzern keine Beachtung und ließ seinen Blick lieber durch den Raum schweifen, als es von Neuem begann. Noch vor zwei Jahren hätte es ihn an den Rand des Wahnsinns getrieben, der Versuch, etwas dagegen zu unternehmen oder es gar zu steuern, wäre ihm missglückt. Doch dort im Restaurant hatte er es ganz gut unter Kontrolle. Er sah nur das, was er sehen wollte, Gegenwart und ein bisschen Zukunft, keine Vergangenheit, das Hier und Jetzt war spannend genug! Draußen wurde es dunkler, Wolken türmten sich mächtig übereinander und schon auf dem Weg zum Restaurant hatte es nach Regen gerochen. Gerade war wohl ein Film zu Ende gegangen, denn dutzende Leute schoben sich wild schwatzend durch das verglaste Foyer hindurch raus auf die Straße. Dann stand sie da. Ryans Augen begannen zu leuchten. Sie hielt die Hand ihres Papas und trug noch immer eine Mütze. Ihre Haare waren anscheinend noch nicht nachgewachsen, aber wenn die Ärzte ihr erlaubten, sich im Kino einen Film anzusehen, dann konnte das nur eines bedeuten: Sie war über das Schlimmste hinweg. Ryan hatte die kleine Jasmin zuletzt im Krankenhaus gesehen. Er machte das hin und wieder, packte seine Gitarre ein und besuchte wildfremde Menschen auf den Krankenstationen, Junge, Alte, dem Tode Geweihte. Mit ihnen redete er dann, spielte ein bisschen Musik oder verschenkte hineingeschmuggelte Schokolade. Er war sicherlich kein Heiliger und baute erst recht keine persönliche Beziehung zu denen auf, die er traf. Er tauchte lediglich für ein paar Stunden in ihre Welt ein, genauso schnell verließ er sie dann auch wieder und nahm nichts davon mit hinüber in seine eigene. Eigentlich tat er es für sich. Im Grunde war sein Handeln im höchsten Maße egoistisch. Wenn man selbst nicht genau wusste, was mit einem passierte, wo einem der Kopf steht, welche Entscheidungen man treffen sollte, dann tat es immer gut, sich vor Augen zu führen, was Leben bedeutet: Sterben. Schlafen. Nichts weiter. Ryans Gedanken waren jetzt vollends bei Jasmin und ihrem Sieg angekommen, sein Blick galt nur ihr und ihrem Vater. Doch während sich dieser gerade daran machte, der Kleinen den Schuh neu zu binden, drängte sich etwas anderes in das Bild, etwas Neues. Ryan biss sich auf die Zähne, sein Kiefer verkrampfte, knackte unter der Last, die er ihm auferlegte. Er kannte den Mann, dessen Beine sich soeben zwischen ihn und das kleine Mädchen gedrängt hatten. Ihre Blicke trafen sich. Er hatte dunkles, zur Seite gegeltes Haar und trug einen modischen, schwarzen Mantel, obwohl es dafür eigentlich viel zu schwül war. Es passierte schnell, Ryan war chancenlos. Weil der Mann ohne Vorwarnung aufgetaucht war, blieb ihm keine Zeit sich vorzubereiten, geschweige denn dagegen anzukämpfen. Dann sah er es. Zwei Stunden waren genug, um Ryans Leben zu zerstören, es in Trümmer zu zerschlagen. Hätte er noch zögern sollen, darüber nachdenken? Alle Optionen durchgehen? Wozu? Es gab keine Optionen mehr. Ryan konnte die Stimme des Mannes in seinem Kopf hören: Ich möchte, dass du erkennst, dass es keinen Ausweg gibt.Es gab immer einen Ausweg! Der Mann machte auf dem Absatz kehrt und ging wieder nach draußen. Hinter ihm waren Jasmin und ihr Vater bereits verschwunden. Gut. Sie sollte nicht sehen, was gleich passieren würde. Ryan erhob sich, berührte dabei seine Jacke, die glitt vom Stuhl und fiel zu Boden. Egal, er würde sie nicht brauchen, wohl aber das Brotmesser, das auf der weißen Serviette immer noch fröhlich glänzte. Wie in Trance schob er sich Richtung Ausgang, streifte dabei eine Kellnerin, die torkelte und ein Glas Wein von ihrem Tablet auf den Boden fallen ließ. Die weißlich-gelbe Flüssigkeit des Chardonnay entfloh dem zerberstenden Gefängnis aus Kristall und verteilte sich quer über den Boden. An jedem anderen Tag hätte sich Ryan tausendfach entschuldigt, hätte der Dame höchstpersönlich geholfen die Splitter aufzusammeln, um die Folgen seines Missgeschicks aus der Welt zu schaffen. Heute gab es keinen Grund mehr dazu. Er wusste, was er zu tun hatte, was vor ihm lag, hässlich, aber unausweichlich. Alle Blicke waren jetzt auf ihn gerichtet, während er durch die beiden gläsernen Türen zuerst in das Foyer und schließlich nach draußen gelangte. Der Mann in Schwarz war schon ein gutes Stück die Straße hinunter gelaufen. Ryan kam ihm immer näher. „Hey!“, rief er ihm nach. Der Mann blieb stehen, ohne sich umzudrehen. Damit war alles klar. Ryan wäre per se durch seine Größe und Statur schon ein gefährlicher Gegner gewesen, doch die Tatsache, dass er ein Ex-Militär, ein Mann der Schlacht war, machte ihn zu einem überlegenen Gegenspieler. Er hob das Brotmesser hoch in die Luft, die Messerspitze verdrängte dabei dicke Regentropfen aus ihrer Bahn. Erst jetzt drehte sich der Mann um und blickte entsetzt der Klinge entgegen. Ryan grinste ihn an. Vom Licht einer Straßenlaterne erhellt, blitzte das Silber mehrmals auf, während es durch die kühle Nachtluft schnitt. Es kam seinem Ziel immer näher und verschwand schließlich vollends darin. Der Mann japste und taumelte, während Ryan das Messer noch tiefer in seine eigene, rechte Augenhöhle rammte. Der Schmerz durchrannte seinen ganzen Körper, überfiel ihn, drohte ihn zu überwältigen, doch er hielt stand. Jeder Millimeter seiner Physis schrie, brüllte um Erbarmen, aber er konnte nicht aufhören, noch nicht, denn der schwerste Teil stand ihm erst bevor. Mit einem festen Ruck riss er das Messer aus seinem Schädel. Der Schmerz war so überwältigend, dass er auf die Knie fiel. Ab jetzt wird es besser, komm schon, KOMM SCHON! Zitternd bewegte er seinen Daumen und Zeigefinger auf das Loch zu, das er soeben geschlagen hatte. Während er in sich hineingriff, begann er zu schreien, brüllte so laut er konnte. Oder vielleicht auch nicht. Er wusste es nicht mehr genau. Seine Sinne begannen sich zu trüben, zu entsagen, faul zu werden. Er kannte jetzt nur noch ein Bestreben und Scheitern war ihm nicht vergönnt. Er tastete scheinbar endlos in sich herum und wurde dabei los, was vor weniger als zwei Minuten noch sein Auge gewesen war. Blut spritzte um ihn herum und färbte den feuchten Teer in ein bedrohliches Zinnoberrot. Zuletzt riss er die Hand aus sich heraus und fiel vorn über. Das Eindringen hatte Spuren an seinen Denkprozessen hinterlassen. Es gab keine Sprache oder Logik mehr, keine Mathematik oder Physik, kein Prosa oder Kitsch, es gab nur noch Eines. Obwohl er sich gerade die Hälfte seiner Sehkraft selbst genommen hatte, sah er doch klarer und intensiver als je zuvor. Zuerst Jasmin, dann sie. Es gab nur sie. Sterben, Schlafen und sie.

