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Es passiert in ganz Europa. Einflussreiche Männer und Frauen verschwinden – ohne Lösegeldforderung, ohne Bekennerschreiben, ohne ersichtliches Motiv. Die einzige Spur: abgelegte Sonnenblumen, eine an jedem Tatort. Als dann der langjährige Partner des Europol-Agent Rusty Dones tot aufgefunden wird, entwickelt sich eine erbitterte Jagd nach dem Mann, der sich Scheiterhaufen nennt. Eine Jagd durch die Welt der Macht, der reuelosen Gewalt und der versagenden Justiz.
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Seitenzahl: 436
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Ich bin derScheiterhaufen Ein Thriller vonLukas Kellner
www.ws-productions.de
Originalausgabe Mai 2024 © Lukas Kellner, 2024 Covergestaltung: Lukas Kellner Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf - auch teilweise - nur mit Genehmigung des Autors wiedergegeben werden. Verlag: Waiter Serves Productions - Lukas Kellner Stossberg 4, 87490 Haldenwang www.ws-productions.de, [email protected] Druck: epubli - ein Service der Neopubli GmbH, Berlin
Das ist eine Warnung.Vor mir.Dem Scheiterhaufen.
Ich glaube, die ganze Welt verhüllt sich in einem Schein aus Unschuld, Glanz und Mitgefühl. Dabei kann doch in Wahrheit nichts davon ablenken, dass sie wenig Besseres verdient hat als mich. Sie hat mich produziert, mich erschaffen und in Form gepresst, den Weg bestimmt, den ich jetzt beschreite.
Ich bin ganz allein in der schäbigen Toilette. Die Kacheln sind weiß, das Licht gedimmt und dreckig grün wie an einer verwahrlosten Tankstelle; eine von der Sorte, die man am liebsten gar nicht erst betritt. Gelbe Spritzer zieren die Keramik, der Boden ist nass, es riecht schwefelig nach Urin und Exkrementen.
Ich wasche mir die Hände und blicke dabei kein einziges Mal in den mit Stickern beklebten Spiegel. Dann trete ich hinaus in den kleinen Gang, gehe nach rechts durch eine Tür und finde mich in einer Bar wieder. Die Deckenleuchten sind bereits erloschen, aber das einfallende Licht der Straße durch die beiden halbrunden Fenster reicht aus, um das meiste erkennen zu können. Links von mir ist der Zuschauerraum. Die Tische und Stühle gönnen sich keinen Schnickschnack, sind aus dunkelbraunem Holz gefertigt und nicht einmal mit Sitzkissen bedacht. Einzig die zerfledderten Cocktailkarten und alten Einmachgläser mit erstickten Teelichtern darin, dienen dem kahlen Mobiliar zur Zierde. Ganz hinten links befindet sich die kleine Bühne, auf der fast jeden Abend Männer und Frauen an einem Mikrophon stehen, Geschichten erzählen und das Gelächter der Zuschauer genießen. Aber auch das grelle Spotlicht, das sonst einen hellen, runden Kegel darauf wirft, ist mittlerweile erloschen.
Rechts steht ein langer Tresen. Ein Mann sitzt dahinter. Er ist klein, trägt eine viel zu große Brille und bunte Hosenträger. Neben der Kasse steht eine Schreibtischlampe, die einen gelben Lichtkegel auf das aufgeschlagene Buch vor ihm wirft.
»Nochmal vier Bier, bitte.«
»Ist aber die letzte Runde. Ich bin hiermit gleich durch. Es wird Zeit.« Er tippt auf das Buch, in dem er mit Bleistift die übriggebliebenen Bestände einträgt und Kalkulationen für die nächste Woche aufstellt.
»Verstehe.«
Mit einem Nicken reicht er mir die gekühlten Flaschen über die Theke. Ich klemme sie zwischen meine Finger und spüre die kondensierten Wasserperlen über meine Hand tropfen.
Vielleicht sollte ich mit dem Bier einfach kehrt machen und gehen. Weg von allem, was mich quält und sticht und piesackt, einfach nach Hause. Dort könnte ich mich dann allein betrinken, irgendwann in einen komatösen Schlaf verfallen und hoffen, dass ich vielleicht ganz woanders wieder aufwache oder vielleicht ohne Erinnerungen oder vielleicht auch einfach gar nicht mehr.
Rechts von der Bar führt ein schmaler Gang zu einer dunkelgrünen Feuerschutztür. Die Wände sind auch dort zu zwei Dritteln mit Holz verkleidet. Darüber werden die kahlen Mauern von einer hellbraunen Tapete mit gelbem Blümchenmuster verdeckt. Ich greife nach der schwarzen Klinke, atme ein letztes Mal tief ein und drücke zu.
Gelächter, schallt mir entgegen, so laut und brunftig, dass es eher Schreien gleicht: »Joooooooo, der Clown bringt Bieeeeeer!«
Ich bleibe stehen und starre den jungen Mann an, der mich anbrüllt. Er ist groß und hat breite Schultern, die er in eine schwarze Pilotenjacke zwängt. Seine Haare sind braun, die Wangenknochen ausgesprochen kantig und die Nase etwas zu groß geraten. Neben ihm stehen zwei weitere Kerle um einen der beiden Billardtische herum. Links hängen mehrere Dartscheiben am Holz, in denen spitze Pfeile stecken.
»Was stehst du da so dumm rum?«
Die Tür fällt ins Schloss und mir dabei in den Rücken. Ich spüre den kalten Stahl sogar durch den Stoff meines T-Shirts hindurch.
»Sorry, war in Gedanken.«
»In Gedanken, wieso in Gedanken, willst du ´ne Doktorarbeit schreiben?« Der Mann mit den braunen Haaren und der Pilotenjacke beginnt schallend zu lachen, die beiden Typen neben ihm steigen bereitwillig mit ein. Auch sie sind groß, auch sie werfen mir im dunstigen Licht feindselige Blicke zu. Der linke ist leicht übergewichtig und seine buschigen Augenbrauen werden nur durch einen sehr dünnen Spalt voneinander getrennt.
Dem auf der rechten Seite sind die Ohren zu groß geraten und zu allem Überfluss, haben sich darauf auch noch dicke Schwellungen gebildet. Blumenkohlohren nennt man die Krankheit, die viele notorische Ringer befällt und entsteht, wenn man zu viele Schläge auf die Schädelseite kassiert.
Ich trete an den Tisch heran und reiche ihnen das Bier. Mit lautem Zischen öffnen sie ihre Flaschen und halten sie tropfend direkt über den Stoff des Billardtisches. Dort, wo die Flüssigkeit den Filz berührt, verfärbt sich das Grün dunkel.
»Aber du zahlst ja. Deswegen, auf dich … Clown!«
»Auf den Clown!«, steigen die anderen beiden mit ein und auch ich lasse den dünnen Flaschenhals meines Bieres mit denen der anderen kollidieren. Es klirrt und klimpert, ich zwinge mich zu einem Lächeln und sehe zu, wie der Kerl in der Mitte das Bier hinunterkippt. Ich selbst nehme einen verhaltenen Schluck. Es schmeckt bitter und trocken. Ich mag kein Bier, mochte es nie, werde es nie mögen. Während ich zuschauen muss, wie die andern beiden – der eine mit der Monobraue, der andere mit den Blumenkohlohren – an ihren Flaschen herum nuckeln, kommt es mir fast hoch.
Nach einem beherzten Rülpser stellt der Mann mit Pilotenjacke sein Bier an den Tischrand und greift nach einem Queue. Er lehnt sich vor, formt die Augen zu Schlitzen und zielt auf die blaue Zehn.
»Wir müssen gleich gehen. Der Barkeeper hat gemeint, das ist die letzte Runde«, sage ich.
Seine Augen lassen von der Kugel ab und zucken in meine Richtung. Er runzelt die Stirn und beißt sich so fest auf die Zähne, dass seine Wangenknochen dunkle Schatten werfen. Als müsste er sich zur Ruhe besinnen, atmet er lang und demonstrativ aus.
Sein Blick bleibt an mir haften, während er sich aufrichtet, den Queue ablegt und langsam um den Tisch herum läuft. Eine Handbreit von mir entfernt bleibt er stehen. Ich kann seinen Atem riechen. Bitteres Bier vermischt sich mit dem Geruch von Hefe und fauligem Zigarettenrauch. Ich zwinge mich dazu, ihm in die Augen zu sehen. Sie sind pechschwarz und beben in ihren Höhlen.
