Die andere Geschichte der Bibel - Robin Lane Fox - E-Book

Die andere Geschichte der Bibel E-Book

Robin Lane Fox

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Beschreibung

Mit Scharfsinn und überraschenden Einsichten klärt Robin Lane Fox Fragen, auf die die Bibel bewusst die Antwort verweigert: Wer waren die Autoren der Heiligen Schrift, wie ist sie entstanden, und welche historischen Fakten lassen sich in ihr finden? Ein informatives und zugleich höchst anregendes Buch, das die historische Wahrheit ebenso wie die Erzählkunst der Heiligen Schrift entschlüsselt. In seinem fesselnd geschriebenen Buch fragt Robin Lane Fox nach dem Wahrheitsgehalt der biblischen Texte. Dabei unterzieht er das meistgelesene Buch aller Zeiten, das unsere abendländische Kultur tief beeinflusst hat, einer genauen historischen und sprachlichen Untersuchung. Er verknüpft auf meisterhafte Weise die religiösen Inhalte mit der Geschichte von Kultur, Politik und Gesellschaft. Vor allem aber zielt seine Darstellung auf die erstaunliche Vielfalt der Texte selbst: Der Leser erfährt, wann und wo die biblischen Erzählungen entstanden, welche Bedeutung sie für die Zeitgenossen hatten, und wie die unterschiedlichen Darstellungen desselben Geschehens zu erklären sind. Das fulminante und klug argumentierende Buch eines Historikers, der uns die biblischen Texte neu erschließt.

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Seitenzahl: 1069

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Robin Lane Fox

Die andere Geschichte der Bibel

Fakt und Fiktion in der heiligen Schrift

Aus dem Englischen von Christa Broermann, Birgit Kaiser und Christa Merk

Klett-Cotta

Impressum

Erstmals auf Deutsch erschienen 1995 im C. Bertelsmann Verlag, München unter dem Titel »Legende und Wahrheit in der Bibel« und 2000 im Verlag Bechtermünz (Weltbild Verlag), Augsburg unter dem Titel »Die Geheimnisse der Bibel richtig entschlüsselt. Legende und Wahrheit in der Bibel«. Die Übersetzung wurde für diese Ausgabe durchgesehen, aktualisiert und um ein neues Nachwort von Robin Lane Fox ergänzt.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

Die Originalausgabe erschien 1991 unter dem Titel »The Unauthorised Version. Truth and Fiction in the Bible« im Verlag Viking Books, London

© 1991 by Robin Lane Fox

© Epilog: 2018 by Robin Lane Fox

Für die deutsche Ausgabe

© 2019 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg

unter Verwendung eines Fotos von Bridgeman Images, Bildnr. 285144

Datenkonvertierung: Dörlemann Satz, Lemförde

Printausgabe: ISBN 978-3-608-98116-2

E-Book: ISBN 978-3-608-11579-6

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Vorwort

Danksagung

Anmerkung zur deutschen Ausgabe

Teil Eins

Wie es war im Anfang

Das unfehlbare Wort

Teil Zwei

»Höre, Israel …«

Den Tatsachen zum Trotz

Anonyme Verfasser

Jesus und die heiligen Schriften

Christen unter falschem Namen

Zusätze und Streichungen

Von der Schriftrolle zum Buch

10 

Die Heilige Schrift im Original?