Zwei Jahre zuvor

 

Ryan drückte sein Augenlid nach unten. Das kalte Stück Metall kam seiner Iris gefährlich nahe. Erst im letzten Moment drehte es ab und fand sein hilfloses Ziel. Ryan zupfte sich mit der Pinzette eine Augenbraue weg, die ihm nicht gefiel. Er war Schmerz gewöhnt, es gab Zeiten, da hatte er dem trübendem Reiz regelrecht nachgejagt, dennoch war ihm gerade dieses Ritual immer unangenehm. Er hielt kurz inne, betrachtete sich im Spiegel und musste sich eingestehen, dass der Zahn der Zeit langsam an ihm zu nagen begann. Sonst hatte er sich immer auf die wenigen Merkmale konzentriert, die ihm an sich gefielen: seine blauen Augen, der symmetrisch zulaufende Kiefer mit leichtem Drei-Tage-Bart, die gleichmäßig robuste Haut, geprägt von Jahren in Mali und Afghanistan. Seine krumme Nase und die zarten Fältchen um die Augen ignorierte er dabei gerne, genauso wie die Farbe seiner Haare, eine Mischung aus Blond und Braun, nichts Halbes und nichts Ganzes. Weniger Außeneinsätze hätten ihm definitiv gut getan, er konnte die Spuren sehen, die sie hinterlassen hatten und das, obwohl es ganze drei Jahre her war, seit er um Versetzung gebeten hatte. Er wollte gerade ein weiteres Haar ausreißen, als ihn zwei Hände von hinten umklammerten, aus dem Nichts, ohne Vorwarnung. Sie packten ihn und verkrampften sich in seiner Brustmuskulatur. Ryan ließ die Pinzette in seiner Hand fallen, er würde sie nicht als Waffe verwenden können. Mit einem Ruck wirbelte er herum, bewegte die linke Hand des Angreifers über seinen Kopf, ging einen Schritt nach vorne, zog mit seinem Fuß das Bein des Gegenübers in die Luft und ließ ihn zu Boden gehen. Der war jedoch schwerer als erwartet, Ryan versuchte das Gleichgewicht zu halten, kippte dann aber doch vornüber und konnte sich gerade noch so mit den Armen abstützen, sonst wäre er auf die Frau unter ihm gefallen. „Früher hast du das eleganter gemacht!“, stichelte Mia.„Und du warst früher nicht so grob!“„Was soll ich machen, ich mag deine Brust!“, erwiderte sie, streckte ihm die Zunge raus und zwinkerte. Sie lag unter ihm. Ihr kastanienbraunes Haar und die grünlich-blauen Augen erstrahlten selbst im Licht der spärlich leuchtenden Deckenstrahler ihres Badezimmers. Sie begann breit zu grinsen und schon hatte sie Ryan ganz in ihren Bann gezogen. Obwohl er keine Chance hatte, ihren Brüsten oder dem straffen Bauch zu widerstehen; hätte er wählen müssen, er hätte sich für ein anderes Attribut an ihr entschieden: auf ihren Wangen entstanden zwei kleine Grübchen. Mit ihnen sah Mia aus, wie der glücklichste Mensch auf Erden. Wenn sie ihn so anlächelte, dann war die Welt gut und das Leben schön.„Ich liebe dich“, flüsterte er ihr zu. Mia blickte ihm tief in die Augen, hielt kurz inne und sagte: „Danke.“Mit einer flinken Drehung nutzte sie Ryans Blöße aus und drehte den Spieß um. Dann attackierte sie seinen einzigen Schwachpunkt, sein großes Geheimnis, eine Stelle direkt unterhalb der Arme. Sie griff beherzt zu und Ryan prustete los, weil das Kitzeln gar so unerträglich wurde. Irgendwann ließ sie doch Gnade walten und begann ihn zu küssen. „Nein, nein….“, nuschelte er, während Mia ihren Kiefer geradezu auf den seinen presste. „…Ich muss los!“„Warum das denn?“, fragte sie und zog dabei eine Braue hoch. „Grinder will mich sehen.“ Bei dem Namen verdrehte sie die Augen. Ryan wusste, dass sie seinen Chef nicht ausstehen konnte. Der Grund dafür war nicht mal Grinder selbst, sondern eher das, wofür er stand. Grinder war Teil der Maschinerie, die Ryan immer wieder auf Einsätze befehligt hatte. Mia kannte die Abgründe, die das Leben als Soldat tief in Ryans Seele geschlagen hatte und wäre sie nicht gewesen, wer weiß, ob ihm dann noch etwas von seinem Selbst übrig geblieben wäre. Obwohl das alles nun vorbei war und weit hinter ihm lag, hatte sie den Groll gegen Grinder nie ganz vergessen können.„Es ist Samstag, was will der denn?“, schnaubte sie.„Irgendwas wegen einem Vorfall in London. Er braucht die Meinung von Leon und mir. Von Analysten.“ Mias Miene verfinsterte sich. Sie konnte Grinder wegen seiner Position und Haltung nicht leiden, doch gegen Leon schien sie unabhängig davon einen regelrechten Groll zu hegen. Ryan war es bis heute ein Rätsel, wo ihre Abscheu seinem Arbeitskollegen gegenüber herkam. Vielleicht gefiel ihr einfach nicht, dass Leon sehr ‚frei Schnauze‘ redete und selten ein Blatt vor den Mund nahm, oder es war einfach ein Gefühl von ihr, eine Präferenz, etwas, worauf sie nicht viel Einfluss hatte. Bestimmt würde er eines Tages den wahren Grund dafür erfahren, aber nicht heute, denn… ein bisschen mochte er es, wenn sie so war. Wenn der Zorn in ihr hochkam, die Augen zu brennen begannen und man förmlich ein Beben spüren konnte. Er wusste ganz genau was er zu tun hatte, um dem entgegenzuwirken, es gab nur die Flucht nach vorn. Er küsste Mia sanft auf die Stirn und legte die Handflächen auf ihre Wangen. „Es wird nicht lange dauern, versprochen.“Ein Lächeln huschte über ihre Lippen. „Na gut. Trotzdem schade…“, seufzte sie.„Was schade?“ „Dass du zu spät kommen wirst!“ Sie lag immer noch auf ihm, in ihrem blauen BH und weißem Höschen. Sie stand auf und zeigte Ryan an, ihr zu folgen. „Hast du’s vergessen?“, sagte sie, während sie rückwärts aus dem Badezimmer hinaus und in den Flur der kleinen Wohnung lief. Sie bewegte sich langsam und mit Bedacht, es war fast wie tanzen, zu einer ruhigen Melodie, die man nicht hören konnte. Licht von draußen brach durch die Fenster und umrandete ihren grazil geformten Körper, das glatte, dunkle Haar, die kleine Narbe seitlich an ihrem Knie und den hellen Fleck am linken Oberschenkel.„Ich habe es nicht vergessen. Es ist zwei Jahre her, seitdem du nicht mehr im Krankenhaus warst. Ich hab’s dir da doch versprochen!“ Bei den Worten nahm sie ihren BH ab und warf ihn einfach weg. Sie blickte Ryan herausfordernd an, den Kopf leicht geneigt, wie eine Katze, die ihrer Beute auflauerte. Mittlerweile war sie durch die offene Tür ins Schlafzimmer gelaufen. Sie ließ sich rückwärts auf das Bett gleiten und begann, vor Ryan ihr Höschen auszuziehen.