»Was hast du gesagt?«, fragt er mich.
Das Leder seiner Pilotenjacke quietscht, weil er seine Schultern zurückbewegt und die Nähte dadurch bis zum Zerreißen gespannt sind. Ob ich es jetzt riskieren sollte? Nein, ich kann nicht, noch nicht. Plötzlich wirkt der Plan, sich nach Hause zu verpissen und dort allein zu betrinken, noch verlockender als vorhin schon.
»Ich glaube, es wird Zeit, dass du etwas über mich verstehst«, höre ich ihn sagen. Die anderen beiden beginnen zu grinsen und werfen sich verstohlene Blicke zu.
»Ich gehe, wohin ich möchte, mit wem ich möchte und wann ich es möchte.« Er wird immer leiser, haucht bald seine Worte nur noch und mit jedem Hauchen erreicht mich ein weiterer Schwall dieser widerlich stinkenden Luft.
»Das heißt … Es gibt für mich kein, ‚wir haben geschlossen‘, es gibt für mich auch kein, ‚ich will nicht‘ oder ‚das funktioniert leider nicht‘, es gibt für mich nur ein ‚Ja‘ oder ‚Ja, auf jeden Fall‘.« Seine Augen betasten einige Sekunden lang jeden Millimeter meines Gesichts, bis sie schließlich wieder bei den meinen hängen bleiben.
»Jetzt, wo du das über mich weißt – willst du da deine Wortwahl noch einmal etwas … Überdenken?«
Ich beginne zu schwitzen und mein ganzer Körper ist in Alarmbereitschaft.
»A … Also …«, beginne ich zu stottern, »… Ich hab nur das gesagt, was mir der Barkeeper …« Weiter komme ich nicht. Mein Gegenüber weicht ruckartig einen Schritt zurück, holt aus und klatscht mit der flachen Hand auf meine Schulter. Er brüllt vor Lachen und auch die zwei hinter mir steigen in das johlende Gelächter ein.
»War nur Spaß, du Clown!«, hechelt er, nachdem er sich einigermaßen beruhigt hat.
»Ich hab sowieso keinen Bock mehr auf den Scheiß.« Er zuckt mit dem Kopf in Richtung Billardtisch.
»Wird Zeit, dass wir zur Sache kommen.« Er legt seinen Arm um meine Schultern und geleitet mich auf die andere Seite des Tisches.
»Während du weg warst, haben meine Bros und ich nachgedacht und wir wollen uns bei dir bedanken, dafür dass du heute den Abend geschmissen hast.« Er blickt erwartungsvoll in Richtung der beiden anderen, die ihm eifrig zunicken.
»Wir haben eine kleine Tradition. Vor allem in Nächten wie diesen.«
»Jake, ich möchte nicht, dass …«
Die Stimme ist neu. Sie gehört nicht zu dem Mann namens Jake, der seinen Arm um mich geschlungen hat, nicht zu dem Kerl mit der Monobraue und auch nicht zu Blumenkohlohr. Sie ist schwach, zerbrechlich und erstirbt, bevor sie den Satz überhaupt zu Ende gebracht hat.
»Halt gefälligst dein Maul, wenn ich rede!«, keift Jake hinter sich, lässt mich los und geht zu der Frau hinüber, die den ganzen Abend schon stillschweigend auf einem Stuhl in der Ecke des Raumes verbracht hat. Obwohl sie nur ein paar Worte zustande bringt, weiß ich nun alles.
Weil ich es spüre.
Weil sie mich an sie erinnert.
Weil ich mich wieder so fühle wie damals, als sie mich angesehen und mir davon erzählt hat, mit Tränen in den Augen, zerbrochen wie ein Spiegel, der nie wieder ganz sein wird. Es war früher Morgen gewesen und das Schlafzimmer hatte nur ein Dachfenster. Mit einem Mal erlöste der Tag die Nacht, die ersten Strahlen fielen herein und benetzten die weiße Tapete mit einem Geflecht aus langen Schatten und hellem Gold. »Nein, ich will einfach nur, dass er verschwindet, ihn nie wieder sehen«, sagte sie damals, »dass das niemals passiert ist!« und Tränen strömten über ihre Wangen. Ich habe mich von ihr abgewendet und mein Gesicht versteckt. Nicht, weil ich es nicht ertragen hätte, sie weinen zu sehen, sondern weil ich es vor ihr verbergen musste. Dieses etwas, das in mir erwacht war und sich erhob.
Während Jake auf die Frau in der Ecke zugeht, bemerke ich, wie sie die Beine an die Holzverkleidung presst, mit leerem Blick zu Boden starrt und versucht, das Zittern zu unterdrücken, das in ihren Muskeln erwächst. Jake lehnt sich zu ihr hinab und kommt ihrem Ohr so nah, dass seine Lippen fast ihre Haut berühren.
»Du machst, was ich sage oder es passiert das Gleiche wie beim letzten Mal.«
Obwohl er die Worte nur flüstert, zuckt die Frau zusammen, als hätte er sie aus nächster Nähe angeschrien. Ich kann sie zum ersten Mal an diesem Abend genauer betrachten. Sie hat blonde Haare, ihre hübschen Augen sind mit schwarzem Eyeliner umrandet, der nun jedoch zu verwischen beginnt. Sie benötigt nicht viel Make-Up, ihre Haut ist rein und makellos, die Nase hat einen leichten Höcker, der aber nicht so groß ist, dass er stören würde, im Gegenteil, er betont die sonstige Symmetrie ihres Gesichts nur noch mehr. Sie trägt ein rotes, kurzes Cocktailkleid und hohe, schwarze Schuhe. Eine wunderschöne Frau.
»Also …«, Jake dreht sich wieder mir zu und kommt ein paar Schritte näher, »… Weil du dich um die Drinks gekümmert hast, sorgen wir im Gegenzug für ein bisschen Spaß. Rachel!« Nichts geschieht. Ich kann sehen, wie sich seine Augen zu Schlitzen verformen und spüre, wie die Wut in ihm zu lodern beginnt.
»RACHEL!« Sein Schrei hallt von den Wänden wider und wird nur von einem leisen Wimmern beantwortet. Ich höre Stöckelschuhe auf Holz, begleitet von einem Schniefen. Die Frau stellt sich neben Jake, der legt den Arm um sie und zieht sie näher an sich heran. Sie zuckt zusammen, als hätte man ihr mit der flachen Hand direkt ins Gesicht geschlagen. Ich will ihn einfach nie wieder sehen.
»Das ist Rachel. Sie ist eine Kommilitonin von mir und hat darüber hinaus noch ein paar andere Qualitäten.« Er zwinkert mir zu und grinst dabei wie ein kleiner Junge, der bei einem harmlosen Streich erwischt wurde.
»Wenn wir drei unterwegs sind, kümmert sie sich am Ende immer um uns.« Ich sehe zu Blumenkohlohr und Monobraue hinüber, die sich gegenseitig zunicken, als hörten sie gerade einem Dichter bei besonders gelungen Versen zu. Dass es nie passiert ist.
»Und weil du heute so ein guter Organisator warst, möchten wir dich einladen, dabei zu sein. Rachel wird sich auch um dich kümmern!« Er presst sie noch fester an seinen Körper, sie nickt kurz und starrt dabei zu Boden. Ich kann meine Augen nicht mehr von ihr lassen. Von ihrer verschmierten Mascara und den roten Lippen, die perfekt zu ihrem Kleid passen, der zierlichen Nase, deren kleiner Makel das Gesicht vollkommen macht. Ich spüre, wie es mich überfällt, wie mein Herz zu rasen beginnt und meine Handflächen feucht werden.
»I … Ich«
»Da verschlägt es dir die Sprache, was Clown?« Er lacht wieder los, reckt seinen Kopf in Richtung seiner Kumpanen und rüttelt dabei an Rachel, deren Körper kraftlos hin und her wackelt.
»Keine Sorge, du musst nicht schüchtern …«
»Rachel.« Ich unterbreche Jake. Zwar spüre ich seine wutschäumenden Blicke auf mir lasten, aber jetzt gerade interessiert mich nur noch sie.