Teil Drei

11 

Auffassungen von Geschichte

12 

Die ersten Historiker

13 

Von David zu Paulus

14 

Ausgrabungen und Reisen

15 

Das fünfte Evangelium

16 

Heidnische Texte, biblische Wahrheiten

17 

Der Prozess Jesu

18 

Zurück in die Zukunft

19 

Das Alte im Neuen

Teil Vier

20 

Biblische Erzählkunst

21 

»Göttliche Literatur«

22 

Menschliche Wahrheit

Nachwort

Vorbemerkungen zu Anmerkungen und Bibliographie

Anmerkungen

Bibliographie

Register

Vorwort

Im Anfang war das Wort … ist aus der Sicht eines Historikers geschrieben, es ist ein Buch über die historische Wahrheit, nicht über den Glauben. Ich versuche in diesem Buch, Fragen zu klären, auf die die Bibel bewusst die Antwort verweigert: Wer waren die Autoren der Heiligen Schrift? Wie ist sie entstanden? Welche historischen Fakten lassen sich in ihr finden? Auch Leser, für die die Bibel ein Buch des Glaubens ist, wollen in ihr die Wahrheit finden. Ich schreibe als Atheist, aber es gibt sowohl christliche wie jüdische Wissenschaftler, deren Ansichten sehr viel radikaler sind als meine. Sie werden meine historische Darstellung konservativ oder altmodisch finden, aber auch Atheisten sind zuweilen echte Freunde der Wahrheit.

Ich behandle sowohl das Alte wie das Neue Testament, und deshalb habe ich meist mit christlichen Deutungen im Hinterkopf geschrieben. Ich habe häufiger christliche Untersuchungen und Kommentare als jüdische zitiert, weil die Bibel eine Schöpfung des Christentums ist. Natürlich war mir dabei bewusst, dass die hebräischen Texte sehr viel älter und nicht als Altes Testament der Christen entstanden sind. Diese Tradition lebt bis heute fort, aber sie ist nicht die Hauptperspektive meines Buches.

Nicht zuletzt schreibe ich als Althistoriker, der es gewohnt ist, die biblischen Erzählungen so zu lesen wie andere Texte, die sich aus dem Altertum erhalten haben. Für viele Leser haben diese Erzählungen zwar einen höheren Stellenwert, aber vom historischen Standpunkt aus betrachtet sind auch sie zunächst Überlieferungen aus der antiken Welt. Ich betrachte sie von außen und lasse das moderne Bild, das man sich von ihnen macht, häufig außer Acht. Zugleich hat meine Darstellung eindeutig einige Helden, die im Verlauf des Buches deutlicher hervortreten und zum Leben erwachen: die israelitische Frömmigkeit im Zeitalter Salomos, einen namentlich nicht bekannten Autor aus der Mitte des 6. Jahrhunderts (den Deuteronomisten) und den »Jünger, den Jesus liebte«. Zwar glauben andere Wissenschaftler, dass wir über das erste Thema fast nichts und über den Deuteronomisten, sein Werk sowie dessen verschiedene Bearbeitungsstufen gar nichts wüssten und dass der Jünger nicht der Verfasser eines Evangeliums sei. Doch ich habe ihre Argumente überprüft und kann ihnen nicht zustimmen.

Wieder anderen Wissenschaftlern habe ich viel zu verdanken, und es ist mir sehr wichtig, dass die vielen originellen Gedanken, die eigentlich von ihnen stammen, nicht fälschlicherweise mir zugeschrieben werden. Viele Punkte, die ich hier aufführe, wurden zuvor von Spezialisten schon ausführlicher und genauer dargestellt. Mithilfe ihrer Arbeiten bin ich zu meinen Ergebnissen gelangt, wobei mir immer bewusst war, dass ich zwar die griechische Sprache, nicht aber die hebräische beherrsche. Leider konnte ich nicht immer alle meine Gründe gegen die vielen alternativen Ansätze anführen, mit denen ich mich auseinandergesetzt habe. Einige von ihnen habe ich in den Anmerkungen zu jedem Kapitel aufgeführt, aber auch hier gab es Grenzen, die nicht nur in der Leistungsfähigkeit des Außenseiters begründet liegen.

Als ich die Arbeit schon fast beendet hatte, erinnerte mich ein Freund daran, dass ich ihm gegenüber einmal gesagt hätte, ich würde an die Bibel, nicht aber an Gott glauben. Ich hatte diese Bemerkung längst vergessen, aber sie muss mich irgendwie weiter beschäftigt haben. Heute, fünfundzwanzig Jahre später, habe ich dieses Buch geschrieben, um zu erklären, was ich damals meinte.