 

1.

Ryan kam zu spät. Grinder musste wegen ihm einen Termin vorziehen, jetzt hatte er zu warten, bis dieser vorbei war, also machte er es sich in dem kleinen Pausenraum der Analystenabteilung bequem. Obwohl er seit zwei Jahren dort arbeitete, nutzte er dieses Zimmer nur sehr selten. Meistens hatte er viel zu tun. Zwar war er kein studierter Experte auf dem Gebiet, doch zeigte sich gleich zu Beginn, dass er Talent besaß, zudem noch mehr Felderfahrung als die ganze Abteilung zusammen. Sie waren an diesem Standort ein fünfköpfiges Team. Nicht gerade viel, aber man konnte damit arbeiten. Ryans Position wurde anfangs offen gelassen, er hatte sich dann aber sehr schnell in einer Führungsposition etabliert, was natürlich mit irgendeinem militärischen Rang verbunden war. Der hätte Ryan jedoch nicht unwichtiger sein können, er hatte in seiner Zeit als Soldat beim Leutnant aufgehört sich darüber Gedanken zu machen. Untypische für einen Militär, genauso wie der Grund, warum er überhaupt in den Dienst der Regierung getreten war. Er ließ seinen Blick durch den Raum wandern, wie er es immer tat, wenn er Zeit und nichts Besseres zu tun hatte. Einen Einrichtungspreis hätte man mit diesem Zimmer wohl nicht gewinnen können. Es gab eine kleine, weiße Küchenzeile mit braun befleckter Kaffeemaschine, einen Kühlschrank, aus dem es modrig roch, wenn man ihn öffnete und einen kreisrunden Tisch mit vier türkisefarbenen Stühlen davor. Sein Blick blieb stehen, verharrte an dem einzigen Gegenstand, den er aufrichtig mochte. Es hing an der Wand. Allein gelassen und umgeben vom trägen, vergilbten Weiß der Wände. Nicht einmal in einem Bilderrahmen, sondern lediglich mit einem Reißnagel am Putz fixiert. Es war die Seite aus einem Buch. Die Schrift war alt, verblasst und teilweise schwer zu entziffern. Sie stammte aus einem der Romanen von Sir Arthur Conan Doyle, natürlich Sherlock Holmes, genauer gesagt ein Auszug aus der Kurzgeschichte ‚The Adventure of the speckled Band‘. Einer seiner besten? Keineswegs. Nicht einmal die Analyse, die Holmes während des ‚Kundengesprächs‘ durchführte, wäre sonderlich beeindruckend gewesen. Es waren vielmehr Watsons Gedanken, die diesen Textabschnitt für Ryan so interessant machten: „…es gab für mich keine größere Freude, als Sherlock Holmes bei der Arbeit zuzusehen. Immerzu bewunderte ich seine Fähigkeit der Deduktion, so flüchtig wie Intuition und doch immer aufgebaut auf den Gefilden der Logik.“ Klingt irgendwie, als sei Watson in ihn verschossen! Bei dem Gedanken huschte Ryan ein Grinsen über die Lippen. Nach einer Weile, in der er über die seltsame Beziehung zwischen Holmes und Watson sinniert hatte, entschied er, dass er nun doch lange genug gewartet hatte und wollte gerade den Weg zu Grinders Büro einschlagen, als sich ihm eine junge Dame in den Weg stellte. Sie trug eine rote Brille, die ihr eindeutig zu groß war, hatte schwarzes, zerzaustes Haar und trug etwas zu viel Make-Up. Das war Laura Kindel, Mitarbeiterin in der Abteilung für Analyse und Gefahreneinschätzung. Sie stemmte ihre Hände in die Hüften, fixierte Ryan mit strengem Blick und brabbelte los: „Warum will Grinder Sie sehen? Wir hatten nichts zu tun mit diesem Fiasko. Generell hatten wir in letzter Zeit eigentlich nur Erfolge zu feiern und...“ „Warum“, fiel ihr Ryan ins Wort, „sind Sie überhaupt hier? Ich hab Ihnen gesagt, dass Sie dieses Wochenende frei haben.“ Er hatte sich lange daran gewöhnen müssen die Befugnis zu besitzen, Leuten frei zu geben oder sie zur Arbeit zu verdonnern. Ersteres war ihm immer lieber. „Recherche. Nachdem ich gehört habe, dass Grinder Sie wegen London sprechen will, hab ich…“„Woher wissen Sie das überhaupt?“, unterbrach Ryan sie erneut, „Das ist eigentlich streng geheim!“ Laura zögerte kurz, dann antwortete sie: „Ich bin Analystin.“ Sie blickte zu Boden und murmelte: „Ich erfahre so etwas eben.“ Ryan konnte sich sehr gut vorstellen, woher sie diese Information bekommen hatte. Alle wussten, dass er eine Schwäche für sie besaß. Und sie wäre dumm gewesen, das nicht auszunutzen. Zu ihrem Glück konnte Ryan sie gut leiden. Sie konnte zwar sehr anstrengend sein, manchmal trieb sie einen regelrecht an den Rand des Wahnsinns, aber sie war in Ordnung. Sie war stimmig. Ihr Stil passte zu ihrem Charakter, ihr Verhalten zu ihren Motiven. Ryan mochte solche Leute, denn in der Regel fielen ihm bei den Meisten immer Details auf, die nicht zueinander passten. Seien es die teuren Schuhe zum Schmuddel-Outfit, die gezupften Augenbrauen zum ungepflegten Bart, oder das freundliche Lächeln zum bösen Wort. Bei den meisten Charakteren passten Dinge nicht zueinander. Manchmal gab es dafür Erklärungen, aber viel zu oft war die Antwort darauf ganz einfach die, dass die Zielperson in sich nicht stimmig war. Und nicht stimmig bedeutete meistens gefährlich. „Na gut, tun Sie mir einen Gefallen: Da Sie jetzt eh schon hier sind legen Sie mir alles auf den Tisch, was Sie über London herausgefunden haben. Arbeiten Sie weiter daran!“ Laura blickte strahlend vom Boden auf. Mit einem „Wird gemacht!“, wuselte sie in Glückseligkeit davon. Ryan blickte ihr kopfschüttelnd hinterher. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass er sich zu beeilen hatte. Grinders Termin müsste sich mittlerweile verabschiedet haben.

2.