»Rachel, willst du das?«, frage ich.
Langsam hebt sie den Kopf und sieht mich an. Zum ersten Mal, seitdem wir einander vorgestellt wurden, treffen sich unsere Blicke. Ihre Lippen zucken, doch am Ende sagt sie kein Wort.
»Natürlich will sie, du Schlappschwanz. Entweder du nimmst das Angebot an oder du verpisst dich, und zwar auf der Stelle, hast du mich verstand, Clown?«, faucht Jake und ich weiß sofort, dass er es ernst meint. Ich weiß, dass er seine Rechte zur Faust ballt und dass er keine Widerworte dulden wird. Ich weiß, dass ich hier falsch bin.
Ein letztes Mal betrachte ich Rachel, die ihren Kopf wieder hängen lässt und kraftlos in seinem Arm hängt. Ich nicke ab, drehe mich um und gehe langsam Richtung Tür.
»Ich wusste, dass du ´ne Fotze bist, Clown!«, ruft er mir noch hinterher, doch ich höre es gar nicht mehr. Mein Kopf ist zu sehr damit beschäftigt, mir zu zeigen, was geschehen wird. Was sie mit ihr tun werden, sobald ich weg bin. Ich will einfach nur, dass er verschwindet.
Ich öffne die Tür und blicke den engen Gang entlang. Wieder denke ich an vorhin zurück, als ich die Bierflaschen in meinen Händen gespürt habe und kurz davor stand, einfach nach Hause zu gehen. Allein zu bleiben. Wie dumm … Ich hätte den ganzen Spaß verpasst.
»Du hast einen Fehler gemacht.«
Ich schließe die Tür. Das grüne Metall ist mir so nah, dass ich nichts anderes mehr sehen kann. Hinter mir drehen alle drei die Köpfe. Sie dachten, ich sei bereits gegangen.
»Du hast zu vielen Menschen erzählt, was du machst«, sage ich, »du hast geprahlt. Hast angegeben. Hast es genossen. Deine Macht und deinen Status, wegen deinem Daddy und den kleinen dreckigen Geschäften, in die er dich jetzt mit einbindet.«
»Clown? Du verschwindest jetzt besser«, seine Stimme bebt. Blumenkohlohr und Monobraue laufen jeweils links und rechts um den vorderen Billardtisch herum. Ich spüre, wie sie näher kommen und was mich gleich erwartet. Endlich. Mein Herzschlag verlangsamt sich. Ich spüre, wie es aus mir herausfließt. Dabei hatte ich doch schon zuvor nichts mehr davon übrig. Vom Mitgefühl.
»Das war dein Fehler …«, flüstere ich noch.
Ich wirbele herum und greife dabei nach einem der Pfeile, der in der Dartscheibe neben mir steckt. Aus der Drehung heraus werfe ich ihn auf mein erstes Ziel. Die Spitze trifft Monobraue im Gesicht, der schreit und fällt um. Blumenkohlohr springt mich von rechts an und katapultiert mich gegen die Wand. Ich knalle mit voller Wucht auf, fühle aber keinen Schmerz. Er umklammert meine Hüfte, will mich auf seine Schulter hieven, um mich dann auf den Boden zu schmeißen. Ich greife rechts neben mich, bekomme einen weiteren der Pfeile zu fassen, sehe sein Ohr, hole aus und steche zu. Er schreit so laut wie ein verwundeter Büffel, taumelt einen Schritt zurück und hält sich dabei mit der Hand die rechte Schädelseite. Derweil kommt von links Monobraue auf mich zugesprungen, der sich von dem ersten Treffer schon wieder erholt hat. Ich ducke mich unter seinem Schwinger weg, drehe mich nach links und greife nach einem weiteren Pfeil an der zweiten Dartscheibe. Damit habe ich zwei messerscharfe Spitzen, eine in jeder Hand.
Monobraue macht einen Schritt auf mich zu, will wieder zuschlagen, ich springe der Faust entgegen und steche ihm von unten direkt in die Kehle. Es klingt, als würde er sich ununterbrochen verschlucken, während ich mit dem zweiten Pfeil viele Male in seinen Bauch hinein steche. Dann wuchte ich ihn vor mir her, solange bis er mit Blumenkohlohr zusammen gegen die Wand kracht. Blumenkohlohr versucht, mich an den Haaren zu packen, ich höre mit den Stichen in Monobraues Leber auf, reiße den Pfeil hoch und steche Blumenkohlohr genau zwischen Elle und Speiche in den Arm. Mit einem festen Ruck ziehe ich gleichzeitig den versenkten Pfeil aus Monobraues Hals heraus, der sackt in sich zusammen und geht zu Boden. Blumenkohlohr versucht ein weiteres Mal zuzuschlagen, ich ziehe in einer flüssigen Bewegung den Arm mit dem Pfeil darin zu mir heran und blocke damit seine eigene Faust. Die Augen sind mein nächstes Ziel.
Zwei Stiche genügen und die Flüssigkeit des Glaskörpers spritzt aus ihm heraus wie bei einem aufgeplatzten Wasserballon. Zeitverschwendung, schießt es mir durch den Kopf; dann steche ich ihm mit dem Pfeil seitlich tief in den Hals hinein und reiße ihn mit aller Kraft zur Seite weg. Das Fleisch platzt auf und mit ihm die Hauptschlagader. Roter Nebel geht über mir nieder. Ich spüre nichts mehr. Nur Verlangen. Blutdurstiges Verlangen.
Ich drehe mich um. Da steht er vor mir. Die Augen weit aufgerissen, den Mund geöffnet. Rachel kauert am Boden neben dem Stuhl und vergräbt ihr Gesicht zwischen den Knien. Gut. Sie sollte nicht sehen, was gleich passiert. Ich lasse den Pfeil in meiner linken Hand fallen, behalte aber den in meiner rechten und gehe langsam auf ihn zu. Jake scheint vom Schock gelähmt zu sein. Er beginnt zu schreien: »WAS WILLST DU VON MIR? WER BIST DU?«
Ich bleibe kurz stehen, schaue direkt in seine Augen, sehe sein Gesicht vor mir und gleichzeitig das von all den anderen.
»Ich bin Gerechtigkeit.«
Er rennt auf mich zu, ich lasse mich auf mein Knie fallen und entgehe so seinem Schlag. Mit dem Pfeil steche ich hoch und treffe die Unterseite seines Torsos, dann drehe ich ihn im Fleisch herum und lasse ihn stecken.
Während er schreit, japst, spuckt und sich zitternd vornüberbeugt, erhebe ich mich und brülle ihm die letzten Worte entgegen, die er in seinem Leben hören soll.
»ICH BIN SIE!«
Ich packe seinen Kopf mit beiden Händen und schlage ihn gegen die Kante des Billardtisches. Es knallt, man hört Knochen bersten, gefolgt von einem Platschen. Ich vergrabe meine Finger noch fester in seinen Haaren, hebe den Kopf wieder hoch hinauf und lasse ihn mit ganzer Kraft auf die Tischkante knallen. Dann wieder, dann wieder, dann wieder.
Es spritzt an den Seiten hinaus, besudelt die weiß-bunten Kugeln, das Holz und den Boden. Bald wird das kolossale Krachen zu einem pausenlosen Platschen, weil keine Knochen mehr da sind, die hätten brechen oder knacken können; ich mache dennoch weiter, höre nicht auf, niemals, beginne zu brüllen. Der Schrei durchläuft meinen ganzen Körper und endet in meinen Händen, die festgekrallt in seinem Schädel mit voller Wucht auf den Tisch niedergehen.
Irgendwann habe ich nur noch Haare zwischen meinen Finger. Ich atme schwer und richte mich auf. Das grüne Filz ist getränkt vom roten Blut und gespickt mit Zähnen, Knochensplittern und Fleischfetzen. Meine Hände zittern und ich starre auf den leblosen Körper zu meinen Füßen hinab.