Danksagung

Was ich über die frühe Geschichte der hebräischen Heiligen Schrift weiß, ist von den Erkenntnissen geprägt, die J. Wellhausen vor über hundert Jahren formulierte. Moderne Versuche, sich davon zu lösen, haben mich nur darin bestärkt, dass Wellhausen recht hatte, und diese Ansicht wird auch heute noch von vielen Wissenschaftlern geteilt. Als Althistoriker habe ich ferner viel Gewinn aus den unterschiedlichen Ansätzen von David Daube und Arnaldo Momigliano gezogen, Forschern, die sich sowohl in der israelitischen wie auch in der klassischen Geschichte sehr gut auskennen. Mein Schlusskapitel zeigt ganz deutlich, wie viel ich den Werken Daubes verdanke, die Kapitel 11 und 12 behandeln Themen, mit denen sich Momigliano sein Leben lang beschäftigt hat. Außerdem bin ich wie viele andere Nutznießer von Emil Schürers großen, zuerst Ende des vorigen Jahrhunderts erschienenen Geschichte des jüdischen Volkes im Zeitalter Jesu Christi, die in der englischen Übersetzung mit wissenschaftlichen Beiträgen von F. G. B. Millar, G. Vermes, M. D. Goodman und anderen neu herausgegeben wurde. Am meisten verdanke ich jedoch der klaren Einsicht und der außergewöhnlichen Harmonie von Stil und Detailwissen in den Arbeiten E. J. Bickermans. Sein Buch Four Strange Books of the Bible ist für mich ein bewundertes Vorbild, und meine Kapitel über die Autoren der biblischen Schriften, das Judentum im Exil und besonders den Prozess Jesu basieren auf seinem Wissen und seinen Argumenten.

Althistoriker schreiben manchmal, als seien alle Theologen minderbemittelte Menschen. Ich habe diesen Glauben nie geteilt, am allerwenigsten während der Arbeit an diesem Buch. Es gibt Theologen, die ihrerseits in Werken von Altertumswissenschaftlern fundamentalistische Elemente und einen manchmal zu naiven Glauben an die Wahrheit altbekannter antiker Texte aufzeigen können. Der zweite Teil meines Buches, die Kapitel 3 bis 10, reflektiert, was ich von diesen Theologen gelernt habe, besonders aus den Untersuchungen J. Barrs und E. W. Nicholsons. Für die historischen Kapitel im dritten Teil, besonders die Kapitel 14 bis 19, habe ich großen Nutzen aus einem Seminar über die Bibel und die Geschichtswissenschaft gezogen, das meine Kollegen in Oxford im Jahr 1988 hielten. Während dieses Seminars haben mir P. R. S. Moorey, E. P. Sanders, D. M. Lewis, S. P. Brock und M. D. Goodman Material erschlossen, auf das ich allein wahrscheinlich nicht gestoßen wäre. Später hat P. R. S. Moorey die Kapitel zur Bibelarchäologie kritisch durchgesehen, und M. D. Goodman hat sich kurz vor der Fertigstellung noch einmal scharfsichtig mit dem ganzen Buch auseinandergesetzt. Jeremy Hughes machte wichtige kritische Anmerkungen zu den Kapiteln über das Alte Testament und setzte sich für überzeugende Alternativen ein, die ich übersehen hatte. Tessa Rajaks machte mich mit kritischen allgemeinen und detaillierten Kommentaren auf viele Stellen aufmerksam, an denen ich einen Gedankengang nicht durchgehalten hatte. Besonderen Dank schulde ich Mark Edwards; seine Einsichten, seine Kritik und sein Überblick über die wichtigste Forschungsliteratur haben mich von einigen schwächeren Argumenten und schlecht durchdachten Ansichten abgebracht. Froh war ich auch über die Hilfe von William Eaglestone, der das Register anfertigte, und die anregende Kritik meiner Lektoren Peter Carson und Charles Elliot. Ohne Anne Robinson schließlich gäbe es überhaupt keinen Text. Sie hat das Manuskript in seinen verschiedenen Stadien mit unendlicher Geduld und Sachkenntnis abgetippt.

