Augustinus - Robin Lane Fox - E-Book

Augustinus E-Book

Robin Lane Fox

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Beschreibung

Mit großer Sprachkunst erzählt und deutet Robin Lane Fox die entscheidenden Lebensphasen des heiligen Augustinus. Einfühlsam porträtiert er den Menschen und genialen Denker, der Meisterwerke der Weltliteratur schuf. Zugleich lässt er die faszinierende geistige Welt der Spätantike lebendig werden. Augustinus von Hippo (354–430 n. Chr.), Redner, Philosoph und Kirchenlehrer, ist bis heute eine geistige Macht geblieben. Die Bürde des Schicksals und die Erfahrung der Freiheit, die Endlichkeit des Menschen und die Unendlichkeit Gottes – zwischen diesen Polen bewegt sich sein Leben. Robin Lane Fox zeigt ihn als einen Mann des späten römischen Reiches, dessen Denken von Anfang an von den intellektuellen Debatten seiner Zeit tief geprägt war und der sich ständig neu erfand. Mit großem Einfühlungsvermögen und Scharfsinn erzählt er die packende Geschichte Augustinus' vielfältiger Wandlungen. Anhand der "Bekenntnisse", eines der größten autobiographischen Meisterwerke aller Zeiten, schildert der Historiker Leben, Charakter und Temperament einer ebenso leidenschaftlichen wie komplexen Persönlichkeit.

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Seitenzahl: 1490

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ROBIN LANE FOX

AUGUSTINUS

BEKENNTNISSE UND BEKEHRUNGEN IM LEBEN EINES ANTIKEN MENSCHEN

Aus dem Englischen von Karin Schuler und Heike Schlatterer

KLETT-COTTA

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel:

»Augustine. Conversions and Confessions«

im Verlag Allen Lane (Penguin Books), London

© 2015 Robin Lane Fox

Für die deutsche Ausgabe

© J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH,

gegr. 1659, Stuttgart 2017

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg

Unter Verwendung einer Abbildung von The Trustees of the British Museum

Datenkonvertierung: Dörlemann Satz, Lemförde

Printausgabe: ISBN978-3-608-98115-5

E-Book: ISBN 978-3-608-10977-1

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Einleitung

1 Bekenntnis und Bekehrung

2 Weltlicher Ehrgeiz

TEIL I

3 Kindheit, Ordnung und Sünde

4 Familiennarben

5 »Ich kleines Kind und großer Sünder …«

6 Feindselige Freundschaft

7 »Ich kam nach Karthago …«

TEIL II

8 Apostel Christi

9 Das Lebendige Evangelium

10 Martha werden

11 Lügen für den Lebensunterhalt

12 Begegnungen nach Gottes Plan

13 Ewiges Rom

TEIL III

14 Mailand und Ambrosius

15 »Gewaltsam getrennt …«

16 Einflussreiche Freunde

17 Der wiedergeborene Platon

18 Nach innen und oben

19 Sex, Ambition und Philosophie

20 Im Garten

TEIL IV

21 Sanfter Rückzug

22 Leben in der Villa

23 »Mein Lager mit Tränen überschwemmt«

24 Augustinus mit Augustinus

25 Wiedergeboren

26 Monnicas letzte Tage

27 Autorität und Liebe

28 Sklaven Gottes

29 Wahre Religion

TEIL V

30 Der widerstrebende Priester

31 Sünder und Suchende

32 Glaube und Irrtum

33 »Ohne Unzucht und Ausschweifung …«

34 Sitz der Spötter

TEIL VI

35 Die sieben Stufen

36 Paulus und Lazarus

37 Briefkontakte

38 Erstaunliche Gnade

39 Ein Skandal und seine Nahrung

40 Geteilte Last

41 Bekennen

42 Der Himmel des Himmels

43 Epilog

ANHANG

Bibliographie

Abbildungsnachweis

Anmerkungen

Register

Tafelteil

IN MEMORIAM

Peter Carson (1938–2013)

»SCRUTATORIS ACERRIMI«

»Hoc et illud ultra in aeternum«

Augustinus Confessiones VIII, 11, 26

Einleitung

Augustinus ist der antike Mensch, über den wir am meisten wissen. Noch sechzehnhundert Jahre später können wir seinem Lebensweg anhand seiner eigenen, vielbändigen Schriften mal mehr, mal weniger genau folgen. Schon aus diesem Grund ist er ein faszinierendes Studienobjekt, ein unerschöpfliches Zeugnis einer Welt, die der unseren so ähnlich und gleichzeitig so ganz anders ist. Es verblüfft mich noch immer, dass wir genau die Worte lesen können, die er und seine Diskussionspartner an fernen Tagen wie dem 13. November 386 oder dem 28. August 392 gesprochen haben. Die alte Welt ist uns plötzlich sehr nahe.

Augustinus ist zudem Christ und spricht auch aus diesem Grund viele Leser unmittelbar an. Als ich mit den Arbeiten zu diesem Buch begann, waren sowohl der Papst als auch der Erzbischof von Canterbury ausgewiesene Kenner seines Denkens und seiner Lebensumstände. Ich teile ihren – oder auch Augustinus’ – Glauben nicht, doch auch mich faszinieren seine ruhelose Intelligenz und seine grandiose Wortgewandtheit. Deshalb stehe ich vor allem bei Augustinus selbst in der Schuld, der sich immer klar und deutlich über sich und seine Überzeugungen äußert. Ich habe mich oft gefragt, wie er mir wohl schreiben würde, wie er meine weltliche Vieldeutigkeit kritisieren würde, ohne sie, wie ich glaube, ganz beseitigen zu können.

Wie viele andere überall auf der Welt hat auch mich Peter Browns hervorragende Biographie, die erstmals im Jahr 1967 erschien, inspiriert und mein Interesse an Augustinus nachhaltig beeinflusst. Brown selbst hat als Erster erkannt, wie die anhaltende Flut neuer Untersuchungen und interessanterweise sogar einige neue Quellen gewisse Standpunkte nach fast fünfzig Jahren überholt erscheinen lassen. In einer zweiten Auflage hat er diese Erkenntnis knapp umrissen, und ich bin mir bewusst, dass ich seinen Zugang nicht einmal voll erfassen kann. Ich schreibe weniger über Schuld und mehr über Mystik, und ich stelle Augustinus’ Beziehung zum Neuplatonismus und zu einer »verlorenen Zukunft« in seinen mittleren Jahren anders dar. Da mein Buch mit den Confessiones endet, habe ich viel mehr Platz, und aus diesem Luxus heraus habe ich den umstrittenen Einzelheiten seiner Bekehrungen mehr Aufmerksamkeit gewidmet und vor allem seinen Schriften und Taten in den nächsten elf Jahren, bevor er zu bekennen begann. Den direkten Kontext der Confessiones, ihr Genre und ihre Entstehungsdauer sehe ich anders. Und ich habe mehr über die letzten drei Bücher zu sagen, die den Leser bei der ersten Lektüre verwirren, die ich aber besonders zu schätzen gelernt habe.

Es gibt viele herausragende kurze Bücher über Augustinus, von Marrou bis Chadwick, von Trapé bis Te Selle. Ich sah keine Veranlassung, noch ein weiteres hinzuzufügen, und entschied mich deshalb für ein langes Buch auf der Grundlage meiner eigenen Lektüre aller erhaltenen Schriften des Augustinus bis September 397. Die Werke nach diesem Datum habe ich absichtlich so wenig wie möglich verwendet, teils aus einem praktischen Grund, meiner relativen Unwissenheit, und teils, weil eine solche Verkürzung Vorteile hat, da er selbst ja die Confessiones verfasste, ohne zu wissen, was er später noch schreiben würde.

Ich habe dem Buch einen klaren Aufbau zugrunde gelegt, den ich mithilfe einer Analogie aus der Welt der Musik erklären möchte. Es ist durchgehend als eine biographische Symphonie komponiert, deren Thema das Leben des Augustinus bis zum Alter von dreiundvierzig Jahren ist. In der ersten Hälfte – dem ersten Satz – geht es vor allem um Bekehrungen, mit dem Bekennen als Unterton. In der zweiten Hälfte geht es vor allem um das Bekennen, jetzt mit den Bekehrungen als Unterton; es sind auch eher die Bekehrungen anderer durch ihn als seine eigenen. Das ganze Stück hindurch erlaube ich dem Heiden Libanios(1) und dem Christen Synesios, Variationen zu einigen Akkorden zu spielen. Keiner von beiden besaß Augustinus’ Intelligenz, doch hinter ihrem rhetorischen und hochgestochenen Stil bin ich auf zwei sympathische Menschen gestoßen, mit denen ich ebenfalls mitfühlen kann, zumindest bei den Dingen, die sie in ihrem Leben für die wichtigsten halten.

Augustinus ist Gegenstand einer alljährlichen wissenschaftlichen Bücherflut weltweit. Ihr verdanke ich viel und hoffe, dass die Leser dies immer im Hinterkopf behalten. Die Herausforderung besteht weniger darin, etwas zu sagen, das noch nie zuvor gesagt worden ist, als vielmehr darin, zu entscheiden, was man warum glauben soll und was man am besten zu einem neuen Ganzen verarbeitet. Viele Fachleute, die sich ihr Leben lang mit dem Thema beschäftigt haben und noch ein weiteres Augustinus-Buch mit offenen Armen aufgenommen haben, haben mir geholfen. Zwei Besuche an der Villanova University in Pennsylvania und die Gespräche mit Father Allan Fitzgerald am dortigen Augustinian Institute waren überaus hilfreich, ebenso wie viele wissenschaftliche Werke aus Europa und Amerika, besonders die prägnanten Schriften von Henry Chadwick, die ausführlichen Kommentare des großen Experten J.J. O’Donnell und die alte wie auch die neue französische Gelehrtentradition. Auf Schritt und Tritt habe ich von ihren früheren Meistern gelernt, von Aimé Solignac, Pierre Courcelle und Jean Pépin, in jüngerer Zeit von Georges Folliet und vor allem von Goulven Madec, dem ich zumindest einmal Feuer geben durfte, bevor ich mir eine knappe Antwort auf eine Frage zu Augustinus’ Vorstellungen über das »Gewicht« der Seele abholte. Die präzisen Werke von Martine Dulaey und die brillanten Forschungen von Isabelle Bochet haben mich immer wieder Dinge sehen lassen, die mir sonst nicht aufgefallen wären. Lange hat man Augustinus’ Schriften auf Anspielungen auf die paganen Klassiker hin durchgesehen, seine Verwendung christlicher Autoren jedoch, die schon sehr bald nach seiner Bekehrung begann, ist erst in letzter Zeit ähnlich gründlich erforscht worden. »Sein Wissen ist zu oft entlehnt«, bemerkte Gibbon in einer bissigen Anmerkung seines großen Werkes Verfall und Untergang des Römischen Reiches, »seine Argumente zu oft seine eigenen«. Diese Aussage können wir jetzt anhand der frühen Jahre des Augustinus widerlegen, und dies haben wir vor allem den Arbeiten von Dulaey, Bochet und Nello Cipriani zu verdanken.