»Ich glaube, er ist Tod.«
Ich wirbele herum. Den Mann, der dort in der Tür steht, habe ich in meinem Rausch gar nicht bemerkt. Es ist nicht der Barkeeper und ich habe ihn auch außerhalb dieser vier Wände noch nie zuvor gesehen. Er ist Asiate, hat schwarzes, zur Seite gewachstes Haar, trägt ein blau kariertes Hemd und eine schwarze Hose mit Holster und Waffe daran. Er bewegt sich nicht auf mich zu, lässt stattdessen den Blick schweifen, kramt dann in seiner Hosentasche herum und holt eine kleine, orangene Dose mit Pillen hervor. Er fischt sich eine der kleinen Tabletten heraus und schluckt sie mit energischen Kopfnicken hinunter. Dann sieht er mich an. Seine schwarzen Augen beginnen zu glänzen, als er mich fragt: »Und? War das dein Ziel?«
Die Regentropfen hämmerten auf die dünne Scheibe und bildeten wegen des Fahrtwindes lange, glänzende Züge. Das Taxi, in das sie vor gut fünf Minuten eingestiegen waren, setzte mit laut aufheulendem Motor zu einem Überholmanöver an, während sich der Fahrer in Arabisch lautstark über die anderen Verkehrsteilnehmer beschwerte. Um sein Gemüt zu beruhigen, schien er das Ziel zu verfolgen, das Innere seines Wagens auf zweistellige Minusgerade herunter zu kühlen. Entweder das oder er war einfach ein fanatischer Kältefreak.
Lesly zumindest fror und konnte sich nur mit Mühe davon abhalten los zu zittern. Kein Wort war bisher gefallen und so langsam fragte sie sich, ob der Mann neben ihr sie in irgendeiner Weise auf die Probe stellen wollte. Verstohlen schielte sie zu ihm hinüber und hoffte auf irgendetwas, ein Seufzen, ein »Also«, ein »Entschuldigung, ich war gerade in Gedanken« – Nichts dergleichen kam.
Der Mann saß einfach nur stillschweigend da. Sein dunkelgrünes Hemd mit weißem Kragen warf Falten an den Stellen, an denen er es sich in die dunkelblaue Jeans gesteckt hatte. Die Ärmel waren lose und schlampig hochgekrempelt. Den linken Ellenbogen lehnte er am Fenster an, mit der Rechten knetete er wie besessen auf einem weißen Stressball herum. Immer wenn er zupackte, quoll das gummiartige Material an den Seiten seiner Finger hervor, die dann wiederum so weiß anliefen, dass sie von der Farbe des Spielzeugs kaum noch zu unterscheiden waren.
»WILD EL CAWA!« Lesly zuckte zusammen. Der Taxifahrer schlug lautstark auf das Lenkrad ein, riss es herum und überholte ein Auto, das gerade versucht hatte, seitwärts einzuparken. Der Mann neben ihr bewegte sich keinen Millimeter. Er knetete weiter auf dem Stressball herum und betrachtete die vorbeiziehende Aussicht. Graue Hochhäuser, dunkle Säulen, Geschäfte, verdreckte S-Bahnstationen, nur hin und wieder ein Baum, der meist kränkelte und einzig vom Willen der Stadtverwaltung am Leben erhalten wurde.
Lesly griff nach den Enden ihres schwarzen Blazers und zog sie in die Mitte, um ihren Bauch vollständig mit dem dunklen Stoff zu bedecken. Wieder blickte sie verstohlen zu ihm hinüber, wieder passierte nichts. Sie versuchte sich zu beschäftigen, spielte an ihrem Haargummi herum, lockerte ihn schließlich ganz und zog ihr schulterlanges, rot-glänzendes Haar streng zurück. Der neue Pferdeschwanz saß fester und ihr fielen auch keine Strähnen mehr in das Gesicht. Ihre Augen schienen blau, Make-Up trug sie wenig; etwas dezenten Eyeliner, ein bisschen Mascara, das wars. Dass sie eigentlich braune Haare hatte, erkannte man wegen ihrer Augenbrauen, trotzdem stand ihr die künstliche Farbe außerordentlich gut, genauso wie der silberne Helixring an ihrem linken Ohr.
»Das ist alles Scheiße!«
Lesly fuhr herum. Der Mann neben ihr hatte jetzt doch endlich das Wort ergriffen, auch wenn er weiterhin aus dem Fenster starrte und sie unverhohlen ignorierte.
Sie räusperte sich und strich mit den Handflächen über ihre Bluse. Wieder Stille. Die Regentropfen trommelten auf das Autodach und wurden von einzelnen Windböen noch fester gegen das Metall gespritzt. Lesly schluckte und begann schließlich mit belegter Stimme zu sprechen: »Ent … Entschuldigung! Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Lesly …«
»Ihr Name ist Lesly Snider, Sie sind 29 Jahre alt und sitzen hier mit mir in einem beschissenen Taxi, in einer beschissenen Stadt, an einem beschissenen Tag!« Der Mann ballte die Faust mit dem Stressball darin. Leslys Augen zuckten und fuhren die Umrisse seines Profils ab, als suchte sie nach einem Indiz, das ihr hätte erklären können, was sie falsch gemacht hatte. Erst geschlagene Sekunden später erhob der Mann abermals das Wort.
»Ich habe keine Zeit für Small-Talk. Sie sind mir vom Deputy Director zugewiesen worden, das ist weder Ihre noch meine Schuld. Wissen Sie in welchem Fall wir ermitteln?« Zum ersten Mal drehte er den Kopf und schenkte Lesly seine volle Aufmerksamkeit. Für die wenigen Sonnentage in diesem Teil Europas, besaß er einen auffällig dunklen Teint. Seine Augen waren braun und strahlten wie dunkles Karamell. Das lange, glatte, rabenschwarze Haar hatte er mithilfe einer großzügigen Portion Gel nach hinten gelegt.
Lesly sank in ihrem Sitz zusammen und murmelte: »Mir wurde nur gesagt, dass sich die Pläne kurzfristig geändert haben und ich bei Europol zusammen mit einem Rusty Dones an einem Fall arbeiten werde, der …«
»Scheiße, ich weiß wie ich heiße. Warum sagen Sie mir wie ich heiße?« Lesly starrte ihn fragend an.
»Das hier ist keine beschissene Vorstellungsrunde. Was wissen Sie über die Ermittlungen?«
Lesly räusperte sich: »Ich hab die Akte heute Morgen nur kurz überfliegen können. Vereinzelte Fälle in ganz Europa, darum ist Europol mit der Sache betraut. Die Opfer weisen keine persönlichen Verbindungen zueinander auf. Lediglich ein sozio-ökonomisches Muster ist erkennbar: Die meisten waren wohlhabende Männer, wobei es auch eine Frau erwischt hat und zwei weitere männliche Personen, die der Mittelschicht zuzuordnen sind. Insgesamt wurden bislang zwölf Fälle bekannt. Da die Entführungen vereinzelt und räumlich weit voneinander getrennt aufgetreten sind, haben die Medien noch keine Ahnung davon, dass es sich um ein und denselben Täter handeln könnte. Der …«
»YA CHARRA!« Leslys Kopf zuckte in die Richtung des Taxifahrers. Der schlug mit der flachen Hand auf die Armaturen, griff dann beherzt an das Steuer und fluchte einem Fahrradfahrer hinterher, den er soeben beinahe über den Haufen gefahren hatte. Als der Wagen wieder einigermaßen ruhig auf der Straße lag, fuhr sie fort.
»Der erste Angriff am Tatort hat immer dasselbe ergeben, nämlich dass …«
»Erster Angriff? Sind sie 80?« Rusty machte eine energische Drehung um 90 Grad und stierte Lesly an. Die verstand nicht, was sie falsch gemacht hatte, und formte mit den Lippen ein leises »Wie bitte?«
»Ich hab Sie gefragt, ob sie eine tattrige, verfaulte, alte Oma sind?«
»I … Ich.«
»Ich sags Ihnen: Nein! Sind Sie nicht. Sie sind Lesly Snider, 29, nicht Lesly Snider, scheiß 80, Lesly Snider 29!« Die letzte Zahl betonte er übertrieben laut und presste dabei den Ball in seiner Hand so fest zusammen, dass man befürchten musste, er könnte jederzeit auseinander platzen.
»Erster Angriff ist ein Begriff für Tatortarbeit aus den Fünfzigern. Die Zeit ist genauso tot wie das Wort!« Rusty entspannte seine Hand und drehte den Kopf zurück in Richtung Scheibe.