Ryan trug nicht viel bei sich. Das tat er nie. Er war kein Freund von tragbaren Computern oder Handys, benutzte lieber Block und Stift, wenn es darum ging, die wichtigsten Informationen eines Briefings festzuhalten. Vor der schweren Eichentür zu Grinders Büro angekommen, klopfte er zweimal an und wartete auf das „Herein“.Als er die Tür öffnete, bot sich ihm der übliche Anblick. Das große, lichtdurchflutete Büro mit dem noch größeren Schreibtisch aus Holz hatte sich in den letzte Jahren genauso wenig verändert, wie sein Besitzer. Rodewig Remus Grinder saß an seinem gewohnten Platz hinter dem Mahagoni Monstrum. Er war ein alter Haudegen, wie er im Buche stand. Graues Haar, rasierte Seiten, schlichte, schwarze Uniform. Die Züge geformt von Strenge und Disziplin, jede Falte hart erkämpft und voll verdient, die Hände groß wie Bratpfannen, doch gewisslich sauber gehalten. Die Wand hinter ihm war ausgefüllt mit einem Regal enormer Größe, das farblich zum Schreibtisch passte. Darin waren neben Fotos von seinen Kindern, eine Reihe mit bestem Single Malt Scotch aus verschiedensten Ländern, hunderte Akten und Bücher, sowie mehrere kleine Modelle von Panzern und Düsenjets. Grinder war ein Mann der alten Zeit und alte Zeit hieß oft Klischee. Ryan mochte genau das besonders an ihm. Auf einem der beiden Stühle vor dem Schreibtisch saß Leon. Leon war offiziell der Chef ihrer Abteilung, auch wenn sie beide seit einem Jahr die Entscheidungen in Absprache miteinander trafen. Eigentlich keine gute Idee, doch bei ihnen funktionierte es auf diese Weise sehr gut. Sie waren meistens einer Meinung und ihre Fähigkeiten ergänzten sich. Leon war schon sehr lange dabei und bekannt wie ein bunter Hund. Es gab wohl keinen Geheimdienst auf dieser Welt, zu dem er nicht mindestens einen guten Kontakt hatte und Ryan kannte niemanden, der so viel telefonierte wie er. Außerdem konnte Leon besser mit digitalen Technologien umgehen, was er nie an die große Glocke hing, aber es fiel Ryan immer auf, wenn er ihn am Computer beobachtete und auch, wenn sie sich über die neuste Entwicklungen im Bereich der digitalen Innovation unterhielten. Ryan hingegen brachte dann seine Expertise ein, wenn es um Handlungen im Feld, die Psyche von Soldaten, oder taktische Entscheidungen ging. Leon drehte sich zu ihm um und grinste ihn an. Wie immer trug er ein hellblaues Hemd, eine burgundfarbene Krawatte und graue Hose. Sein schwarzes, dünnes Haar saß etwas lockerer und unkontrollierter als sonst, passte aber zu den dunklen, braunen Augen und der kleinen Delle oberhalb der rechten Augenbraue, die er von einem Sturz aus der Kindheit davongetragen hatte. Anders als bei Ryan, hatte Leons Haut nie viel vom Ausland abbekommen, er war dementsprechend blasser und mochte den Winter lieber als den Sommer. Ryan setzte sich neben ihn und meinte flüchtig: „Schöne Grüße von Laura.“Leon hatte den kleinen Seitenhieb sofort verstanden. Er lächelte ihn sarkastisch an und sagte „Danke.“ Diese zwei…, dachte Ryan bei sich.Jeder wusste doch, dass Beziehungen zwischen Arbeitskollegen dumm waren, geradezu hirnrissig. Wo die Liebe eben hinfällt… Grinder erhob das Wort: „Meine Herren, ich werde ehrlich zu Ihnen sein.“ Jetzt erst fiel Ryan auf, dass er krank und müde aussah. „Sie beide sind die besten Analysten, die mir zu diesem Zeitpunkt zur Verfügung stehen. Das ist keinesfalls schmeichelnd gemeint, mir wäre es auch lieber, wenn wir jemand anderen hätten.“ Charmant wie immer, schoss es Ryan durch den Kopf. Doch obwohl Grinder ihm und seinem Kollegen gerade eine regelrechte Beleidigung entgegen geworfen hatte, änderte das nichts daran, dass er diesen Mann unglaublich gut leiden konnte und ihn seinen gelegentlichen Mangel an Fingerspitzengefühl gerne verzieh. Ryan und Grinder verband weit mehr als nur eine Arbeitsbeziehung, viel mehr als das. Tatsächlich hatte er ihn in seinen ersten Tagen beim Militär kennengelernt. Damals war es Grinder gewesen, der von sich aus auf ihn zugegangen war. Auf die spätere Frage, warum ein Generalmajor Austausch mit einem einfachen Soldat in der Grundausbildung pflegte, antwortete er: Ryan sei ihm aufgefallen. Vielleicht hatte er Ryans Motivation durchschaut, denn er war damals zum Militär gekommen, weil er seinem Leben einen Sinn verleihen wollte, weil er eben nicht wollte, dass es so zwecklos endete, wie es begonnen hatte. Seine Idee war einfach und kindisch: Ins Militär gehen, kurz die Ausbildung mitnehmen und dann die gefährlichsten Jobs übernehmen, die es dort gab. Dann würde er hoffentlich den Platz von einem Familienvater oder sonst wie geliebten Menschen einnehmen können. Er war ein Junge gewesen, ohne Selbstwert, ohne Stolz, ohne den Willen zu leben. Ein wenig später war es auch Grinder, der ihn als jüngsten Soldaten der Geschichte in die Ausbildung zum Einzelkämpfer gesteckt hatte. Sie waren keine Freunde, trafen sich nicht regelmäßig zum privaten Barbecue oder zum Fußballschauen, doch verband sie etwas Tieferes, etwas Echtes. Vielleicht war er sogar so etwas wie ein Vater für Ryan.„Wir haben nicht sehr viel Zeit, darum werde ich gar nicht lange drum herum reden. Sie wissen, es geht um London.“Leon meldete sich zu Wort: „Ja, London, fünf Tote, ein Täter. Terroristischer Hintergrund ist nicht auszuschließen, ein Bekenntnis zur Tat gab es bislang aber nicht. Der Vorfall ist zum Glück bisher nicht an die Medien vorgedrungen. Bis auf weiteres soll das auch so bleiben.“„Und Sie Ryan“, fragte Grinder. „Was wissen Sie darüber?“„Na ja, nur das aus dem kurzen Briefing. Wir waren bis jetzt nicht an Operationen in London beteiligt, hatten also auch keinen Zugang zu den Informationen rund um das Thema. Ich vermute aber mal, wenn Sie schon so fragen…“ Ryan lehnte sich nach vorne und senkte seine Stimme „…, dass Sie etwas mehr wissen, als wir beide?“Grinder seufzte. Er erhob sich und ging zu dem Tablett mit der Scotch-Karaffe hinüber. Während er sich geschäftig daran tat, die goldene Flüssigkeit in ein Kristallglas zu füllen, begann er zu erklären. „Das was Sie jetzt hören, ist streng vertraulich. Sie wissen, was das heißt!“ Er hielt kurz inne und blickte ihnen geradewegs entgegen. „Natürlich!“, sagten Leon und Ryan im Chor. Grinder drehte sich wieder zu dem flüssigen Gold vor sich. „Also... London.“

3.