In Großbritannien war das Fachwissen von Gillian Clark, Carol Harrison, G.J.P. O’Daly, Roger Tomlin und Neil McLynn von unschätzbarem Wert, dazu die Hilfsbereitschaft vieler Kollegen aus aller Welt, die mir Artikel, Bücher und weiterführende Hinweise zukommen ließen, darunter A.-I. Bouton Touboulic, John P. Kenney, Paula Fredriksen, Christoph Markschies, Sigrid Mratschek, Michael Williams, Jason BeDuhn, Frisbee C. Sheffield und Peter Brown. Besonders dankbar bin ich jenen, die das Buch ganz oder in Teilen gelesen und mit kritischen Anmerkungen versehen haben. Meine amerikanische Verlegerin Lara Heimert prüfte Form und Aufbau des Buches aufs Genaueste. Mein englischer Verleger Stuart Proffitt las es mit einem wachen Blick für den Ausdruck und intellektuelle Schwachpunkte. Mark Edwards kommentierte mit Scharfblick meine Kapitel zu den Platonikern und Neil McLynn die beiden Kapitel über Rom und Mailand. Es ist mir eine besondere Freude, dass Samuel Lieu die Zeit gefunden hat, die Kapitel über die Manichäer mit seinen Anmerkungen zu versehen, vierzig Jahre, nachdem ich seine wichtige Doktorarbeit über Mani(1) und dessen Mission in Asien gelesen hatte, die mein Interesse an diesem Thema neu weckte. Sigrid Mratschek las die letzten sechs Kapitel mit prüfendem Blick und straffte den Inhalt aus ihrem unübertroffenen Wissen über den Briefverkehr zwischen den Protagonisten heraus. In Oxford hat Matthieu Pignot unschätzbare Dienste bei den Anmerkungen und der Korrektur des Textes geleistet und mich bei vielen Themen bestärkt, vor allem bei Augustinus’ Katechumenat, zu dem er besonders wichtige Forschungen beigetragen hat. Jonathan Yates von der Villanova University hat dann den Großteil des Buches kurzfristig mit freundlicher Geduld und fachmännischem Auge gelesen: eine Lehrstunde, die dem Text in vieler Hinsicht gutgetan hat. Diese Leser haben oft andere Ansichten zu Augustinus als ich, und keiner von ihnen hätte dieses Buch so geschrieben, aber ich habe sorgfältig alle Korrekturen und Anmerkungen bedacht.

Meine Kollegen in der Klassischen Philologie sind entweder eher zurückhaltend, wenn es um Augustinus geht, oder aber oft unsicher, was seine Bekenntnisse und Bekehrungen wirklich bedeuten sollen. Ich habe versucht, verständlich zu schreiben, unabhängig vom Vorwissen des Lesers. Deshalb brauchte ich eine längere Exposition, als bei einem Buch für Wissenschaftler, die ständig in Zeitnot sind, vielleicht nötig gewesen wäre. Dabei haben mir viele gute Studenten in Oxford geholfen, die mit diesem Thema in Kontakt kamen, nachdem sie sich mit Herodot, Thukydides, Aristophanes(1), Platon(1) und vielen anderen Autoren der klassischen Welt, die wir so lieben, beschäftigt hatten. Jonathan Fowles, Caroline Halliday, Michael Blaikley, Joshua Hordern, Joseph Diwakar, Isabel Sunnucks und Christopher Micklem haben mich einige Ansichten neu überdenken lassen, ebenso Ella Grunberger-Kirsh, die zum Fall Augustinus, zu seiner Mutter, seinem Zuhause und zu dem schwer fassbaren Vater, mit dem er seiner Überzeugung nach kurz in Verbindung gestanden hatte, ein Dossier geliefert hat, wie es sich jeder moderne Sozialarbeiter wünschen würde.

Eine vollständige Bibliographie mit allen Werken, die ich für die jeweiligen Kapitel gelesen habe, hätte das Buch unhandlich gemacht. Deshalb habe ich einige Veröffentlichungen zu jedem Kapitel herausgesucht und sie den Anmerkungen als Orientierung für die Leser vorangestellt. In einer allgemeinen Einführung habe ich nützliche bibliographische Hilfsmittel angegeben, auch und vor allem digitale Zugriffsmöglichkeiten. Überaus dankbar bin ich Matthew Lloyd für seine geschickte und hingebungsvolle Computerarbeit, die so gar nichts mit dem eisenzeitlichen Griechenland zu tun hat, und vor allem Henry Mason für seine sorgfältige Textverarbeitung, Formatierung und Kritik, die dieses Buch erst möglich gemacht haben. William Golightly ermutigte mich mit frühen Anmerkungen, und Katie Hager setzte dies dankenswerterweise fort, doch auch hier bin ich Matthieu Pignot besonders dankbar, der meine Anmerkungen zu Augustinus geprüft hat, vor allem in der zweiten Buchhälfte. Überaus viel zu verdanken habe ich auch Eugene Ludwig und seiner Stiftung am New College, Oxford, die mir einen Zuschuss für die Kosten der vorbereitenden Arbeiten an diesem Buch mit so herausragenden Helfern zur Verfügung gestellt hat. Gern hätte ich auch der Bodleian Library gedankt, die mir viele Jahre als wunderbarer Arbeitsplatz gedient hat, aber es ist heute kein Vergnügen mehr, dort über patristische Autoren zu forschen – nach den Umbrüchen des Jahres 2013 und den Eingriffen der früheren Bibliothekarin Sarah Thomas, die die sorgfältig durchdachte Verbindung zwischen der heidnischen und der christlichen Welt auflöste, die der Anordnung der unteren Lesesäle viele Jahre lang so produktiv zugrunde gelegen hatte. Über Augustinus zu forschen, bedeutet jetzt, auf der Suche nach wichtigen Zeitschriften auf Händen und Knien in einem Keller herumzukriechen, während neuere wichtige Bücher zu Augustinus fehlen, und ich bin deshalb Naomi van Loo, der Bibliothekarin des New College, besonders dankbar, die wichtige Bücher und Aufsätze in anderen europäischen Bibliotheken für mich aufgespürt hat. Sie und Rebecca Hutchins haben mir auf vielfältige Weise geholfen.

Augustinus bin ich zum ersten Mal an einem Sonntag im April des Jahres 1966 in der damals noch ursprünglichen toskanischen Kleinstadt San Gimignano begegnet, wo der Goldlack in Rot und Gelb in großen Büschen auf den mittelalterlichen Türmen am kleinen Dorfplatz blühte. Mein Onkel Christopher Loyd hatte mit meiner Schwester und mir von Florenz aus einen Ausflug dorthin gemacht und uns nach dem Mittagessen und meiner ersten Begegnung mit einem Glas Weinbrand in der Kirche Sant’Agostino die Fresken von Gozzoli zum Leben des Augustinus gezeigt. Jenem wunderbaren Tag verdanke ich eine Bekehrung zu Italien und seiner Kunst – seitdem alljährlich ein Teil meines Lebens. Das Umschlagbild der englischen Originalausgabe wurde als Würdigung dieser Bekehrung ausgewählt.

1

Bekenntnis und Bekehrung

I

Gegen Ende des 4. Jahrhunderts n. Chr. arbeitete ein Mann Anfang vierzig an einem innigen Gebet zu Gott. In einsamen Stunden entstand ein langer lateinischer Text, in dessen erster Hälfte er sich an das erinnerte, »was ich einst war«, an die Sünden und Irrtümer seiner frühen Jahre. Er berichtete von seinen Diebstählen als Junge, von seiner bemerkenswerten Mutter, seiner Konkubine, seiner Mitgliedschaft in einer geächteten religiösen Gruppe, seiner Sexbesessenheit, seinen weltlichen Ambitionen. Dann ging er daran, zu erklären, »was ich [jetzt] bin«, doch die autobiographischen Details verschwanden. Ausführlich dachte er über das Wesen der Erinnerung nach und über die Sünden, die ihn noch immer in Versuchung führten, sei es die Freude daran, Lobpreisungen der eigenen Person zu hören, sei es sein müßiges Vergnügen, eine Spinne zu beobachten, die gerade eine Fliege fängt. Danach begann er mit einer vielschichtigen Betrachtung der ersten beiden Kapitel der Genesis, einer Meditation über die Schöpfungsgeschichte. Er fand verborgene Bedeutungsebenen unter der Oberfläche vieler ihrer Verse. Er dachte über die Ewigkeit nach und erörterte unsere Wahrnehmung der Zeit so brillant, dass sein Text die Philosophen auch heute noch beeindruckt. Nach dreizehn Büchern, von denen nur neun behandeln, »was ich einst war«, endete er mit einem Lobpreis auf die Güte Gottes und der Hoffnung auf eine spätere Ruhe im Himmel für alle Menschen.