»Machen Sie weiter«, murmelte er und begann wieder im gleichmäßigen Tempo zu kneten. Leslys Stirn und Wangen hatten sich so sehr mit Blut gefüllt, dass sie nur noch schwer von ihren Haaren zu unterscheiden waren. Sie schüttelte kurz den Kopf, schluckte und fuhr fort.
»Der erste … Ich meine … Am Tatort war immer das gleiche Bild vorzufinden. Das Opfer war verschwunden und stattdessen war eine Sonnenblume zurückgelassen worden. Bisher gab es keine nennenswerten Ermittlungserfolge, weil …«
»Weil dieser Wichser Dinge tut, die nicht möglich sind«, schnitt Rusty ihr das Wort ab. Er drehte den Kopf nach vorn und fixiert die Kopfstütze des Taxifahrers.
»Die Personen sind alle in den unmöglichsten Situationen verschwunden, als wären sie vom beschissenen Erdboden verschluckt worden. Der Manager eines Hedgefonds steigt in einen Aufzug und der Mitarbeiter, der ihn begleitet hat, nimmt die Treppe, weil er seinen Schrittzähler hochpumpen will. Als er oben ankommt liegt im Aufzug eine Sonnenblume, sein Chef ist verschwunden. Das Vorstandsmitglied von einem Metallkonzern ist auf einer Messe und lässt sich in einem Showroom neue Produkte vorführen. Der Verkäufer verlässt kurz den Raum, kommt zurück, Boom, Sonnenblume. Der Key-Account-Manager eines Pharmaherstellers spielt wie jeden Dienstagmorgen ein paar Sätze mit seinem privaten Tennislehrer. Der verabschiedet sich für drei Minuten vom Court – wirklich nur verdammte drei Minuten –, geht pinkeln, kommt zurück und findet nur noch Schläger und Sonnenblume auf dem Platz. So eine Scheiße hat er bei allen abgezogen. Als würden sich die Ficker einfach in Luft auflösen«, er schüttelte vehement den Kopf, »mein Partner vermutet, dass es einen Zusammenhang zwischen allen Opfern gegeben haben muss, dass es nicht einfach nur wahllos passiert. Er hat eine Spürnase für sowas. Ist ein alter Hund, mein Partner, ich hab ihm das so noch nie gesagt, aber ich habe viel von ihm gelernt.«
»Wie kam er darauf, dass es einen Zusammenhang gibt?«, fragte Lesly, die froh darüber war, dass sie das Gespräch nicht mehr allein führen musste.
»Weil es einfach zu gut geplant ist. Wir wissen ja immer noch nicht, wo die Opfer stecken, ob sie leben oder tot sind. Es gibt im Vorfeld keine Drohbriefe, hinterher keine Erpressungen und es bekennt sich auch niemand zu der Tat. Wir haben absolut keine Ahnung, wie er es anstellt. Jae meinte aber, dass so etwas äußerst gut vorbereitet werden muss und im vornherein lange Aufklärungsmissionen notwendig sind. Der weiß sowas, der war lange selbst beim Militär.«
»Wer ist Jae?« Für einen Augenblick hörte Rusty auf zu knetet. Sie waren an einer Ampel zum Stehen gekommen und die Start/Stopp-Automatik des Wagens brachte den Motor zum Verstummen. Umso lauter wurden die Tapser der Regentropfen auf dem Autodach und die Geräusche des Taxifahrers, der mit den Fingerspitzen auf dem Lenkrad herum trommelte. Rusty ließ den Kopf sinken und antwortete: »Mein Partner! Jae Kampbell … Er ist davon überzeugt, dass es irgendeine Art Muster gibt und dass man nur so an den Täter herankommt: Nämlich indem man vorhersagt, wann und wo er beim nächsten Mal zuschlagen wird.«
»Hm, ich finde dieser Ansatz klingt sehr erfolgsvorsprechend. Ein kluger Mann, Ihr Partner.«
Rusty drehte seinen Kopf und starrte Lesly an. Die beschenkte ihn mit einem freundlichen Lächeln, das zusammen mit einem entstandenen Grübchen auf der Wange ihre Ausstrahlung vom einen auf den anderen Moment grundlegend veränderte.
»Ja, ist er …«, murmelte er, starrte wieder nach draußen und begann von Neuem den Stressball zu bearbeiten. Leslys Lächeln erstarb, sie beobachtete Rusty und fuhr sich nervös über ihre Jeans. Irgendwann legte sie den Kopf zur Seite und rang sich zu einer Frage durch.
»Rusty?« Seine Hand hörte auf zu kneten. »Ah, Entschuldigung, darf ich dich überhaupt so nennen? Ich bin Lesly, also ich meine, du kannst mich gerne Duzen, ich kann dich aber natürlich auch Siezen. Sie! Ich kann Sie gerne Siezen, das wäre überhaupt kein Problem für …«
»Rusty ist in Ordnung«, grummelte er.
»Okay … Danke, ähm, Rusty. Wenn Sie doch einen, äh ich meine, wenn du doch einen Partner hast, warum bin ich dann hier?«
»HUMAR, HUMAR!«, der Taxifahrer riss erneut das Steuer herum, dieses Mal jedoch so heftig, dass Rusty der weiße Stressball aus der Hand flog, den er für einen Augenblick nicht mehr fest umschlossen hatte. Mit einem leisen »Kacke« lehnte er sich nach vorn und fischt ihn aus dem Fußraum heraus. Er richtet sich wieder auf und starrt an die Decke, ehe er bedeutungsschwer ausatmete und Lesly eine Antwort gab.
»Weil mein Partner tot ist. Wir sind gerade auf dem Weg zum Tatort.«
»Es tut mir so, so leid!«, Lesly hatte Mühe mit Rusty Schritt zu halten, der sofort aus dem anhaltenden Taxi gesprungen war, sich eine Zigarette angesteckt hatte und diese in tiefsten Zügen inhalierte. Der Regen war schwächer geworden, dennoch tupften die vereinzelten Tropfen dunkle Punkte auf sein Hemd.
»Ich wusste nicht, dass … Oh Gott, seit wann wissen Sie es, warum ist das passiert, Sie müssen absolut fertig sein und dann habe ich auch noch …«
»Halt die Klappe!«, Rusty starrte sie grimmig an, »Ich erkläre dir jetzt, wie das laufen wird.« Sie standen unter der grünen Markise eines kleinen Hutladens. Die Straße vor ihnen war groß und vierspurig, die Gebäude auf der gegenüberliegenden Seite hoch und modern. Obwohl sich um sie herum einige Geschäfte aneinanderreihten, war keine Menschenseele unterwegs; der Regen schien den meisten die Laune auf gemütliches Bummeln deftig zu vermiesen.
»Ich darf nicht hier sein, was bedeutet, du darfst nicht hier sein!«, schnaubte Rusty, während Lesly zwar zustimmend nickte, ihn dabei aber fragend ansah.
»Natürlich darf ich mich nicht in diese Ermittlungen einmischen, weil ich a) befangen bin und b) die Sache nicht in die Zuständigkeit von Europol fällt. Du, Lesly Snider, wurdest mir kurzfristig zugeteilt, weil ich einfach schön brav weiter meine Arbeit machen soll. Weil es mir scheißegal sein soll, was mit meinem Partner passiert ist.« Er warf den abgebrannten Stummel weg, holte eine Schachtel blaue Gauloises hervor, zog sich daraus eine neue Zigarette und begann, diese genauso schnell einzuatmen wie die letzte.
»Aber … da mir scheißegal ist, was andere von mir wollen, sind wir jetzt hier. Ich werde mir das ansehen. Hast du ein Problem damit?«
»Ich?«
»Natürlich du, steht hier sonst noch jemand rum?«
»Warum sollte ich …«, stotterte Lesly, nur um sofort wieder unterbrochen zu werden.