Die Zuckerdose auf dem Tisch war eine seltene, eine schöne. Genauso wie das Teeglas davor und wie der Laden, in dem sie sich befand. Das Mobiliar war im arabischen Stil gehalten und auch das Klientel war arabischer Herkunft. Ein paar Eigenheiten in ihrer DNA färbten ihre Haare schwarz und ihre Haut karamellbraun. Ein paar Eigenheiten in ihrer DNA, die es ihnen in diesen Tagen durchaus schwer machen konnten. Links am Tisch neben ihm saß eine sehr attraktive Frau. Schwarzes Haar, traditionell buntes Kleid, wie es die Inder bei ihren heiligen Festen trugen. Er hatte überlegt sie anzusprechen, bis ihr Mann mit der gemeinsamen Tochter aufgetaucht war. Jetzt saßen sie zufrieden dort drüben, lachten, aßen Baklava und Matthew saß immer noch allein an seinem Tisch. Weiß Gott, warum er überhaupt hier war, er selbst wusste es jedenfalls nicht. Ihm war alles entglitten, alles und jeder. Seine Freundin hatte ihn verlassen, weil sie sagte, er sei gruselig. Seinen Job hatte er verloren, weil er einmal inmitten von dutzenden zerschlitzen Paketen aufgewacht war. Und er? Er konnte sich an nichts erinnern. Nicht einmal körperlich. Wenn er so etwas getan hätte, dann müsste er doch direkt im Anschluss irgendwelche Folgen spüren? Aber da war nie etwas. Es war, als würde sich jemand einen Spaß daraus machen ihn auszutauschen, wie die Figur auf einem Spielfeld. Doch damit war jetzt Schluss! Er hatte ihnen ein Ultimatum gestellt und war seitdem so vorsichtig, wie er nur konnte. Er blickte hinüber zu der kleinen, bescheidenen Theke. Im ‚Lamacun‘ gab es ironischerweise keinen Döner, nur Tee und Gebäck. Er war oft dort. Der Besitzer hatte ihm einmal erzählt, dass er auf dem Weg in den Westen seine Familie verloren und dann diesen Laden gekauft hatte. Die Bilder seiner Frau, seiner drei Söhne und seiner Tochter hingen überall im Laden verteilt. So lebte er seit zehn Jahren mit seinem kleinen Laden allein und doch im Kreise seiner Familie. Das kleine Glöckchen an der Tür verriet einen neuen Gast. Aus dem Augenwinkel sah Matthew ein seltsames Leuchten, nein, ein Blitzen. Weißes Licht tanzte für den Bruchteil einer Sekunde über die vielen kleinen Teekannen und Tässchen, nur um dann ins Nichts zu verlaufen und innerhalb von Millisekunden wieder zurückzukehren. Matthew wandte seinen Blick Richtung Tür. Der Mann, der soeben eingetreten war, hatte die Aufmerksamkeit aller Gäste des ‚Lamacuns‘ auf sich gezogen. Er trug einen kurzen, schwarzen Mantel, mit hochgestelltem Kragen, blauer Jeans und hatte eine Glatze. Seine Augen waren tot und kalt. Er war von großer Statur, trug Lederhandschuhe und hielt etwas, das aussah wie ein IPad. Obwohl es so klein war, brachte es doch eine beeindruckende Helligkeit zustande. Der Bildschirm zeigte abwechselnd Schwarz und Weiß, Hell und Dunkel. Daraus entstand ein schnelles Flackern, das immer wieder den Rhythmus änderte. Die meisten im ‚Lamacun‘ starrten ihn fragend an. Sie waren nicht gerade erfreut darüber, dass man ihnen einen Baustrahler ins Gesicht hielt und mit Strobo-Beleuchtung auf die Nerven ging. Der Besitzer meldete sich zu Wort: „Guter Mann, würden Sie dieses Licht ausschalten. Es stört meine Gäste.“ Der Mann mit Glatze würdigte ihn keines Blickes, antwortete jedoch sehr wohl auf seine Bitte: „Oh, ich kenne mindestens einen hier, den es nicht stört.“ Dann blickte er direkt zu Matthew hinüber. Der starrte gebannt auf das Spiel aus Licht und Dunkelheit. Für Matthew gab es nichts anderes mehr, nur die Quelle des Lichts und des Schattens. Er drehte den Kopf, blickte nach links, wo die Tochter der hübschen Frau auf einem Butterkeks herum kaute. Er stand auf, packte sich die Zuckerdose, holte aus und schlug mit voller Kraft zu. Knochen brachen, Menschen schrien. Vom Blut rot gefärbter Zucker tropfte in Klumpen auf den Boden. Der Vater versuchte, ihn von einem zweiten Schlag abzuhalten, doch Matthew zog ein Butterfly-Messer aus seiner Tasche, ließ die Klinge aufblitzen und rammte es dem Mann in die Seite. Der Vater röchelte und ging hilflos zu Boden. Die Frau war an der Reihe. Matthew spürte, wie er seine Hände um ihre Kehle presste. Sie war sehr leicht, geradezu ein Kinderspiel, sie in die Luft zu wirbeln und dann auf dem kleinen runden Tischchen aufkommen zu lassen. Sie wehrte sich, es dauerte lange. Sie zappelte unentwegt und versuchte seinen Fängen zu entkommen wie eine gefangene Forelle am Haken. Er hob sie weitere zweimal an und schlug ihren Kopf auf den Tisch. Sie war noch nicht tot. Das machte ihn wütend. So wütend! Er begann sie immer wieder anzuheben und gegen den Tisch zu schlagen. Blut spritzte um sie herum und benetzte die Wände und Familienfotos. Matthew machte weiter. Nichts hielt ihn auf, bis ein leises Knacken das Ende der Frau kennzeichnete. Gut für sie. Der Großteil der Gäste war bereits aus dem Laden geflohen, nur der Besitzer war noch übrig. Er würde seiner Familie nicht von der Seite weichen, ging auf die Knie, hob die Arme vors Gesicht und flehten ihn an. Mit einem hässlichen Klirren zerbarst eine Untertasse in seinem Gesicht. Er kippte vorn über und landete auf dem Boden. Matthew bestieg ihn und begann, mit beiden Fäusten auf den Hinterkopf einzuprügeln, Schlag um Schlag, dass Knochen brachen, nicht nur die seines Opfers. Blut und grauweiße Masse spritzte zu den Seiten, als würde man einen Ballon mit Innereien zum Platzen bringen. Schließlich stand er röchelnd und schwitzend auf. Er brauchte mehr. MEHR! Er wollte raus aus dem Laden.Draußen lief eine Frau vorbei, er konnte sie durch die Fenster hindurch sehen. Sie würde es sein, sie ist es! Er nahm Tempo auf, lechzte nach ihr, verzehrte sich nach ihr, während ein Donnern durch seinen Kopf hallte. Die Frau ging unberührt weiter ihres Weges. Sie würde nie erfahren, was in diesem Café geschehen war. Sie würde nie erfahren, dass sie von Matthew als nächstes Opfer ausgewählt worden war. Sie würde nie erfahren, dass genau dieser Mann jetzt auf dem Boden des ‚Lamacun‘ lag, mit einem Loch in seinem Kopf.