Anmerkung zur deutschen Ausgabe

Im Allgemeinen wurde der Bibeltext der Einheitsübersetzung zugrunde gelegt. Wo dieser Text der Argumentation des Autors widerspricht, der zumeist von der älteren englischen King James Bible ausgeht, wurde die Lutherbibel herangezogen. Diese Stellen sind in den Anmerkungen angegeben. Um einen leichteren Zugang zur weiterführenden Literatur zu ermöglichen, wurde außerdem ein Verzeichnis deutschsprachiger Werke zusammengestellt. In ihm finden sich auch, soweit vorhanden, Übersetzungen der wichtigsten vom Autor angegebenen Werke.

Teil Eins

1

Wie es war im Anfang

I

Im Johannesevangelium sagt Jesus zu Pilatus(1): »Ich bin dazu geboren und dazu in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit Zeugnis ablege. Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört auf meine Stimme.« Pilatus fragt: »Was ist Wahrheit?« Er erhält keine Antwort.

Es ist die letzte von vier Fragen, die von Jesus nicht direkt beantwortet werden.1 Diskontinuierliche Dialoge, bei denen die Gesprächspartner nicht auf die Worte des anderen eingehen, kennen wir aus dem modernen Theater. Die Unterhaltung zwischen Pilatus und Jesus ist trotz der tiefen Kluft zwischen den beiden allerdings andersgeartet. Pilatus versucht dreimal, eine klare Antwort zu bekommen. Jesus jedoch antwortet mit einer Gegenfrage und bestimmt so das Gespräch, das mit einer direkten Frage nach dem König der Juden beginnt und mit einer allgemeinen Frage nach der Wahrheit endet. »Pilatus erwartet auf seine spöttische Frage keine Antwort«, schreibt Francis Bacon(1). Nach Augustinus(1) war Pilatus in Gedanken schon bei dem Brauch der Juden,2 zum Passahfest(1) einen Gefangenen freizulassen, und Pilatus schlägt den versammelten Juden dann auch die Freilassung Jesu vor. Doch seine Frage ist nicht spöttisch gemeint, sie bezieht sich auf seine eigene Zwangslage. Pilatus stellt sie jemandem, der sich selbst als die Wahrheit bezeichnet hat (Joh 14,6(1)). Obwohl der Statthalter der Wahrheit gegenübersteht, geht er zu den Juden hinaus und gibt ihrer falschen Forderung nach, Jesus zu verurteilen.

Pilatus’ Frage nach der Wahrheit beschäftigt uns, aber sie selbst ist nicht »wahr«. Sie ist sicher nie so gestellt worden. Zum einen nahm an dem Gespräch vermutlich eine dritte Person teil: Pilatus sprach weder hebräisch noch aramäisch, Jesus höchstwahrscheinlich kein Griechisch.3 Also musste wahrscheinlich ein Dolmetscher hinzugezogen werden, auch wenn dies in den Evangelien(1) nicht erwähnt wird. Zum anderen geben die Evangelisten die Szene unterschiedlich wieder. Weder der unbekannte Dolmetscher noch Jesus selbst überlieferte ihnen den exakten Wortlaut. Die Worte, die Johannes, der vierte Evangelist, Jesus und Pilatus in den Mund legt, sind seine eigene Erfindung.

Auf die letzte Frage des Pilatus, die Frage nach der Wahrheit, wurden seither viele Antworten gegeben, und sie ist noch lange nicht gelöst. Die Ausführungen der Philosophen, die stets großen Scharfsinn auf sie verwendet haben, basieren jedoch im Allgemeinen noch immer auf einem der beiden folgenden Ansätze: Gemäß der Korrespondenztheorie besteht die Wahrheit in der Übereinstimmung mit den Fakten, gemäß der Kohärenztheorie in der Übereinstimmung mit einem allgemeinen System von Überzeugungen.4

Ich möchte die Frage des Pilatus aufnehmen und sie an die Bibel stellen. Zunächst werde ich mich mit der Ansicht auseinandersetzen, dass schon das Wesen und der Ursprung der Bibel allein ihr eine Kohärenz(1) verleihen, die die Frage nach der Wahrheit beantwortet. Danach werde ich untersuchen, inwiefern ihre Texte mit den Fakten übereinstimmen.