»Weil ich weiß, dass jemand, der in deinem Alter auf dieser Ebene arbeitet, entweder ein scheiß Workaholic, die beschissene Tochter von irgendjemand Wichtigem oder ein Arschkriecher und Korinthenkacker ist. Und ich könnte wirklich einen Workaholic brauchen, scheiße, sogar verdammt dringend könnte ich den brauchen, aber eines, eines kann ich absolut nicht brauchen …« Er atmete energisch einen großen Schwall Rauch durch die Nase aus, was ihm das Aussehen eines grimmigen Drachen verlieh. »Auf gar keinen Fall, kann ich gerade ein Korinthenarschloch brauchen. Und wenn du so etwas bist, ein Korinthenarschloch, dann bleibst du jetzt hier unten stehen, während ich da hoch gehe und mir den Dreck ansehe. Hast du mich verstanden?«
Lesly starrte Rusty fassungslos an.
»Sie können nicht …«
»Verstanden?« Rustys Augen funkelten bedrohlich.
»Ja … Ich will mitkommen.«
»Also dann.«
Er pfefferte die halb aufgerauchte Zigarette mit voller Kraft auf den Boden, so als versuche er damit unsichtbare Mäuse zu treffen und bestenfalls zu töten. Dann drehte er sich um und verschwand in einer schmalen Tür aus dunklem Holz neben dem Schaufenster des Hutladens. Lesly starrte ungläubig auf den Zigarettenstummel. Sie stemmte die Hände in die Hüften und atmete ein paar Mal kraftvoll ein und aus, dann schüttelte sie den Kopf.
Von drinnen ertönte ein Schrei: »Kommst du jetzt?«
Lesly verdrehte die Augen und antwortet mit einem lauten: »Ja!«
Sie wollte ihm gerade hinterher hasten, als sie noch einmal kurz innehielt und sich umdreht. Sie ging in die Hocke und hob den Stummel der halbaufgerauchten Zigarette auf, der sich schon ganz voll mit Regenwasser gesogen hatte und kurz davor war, sich in eine schleimige Masse aus braunem Tabak, durchnässtem Papier und zerfleddertem Filter zu verwandeln. Sie hielt den Stummel mit den Fingerspitzen weit von ihrem Körper weg, sah aber keinen Mülleimer in Reichweite, in dem sie das Ding hätte entsorgen können. Schließlich verzog sie ihr Gesicht zu einer angeekelten Grimasse und steckte die alte Zigarette widerwillig in die linke Tasche ihres Blazers. Dann erst betrat sie das Gebäude und folgte Rusty in das Treppenhaus.
Drinnen war es sehr dunkel und nichts erinnerte mehr an die Moderne und Weite des Straßenzuges, den sie soeben hinter sich gelassen hatten. Die Größe der rundgeschwungenen Holztreppe war knapp bemessen und kämen sich zwei Menschen entgegen, müssten sie sich schon seitwärts aneinander vorbeischieben.
Rusty polterte die Treppe vor ihr hinauf und hing sich seine Marke an einer Silberperlenkette um den Hals. Im dritten Stocke kamen sie an einer geöffneten Tür an, aus der die Geräusche einer tiefen Stimme drangen. Rusty trat ohne zu zögern ein; Lesly blieb zunächst auf der Schwelle stehen und blickte ihm nach.
Zögerlich setzte sie einen Schritt nach dem anderen und versuchte dabei, möglichst alle Eigenarten dieses Ortes in sich aufzusaugen. Die Wände des schmalen Ganges waren mit ockerfarbener Tapete ausgekleidet. Die erste Tür rechts führte in eine kleine Küche. Die war nicht besonders groß und mit einem Reiskocher nebst Mikrowelle eher schlicht ausgestattet. Die Tür links führte in ein Badezimmer mit Dusche, vor der ein knallgelber Duschvorhang gespannt war. Über dem Waschbecken hing ein Spiegelschrank, die Toilette hatte keinen Deckel, die Klobrille war hochgeklappt. Die zweite Tür links führte dann in ein Schlafzimmer, das mit einem großen Kleiderschrank und einem schlichten Bett praktisch komplett vollgestellt war. Die Tür am Ende des Ganges führte in eine sehr kleine Abstellkammer, mit einem Staubsauger, einem Besen, Schuhen und Jacken. Damit blieb nur noch ein Raum übrig – die zweite Tür rechts.
Lesly trat hinein und ließ ihren Blick schweifen. Sie begann links. Auch hier drückte die ockerfarbene Tapete allem ein altbackenes Aussehen auf. Gleich neben der Tür waren Haken in die Wand eingelassen, an denen verschieden lange Gummibänder hingen, außerdem ein paar schwere Ketten, mit riesigen Gliedern. Sie hätten wegen ihrer Größe eher in eine Industriehalle gepasst oder zu einem Hafen, um damit gigantische Ozeandampfer zu vertäuen. An der kurzen Seite des Raumes ragte eine schlichte Holzpuppe hervor, wie sie zum Training von verschiedenen Kampfkünsten üblich war.
»Wir müssen uns beeilen, du darfst hier eigentlich gar nicht sein«, sagte ein Mann, der in der Mitte des Zimmers stand und Rusty besorgt beobachtete. Er war sehr klein, dafür aber wahnsinnig dick. Seine massige Gestalt wurde von einem lauten Schnaufen begleitet und sein buschiger Schnauzer zittert im regelmäßigen Takt. Die zu klein geratene Polizeiuniform schmeichelte seiner Figur nicht gerade und der viel zu eng geschnürte Gürtel hielt die überquellenden Massen nur mit allerletzter Kraft zurück.
»Wer ist sie?«, fragte er und blickte dabei nervös zwischen Lesly und Rusty hin und her. Doch Rusty antwortete nicht. Er hatte den Kopf gesenkt und schien von der Gestalt am Boden hypnotisiert zu werden.
Auch Lesly hatte ihn jetzt bemerkt. Er lag zusammengekauert da, am entlegenen Ende des Raumes. Er war zur Seite hin umgekippt, hatte den Rücken Richtung Tür gewandt, sodass man nur seinen Hinterkopf sehen konnte, von dem eine große Blutlache ausging. Vor ihm befand sich ein kleines Tischchen, auf dem das Bild einer koreanischen Frau mittleren Alters stand. Rechts und links davon hingen Schriftrollen an der Wand mit asiatischen Schriftzeichen darauf.
»Wer hat ihn gefunden?« Rustys Worte zitterten nicht, sie wirkten auch nicht unsicher oder traurig, dafür aber leer. Lesly ging vorsichtig zu ihm hinüber und der Mann mit Schnurrbart beobachtete sie bei jedem Schritt.
»Es gab einen anonymen Anruf. Wahrscheinlich Nachbarn, die den Schuss gehört haben. Er hat zwar einen Schalldämpfer benutzt, aber die Wände hier drin sind nunmal sehr dünn. Eine Streife hat ihn dann so gefunden und sofort den Tod festgestellt. Die Waffe ist bereits im Labor und wird forensisch untersucht, aber die Schmauchspuren an seiner Hand sind eindeutig. Es gibt keine Anzeichen von Gewaltanwendung und sein Abschiedsbrief war sehr deutlich formuliert.«
Rusty wirbelte herum und stapfte auf den Polizisten zu. »Jae würde sich nicht umbringe, so einen Schwachsinn kannst du keinem erzählen!«
»Er wäre in den nächsten Tagen auch so gestorben.« Der Polizist erwiderte Rustys Blick und starrte ihn nun seinerseits wütend an.
»Wir haben seinen Arzt kontaktiert. Er hatte Prostatakrebs, Metastasen im ganzen Körper. Endstadium! Die erste Diagnose haben sie ihm schon vor sechs Jahren gegeben, es war ein Wunder, dass er bis heute überlebt hat. Sein Zustand hat sich wohl verschlechtert und er wollte es dann in die eigene Hand nehmen. In seinem Abschiedsbrief hat er das klargestellt.«
»Bullshit, ich wüsste davon, wenn er …«
»Er hat auch geschrieben, dass er niemanden belasten wollte und deswegen keinem davon erzählt hat. Sie haben den Selbstmord zweifelsfrei nachgewiesen. Sie werden ihn noch obduzieren, aber …«, der Polizist kam ins Stocken, weil Rusty den Kopf abgesenkt und die Hände in die Hüften gestemmt hatte, »… Es sieht alles danach aus, dass die Obduktion nur die bisherige Sachlage bestätigen wird.«
Rusty schüttelte vehement den Kopf, drehte sich um und ging zurück zur Leiche seines Partners. Zum ersten Mal, seitdem er den Tatort betreten hatte, überwand er sich dazu, ihn wirklich anzusehen, blickte von oben auf sein Gesicht herab, auf die geschlossenen Augen, auf das schwarze Haar und das hellblau karierte, kurzärmelige Hemd. Er erinnerte sich an seine Frau und daran, wie Jae für ihn da war, als sie ihn verließ. Für einen Moment blendete er alles um sich herum aus, auch Lesly, die neben dem toten Jae am Boden kniete und die drei Gegenstände näher in Augenschein nahm, die vor dem Bild der Frau auf dem kleinen Tischchen lagen. Links, ein gelöster Zauberwürfel. In der Mitte ein mit Bleistift beschriebenes Blattpapier mit der Überschrift: Mein Abschied. Rechts, eine maschinell beschriebene Urkunde mit dem Titel: Letzter Wille und Testament. Darin vermachte er alles, was er besaß einer ganz bestimmten Person.