Dieses Werk, die Confessiones, ist ganz anders als jedes frühere oder spätere. Es ist ein christliches Meisterwerk, doch sein Zauber wirkte und wirkt weit über die christliche Kirche hinaus. Sein Autor Augustinus verfasste es als neuernannter Bischof in der nordafrikanischen Stadt Hippo Regius. Er war im November 354 als Kind eines heidnischen Vaters und einer christlichen Mutter im Osten des heutigen Algerien, der damaligen Provinz Africa(1) proconsularis(2), unter römischer Herrschaft zur Welt gekommen. Wie seine Familie war auch die Welt, in die er geboren wurde, nicht überwiegend christlich, auch etwa vierzig Jahre nach der unerwarteten Anerkennung der christlichen Minderheit durch Kaiser Konstantin nicht. Augustinus wurde am Ostertag des Jahres 387 in seinem dreiunddreißigsten Lebensjahr getauft und teilte von da an die Hoffnungen der Christen auf den Anbruch einer neuen, christlichen Zeit, die man in den letzten Jahren des 4. Jahrhunderts sehnsüchtig erwartete. Als er im Jahr 397 an den Confessiones zu arbeiten begann, fielen gerade umherziehende Hunnen in Griechenland ein, doch dieses Ereignis lag weit außerhalb der Thematik seines Buches. Dreizehn Jahre später musste er dann dem zuvor Unvorstellbaren einen Sinn geben: der Plünderung Roms – jener Stadt, die Vergil(1), der geliebte Dichter seiner Jugend, als »ewig« bezeichnet hatte – durch barbarische Eindringlinge im Jahr 410. Und nach noch einmal zwanzig Jahren als Bischof sah Augustinus sich mit einer weiteren Krise konfrontiert: Die Vandalen hatten die Straße von Gibraltar überquert und belagerten jetzt Hippo, die Stadt seiner christlichen Gemeinde. Er starb dort im August 430 in einer kritischen Phase dessen, was noch heute als der Niedergang des Römischen Reiches im Westen gilt. Eine solche Entwicklung hätte er sich in seinen jungen Jahren nie träumen lassen.

Diese weltlichen Wechselfälle unterbrachen seinen beeindruckenden Schreibfluss nie. Er verfasste Abhandlungen zum richtigen christlichen Verhalten wie auch philosophische Dialoge und abstrakte theologische wie polemische Werke. Erhalten geblieben sind fast 600 seiner Predigten, von denen einige in der Kirche wohl mindestens zwei Stunden gedauert haben dürften, und doch ist das nur etwa ein Vierzehntel der rund 8000 Predigten, die er insgesamt hielt. Wir besitzen fast 300 seiner Briefe, doch auch sie sind nur ein Bruchteil seiner Korrespondenz. Erstaunlicherweise werden auch heute noch immer wieder Predigten und Briefe von ihm in späteren christlichen Abschriften seiner und anderer zeitgenössischer Werke gefunden: Vier solche Predigten tauchten zuletzt im Jahr 2007 auf.1 Seit den ersten hellenistischen Philosophen hatte niemand so viele Bücher geschrieben, weit mehr »Regalmeter« als die Professoren, die sich jetzt mit ihnen beschäftigen. Sie machen die letzten vierundvierzig Jahre des Augustinus zu dem am besten ausgeleuchteten Leben in der antiken Welt.

Und doch heben die Confessiones unser Wissen über ihn noch einmal auf eine neue Ebene, nicht zuletzt, indem sie auch seine frühen Jahre Revue passieren lassen, aus denen nichts von ihm oder über ihn Geschriebenes erhalten geblieben ist. Sie bieten autobiographische Einzelheiten, aber sie sind keine Autobiographie, obwohl Bücher über »das Selbst« oder über »biographisches Schreiben« sie immer noch gern so einordnen. Sie sind von Anfang bis Ende ein Gebet, das Augustinus an Gott richtet, das seine Leser jedoch mithören sollen.

Dieses ungewöhnlich lange Gebet verrät die Umstände seiner Entstehung nicht: Wurde es aufgeschrieben oder vielleicht diktiert? Gut zehn Jahre zuvor hatte Augustinus die Soliloquia (»Selbstgespräche«) verfasst, eine ganz neue Form von Dialog zwischen ihm und seiner eigenen Vernunft.2 Darin befahl ihm die Vernunft, seine Gedanken selbst niederzuschreiben und nicht zu diktieren, da derart vertrauliche Dinge »Alleinsein« erforderten. In den Confessiones geht es meist um noch intimere Angelegenheiten: Gehorchte Augustinus der Vernunft auch hier und schrieb sein Gebet selbst? Beherrschte er womöglich wie viele seiner Zeit eine Kurzschrift? In einem anderen Werk beschrieb Augustinus dies als nützliche Fähigkeit, solange sie die Gedanken des Schreibenden nicht von Gott ablenke. Vielleicht hatte er die Technik für seinen früheren Beruf als öffentlicher Redner gelernt. Er spricht auch von seiner »Feder«. Bei seiner Analyse, »was ich bin«, erzählt er Gott, wie dringlich er »die Wahrheit tun« will, »in meinem Herzen mit meinem Bekenntnis vor dir und mit meiner Feder, vor vielen Zeugen«. Er bekennt nicht, so sagt er, »mit sinnlichen Worten und Lauten, sondern mit den Worten der Seele und dem Aufschrei des Denkens«. Sein »Bekennen schweigt, was sinnlichen Klang angeht; aber es schreit laut aus innerer Erregung«.3 Schrieb er eine Kurzschriftfassung, ohne laut zu beten, und übergab sie dann einem Sekretär, dessen Abschrift er prüfen und überarbeiten konnte?

Diese Hinweise sind nicht so eindeutig, wie sie auf den ersten Blick scheinen. Augustinus spricht von dem, was »wir geschrieben haben«, doch in der Antike konnte auch das Diktat unter das »Schreiben« fallen. Er beschreibt sich selbst als Betenden »mit Mund und Griffel«, doch der »Griffel« kann eine Metapher sein: Die Aussage bezieht sich auf Psalm 45, dessen Verfasser seine Zunge den »Griffel des flinken Schreibers« nennt.4 Wenn Augustinus’ Gebet »schweigt, was den sinnlichen Klang angeht«, und in den »Worten der Seele« verfasst ist, so bezieht er sich damit vielleicht nur auf dessen stille Vorbereitung. Diese beiden Stufen beschreibt er selbst in seinen Predigten. »Ich habe gründlich über das nachgedacht, was ich sagen werde«, erklärt er seiner Gemeinde, »ich würde nicht reden, ohne es vorher im Kopf zurechtgelegt zu haben«. Die »Worte der Seele« in den Confessiones spielen womöglich auf diese erste, innere Stufe an, die treffend als der »stille Probelauf« beschrieben worden ist.5 Wie andere Autoren der Antike formulierte auch Augustinus seine Worte für sich und diktierte das Ergebnis dann einem Schreiber. Er war schon ein geübter Diktierer, hatte Psalmenauslegungen diktiert oder Predigten in der Kirche gehalten, die von Sekretären in Kurzschrift mitgeschrieben wurden. Als Bischof verfügte er in seinem Haushalt über erfahrene Sekretäre.

Wenn er sein langes Gebet nun diktierte, tat er dies im Stehen oder im Sitzen? Augustinus hatte die richtige Gebetshaltung knapp ein Jahr vor Beginn seiner Arbeit an den Confessiones behandelt und war zu dem Schluss gekommen, dass es keine eindeutige Antwort gab. Allerdings beteten Christen oft kniend mit emporgehobenen oder – gerade in Nordafrika – mit seitwärts ausgestreckten Händen: Schreiben war in dieser Haltung unmöglich.6 Falls Augustinus beim Gebet kniete, könnte er die Confessiones in vorher gedanklich vorformulierten Abschnitten einem im Zimmer anwesenden Sekretär diktiert haben, der sie in Kurzschrift festhielt.

Eine mündliche Methode der Abfassung würde auch erklären helfen, warum die Confessiones so gut zu lesen und vor allem zu rezitieren sind, selbst für jene, die eher an Stil und Worte glauben als an den Zuhörer, für den sie eigentlich gedacht sind, nämlich Gott. Der Bericht über Augustinus’ frühe Jahre ist voller Zitate aus nichtchristlichen Dichtern und Autoren, die er damals studierte. Diese Anklänge faszinieren die modernen Altphilologen, verschwinden allerdings in der zweiten Hälfte des Werkes, in der er seine nichtchristliche Bildung hinter sich lässt. Dann begegnet er der platonischen Philosophie, und so konstruiert er denn auch einen langen Satz, einen ganzen Absatz in unseren modernen Textausgaben, rund um die Sprache des Philosophen, der ihn am stärksten beeinflusste.7 Eine ähnlich philosophische Sprache prägt seine abschließende Meditation über die biblische Schöpfungsgeschichte. Vor allem aber ist sie mit Zitaten aus der Heiligen Schrift durchsetzt, besonders mit Worten aus mehreren Psalmen, die er praktisch zu einem zusammenfügt.8 Er legte es nicht unbedingt darauf an, aus der Bibel zu zitieren, wie es die findigen Anmerkungen und Klammern in den modernen Textausgaben nahelegen. Er betete und unterbrach sich nicht, um die Verse nachzuschlagen, die er verwendete. Nicht immer hatte er sie ganz wortgetreu im Gedächtnis. Er betete, und sie kamen ihm so spontan in den Sinn wie die dichterischen Ausdrücke oder »Formelverse« einst dem Homer(1). Die großen Texte der Antike schlagen so möglicherweise einen Bogen über mehr als ein Jahrtausend hinweg. Homer(2) schuf seine Werke mit Rückgriff auf die überkommenen Ausdrücke früherer mündlicher Dichtung und hinterließ nach Meinung vieler Wissenschaftler, denen ich mich anschließe, einen »mündlich diktierten Text« seiner Epen. Augustinus wob meiner Ansicht nach biblische Formulierungen in ein langes Gebet hinein, in den großartigsten diktierten Text in lateinischer Sprache.