Analysen liefern keine vollständigen Antworten. Dies gilt besonders bei so unterschiedlichen Texten, wie sie in der Bibel gesammelt sind. Vielen würde man keineswegs gerecht werden, wenn man sie nur auf die Fakten hin untersuchte: Dazu gehören beispielsweise die Psalmen(1), das Buch der Sprichwörter(1), das Buch Ijob(1) (Hiob), Kohelet(1) oder Teile der neutestamentlichen Briefe. Wir finden dort, wie Matthew Arnold(1) es ausgedrückt hat, »Worte für eine großartige Wirklichkeit, die der Autor nicht annähernd erfasste, die uns aber dennoch mit unbeschreiblicher Kraft in ihren Bann ziehen«. Diese Worte beziehen sich nicht auf die faktische Wahrheit: »Die Bibel ist Literatur. Sie besteht aus Worten, die wie die Worte im täglichen Leben, der Poesie und der Redekunst verwendet werden, nämlich approximativ, und nicht adäquat wie wissenschaftliche Begriffe.«5 Die biblischen Texte können uns noch immer mit »unbeschreiblicher Kraft« berühren, doch sind die Gründe dafür nicht offensichtlich. Gibt es eine »großartige Wirklichkeit«, die sie zu vermitteln suchen? Oder verstehen wir das, was sie sagen, dadurch, wie sie es sagen? Und weil wir als Menschen an dem teilhaben können, was sie in Worte fassen?

Für viele Menschen ist eine Antwort darauf im Glauben und nicht in faktischer Wahrheit begründet. Aber auch unabhängig davon wäre es unsinnig, diese Teile der Bibel wörtlich zu nehmen und jeden Satz danach zu beurteilen, ob er wahr oder nicht wahr ist, ohne auf seine Metaphorik und seine dichterische Sprache einzugehen.

Die Bibel besteht allerdings nicht nur aus solchen Texten. Sie bezieht sich auch auf Ereignisse und Personen in der Zeit vom Ursprung der Welt bis zu ihrem nahe bevorstehenden Ende. Auch hier wird das Erzählte oft interpretiert und durch eine literarische Sprache umschrieben. Es wird jedoch auch dargestellt, Bezug auf die historische Wirklichkeit genommen und prophezeit. Und hier stellt sich die Frage nach der Wahrheit. Ich möchte die Bibel als Historiker untersuchen, der es gewohnt ist, schriftlichen Zeugnissen aus der fernen Vergangenheit die Frage des Pilatus zu stellen.

Die hebräische Bibel, das Alte Testament der Christen, beginnt mit der Erschaffung der Welt. Zwei Evangelien des Neuen Testaments beginnen mit der Geburt Jesu. Diese Anfänge haben ihre eigene reiche Geschichte, eine Geschichte ihrer Ursprünge sowie eine der unterschiedlichen Interpretationen durch Künstler und Leser. Heute muss man diese Texte den Erkenntnissen der Naturwissenschaften gegenüberstellen, die der Vorstellung einer jungfräulichen Geburt oder einer Erschaffung der Welt in nur sechs Tagen widersprechen. Aber auch schon ohne dieses Wissen hatten sich Historiker und aufmerksame Leser mit den Texten befasst und sie auf die beiden Säulen der Wahrheit hin untersucht: Kohärenz innerhalb der Erzählung und Korrespondenz mit den äußeren Fakten.

II

Die Bibel beginnt mit zwei Schöpfungsgeschichten(1). In Genesis(1) 1,1 bis 2,4 erschafft Gott die Welt in sechs Tagen und ruht am siebten Tag. Mit seinem Wort scheidet er das Licht von der Finsternis und den Himmel von der Erde. Gras und Bäume wachsen; Sonne, Mond und Sterne leuchten; Vögel und große Seetiere beginnen, sich zu vermehren; das Land bringt Vieh und Kriechtiere hervor; zuletzt schafft Gott die Menschen als sein Abbild, als Mann und Frau. Sie sollen fruchtbar sein und sich vermehren, über die Tiere des Landes, Fische und Vögel herrschen und von allen Pflanzen, Früchten und Bäumen der Erde essen. Die Menschen der ersten Schöpfung sind Vegetarier und bleiben es bis zu Gottes Befehlen an Noach(1) in Genesis 9,1–3.