 

„Wissen wir, wer der Mann mit diesem Bildschirm war?“, durchbrach Ryan das betretene Schweigen, das eingesetzt war, nachdem Grinder ihnen den Vorfall geschildert hatte. Dieser lächelte ihn an. „Ja, richtig. Der Mann, nun…“ Er nahm einen satten Schluck Whiskey und musste sichtlich an sich halten, um nicht zu husten. „Der Mann ist eventuell die Lösung eines ganz anderen Problems. Wir wissen immer noch nicht, was Matthew Dickens dazu bewegt hat, dieses kleine Massaker zu veranstalten. Er war bis dato komplett unauffällig. Eher ein Einzelgänger. Hatte quasi keine Freunde oder Familie. Er war als Baby nach London gekommen, man hatte ihn alleine in der Nähe von Bagdad aufgelesen. Er kam dann bei einer englischen Waiseneinrichtung unter. Die haben ihn auch benannt, deswegen der englische Name entgegen seiner Herkunft. Er hatte eine Freundin und als Lagerarbeiter in einer großen Spedition gearbeitet.“ Grinder blätterte in einer Akte, die er soeben aufgeschlagen hatte: „Sonst nichts Auffälliges, natürlich der übliche Krimskrams, Internetverlauf, Strafregister, aber alles in allem sauber.“Er rieb sich die Augen. „Und dabei haben Sie natürlich recht, wir müssen unbedingt herausfinden, was diese Lichtquelle war, was sie mit dem Amoklauf zu tun hat und wie der Mann mit Glatze damit in Verbindung steht. Die Überwachungskameras zeigen, dass er eine Art Bildschirm bei sich hatte. Herr Martin Knabe versucht gerade herauszufinden, was das für ein Ding war. Er ist ja sowas wie unser Inhouse-It-Spezialist. Auf jeden Fall ist der Mann direkt nach dem Vorfall untergetaucht. Eine Rasterfahndung hat zunächst nichts ergeben… Zumindest vor zwei Tagen.“ Leon und Ryan wurden hellhörig. „Vor zwei Tagen?“, hakte Leon nach. „Ja, vor zwei Tagen. Unsere Zielperson hält sich in Amsterdam auf.“ „Woher kommt die Information?“, fragte Ryan„Er hat eingecheckt. Im Mövenpick-Hotel. Als man ihn festnehmen wollte, war sein Hotelzimmer leer…“ Grinder hielt inne. Ryan kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass ihm etwas unangenehm war. Zum einen hatte er nicht direkt auf seine Frage geantwortet, woher die Information kam, zum anderen schien ihn offensichtlich etwas umzutreiben. Es wirkte so, als hätte er den wahren Grund für ihr Treffen noch nicht offenbart. „Ich will ganz ehrlich zu Ihnen sein. Wenn es nach dem BND ginge, dann würde man diese Angelegenheit London und im jetzigen Moment den Holländern überlassen. Ich halte das für einen Fehler. Die ganze Situation ist… besorgniserregend. Aber ich werde bei denen sicher nicht betteln!“ Er ruckte kurz den Kopf nach oben. „Ich habe Kontakt mit der zuständigen Behörde in Holland aufgenommen. Sie werden uns einbeziehen. Allerdings nur direkt vor Ort. Wir müssten also jemanden hinschicken. Da… bleiben nicht so viele Optionen…“ Nun begann Ryan zu begreifen, worauf Grinder hinaus wollte und auch, warum er damit so lange zurückgehalten hatte. Er war normalerweise ein Mann der direkten Worte, doch dieses Thema schien selbst ihm Respekt abzuverlangen. Weil es um Ryan ging. „Sie beide werden nach Amsterdam fliegen. Ihre Aufgabe wird es sein, die Lage vor Ort zu beurteilen und dem niederländischen Geheimdienst AIVD auf die Finger zu schauen. Ihr Flieger geht heute Abend. Alles weitere erfahren Sie dann vor Ort.“

4.

„Danke, dass du mich da mit reingezogen hast!“, keifte Leon schnippisch. Sie hatten Grinders Büro wieder verlassen und saßen mittlerweile in ihrem eigenen, das war wesentlich weniger schön anzusehen und vor allem beträchtlich kleiner. Sie teilten sich einen Raum ohne Tageslicht, der gerade einmal genug Platz für zwei Schreibtische, ein White Board und eine bescheidene Stoffcouch bot. Ryan war irritiert: „Warum ich?“„Na ja, früher wär’ ihm nie eingefallen, dass er einen von uns nach draußen schickt. Aber seitdem wir dich als Ex-Rambo dabei haben, is’ er da wohl etwas lockerer.“Ryan lachte: „Du hast doch immer gejammert, dass du mal raus wolltest. Jetzt hast du endlich die Chance dazu. Außerdem bin ich da und pass auf dich auf! Du musst ja nicht allein raus zum bösen Mann!“ „Na ja, wenigstens Amsterdam. Is’ glaub ich ´ne schöne Stadt“, sagte Leon und zuckte mit den Schultern. Er kramte eine Packung Zigaretten hervor und begann, damit herumzuspielen.„Was… was war das eigentlich vorher?“, fragte er und sah zu Ryan auf. „Was meinst du?“ „Du weißt, was ich meine. Grinder hat ziemlich lange rumgedruckst. Das macht der doch sonst nicht. Der Grinder, den ich kenne, der hätte uns nicht extra rein bestellt. Das wär ´ne Mail gewesen, mit nix als Betreff: Heute, 20 Uhr, Flughafen und fertig…“ Ryan wusste natürlich worauf Leon hinauswollte. Er zierte sich nur etwas damit herauszurücken. Obwohl er und Leon mittlerweile gut befreundet waren, fiel es ihm immer noch schwer, über seine Vergangenheit zu sprechen. „Ich glaube, er wollte wissen, ob es für mich okay ist…“, seufzte er und rieb sich die Augen. „…ich hab dir das nie erzählt, aber es war ja damals nicht ganz klar, ob ich hier überhaupt arbeiten darf… oder kann.“„Meinst du wegen deiner Posttraumatischen Belastungsstörung?“, fragte Leon.„Ja, deswegen. Ich hab davor schon einmal mit Grinder darüber gesprochen. Damals hat er gemeint, es sei zu früh für mich, wieder an die Arbeit zu gehen. Ein halbes Jahr später hat er dann irgendwie seine Meinung geändert. Ich hab dann aber auch eine Bedingung gestellt. Der hat er zugestimmt.“„Was für eine Bedingung?“„Dass ich nicht in den Außeneinsatz muss. Es wäre damals auch undenkbar gewesen. Ich konnte mir das nur erlauben, weil Grinder mich kannte und ich ihn. Sonst hätte das gar nicht funktioniert. Ich wäre gar nicht erst in den Job reingekommen.“„Hm…“ Leon konzentrierte sich wieder auf seine Zigarettenschachtel. Er klappte sie zweimal auf und zu.„Und jetzt kannst du wieder in den Außeneinsatz? Du fühlst dich wieder fit?“. Ryan wusste, dass er diese Frage stellen würde. Er hatte sie sich selbst gestellt, sehr oft sogar. Konnte er wieder in den Einsatz? Er hatte sich schon einmal sicher gefühlt. Damals kamen Depressionen und Panikattacken mit Verstärkung zurück und kosteten ihm fast das Leben. Andererseits war er damals auch alleine damit gewesen. Jetzt, das wusste Ryan, hatte er einen Menschen, mit dem er seine Gefühle teilen konnte, die für ihn da sein würde, wenn er am Abgrund stünde. Die wusste, wer und was er war. „Ja, kann ich…“, sagte Ryan, etwas überzeugter als er es geplant hatte. Er schluckte und fügte hinzu: „Zumindest für so einen Außeneinsatz. Es ist Amsterdam, es ist kein Kriegsgebiet, keine verdeckte Ermittlung, also alles gut!