Nie zuvor hatte jemand einem Buch den Titel Confessiones – »Bekenntnisse« – gegeben. Im Alten Testament finden sich allerdings schon einige Sündenbekenntnisse. In Jerusalem hatte Esra gebetet und weinend seine Sünden bekannt. Zudem forderte er die »Männer von Juda und Benjamin« auf, ihre Sünden öffentlich vor dem Herrn zu bekennen: Sie hatten fremde Frauen geheiratet. Ein schwerer Regenguss hielt sie von ihrer Beichte ab. Die Psalmisten bekannten ihre Sünden und Gottes Größe, und im »griechischen Zeitalter« nach Alexander ging man davon aus, dass sogar die legendären jüdischen Patriarchen auf ihrem Sterbebett gebeichtet hatten. In erfundenen »Testamenten« bekannte jeder von ihnen seine schlimmste Sünde: Bei Dan war es der Zorn, bei Simeon die Eifersucht, bei Ruben die sexuelle Versuchung. »Denn auch über sie«, so ließ ein männlicher Autor Letzteren sagen, »sprach zu mir der Engel Gottes und unterrichtete mich, dass Frauen dem Geist der Hurerei eher unterliegen als der Mann. In ihrem Herzen schmieden sie Pläne gegen die Männer.«9 Selbst der größte königliche Götzenanbeter im Alten Testament, König Manasse(1), wurde dazu gebracht, zu bekennen, zu bereuen und den allmächtigen Herrn in einem fiktionalen Gebet zu rühmen, das in den Apokryphen der modernen Bibelausgaben eine halbe Seite füllt. Im frühen 6. Jahrhundert n. Chr. schrieb jemand in Hierapolis im antiken Phrygien (im Landesinneren der heutigen Türkei) es in roten und purpurfarbenen Buchstaben ab. Die Handschrift wurde erst kürzlich in einem kleinen Zimmer wiederentdeckt; sie sollte dem Hausherrn helfen, sich an Gott zu wenden, wann immer er sie las. »Denn du bist, o Herr, der Gott der Bußfertigen und wirst an mir deine Güte erweisen, denn obwohl ich unwürdig bin, wirst du mich erretten nach deinem großen Erbarmen – und ich will dich loben … in den Tagen meines Lebens.« Augustinus’ Confessiones verfolgen ein ähnliches Ziel.10

Auch in heidnischen Texten sind Bekenntnisse von Fehlverhalten gut bezeugt. Im römischen Recht genügte ein Schuldbekenntnis vor einem Richter in der Regel, um den Geständigen ohne weiteres zu verurteilen. In der hellenistischen Welt wurde es zum Topos, zu bekennen, dass Fehler einfach menschlich seien: »Ich bin ein Mensch, ich habe gefehlt …« Bekenntnisse einem Gott gegenüber waren nicht so häufig und galten Philosophen als ein Zeichen übermäßiger Angst vor einer Gottheit. Positiver nahmen sie Bekenntnisse von Philosophiestudenten auf: In den kleinen Gruppen des Epikur(1) und seiner Freunde um 300 v. Chr. »war das gegenseitige Bekenntnis eine Möglichkeit der … Selbstvervollkommnung unter den Angehörigen der geliebten Gemeinschaft«, das man allerdings an die Gefährten richtete, nicht an Gott.11 In der lateinischen Literatur wuchern Bekenntnisse gegenüber einem Gott dort, wo man es am wenigsten erwartet: in Petronius(1)’ Skandalroman, dem Satyricon aus der Zeit Neros (um 60 n. Chr.), dessen Erzähler man völlig zu Recht einen »Bekenntniszwang« zugeschrieben hat. Er beichtet sogar in einem Gebet an den Fruchtbarkeitsgott Priapus(1): »Ich komme zu dir, rein und als Bittsteller … vergib mir …«, und führt dann die Tiere auf, die er dem Priapus(2) als Gegenleistung opfern will. Im westasiatischen Binnenland bezeugen griechische Inschriften aus der römischen Kaiserzeit eine ähnliche Praxis im echten Leben. In lydischen und phrygischen Dörfern dokumentierten Menschen so ihre Missetaten, ihre Bestrafung durch eine Gottheit und ihre Opfergaben, um diese Gottheit gnädig zu stimmen (einschließlich des kleinen Denkmals, auf dem ihre Worte festgehalten sind). Die Inschriften enden mit einem Lobpreis der betreffenden Göttin oder des Gottes. Diese locker unter dem Begriff »Bekenntnismonumente« zusammengefassten Erinnerungsmale hat man auch schon als »beschriftete Denkmäler (stelai) der Erhöhung« bezeichnet.12

Augustinus’ Bekenntnisse unterscheiden sich deutlich von diesen fernen heidnischen Praktiken. Während Petronius(2)’ Held oder die Menschen in Kleinasien den Göttern, die sie gestraft hatten, Geschenke versprachen, rühmt Augustinus die Geschenke Gottes an ihn (einschließlich der Strafen) und verspricht keine materielle Gegenleistung. Seine Beziehung zu Gott ist von Liebe und Demut geprägt, nicht von der praktischen Gegenseitigkeit, auf der das Verhältnis zwischen Heiden und ihren Göttern beruhte. Für ihn, wie für die alttestamentlichen Psalmisten, hatte ein Bekenntnis zwei Aspekte: die Beichte der Sünden und das »Zeugnis« von Gottes Werken und seiner Güte. In der heidnischen Literatur findet sich ein solches Bekenntnis mit zwei Aspekten sehr selten; das beste Beispiel sind erstaunlicherweise die Meditationes (»Selbstbetrachtungen«) des römischen Kaisers Marcus(1) Aurelius. In einem ersten, einleitenden Buch, das er seinem Werk im Jahr 177/78 noch hinzufügte, blickte er auf sein Leben zurück und bedachte, welch große Sorge die Götter dafür getragen hatten.13 Er dankte ihnen für die Tugenden, die sie ihm geschenkt hatten, und für den rechtzeitigen Anstoß, sich der Philosophie zu widmen. Er dankte ihnen auch dafür, »dass ich meine Jugend rein bewahrte und nicht vor der Zeit meine Manneskraft versuchte, sondern sogar noch eine Zeitlang damit wartete«, dafür, »dass ich nicht länger bei der Geliebten meines Großvaters erzogen wurde«, und dafür, »dass ich weder die Benedicta anrührte noch den Theodot«, zwei ansonsten unbekannte Personen, deren Namen auf ein jüdisches oder sogar christliches Element im Haushalt des jungen Marcus(2) hinweisen. »Liebesleidenschaften« habe er schnell überwunden. Dank und Bekenntnis liegen hier nebeneinander: All diese Dinge, so schreibt der Kaiser, »erfordern die Hilfe der Götter, und man muss Glück dabei haben«. Zwei Jahrhunderte später sollte Augustinus zu einem ähnlichen Ergebnis kommen, wenn auch auf ganz anderem Wege.

Augustinus spricht immer wieder von »Bekehrung«, doch was meint er damit? Lange vor ihm hatten auch heidnische Griechen und Römer Bekehrungen geschildert, allerdings waren das meist Bekehrungen zur Philosophie und der entsprechenden Lebensweise. Schon Platon(2) hatte in seiner wunderbaren Geschichte von der dunklen Höhle, deren Bewohner nur die Schatten der hinter ihnen vorbeigetragenen Gegenstände sehen konnten, eine solche Bekehrung beschrieben. Wenn ein Betrachter es in die Welt des Sonnenlichtes jenseits der Höhle schaffte, war dies ein so drastischer »Wandel« – man könnte es auch Bekehrung nennen –, dass er nicht wieder in die Dunkelheit zurückkehren wollte. Weniger dramatisch schrieb der Philosoph Seneca(1) an seinen Freund Lucilius über seine eigenen Fortschritte: »Ich bemerke, Lucilius, dass ich mich nicht nur von Fehlern befreie, sondern mich wandle … Ich wünschte daher, die so plötzliche Wandlung meiner Person mit dir zu teilen.« Dieser Gedanke fand seinen Ausdruck auch in kurzen Sprüchen, dem römischen Äquivalent der »Gedanken zum Tage«, zum Beispiel: »Ich beginne, mir selbst ein Freund zu sein.«14

In der Bibel wimmelt es von Bekehrungen in dem Sinn, dass man sich zu einem einzigen Gott hin- und von allen anderen abwendet. Das griechische Wort für eine solche Wendung, epistrophē, findet sich mehr als 550 Mal in den griechischen Übersetzungen des Alten Testaments. In den lateinischen Übersetzungen, die Augustinus benutzte, wurde daraus conversio.15 Nur in einem lateinischen Roman bekehrte sich ein Heide zum Kult einer Gottheit und betrachtete diesen als seinen einen Kult vor allen anderen. Auch wenn Augustinus diesen Vorläufer, den Goldenen Esel seines nordafrikanischen Landsmannes Apuleius(1), vielleicht kannte, haben seine Confessiones nichts damit zu tun. Anders als die Bekehrung des fiktiven Helden vollzog sich seine eigene im wirklichen Leben. Und ganze fünfzehn weitere Bekehrungen anderer Menschen werden im Text seiner Confessiones erwähnt. Bekehrungen zu dem einen und einzigen Gott geschahen überall um ihn herum, die Menschen wandten sich vom heidnischen Kult ab und dem Christentum zu. Und man erlebte sie auch innerhalb des Christentums, wenn Einzelne sich zu einem Leben sexueller und weltlicher Entsagung bekehrten.