»Wer ist der Junge?« Lesly schaute zu Rusty auf. Sein Blick hatte sich verändert, gleichermaßen seine Stimme. Die Leere war verschwunden, ausgefüllt worden von etwas anderem, etwas Feindseligerem. Rusty dreht sich um, ballte die Fäuste, ging auf den Polizisten zu und für einen kurzen Augenblick glaubte Lesly, er würde einfach zuschlagen.
»Rusty, hör mal, du weißt, dass ich dir nicht …«, stotterte der Mann und der Stoff seines Hemds begann dabei verdächtig tiefe Falten zu schlagen.
»Er war nicht nur mein Kollege, du hast ihn auch gekannt!«
»Rusty, ich habe nicht die Absicht dir …«
»Nicht die Absicht? Weißt du was du bist?« Rustys Augen quollen aus ihren Höhlen, eine Ader trat an seiner Schläfe hervor und sein Gesicht wurde feuerrot. Er kam seinem Gegenüber so nahe, dass sich beinahe ihre Nasenspitzen berührten und presste die Worte heraus, als bereiteten sie ihm die größten Schmerzen.
»Du bist ein fetter, bescheuerter …«
»ALEXANDER SMIT.«
Der Polizist röchelte und war seinerseits rot angelaufen. Weil Rusty deutlich größer war als er, musste er hochblicken, um ihm direkt in die Augen sehen zu können. Mit feindseliger Miene fügte er hinzu: »Und frag mich ja nicht nach seinen Kontaktdaten, ich dürfte dir nicht mal seinen Namen verraten. Es ist ganz allein Jaes Sache, wen er in sein Testament reinschreibt und wen nicht. Wenn er möchte, dass dieser Alexander Smit sein Alleinerbe wird, dann soll das eben genau so sein.« Der Polizist bauschte sich auf, legte den Kopf in Nacken und wischte sich einmal mit der flachen Hand über den vom Schweiß befeuchteten Schnurrbart. »Akzeptiere gefälligst den Willen deines Partners!«
Das war zu viel für Rusty. Er holte so tief Luft wie er konnte und wollte gerade losbrüllen, als ihn eine Hand sanft am Ellenbogen berührte. Lesly war aufgestanden und führte ihn behutsam Richtung Tür. Er riss den Arm von ihr los und starrte sie halb entsetzt halb wütend an.
»Wir müssen gehen, danke für Ihre Hilfe«, flüsterte Lesly und nickte dem Polizisten zu. Der erwiderte die Geste zögerlich und wusste offensichtlich nicht so recht, wie er die Situation bewerten sollte. Widerwillig und mit einer gehörigen Portion geschlucktem Stolz im Rachen, ließ Rusty sich von Lesly aus dem Raum geleiten. Kurz bevor er die Schwelle überschritt, warf er seinem toten Partner einen letzten verstohlenen Blick zu und blieb noch einmal stehen.
»Halte mich auf dem Laufenden, Doug. Falls es etwas Neues gibt … bitte.« Der Polizist atmete tief ein, was sein Hemd auf eine harte Probe stellte. Schließlich begann er zu nicken und betrachtete dabei ebenfalls den Toten am Boden.
»Mache ich … Rusty es … Es tut mir wirklich sehr leid.« Doch Rusty war bereits verschwunden.
»Was fällt dir eigentlich ein?«, brüllte Rusty Lesly hinterher, die einfach weiter über den Gehsteig lief, nicht anhielt und auch keine Anstalten machte, auf das Geschrei ihres Verfolgers einzugehen. Der Regen war nun wieder deutlich stärker geworden und prasselte unbarmherzig auf sie nieder.
»Es ist ganz allein meine Sache, wie ich mit einem Kollegen umgehe und überhaupt was ich mache, hast du das verstanden! Hey, bleib verdammt nochmal stehen!«, schrie Rusty, um einen vorbeifahrenden LKW zu übertönen. Lesly reagierte nicht.
»Ich hatte also doch Recht, du bist einfach ein kleines, beschissenes, Korinthenkackerarsc …«
»Fullhamstreet 35!« Lesly wirbelte herum und schrie Rusty an. Doch ihre Lautstärke war es nicht, die ihn zum Verstummen brachte. Auch nicht ihre immer nasser werdenden Haare, die sich in Strähnen an ihrer Stirn verklebten oder der Straßenname, den sie ihm soeben an den Kopf geworfen hatte. Es waren ihre Augen. Die waren nicht mehr strahlend blau, sondern zornig rot. Der Regen verwischte ihren Lidstrich und spülte die schwarze Farbe in Fäden über ihre Wangen.
»Die Adresse von Alexander Smit stand auf der Rückseite vom Testament, ich habe sie gesehen, während Sie kurz davor waren, sich zu prügeln.« Sie wischte sich mit dem Handballen zweimal flüchtig über die Stirn und Augen. »Sie hatten recht, mit dem was Sie gesagt haben. Mit den drei Arten von Menschen, die in meinem Alter auf dieser Position arbeiten.« Sie blickte zu Boden und stemmte die Hände in die Hüfte. Rusty machte einen Schritt auf sie zu, wollte eigentlich etwas sagen, hielt dann aber inne und überlegte es sich anders. Er schüttelt den Kopf und griff in seine Tasche. Er konnte den Stressball fühlen, die speckige, weiche Oberfläche des Gummis, der von dem ganzen Geknete schon lange nicht mehr reinlich weiß war, sondern mehr und mehr vergilbte und verdreckte. Irgendwann nickte er und presst ein gezwungenes »Danke« hervor. Lesly schaute nicht vom Boden auf, murmelt nur ein kaum hörbares »Ja.«
»Gut … fahren wir.«
Es hatte aufgehört zu regnen, doch die mächtigen Wolken türmten sich noch immer übereinander. Einzelne durchblitzende Sonnenstrahlen wurden von dem bläulichen Grau in ein melancholisches Goldgelb verfärbt.
Die Gegend war weiter vom Stadtkern entfernt, weniger modern und bürgerlich. Von hier aus hatte man es gerade einmal knapp dreißig Minuten bis zum Flughafen und die Backsteine der vierstöckigen Wohnhäuser waren zuweilen von Regen, Pollen und Abgasen dermaßen verschmutzt, dass sie eine dunkle, fast schon schwarze Farbe annahmen. Der Bürgersteig wurde alle paar Meter von schwarzen Zeitungskästen unterbrochen und von Mülleimern, die vor lauter Papier, Plastikverpackungen und Pappbechern bereits überquollen.
Rusty eilte schnellen Schrittes voran, hatte den Kopf dabei gehoben und orientierte sich an den Nummernschildern, die an den Häusern angebracht waren. Lesly trottete kraftlos hinter ihm her.
»Ich hätte Ihnen die Adresse nicht geben dürfen«, murmelte sie.
Rusty zuckte mit dem Kopf, riss die Augen auf und verkündete laut: »Da ist es!« Sie standen vor dem Haus mit der Nummer 35. Es war das einzige Gebäude in der Straße mit einem kleinen Treppenabgang. Man musste drei Stufen hinab gehen, um das Lokal betreten zu können und genau genommen handelte es sich auch nicht um ein Lokal, sondern um den:
Failed Ones
- Comedy Club -
wie es zweizeilig in goldenen Lettern über der Tür verkündet wurde. Das Etablissement fiel auch wegen seiner Fassade aus der Reihe. Kein schwarz gewordener Backstein, sondern dunkles, rund geschliffenes Holz gab dem Club das Aussehen eines alten, zaubrischen Irish Pub. Auch die großen, halbkreisförmigen Fenster, die durch ein Stabwerk segmentiert und dank des verbauten Braunglases nur vage Blicke nach drinnen zuließen, verliehen der Bar eine geheimnisvolle Aura.