“ Leon lächelte ihn an: „Tipptopp. Und falls der böse Mann dann wirklich kommt, bin ich ja immer noch da, um dir dein’ Arsch zu retten!“„Selbst bei einer bösen Frau hättest du Probleme!“„Leck mich!“, zischte Leon und nahm eine Zigarette aus der Schachtel heraus.„Warum macht er das eigentlich?“, fragte Ryan und kratzte sich am Hinterkopf.„Was?“„Er hat zwar ein bisschen drum herum geredet, aber es klingt so, als würden wir allein handeln. Unabhängig vom restlichen BND…“„Hm… ich kenne ihn nicht so gut wie du, aber ich glaub, er hat immer noch Probleme mit der neuen Struktur. Wir sind alles, was vom MAD übrig ist. Man kennt ihn ja schon noch, aber vergisst ihn von Jahr zu Jahr mehr. Kann mir gut vorstellen, dass die weiter oben nichts von unserem Engagement in der Sache mitbekommen, weil er ihnen halt auch nichts sagt. Die lassen ihn ja im Kleinen gerne allein handeln. So viel Einfluss hat er dann doch noch.“ Probleme mit der neuen Struktur. Das war tatsächlich ein wunder Punkt Grinders. Vor Jahren hatte man den militärischen Geheimdienst MAD in den deutschen Geheimdienst BND integriert. Anfänglich sollte der MAD noch eigenständig bleiben, nicht zuletzt dank Grinders Leitungstätigkeit und sein hohes Ansehen, doch die Zeiten änderten sich, vor allem in der Informationsbranche. Und genauso wie das Militär mehr und mehr an Wichtigkeit verloren hatte, so verlor der MAD an Relevanz innerhalb des Geheimdienstes. Das ging soweit, dass Koblenz und das Gebäude, in dem sie sich gerade befanden, der letzte Standort war, der noch vom alten MAD herrührte und sich unter dem Befehl Grinders befand. Der Mann, der für Ryan wie ein Vater gewesen war, gehörte einer aussterbenden Art an – und das wusste er auch. Insofern war die Erklärung durchaus plausibel. „Aber eines versteh’ ich noch nicht ganz“, sagte Leon und unterbrach Ryans Gedankengang. „Was bewegt den kleinen Mohammed dazu, aus dem Nichts mehrere Leute umzubringen?“ „Matthew“, warf Ryan ein.„Was?“ „Er hieß Matthew.“„Mein ich ja. Also erstens das und zweitens: Wie konnte dieser Glatze-Typ so einfach verschwinden?“Genau das war die Frage, die sich Ryan stellte, seitdem sie Grinders Büro verlassen hatten. Immerhin war es London. London! Die Stadt der Kamera-Überwachung, die Stadt, in der man keinen Schritt tun konnte, ohne dass es Big Brother mitbekam. Wie also hatte es dieser Mann geschafft, so mir nichts dir nichts zu entkommen? Die schönere Antwort wäre gewesen: Er war einfach ein verdammtes Genie. Ein Ex-Soldat oder so etwas in der Art, mit einer hervorragenden Ausbildung. Die deutlich unschönere Antwort war eine andere: Er hatte Hilfe. Vielleicht sogar von Big Brother höchstpersönlich. Ein leises Klopfen riss ihn aus seinen Verschwörungstheorien. Am Eingang zu ihrem Büro stand Laura: „Hey... darf ich fragen, woran wir nächste Woche arbeiten werden?“ Sie war einer der neugierigsten Menschen, die Ryan je untergekommen waren. „Na ja…“, antwortete Ryan, „Du wirst dir auf jeden Fall nicht frei nehmen können.“ „Ryan und ich werden einige Zeit weg sein. Du wirst also die Abteilung leiten“, sagte Leon grinsend. Ryan fiel aus allen Wolken. Er drehte seinen Kopf zu Leon hinüber und formte mit den Lippen ein stummes, aber deutlich erkennbares: „SPINNST DU?“Leon ignorierte ihn komplett. Laura lief rot an, bedankte sich und sagte: „Ich werde euch würdig vertreten!“ Er... war einfach nur ein verknallter Vollidiot, schoss es Ryan durch den Kopf. „Ja, ähm…“, unterbrach er das peinlich Schweigen, das nach Lauras Kampfansage eingetreten war. „Lass uns doch noch einmal kurz alleine. Wir lassen dir dann alles Weitere zukommen. Es gibt viel zu tun!“ Mit einem freudestrahlenden „Alles klar!“ wirbelte sie herum und lief federnden Schrittes davon. Ryan starrte Leon mit fragendem Blick an. Der schien erst jetzt zu realisieren, was er da gerade getan hatte. Ein paar Sekunden herrschte betretenes Schweigen. Dann wurde es von Leon durchbrochen. „...Ups.“ Beide fingen schallend an zu lachen. „Hör mal, wenn du mit ihr schlafen willst, dann mach sie doch einfach zu deiner Sekretärin, so wie das alle machen!“, sagte Ryan, während er sich die Tränen aus den Augen wischte. „Sehr witzig, nicht jeder lebt in ´ner perfekten Welt mit einer Supermodel-Biologin. Dass sowas überhaupt existiert is’ ´ne Frechheit!“ Bei dem Wort ‚Supermodel-Biologin‘ zuckte Ryan etwas in sich zusammen. Er musste Mia immer noch beichten, dass er zum ersten Mal seit einer langen Zeit wieder auf einen Einsatz außerhalb dieser vier Wände gehen würde. Mias Sorge war dabei nicht unbegründet und er konnte es ihr nicht verübeln, im Gegenteil.„Hast Schiss es ihr zu sagen, was?“, stichelte Leon, als hätte er Ryans Gedanken gehört. „Leck mich!“, keifte Ryan zurück, aber Leon hatte leider recht, denn die Situation, in der er steckte, bereitete ihm gerade ernstzunehmendes Unbehagen. Sie würde alles andere als begeistert sein und das zu Recht. Sie hatte ihm immer zugehört, war für ihn da gewesen, wenn es ihn nachts schweißgebadet und schreiend aus dem Schlaf riss, oder er wegen dem lauten Knattern eines uralten Mofas zusammen zuckte, die Fäuste ballte und an sich halten musste, um nicht schreiend zu Boden zu gehen. Sie hatte auch im Krankenhaus über ihn gewacht, als es damals ganz besonders schlimm wurde. Mia war der Grund, warum er überhaupt noch am Leben war. Sie hatte ihm im wahrsten Sinne des Wortes das Leben gerettet. „Fahr zu ihr, ich schick dir das wichtige Zeug auf dein Handy, um den Rest kümmere ich mich. Ich schätze, dass wir nicht viel mehr als vier Stunden haben“, sagte Leon, jetzt mit ernster, aber freundschaftlicher Miene. „Merci!“, sagte Ryan und versuchte es so dankbar wie möglich klingen zu lassen. Er zog sich seine Jacke an und stand auf. Kurz vor der Tür drehte er sich noch einmal zu Leon um. Seine Miene verfinsterte sich: „Ah und noch was, während ich weg bin... Versuch, Laura nicht zu vögeln!