Das lateinische Wort conversio hatte eine allgemeinere Bedeutung. Es konnte die erneute Hinwendung eines Menschen zu Gott beschreiben, der sich zuvor »abgewendet« hatte (a-versio). Und es konnte ganz wörtlich das Sich-Umdrehen einer Gemeinde in der Kirche bedeuten, wie wir aus einer der kürzlich gefundenen Predigten des Augustinus erfahren. Dort werden die Zuhörer aufgefordert, sich »umzuwenden«, also wohl ihr Gesicht von der Apsis wegzudrehen und sich in Analogie dazu Gott in ihrem eigenen Leben »zuzuwenden«. Weniger vertraut in unserem Sprachgebrauch kann sich conversio auch auf Gottes eigene »Hinwendung« zu seinem Universum und zu einzelnen Menschen darin beziehen. Diese Bedeutung einer Wendung Gottes »zu uns hin« hat das Wort conversio auch bei seinem ersten Auftauchen in den Confessiones. In der abschließenden Meditation über die Genesis ist conversio die erste Wendung der formlosen Materie, des Grundstoffs des Universums. Sie »wendet« sich weg vom dunklen Chaos und hin zum Licht Gottes.16

Die Confessiones sind nicht einfach die Gedanken eines hochintelligenten Menschen über Gott. Es geht darin vielmehr um die Abkehr (aversio) von Gott und die erneute Hinwendung (conversio) des Augustinus, seiner Freunde und Zeitgenossen, ja des Universums während der Schöpfung. Seine »Bekenntnisse« sind ein Gebet, das kein Heide je hätte erschaffen können, und kein Christ vor oder nach ihm hat je etwas hervorgebracht, das ihnen gleichkäme.

II

In späteren Jahren überarbeitete Augustinus seine Schriften gewöhnlich in der chronologischen Reihenfolge ihrer Entstehung. Den Beginn der Arbeit an den Confessiones können wir daher sicher auf das Jahr 397 datieren. Der Abschluss ist dagegen umstritten, manchmal wird er sogar mit bis zu sechs Jahren später angegeben. Augustinus erzählt uns nicht, warum er erst zu diesem bestimmten Zeitpunkt zu bekennen begann. Einige haben seine Entscheidung mit dem Alter in Verbindung gebracht, da die frühen Vierziger für einen Mann eine gute Zeit sind, seine Vergangenheit Revue passieren zu lassen. Andere haben sie mit einem plötzlichen Wandel seiner theologischen Grundhaltung verbunden, der ihn veranlasst habe, sein bisheriges Leben zu überdenken, oder sogar mit einer »spirituellen Krise«. Sicherlich gab es einen besonderen Anstoß dazu, doch ein einziges Ereignis kann nicht die Leidenschaft erklären, die man überall in diesem Werk spürt. Meiner Ansicht nach sind die Confessiones nicht das Ergebnis einer plötzlichen Veränderung in Augustinus’ Sicht auf Gott und die Menschen. Die Wurzeln des Werkes sind vielmehr schon in den vorherigen elf Jahren zu finden, besonders in den fünf Jahren seiner Priesterschaft, bevor er Bischof wurde. Eine »Biographie« der Confessiones erfordert daher eine Beschäftigung mit Augustinus selbst bis zum Zeitpunkt ihrer Fertigstellung. Sie sind meiner Überzeugung nach ein Gebet, das lange vorbereitet, aber durch ganz andere Ereignisse in seinem Leben angestoßen wurde.

Im Text tauchen bald Bekehrungen auf, doch ihre Zahl und ihre Natur bleiben umstritten. Einige Gelehrte, die sich mit Augustinus beschäftigt haben, schrieben ihm wenigstens vier Bekehrungen zu, eine des Denkens, eine des Herzens und so weiter. Andere Schätzungen kommen auf bis zu dreizehn. Goulven Madec(1) dagegen, einer der größten Augustinus-Spezialisten der Moderne, hat daran gezweifelt, dass dieser sich überhaupt je bekehrte.17 Definitionsprobleme spielen hier eine große Rolle. Eine Berufung ist nicht notwendigerweise eine Bekehrung, ebenso wenig wie ein tieferes Verständnis oder neu gewonnenes Wissen. Nach einer strengen Definition, die manche nicht gelten lassen wollen, erfordert eine Bekehrung eine einschneidende Veränderung, durch die wir einen vorherigen Kult oder Glauben aufgeben und ausschließlich einen neuen annehmen. Sie beinhaltet eine »Wende in dem Bewusstsein, dass der alte Weg der falsche und der neue der richtige ist«.18 Ich akzeptiere diese strenge Definition, doch anders als Madec(2) beschränke ich Bekehrungen nicht auf Übertritte von einer Religion zu einer anderen. Bekehrungen sind auch innerhalb einer religiösen Bindung möglich, wie Historiker des frühen und mittelalterlichen Christentums wissen. In diese Gruppe gehört Augustinus’ berühmteste Bekehrung, doch der Prozess endet nicht bei ihm selbst. Vor wie nach seiner eigenen Konversion war Augustinus auch ein engagierter Bekehrer anderer.

Biographen seiner frühen Jahre stehen vor einem bekannten Problem. Nur eine einzige Bemerkung aus der Feder eines anderen Autors über den jungen Augustinus ist uns überliefert, die ihn allerdings bezeichnenderweise »konvertierend« nennt. Für eine kritische Biographie über ihn wären diese einseitigen Zeugnisse ein gewaltiges Hemmnis, doch für eine Biographie seiner Confessiones sind sie nicht so problematisch. Wenn das Werk aus der Vergangenheit heraus aufgebaut ist, so nur aus der Vergangenheit, die es vor Gott und seinen Lesern offenlegen will. Es mag auch Lücken geben, von denen wir einige anhand seiner anderen Schriften erkennen und füllen können, während uns andere gar nicht auffallen. Ein kleineres Problem ist die Anschaulichkeit der Sprache, in der Augustinus sich seine Vergangenheit ins Gedächtnis ruft und vor Gott darlegt. Moderne Leser haben Schwierigkeiten mit dem Gedanken, dass vieles im Kontext seiner Zeit wohl weniger aufsehenerregend war. Deshalb werde ich seine Erzählung vor den Hintergrund der Lebensgeschichten zweier Beinahe-Zeitgenossen stellen. Ich will keine Biographie aller drei Personen schreiben, sondern Augustinus, mit den Confessiones in der Hand, als das Mittelbild einer Dreierreihe von Skizzen sehen, wie beim Triptychon eines mittelalterlichen christlichen Altars. Auf der linken Seite steht das Bild seines älteren Zeitgenossen Libanios(2), der einen zutiefst missbilligenden Blick auf Augustinus wirft, nicht zuletzt, weil er selbst als Heide und engagierter griechischer Lehrer Latein ebenso verabscheute wie die Technik der Kurzschrift. Auf der rechten Seite, mit zurückhaltender Verehrung zu ihm aufblickend, findet sich das Bild seines jüngeren, griechischsprechenden Zeitgenossen Synesios, eines Christen, Bischofs und ebenso begeisterten Freundes der Philosophie. Er hätte meiner Meinung nach viele Schriften des Augustinus aus der Zeit zwischen dessen Bekehrung und den Confessiones geschätzt, wenn er denn Augustinus’ Latein hätte lesen können.

Wir haben keine Vorstellung vom körperlichen Erscheinungsbild dieser drei Männer. Meine Skizzen gründen allein auf ihren Schriften, die einen begrenzten, aber doch sorgfältig geformten Eindruck von ihnen als Individuen vermitteln. Libanios(3) wurde 314 in der griechischsprachigen Metropole Antiochia(1) in Syrien geboren. Wie der junge Augustinus widmete er sein Leben der Ausübung und der Lehre der Redekunst. Er lehrte nur auf Griechisch. Vierundsechzig seiner Reden sind erhalten geblieben; Edward Gibbon beschrieb sie als die »selbstgefälligen und müßigen Hervorbringungen eines Redners … dessen Denken, ohne jede Rücksicht auf seine Zeitgenossen, noch immer ständig dem Trojanischen Krieg verhaftet war«.19 Dieses Urteil ist falsch. Libanios(4) sprach auch über zeitgenössische Ereignisse und Kaiser und setzte sich durchgehend für ethische Werte ein. Er war ein hingebungsvoller Fürsprecher der griechischen Kultur und seiner eigenen Schüler, die er mit zahllosen Briefen unterstützte, von denen 1607 erhalten geblieben sind. Sein Lebenslauf erinnert uns an das, was Augustinus ohne seine Bekehrung vielleicht gewesen wäre. Vor allem hat Libanios(5), in eine lange Rede gegossen, Betrachtungen über sein Leben hinterlassen. In ihrer ersten Vortragsfassung endete diese Rede mit den Ereignissen seines sechzigsten Lebensjahres. Auch er trug sie vor, aber nicht in Einsamkeit vor Gott: Er richtete sie an ausgewählte Zuhörerschaften, meiner Meinung nach auch an ehemalige Schüler, wahrscheinlich in einem Vortragssaal. Im Laufe der Zeit erweiterte er sie noch. Gibbon tat dieses Werk als »eitle, weitschweifige, aber merkwürdige Erzählung« ab, doch in der heidnischen Literatur nimmt es eine Sonderstellung ein. Die Darstellung von Libanios(6)’ früherem Leben ist das heidnische Gegenstück zu Augustinus’ christlicher Erzählung dessen, »was ich einst war«, in seinen Confessiones. Beide Autoren schreiben in hohem Stil über ausgewählte Themen in ihrer Vergangenheit, von ihrer Kindheit an, beide denken über göttliche Führung nach, und beide lassen uns mit derselben faszinierenden Frage zurück: Warum nur beschlossen sie plötzlich, so ausführlich über sich selbst zu reden?