»Sicher, dass es die 35 war?«, fragte Rusty, ohne auch nur eine Sekunde von den alten Balken des Failed Ones abzusehen. Lesly nickte und fügte ein kleinlautes »Ja, sicher« hinzu.
»Hm …« Er ging die drei Stufen hinab und inspizierte mit zusammengekniffenen Augen die Tür von nahem. Das Holz war ebenso dunkel und fein geschliffen wie der Rest der Fassade. Der helle Glanz zeugte von tausenden und abertausenden Händen, die daran gepatscht, gezogen und gedrückt hatten. Der Geruch von verschüttetem Bier und Zierbel wehte ihm entgegen. Dann zog sich das dunkle Braun direkt vor seinen Augen zurück, die Tür wurde aufgerissen und laute Musik bellte ihm entgegen.
»Kama, Kameeeeeeleoooon …«, ein Mann stieß mit Rusty zusammen und unterbrach prompt seinen lautstarken Sing Sang, mit dem er das Lied begleitet hatte, das aus dem Innenraum des Failed Ones drang.
»Oh Gott, haben Sie mich gerade erschreckt«, begann der Mann lauthals zu lachen, atmete einige Male demonstrativ aus und stemmte die Hände auf die Oberschenkel. Vom leicht erhöhten Bürgersteig aus, konnte Lesly ihn über Rustys Kopf hinweg genauer betrachten. Er musste ungefähr in ihrem Alter sein, also circa dreißig Jahre alt. Er besaß ausgeprägte Wangenknochen und eine sehr gerade Nase, blaue Augen und braunblondes, dichtes Haar, das sich an manchen Stellen lockte und kräuselte. Er hatte breite Schultern, trug einen cremegelben Pullover und eine dunkle Jeans.
»Tut mir wirklich sehr leid, aber wir haben die nächsten zwei Wochen geschlossen, Betriebsferien«, fügte er hinzu, nachdem er wieder einigermaßen ruhig atmete und mit einem Klick auf sein Handy die Musik zum Verstummen brachte.
»Wir sind nicht zum Spaß hier. Mein Name ist Rusty Dones, das ist meine Kollegin Lesly Snider. Sind Sie Alexander Smit?«
»Ja, der bin ich, wie er leibt und lebt«, grinste der Mann.
»Können wir Sie einen Moment sprechen?«, fragte Rusty und deutete auf seine Marke an der Silberperlenkette, die ihm am Hals herunterbaumelte.
»Ähm, klar, ich würde nur noch schnell den Müll rausbringen.« Alexander deutete auf einen grauen Plastiksack, den er beim Öffnen der Tür fallen gelassen hatte und der jetzt zu seinen Füßen auf den dunklen Holzdielen lag. Rusty streckte die Hand aus, stemmte sie gegen den Türrahmen und versperrte Alexander auf diese Weise demonstrativ den Weg.
»Es ist sehr dringend!«, betonte er, fügt dann aber ein gezwungenes »Bitte« hinzu, um den Anstand zu wahren.
Alexander zog die Augenbrauen hoch, blickte abwechselnd zwischen Rusty und Lesly hin und her, zwang sich schließlich zu einem leichten Grinsen und sagte: »Oder ich bringe den Müll später raus. Ich meine, wenn Sie schon so nett fragen … Kommen Sie rein.« Mit einem Zwinkern trat Alexander zwei Schritte zurück und hielt den beiden die Tür zum Failed Ones auf. Rusty betrat sofort die Bar, Lesly hingegen zögert noch.
Die Wolkendecke war weiter aufgebrochen und die Sonne begann langsam aber sicher den Kampf zu gewinnen. Wohlig warme Strahlen legten sich auf ihren Rücken, umschmeichelten ihren Körper und trockneten allmählich den feucht-nassen Stoff. Sie dachte darüber nach, einfach zu gehen, etwas die Straße entlang zu schlendern und diese fremde Stadt zu erkunden.
»Ich dusche normalerweise ohne meine Klamotten.«
Lesly zuckte zusammen. Alexander hatte sie aus ihren Gedanken gerissen. Ihr war selbst nicht aufgefallen, dass sie sich bereits zwei Schritte vom Eingang der Bar entfernt hatte. Der junge Mann sah sie frech von unten herauf an.
»Die Klamotten, sie sind klitschnass«, nickte er ihr zu, musterte sie einmal von Kopf bis Fuß und ergänzte dann mit einem Augenzwinkern »Das sollte ein Witz sein … Comedy Club!« Er deutete mit dem Zeigefinger auf das Schild über der Tür.
Lesly seufzte, blickte noch ein letztes Mal die Straße hinauf, ehe sie wortlos die drei Stufen hinab nahm und das Failed Ones betrat.
»Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?« Alexander schloss die Tür hinter sich und lief an Lesly vorbei. Die blieb ohne zu antworten stehen. Zu sehr war sie damit beschäftigt, den Innenraum des Comedy Clubs zu bestaunen und sogar Rusty brauchte einen kurzen Moment, um sich vom Charme der Inneneinrichtung zu befreien. Die Wände waren zu zwei Dritteln mit dunklem Holz verkleidet, das von eingeschnitzten Pilastern unterteilt wurde und an dem hunderte kleine, eingerahmte Bilder angebracht worden waren. Die Decke und das letzte Stück Mauer darüber waren mit einer hellbraunen Tapete mit knallig gelbem Blümchenmuster versehen. Hinter dem Holztresen reihten sich in einem Regal mit verspiegelter Rückwand erlesene Whiskys, Gin-Sorten und Wodkamarken.
Rechts befand sich der große Zuschauerraum, den mehrere kreisrunde Tische ausfüllten. Ganz hinten gab es eine Bühne und die Rückwand war dort nicht aus Holz, sondern aus hellbraunen Backsteinen – das charakteristische Markenzeichen vieler Stand-up-Comedy Bühnen in den USA. Alexander kam von der Bar mit einem kleinen Tablet zurück und setzte sich an einen der runden Tische.
»Hier, der beste Whisky im Haus«, sagte er und strahlte dabei, als sei es Jahre her, dass er Gäste bedienen durfte.
»Wir sind im Dienst«, grummelte Rusty und ließ sich auf dem Stuhl gegenüber nieder.
»Oh, ich weiß und Sie müssen natürlich nicht. Aber ich habe irgendwie den Eindruck, dass sie einen Drink ganz gut gebrauchen könnten. Und immerhin sind Sie jetzt im Failed Ones. Hier ist nichts wirklich ernst!«, erklärte Alexander, während Lesly schräg rechts von ihm Platz nahm.
»Nur so nebenbei, es ist ein schottischer und er ist zwanzig Jahre alt«, zwinkerte er Rusty zu.
»Zwanzig Jahre sagen Sie?«
»Zwanzig Jahre.«
»Hm …«
»Hm!« Alexander schenkte Rusty ein, der sich im Stuhl zurücklehnte und die Gelegenheit nutzte, um ihn äußerst argwöhnischen zu mustern.
»Gehört Ihnen diese Bar, Mr. Smit?«
»Oh nein, ganz und gar nicht, sie gehört dem alten Earl.« Alexander deutete auf ein großes Foto hinter dem Tresen, das einen kleinen übergewichtigen Mann mit Halbglatze, buntem Hemd, Hosenträgern und einer viel zu großen Brille zeigte.
»Aber ich unterstütze ihn, mache sauber, helfe bei der Gig-Organisation und moderiere einige der Shows. Im Gegenzug darf ich in der Wohnung hier drüber kostenlos wohnen. Und jetzt gerade habe ich die Bar ganz für mich allein. Earl ist in die Karibik geflogen. Die ersten richtigen Ferien für den alten Herren seit Jahrzehnten, das hat er sich wirklich verdient! Hier bitte.« Er schob Rusty ein Kristallglas zu, das er zuvor zweifinger hoch mit Whisky gefüllt hatte.