“ Ryan konnte sich gerade noch rechtzeitig durch die Tür stehlen, die Zigarettenschachtel verfehlte ihn nur um Haaresbreite. Grinsend durchschritt er ihre Abteilung und trat hinaus auf den lichtdurchfluteten Korridor Richtung Aufzug. Grinder hatte damals darauf bestanden, dass ihre Räumlichkeiten nicht von außen einsehbar waren, ergo gab es auch keine Fenster, kein Sonnenlicht, keine Transparenz. Alte Schule durch und durch. Am Ende des Korridors nahm er den Aufzug hinunter in die Eingangshalle. Dort war ein kleiner Empfangsbereich mit einer Art Rezeption. Nichts ließ hier vermuten, dass es sich um eine Immobilie des BND handelte. Erst wenn man durch die Tür nach draußen ging, wurde es deutlich. Es standen immer mindestens zwei Soldaten links und rechts am Hauptportal. Beide salutierten, als Ryan sie passierte. Er hatte lange gebraucht es sich abzugewöhnen, den Gruß zu erwidern, war ihm die Geste doch in Fleisch und Blut übergegangen. Über Jahre hinweg antrainiert, so wie die unzähligen Fähigkeiten, auf die Ryan mal mehr, mal weniger stolz war. Er ging runter Richtung Mosel-Ufer, wo sie sich einen großen öffentlichen Parkplatz mit der Universität teilten, die in Laufweite hundert Meter entfernt lag, genauso wie ein altes Militär-Trainingsgelände und die Bundesstraße. In der Regel lief er zur Arbeit, wenn er den Weg über den Campus nahm, dann brauchte er gerade einmal fünfzehn Minuten zu Fuß. Heute war er mit Mias Auto her gefahren. Er wäre sonst noch später angekommen als ohnehin schon. Ryan ging zu dem dunkelblauen VW Golf ganz am Ende des fußballfeldgroßen Sandplatzes, auf dem hunderte Autos in Reih und Glied nebeneinander parkierten. Es war ein schöner Tag, ein sonniger Tag. Ein paar Meter weiter hörte er Gelächter, Musik und Gläserklirren. Der Stadtstrand hatte geöffnet. Ein kleiner Abschnitt am Ufer der Mosel, aufgeschüttet mit Sand und umstellt von Bauwagen. Studenten hatten die Freiluftbar gegründet, die im Sommer Zuflucht für die Jungen und jung Gebliebenen bot. Man konnte trinken, Shisha rauchen, die Sonne genießen und sich so ein Stück Südsee-Urlaub in den Alltag holen. „Ryan, warte mal kurz!“ Der Mann kam von hinten angerannt und fuchtelte wild mit den Händen. Sein schwarzes T-Shirt mit dem Aufdruck einer Metalband flatterte dabei im Wind.„Martin, schiebst du wieder Überstunden?“ Ryan lachte ihn an. Martin war einer der Menschen, in deren Gegenwart man immer grinsen musste, was zum großen Teil an seinem Äußeren lag. Er war einfach eine witzige Gestalt und das ausschließlich im positiven Sinne. Sehr dünn und lang. Es war wohl seinem schlaksigen Körperbau geschuldet, dass er meist Kleidung trug, die ihm mindestens eine Nummer zu groß war. Er hatte schwarzes, dünnes Haar und trug eine eckige Brille, die auf seiner etwas zu großen Nase thronte. Wenn Martin lachte, steckte das alle an. Es war ein lautes Lachen, sehr hoch, wie das eines Jungen im Stimmbruch. Vor allem aber: Es war immer aufrichtig. „Muss ich ja, alleine findet ihr in Amsterdam nicht mal aus’m Bahnhof raus!“ Frotzelte er.„Was gibt’s?“, fragte Ryan.„Hättest du kurz eine Minute für mich, dauert nicht lange. Dann hast du auch noch ein bisschen Zeit, bevor Mia dich killt.“ Er griff sich etwas verlegen an den Hinterkopf. „Leon?“„Yes, Leon…“„Er ist einfach ein Riesen-Arschloch!“, seufzte Ryan und schüttelte grinsend den Kopf. Dann zuckte er mit den Achseln. „Aber er hat Recht… gehen wir ein Stück.“ Er nickte in Richtung des kleinen Gehweges, der direkt am Moselufer entlangführte. Martin war ihr Spezialist für IT-Technologien. Dabei hatte er gewissermaßen ein Hobby zum Beruf gemacht, ihn faszinierte alles, was einen Prozessor hatte. Und Geschichten. Martin liebte Geschichten. Er war leidenschaftlicher Gamer und so wie Ryan das mitbekommen hatte ein ziemlich guter noch dazu. Obwohl er selbst nicht so viel mit Computerspielen anfangen konnte, hing er gebannt an seinen Lippen, wenn er davon erzählte, wie sie im Team und über das Internet kommunizierend mit Spielern aus aller Herrenländer antraten. Irgendwann hatte Martin dann sehr vorsichtig gefragt, wie Ryan die Realität auf dem Schlachtfeld erlebt hatte. Er kannte es nur aus Simulationen wie dem Online Shooter PUBG. „Du musst mir wirklich nichts erzählen, nur falls du willst. No pressure!“, hatte er dann schnell nachgeschoben. Sein Kopf war damals so feuerrot angelaufen, dass Ryan befürchtete, er würde gleich die zerplatzten Überreste von Martin vom Boden auflesen müssen. Vielleicht lag es daran, dass er die Überwindung erkannte, die Martin das Fragen gekostet hatte, oder vielleicht daran, dass er bei ihm nicht das Gefühl bekam, bemitleidet zu werden und keine dieser beileidsgeschwängerten Blicke empfing. Oder vielleicht lag es daran, dass er einfach Martin war, der Mann mit dem lauten Mädchenlachen und den zu großen T-Shirts. So oder so, Ryan hatte ihm damals mehr erzählt, als so manchem Psychologen aus seiner Vergangenheit und die ganze Zeit über sah Martin ihn mit großen Augen an, wie ein Enkel seinen Großvater, wenn der ihm ‚Opa-Geschichten‘ erzählt. Von den Flashbacks, den ständigen Bildern im Kopf, die ohne Vorwarnung auftauchte, nur um dann wieder zu verschwinden. Er erzählte ihm, wie er unter diesen Bildern gelitten hatte, dass sie von überall herkamen, Irak, Afghanistan, vor allem Syrien. Sogar von dem Waisenhaus in dem er aufwuchs, nachdem er seiner Mutter entrissen worden war, weil die ihn hatte halb verhungern lassen. Dass ihm auch schöne Erinnerungen an seine Zeit geblieben waren, an den Garten vor dem Waisenhaus, an seine Kameraden beim Militär und an die vielen exotischen Länder dieser Welt, die er bereist hatte. Doch mit dem Guten stets verbunden war das Grauen. Zum Beispiel als er Luca verloren hatte. Wenigstens musste er ihn damals nicht in den Armen halten und zusehen, wie er röchelnd und spuckend verblutete. Bei Luca ging alles ganz schnell. Sie waren bei einem Nahrungsmitteltransport ins Kreuzfeuer geraten. Luca stieg als Erstes aus dem Militärfahrzeug aus, das man als ‚Humvee‘ bezeichnete und wurde von panzerbrechender Munition erwischt. Die meisten wussten nicht, was panzerbrechende Munition macht, wenn sie nicht auf eiskalten Stahl, sondern auf warmes Fleisch trifft. Sie durchschlägt nicht, sie durchbohrt nicht. Sie pulverisiert.Lucas gesamter linker Torso regnete damals auf Ryan nieder, wie Sprühnebel an einem schwülen Tag im April. Er erklärte Martin, dass er mittlerweile eine gewisse Distanz zu diesen Eindrücken aufbauen konnte und dass es ihm damit ein bisschen ging wie einem Künstler mit dem Lampenfieber. Es würde nie weggehen und war da, jedes Mal, wenn er die Bühne betrat, aber man gewöhnte sich an das Gefühl, an die Reaktion, die der Körper zeigte. Irgendwann war es eben nur noch Lampenfieber, irgendwann war das Gefühl langweilig. Hunderte und aberhunderte Male empfunden, hatte es nicht mehr viel Einfluss auf den Menschen. Damals zerstörten die Bilder sein Leben und nagten an ihm wie ein aggressiver Krebs, der seinen Wirt von innen heraus zerfrisst. Heute konnten sie ihm nichts mehr anhaben.