Synesios, der jüngste der drei, wurde wahrscheinlich im Jahr 374 in der altehrwürdigen Stadt Kyrene(1) in Libyen(1) geboren. Wie Libanios(7) schrieb er nur auf Griechisch. Er verfasste nie eine Lebensgeschichte oder irgendetwas in der Art der Confessiones, aber immerhin einen Text, ganz anders als der des Augustinus, in dem er sich mit dem Thema der Bekehrung auseinandersetzte. Unter anderem hinterließ er auch neun Hymnen und 156 Briefe, einige aus der Zeit kurz vor der Entstehung der Confessiones. Wie Augustinus wurde er in einem anspruchsvollen, die Klassiker nachahmenden Stil unterrichtet und beherrschte diesen so gut, dass seine Briefe als literarische Vorbilder in Byzanz noch tausend Jahre lang in Umlauf blieben. Wie Augustinus entwickelte er sich zu einem begeisterten Schüler der Philosophie, doch anders als jener drückte er seine Begeisterung in Hymnen aus, für die er auf komplexe, alte Versmaße zurückgriff. Synesios’ anschließendes Leben als Bischof erhellt dann durch den Kontrast einen Aspekt im Leben des Augustinus, den die beiden griechischen Autoren nicht ausprobierten: das zölibatäre Leben unter »Brüdern«. Und schließlich gibt es einen Brief, in dem Synesios bestimmte Themen seines bisherigen Lebens noch einmal durchgeht und seine Ziele für die Zukunft benennt: Warum verfasste auch er einen so persönlichen Text und brachte ihn in Umlauf?

Die Lebensgeschichten des Libanios(8) und des Synesios überlappen sich nicht in allem mit dem frühen Werdegang des Augustinus, aber sie helfen, bestimmte Aspekte herauszuarbeiten: seine soziale Schicht und die Erwartungen, die man in ihn setzte, den schulischen Druck und die weltlichen Ambitionen, seine Beziehungen zu engen Familienmitgliedern und die Freundschaftsideale, die er auf die Menschen in seinem Umfeld projizierte. Wie Augustinus schreiben Libanios(9) und Synesios über die Annäherung an eine göttliche Präsenz. Auf einer banaleren Ebene schildern sie die gesellschaftlichen Risiken eines längeren Aufenthalts in der Fremde, in einer großen Stadt, gefolgt von einer Rückkehr in die Heimatstadt wie bei Augustinus selbst. Sie bewerten ihr eigenes Sexualleben und das anderer Menschen ganz anders als Augustinus. Und sie beleuchten die Bitterkeit, die Berufungen auf wichtige Posten entfachen können, auch und besonders in einer christlichen Kirche.

Die drei Männer kannten einander nicht, sie begegneten einander nur in späteren fiktionalen Texten, in denen sie ein bemerkenswertes Fortleben hatten. In seinem etwas schwülstigen Roman Hypatia(1) ließ Charles Kingsley(1) (der Autor von Die Wasserkinder) Synesios und Augustinus in Libyen(2) aufeinandertreffen – bei einer Jagdpartie mit Hunden, die Synesios besonders liebte.20 Augustinus war in dieser Darstellung unglaublich weit weg von zuhause auf der anderen Seite der Wüste, und dennoch beeindruckte er Synesios und seine Gefährten: »Sanfte, aber unbeugsame Entschlossenheit drückte sich in seinen schmalen, festgeschlossenen Lippen und dem klaren, ruhigen Auge aus. Aber die Ruhe dieses erhabenen Angesichts war die eines ausgebrannten Kraters …« Das anglikanische Gesangbuch enthält noch immer ein Lied des Synesios (»Rise up, my soul«). Zuletzt erschien er als ergebener Schüler seiner Lehrerin Hypatia(2) in Alejandro Amenábars Film Agora.

Libanios(10) hat sein Nachleben in der Literatur vor allem Gore Vidal(1) zu verdanken. In seinem Roman Julian setzte Vidal(2) Libanios(11) als einen der beiden Hauptkommentatoren von Kaiser (1)Julians unveröffentlichten Memoiren ein. »Neuerdings spielt mir mein Gedächtnis merkwürdige Streiche, schlimmer noch, ich verlege oft die Notizen, die ich mir zur Sicherheit mache, und wenn ich sie dann finde, kann ich (zu meiner eigenen Schande muss ich es gestehen!) oft meine eigene Schrift nicht entziffern. Das Alter erspart uns nichts, alter Freund! Wie alte Bäume sterben wir von oben nach unten.«21

Auch Augustinus hat ein Nachleben in fiktionalen Werken, in katholischen Filmen zu seiner Biographie und jüngst in Jérôme Ferraris(1) Roman Predigt auf den Untergang Roms, der 2012 den Prix Goncourt, Frankreichs wichtigsten Literaturpreis, gewann. Er wurde sogar zum Gegenstand der erdachten Memoiren seiner Konkubine, die er nach vierzehn Jahren und mit einem gemeinsamen Kind sitzenließ. Eine ganz andere Größe und Kraft besitzt allerdings sein theologisch-philosophisches Fortleben. Sein Denken schlug tiefe Wurzeln in der westlichen Christenheit, so tiefe, dass es ihn selbst sicherlich überrascht hätte. Er formulierte seine Werte für eine christliche Gemeinschaft in einer Regel, die den Angehörigen der augustinischen Orden überall auf der Welt noch immer Orientierung bietet. Sein neues Genre, »Bekenntnisse«, fand immer wieder bekannte Nachahmer, sei es nun der heilige Patrick in Irland, Rousseau in Frankreich oder der moderne Romanautor William Boyd(1). Und vor allem haben wir Tolstoi(1), selbst im höheren Alter bekehrt und in seinen Romanen ein hervorragender Schilderer von Bekehrungen, der 1882 Meine Beichte veröffentlichte. Er zeigt weder in seinem Text noch in seinem Leben bis dahin irgendeine Kenntnis des Augustinus. Und doch kommt Meine Beichte Augustinus’ Werk in mancher Hinsicht am nächsten, da es durch ein frühes Leben der »Zerstreuung« voranschreitet zu einer Beschäftigung mit Philosophen und abstrakten Denkern und einem wachsenden Gefühl für die Wertlosigkeit seines gesellschaftlichen Milieus und der Menschen darin, die nach Tolstois(2) Meinung »Parasiten« waren.

Zu den Bewunderern der Confessiones gehörten Petrarca(1) und Pascal, die Dichter George Herbert und John Donne, die Mystikerin Teresa von Ávila, der katholische Konvertit und Denker John Henry Newman und der Philosoph Ludwig Wittgenstein(1). Petrarca(2) muss vor seiner Besteigung des Mont Ventoux im Jahre 1336 von einem Mönch eine Abschrift der Confessiones erhalten haben, die zu seinem ständigen Begleiter wurde. Er dachte sogar darüber nach, selbst Bekenntnisse zu schreiben. 1347 begann er mit der Arbeit an seinem Secretum, in dem ein fiktionaler »Augustinus« einen fiktionalen Sünder tadelt, der Petrarca(3) nachempfunden ist. Zum Schluss wirft er ihm »Liebe zu einer Frau« und »Ruhmsucht« vor, die beiden größten Versuchungen, denen auch Augustinus sich ausgesetzt sah.22 Wittgensteins(2) Auseinandersetzung mit dem Buch geht tiefer. Erstmals stieß er 1919 durch die Vermittlung eines österreichischen Landsmannes in der Kriegsgefangenschaft in Italien darauf. Er spielt in seinen späteren Schriften vierzehnmal auf Augustinus und die Confessiones an und verwendet ein Zitat aus ihnen als Einstieg in seine Philosophischen Untersuchungen. In seinen Augen waren die Confessiones das vielleicht »ernsteste Buch, das je geschrieben wurde«. Es besteht eine gewisse Ähnlichkeit des Temperaments bei Augustinus und Wittgenstein(3), der ebenfalls akzeptierte Meinungen mithilfe von Paradoxa infrage stellte und überzeugt war, dass der Stolz dem Verstehen im Wege stehe: »Das Gebäude deines Stolzes ist abzutragen. Und das gibt furchtbare Arbeit.«23

Im 21. Jahrhundert bemühen die meisten Leser die Psychologie statt der Philosophie, um Augustinus’ Darstellung dessen, »was ich einst war« und »was ich jetzt bin«, zu bewerten. Augustinus analysiert sein Selbst, aber er selbst stellt sich die Fragen. Wir können diese Selbsterforschung nicht in eine klinische Studie überführen, die einen modernen Psychoanalytiker zufriedenstellen würde. Unsere Beziehung zu ihm kann sich nicht dynamisch entwickeln, indem er auf unsere aufeinander aufbauenden Fragen antwortet. Nichtsdestoweniger ist Therapie eine Vorstellung, mit der Augustinus sicherlich voll und ganz einverstanden wäre. Er berichtet freimütig von den Therapeuten, zweien an der Zahl, die ihn »heilen«. Er ist sich ihrer Liebe bewusst, seiner Abhängigkeit von dieser Liebe und seiner »Übertragung« auf sie und ihre Barmherzigkeit. Sie kosten ihn nichts: Sie sind Gott und Christus. Er legt ihnen seine Analyse vor, obwohl sie die schon ganz genau kennen, in der Hoffnung, dass seine Leser zu einer ähnlichen Liebe angeregt werden. Genau wie er es wollte, bringt er uns tatsächlich dazu, über uns selbst nachzudenken. »Er sah seine eigene Geschichte als die des Jedermann«, erkannte John O’Meara(1), einer der großen Wissenschaftler, die sich mit ihm beschäftigten, aber Augustinus’ außergewöhnliches Denken kennt keine gewöhnliche Grenze. Leser haben ihm Entdeckungen in Bezug auf die menschliche Persönlichkeit zugeschrieben, eine »Entdeckung des Selbst«, eine Entdeckung des Willens, die er allerdings nicht allein für sich beanspruchen kann, oder sogar eine Entdeckung des Unbewussten sehr lange vor Freud. Vor allem aber ist Augustinus ein menschliches Wesen wie du und ich. Er ist überaus selbstbeobachtend, aber auf eine faszinierende Art und Weise entspricht sein Verständnis seiner selbst und seiner einzelnen Bestandteile nicht mehr unserem.

Nach sechzehnhundert Jahren beginnt ein nachchristliches Zeitalter, sich zu fragen, ob sich Augustinus’ Ideen jetzt nicht endlich »erledigt« haben. Seine Sündenbekenntnisse, so berichtet er uns selbst, sollen das »Herz aufrütteln, damit es nicht in Verzweiflung versinke und sich sage: ›Ich kann das nicht.‹« Er hoffte, christliche Leser zu seinen hohen Idealen zu ermutigen, doch selbst bei jenen, die sie nicht teilen und deren Herzen »ich kann das nicht« sagen, kommt noch der Gedanke auf: »Warum nicht?« Seine Bekenntnisse werden sich nie erledigen, weil sie uns nie loslassen werden.

2

Weltlicher Ehrgeiz

I

»Auf dich hin hast du uns gemacht«, sagt Augustinus zu Beginn seines Beichtgebets zu Gott, »und unruhig ist unser Herz, bis es ruht in dir«. Er ruft Gott an als »immer … tätig, immer in Ruhe«, räumt aber ein, dass er ihn nie angemessen kennen kann. »Verbirg nicht dein Angesicht vor mir! Sterben will ich, damit ich … es sehe.« In der Bibel erklärt Gott Moses(1), ihn zu sehen, heiße, zu sterben; Augustinus dagegen sagt, dass er sterben wird, wenn er Gott nicht sieht. Von Anfang an definiert er also ein mystisches Ziel.1 Rundum in seiner Welt des 4. Jahrhunderts gab es viele tausende, die nie über diese Ruhelosigkeit nachgedacht oder diese glühende Hoffnung ausgedrückt hatten. Wir müssen Augustinus kurz einmal vor ihrem weltlichen Kontext sehen, den er in seinen Confessiones als eitel und nichtswürdig abtut, der ihn jedoch in seiner Jugend formte und ihn auch später noch umgab.

Geboren wurde er im November 354 in der Kleinstadt Thagaste(1), dem heutigen Souk Ahras in Algerien. Damals stand Thagaste(2) schon seit mehr als 500 Jahren unter römischer Herrschaft und gehörte einer Mittelmeerkultur an, die die nordafrikanische Küste mit dem nahen Italien so eng verband, wie wir es bei dieser jetzt muslimischen Region heute kaum mehr für möglich halten. Thagaste(3) gehörte verwaltungstechnisch zur Provinz Africa(3) proconsularis(4), die einen großen Teil des heutigen Nordtunesien einschließlich der 280 Kilometer entfernt am Mittelmeer gelegenen Großstadt Karthago(1) umfasste. Karthago(2) war der Sitz des römischen Statthalters, und Latein war die Sprache der gebildeten Schichten dort und in den wichtigen Städten der Provinz. Das lateinischsprechende Thagaste(4) trug einen vorrömischen Namen, aber es führte stolz den Titel eines municipium. Mit diesem Status war ursprünglich das Privileg des römischen Bürgerrechts für die städtische Oberschicht aus Amtsträgern und manchmal auch Ratsherren verknüpft gewesen, doch im 4. Jahrhundert v. Chr. besaßen alle Bewohner der römischen Provinzen dieses Bürgerrecht, und die municipia hatten ihre früheren Privilegien verloren. Dennoch führte Thagaste(5) weiterhin den einst so prestigeträchtigen Titel.

Der Wohlstand von Africa proconsularis(5) war auch im 4. Jahrhundert noch deutlich zu erkennen, von einem drohenden Niedergang oder Zusammenbruch war nichts zu spüren. Noch immer exportierten Schiffe in Amphoren die überreiche Olivenöl- und Getreideernte. In der Provinz selbst bestätigen lokale Oberflächenbegehungen, dass Olivenbäume und -pressen auch jenseits der modernen Anbauzonen anzutreffen waren.2 Anders als Synesios in Südlibyen lebte oder reiste Augustinus nie in einer von Wüsten geprägten Landschaft: Obwohl er sich in Afrika befindet, kommen Kamele bei ihm nie vor. Die Gebäude und die aufwendige Infrastruktur von Städten wie Thagaste(6) wurden vielmehr durch den Verkauf von Getreide und Oliven und die Pachten aus dem Landbesitz finanziert. Augustinus’ Ecke von Nordafrika war übersät von solchen Kleinstädten – etwa 160 kennen wir allein in Africa proconsularis(6). In den 350er Jahren hatten die Gebiete weiter im Westen unter Eindringlingen aus dem Süden zu leiden gehabt, doch die Region um Thagaste(7) war davon nicht betroffen gewesen. In seiner Jugend lebte Augustinus nicht in einer krisengeschüttelten Provinz, ganz zu schweigen von einer, die nur »auf die Barbaren wartete«.

In Thagaste(8) und den anderen Städten ringsum beruhte das bürgerliche Leben auf einer Stifterkultur. Eine Handvoll reicher Honoratioren bezahlte die Gebäude, Aufführungen und Feste, die die breite Masse, die weitaus weniger Geld hatte, genoss. Einige Schriften des Augustinus sind hervorragende Zeugnisse ihres Lebensstils, vor allem ein philosophischer Dialog, den er dem Romanianus gewidmet hatte, Thagastes(9) reichstem lokalen Wohltäter, der in jungen Jahren sein Patron war. Darin schildert Augustinus die Standesgenossen des Romanianus auf der Höhe ihrer öffentlichen Karrieren, wie sie »nie gesehene Darbietungen« im Amphitheater veranstalteten, darunter auch blutige Tierhetzen mit den seltenen afrikanischen Bären. Ihre Namen wurden mit allen Einzelheiten sämtlicher Ehrungen in ihrer Karriere in »städtischen Ehrentafeln« aufgeführt. Als die »Patrone« von Thagaste(10) und den Nachbarstädten wahrten sie die lokalen Interessen gegenüber römischen Statthaltern und Beamten. Die Massen bejubelten sie wegen der Spektakel, die sie finanzierten, als »menschenfreundlich« und »großzügig«. In einer kürzlich gefundenen Predigt beklagt Augustinus die freigebigen Stifter, die »sich weigern, für Christus das Brot zu brechen, und doch auch ihren Söhnen kaum genug Brot hinterlassen«, weil sie ihre Familien durch ihre extravaganten Spiele in den Bankrott getrieben haben.3

Zu diesen Vorführungen zählten ebenfalls Gladiatorenkämpfe, obwohl die Gesetze der christlichen Kaiser sie eigentlich schon seit langer Zeit verboten hatten. Sie fanden im Umfeld der Spiele statt, die die sacerdotales, die Inhaber nichtchristlicher »Priesterämter«, zu Ehren der herrschenden Kaiser in großen Städten noch immer veranstalteten, als ob der heidnische Kaiserkult im christlichen Reich Konstantins und seiner Söhne nach wie vor Bestand hätte. Diese Ehrungen fanden nur deshalb weiterhin statt, weil die Christen dafür gesorgt hatten, dass dabei keine Tieropfer mehr für die Kaiser als göttliche Wesen dargebracht wurden.4

Augustinus verweist Romanianus auf die Mosaikfußböden in den Häusern dieser Granden, die auch tatsächlich unsere anschaulichsten Zeugnisse von deren weltlicher Kultur sind. Sie zeigen symbolische Bilder der Circus-Arena und das beliebte Wagenrennen. Sie bilden Gespanne ab, deren Pferde jeweils mit Namen bezeichnet sind; sie skizzieren Jagdszenen, in der Natur wie auch in den begrenzten Räumen der städtischen Amphitheater. In der Großstadt Karthago(3) boten große Mosaike in Stadthäusern einen prächtigen, allerdings stilisierten Eindruck vom Landleben, das ihre Besitzer in großen »Zweitwohnsitzen« auf ihren Ländereien genossen. Die schönsten dieser Szenen schmückten einen Boden im Haus eines gewissen dominus Julius, das mitsamt überkuppeltem Privatbad ebenfalls auf dem Mosaik zu sehen ist. Reiter brechen zu einer Jagdpartie auf, Julius reitet in prächtiger offizieller Robe auf sein Haus zu. Symbole der vier Jahreszeiten werden ihm und seiner Frau dargebracht. Bedienstete überreichen seiner Frau, der domina, Rosen und Schmuck; Julius bekommt Trauben und einen Hasen, dazu eine Buchrolle, die seine Initialen trägt. So ist sichergestellt, dass die Betrachter ihn erkennen.5

Diese Mosaike zeigen das Landleben oder die Landschaft nicht um ihrer selbst willen, sondern setzen sie immer in Beziehung zu reichen Landbesitzern und ihren Familien, den Patronen der Mosaikkünstler. Auf einigen Mosaiken sieht man Jäger und Reiter vor einer von Säulen umstandenen Loggia oder einem großen befestigten Landsitz. Türme stehen an den beiden Seiten der hohen Hausfassaden, durchbrochen von Fenstern oder Balkonen für die Zimmer im ersten Stock. In Libyen(3) wuchs Synesios in einem solchen von Türmen gerahmten Haus auf, später gehörte es ihm. Wir können es in den Hügeln nahe Balagrae, etwa sechzehn Kilometer von Kyrene(2) entfernt, lokalisieren. Seine Familie besaß noch ein zweites an der nahen Küste, in dem später sein Bruder lebte. Diese großen Landhäuser waren Zentren einer anderen Welt, einer Alternative zum städtischen Kyrene(3), die Synesios sehr genoss. Ein ähnliches Haus gab es auch in der Nähe von Thagaste(11), doch es gehörte einer Familie von nicht ortsansässigen Grundbesitzern, die ganze Dörfer auf dem Lande außerhalb der Kleinstadt kontrollierten und den höchsten Adelskreisen des römischen Senats angehörten.6 Augustinus’ Familie entstammte bei weitem nicht dieser Schicht. Er spricht später von »armseligen kleinen Äckern« seiner Familie und bezeichnet seine Herkunft in einer Predigt, in der er seine relative Besitzlosigkeit betonen will, als »arm« oder »bescheiden«. Tatsächlich verfügten sein Vater Patricius(1) und seine Familie über genügend Besitz, um zu den Ratsherren der Stadt zu gehören – dafür reichten allerdings schon wenig mehr als acht Hektar. Sie hatten geringe wirtschaftliche Ressourcen im Vergleich zu Leuten wie Romanianus, waren aber in Relation zu den meisten Einwohnern von Thagaste(12) nicht arm: Später deutet Augustinus an, dass sie etwa ein Zwanzigstel dessen besaßen, was der Kirche in Hippo, seiner Bischofsstadt an der Küste, zur Verfügung stand.7 Der Dienst als Ratsherr brachte allerdings teure öffentliche Verpflichtungen mit sich, die Augustinus’ Familie wie viele kleinere Ratsherren sicherlich als Belastung wahrnahm.

Direkt nach seiner Bekehrung und bis ans Ende seines Lebens kritisiert Augustinus diesen weltlichen Glanz und Ehrgeiz. Er betrachtet ihn als einen Beleg für den »Stolz«, die Wurzel der Sünde, und als eine Ablenkung der Seele hin zu flüchtigen, unbefriedigenden Vergnügungen. Und doch spielte der Status eine wichtige Rolle, und komplizierte Rechtskategorien grenzten die Menschen in seiner Umgebung unter römischer Herrschaft voneinander ab, wie seine eigenen Briefe deutlich belegen. Einige erst vor kurzem aufgefundene Briefe enthüllen, dass es in Nordafrika noch Sklavenhändler gab, die in der städtischen Gesellschaft auf mächtige Hintermänner zählen konnten. Sie kauften Kinder für einen gewissen Zeitraum von mehreren Jahren und verkauften sie als Sklaven in die Fremde – die Eltern der Kinder stimmten diesem Vertrag zu. Augustinus beschreibt einen Ratsherrn als »durchaus wohlhabend«, aber »so angesteckt von der Begeisterung für diese üble Sitte«, dass er sogar seine Frau verkaufte.8 Auf allen sozialen Ebenen variierte die rechtliche Behandlung von Individuen je nach Gesellschaftsschicht, und es gab ausdrücklich »ein Recht für die Reichen, ein anderes für die Armen«. Die Freien »von niederer Geburt« durften unter römischem Recht ausgepeitscht, gefoltert und hingerichtet werden, während man davon ausging, dass den »Angeseheneren« die extremsten Formen von Misshandlung und »erweiterten Verhörtechniken« erspart blieben. Doch niemand war ganz sicher davor, wie Libanios(12) und Synesios bezeugen, wenn sie die Prügel, Folter und die Hinrichtungen beklagen, die Statthalter auch gegen Angehörige ihrer eigenen Oberschicht verhängen konnten. Als christlicher Bischof predigte und schrieb Augustinus entschlossen gegen die Praxis der Folter an, ganz unabhängig vom gesellschaftlichen Status des Opfers. Und er war ein Gegner der Todesstrafe, des Vorrechts der Statthalter.9

Libanios(13) und Synesios zählten zu den großen Wohltätern ihrer Heimatstädte, zu den Romanianussen der griechischen Welt. Augustinus und seine Mutter hätten in ihren Augen wohl ausgesprochen gewöhnlich gewirkt. In Antiochia(2) hatte Libanios(14)’ Familie viele Generationen lang wichtige Ratsherren gestellt, ihre Bedeutung war nur durch frühe Todesfälle oder den Verlust von Leben und Besitz in Zeiten politischer Unruhe geschmälert worden – ein Verlust, der in der Generation seines Großvaters besonders einschneidend gewesen war.10 Synesios’ Familiengeschichte war nicht so turbulent verlaufen. Er führte seine Vorfahren tausend Jahre weit zurück bis auf die ersten griechischen Gründer seiner Heimatstadt Kyrene(4) und darüber hinaus auf angebliche Verbindungen zum antiken Sparta. Er zählte zum echten lokalen Adel.11

Kyrene(5) und Antiochia(3), die Heimatstädte der beiden Männer, unterschieden sich deutlich von Thagaste(13). Man sprach dort meist Griechisch, und Synesios’ Kyrene(6) war die bei weitem älteste Stadt. Etwa in der Mitte seiner Laufbahn beschrieb Synesios sie als eine heruntergekommene Trümmerlandschaft und bat mit diesem Bild um Spenden des Kaisers zu ihren Gunsten. Seine Schilderung war zwar vielleicht übertrieben, hatte jedoch ihren Grund: Auf seinem Kalksteinplateau zwanzig Kilometer vom Meer entfernt war das libysche Kyrene(7) oft Opfer lokaler Erdbeben, vor allem eines großen im Jahr 365, auf das wohl der Verfall seiner Haupttempel und öffentlichen Gebäude zurückging. Das am gründlichsten ausgegrabene große Haus im Stadtplan ist das Haus eines gewissen Hesychios(1)(2), eines angesehenen »Libyarchen« – durchaus wahrscheinlich, dass es sich dabei um Synesios’ gleichnamigen Vater handelte. Zum Schmuck gehören christliche Inschriften, das ganze Haus zeugt von einer adligen Abstammung, doch nach einem Höhepunkt in der Mitte des 4. Jahrhunderts scheint es im Laufe des Erwachsenenalters des Synesios – vielleicht wegen der Erdbeben – verfallen zu sein.12 Der Bürgergeist der führenden Familien Kyrenes(8) ließ sich dadurch jedoch nicht auslöschen. In den Schulen der Stadt gab es noch immer Lehrer, die Synesios das Abfassen literarischer Prosa und das Dichten in komplizierten lyrischen Versmaßen beibringen konnten. Seine Briefe bestätigen, dass die Ratsherren in Kyrene(9) zu der Zeit, als er dort aufwuchs, noch in der Lage waren, die Spiele und Wagenrennen zu finanzieren, für die die Stadt lange berühmt gewesen war.

Libanios(15)’ Antiochia(4) in Nordsyrien stand ganz anders da. Es war 300 Jahre jünger als Kyrene(10) und zu Libanios(16)’ Lebzeiten mit einer geschätzten Bevölkerung von vielleicht 150 000 Einwohnern zu einer der größten Städte des Reiches herangewachsen.13 Mit diesem Status gingen auch politische Gefahren einher, denen Augustinus’ Thagaste(14) sich nie ausgesetzt sah. Von den 350er Jahren an war die Stadt wiederholt Schauplatz politischer Krisen, die die Oberschicht, Libanios(17)’ eigene Familie eingeschlossen, in Angst und Schrecken versetzten. Sie bilden den Hintergrund für viele Entwicklungen, die er in seiner autobiographischen Rede diskret beiseitelässt. Antiochia(5) profitierte vom Osthandel und lag an den Reiserouten des nahen Persischen Reiches, was es zur natürlichen Basis der römischen Heere, Feldherren und Kaiser bei ihren Feldzügen in den Osten machte. Libanios(18) spricht euphemistisch von dem Aufruhr, den ihre Anwesenheit verursachte, von den Soldaten, Pferden und Kamelen, die hereinfluteten »wie Flüsse, die zum Meer fließen«, den Schilden und Waffen, die die Mauern beschirmten, dem »Waffengeklirr, den lärmenden Männern und den wiehernden Pferden«.14 Anders als Kyrene(11), von Thagaste(15) ganz zu schweigen, war Antiochia(6) der Sitz von Statthaltern, Generälen und ihren Stäben, was hunderte ehrgeizige Menschen von außen in die Stadt brachte. Antiochia(7) trug den lateinischen Ehrentitel einer colonia, beeindruckender als der Titel des municipium, auf den Thagaste(16) so stolz war, doch Libanios(19), der Vorkämpfer der griechischen Kultur, erwähnt diese lateinische Auszeichnung an keiner Stelle.

Anders als in Thagaste(17) waren die schnurgeraden Straßen Antiochias(8) von eindrucksvollen Kolonnaden gesäumt und so lang, dass man ein Pferd brauchte, um bequem von einer Seite zur anderen zu kommen: Sie »gleichen Flüssen, deren Lauf sich weithin erstreckt«, sagt Libanios(20), »die Seitenstraßen aber Bewässerungsgräben, die von jenen abgezweigt werden.« Sie wurden sogar mit Straßenlampen beleuchtet, deren Olivenöl die Anlieger bezahlten – eine Bürgerpflicht, die auch Witwen und Waisen zu erfüllen hatten.15 Die regelmäßige Anlage der Stadt ist noch im modernen Antakya nachvollziehbar, doch damals gehörte auch eine heute verlandete Insel im größten Fluss der Stadt dazu, die die neue Kaiserzeit und ihre Religion repräsentierte. Sie war über Brücken mit den Hauptstraßen verbunden und beherbergte den Kaiserpalast, ein gewaltiges Hippodrom für Wagenrennen und die große achteckige Kirche, mit deren Bau der erste christliche Kaiser Konstantin begonnen hatte. Libanios(21), ein Heide alter Schule, erwähnt auch diese Kirche in seinen Reden mit keinem Wort.

Stattdessen schildern seine Briefe anschaulich, welcher Druck auf den Stadträten lastete. Sie wurden ihrer Bedeutung nach in drei Ränge eingeteilt und verfügten wie in Thagaste(18) über ganz unterschiedlich große Ländereien und Vermögen. Die Notlage der meisten »bescheidenen« Menschen – zu denen auch Augustinus’ Familie gezählt hätte – beschreibt Libanios(22) ziemlich drastisch: wie sie sich abmühten, um die teuren Verpflichtungen zu erfüllen, die man ihnen auferlegt hatte, dazu die verhasste Aufgabe, Steuern bei ihren Mitbürgern zu erheben. Der Stadtrat schrumpfte zu seinen Lebzeiten auf gerade einmal sechzig aktive Mitglieder, weit entfernt von der früheren idealen Zahl von 600.16 Die Mitglieder der niederen Ränge konnten nur neidvoll auf das Leben der Reichsten schauen. Die schönsten Belege für dieses Leben liefern aufs Neue deren Hausmosaike. Das Motiv der vier Jahreszeiten in Harmonie idealisiert Antiochias(9) Klima und die angenehme Hanglage. Die Wassermotivik bezieht sich auf Antiochias(10)