Der Text gibt keine genaue Auskunft darüber, wie Gott all dies schuf. Geheimnisvoll wie Gott selbst, schreitet die Erzählung von der Trennung von Licht und Finsternis zur Erschaffung der Sterne voran, führt von dem »Geist«, der in der Leere über dem Wasser schwebt, zur Erschaffung des Menschen als Gottes Abbild. Die hebräische Bedeutung dieser Sätze ist noch immer nicht ganz geklärt; vielleicht waren sie noch nie, nicht einmal für den Verfasser, eindeutig. Schon hier sehen wir uns mit einer approximativen Sprache konfrontiert, die die »großartige Wirklichkeit« wiedergeben soll. Der »Geist« beispielsweise könnte ein Wind sein, nicht eine über der Leere schwebende unsichtbare Erscheinung. Späteren Gelehrten zufolge gleicht seine Bewegung so gut wie sicher dem Schlagen von Flügeln, obwohl er selbst keine Flügel besitzt. Er ist eine bewegliche, unsichtbare Kraft, die wir uns sanft oder ungestüm vorstellen dürfen. Ich denke ihn mir als unberechenbare Bö, die durch die Leere braust und sich dann kurz legt, ein Wind, der Türen hin- und herschwingen lässt und den Sand aufwirbelt.

Wohl im Unterschied zu dem Verfasser des Textes können wir den ersten Vers der Bibel auf zwei Arten lesen: als unabhängigen Satz (»Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde«) oder als Satzteil, der den folgenden beiden Sätzen untergeordnet ist (»Im Anfang von Gottes Schöpfung … war die Erde wüst und wirr«). Aufgrund sprachlicher Kriterien lässt sich die Alternative nicht entscheiden. Gab es das Chaos schon, als Gott sich an die Arbeit machte, oder schuf er, wie allgemein angenommen wird, auch das Chaos? Was genau bedeutet das hebräische Wort für »schaffen«? Auch die Darstellung des zweiten Tages wirft Probleme auf. Es wird gesagt, dass Gott am Abend jedes Tages sein Werk gutheißt (»Gott sah, dass es gut war«). Nur am zweiten Tag, an dem er Wasser und Himmel voneinander scheidet, sagt er im hebräischen Text nichts. Diese Feststellung beunruhigte einige aufmerksame jüdische Leser. Ihre Erklärungen aus der frühchristlichen Zeit kennen wir: Sie nahmen an, dass Gott seiner Arbeit die Anerkennung verweigerte, weil der zweite Tag ein Tag der Trennung war, ein Tag, an dem die Einheit der Welt zerstört wurde.6 Aber es gibt eine einfachere Erklärung: Wahrscheinlich sind die bestätigenden Worte in Vers 8 in dem hebräischen Text, der im 2. Jahrhundert n. Chr. verwendet wurde, einfach ausgefallen. In früheren griechischen Übersetzungen, denen anscheinend ein besseres hebräisches Manuskript zugrunde lag, sind sie vorhanden.

Die erste Schöpfungsgeschichte kann so gelesen werden, dass die Menschheit niemals nur männlich war, dass es von Anfang an schon Männer und Frauen gab. Die Worte in Genesis 1,27 lassen sich nicht geschlechtsspezifisch zuordnen und erlauben so die feministische Lesart, wonach Gott zunächst ein »Erdengeschöpf« schuf und der Mann nicht vor der Frau existierte.7 In einer anderen Sache drückt sich der Autor der Schöpfungsgeschichte eindeutig aus: Der Sabbat(1) war so alt wie die Geschichte der Welt. Gott, so schreibt er, vollbrachte sein Werk in sechs Tagen; den siebten Tag, an dem er ruhte, segnete und heiligte er. Gott war mit seiner Arbeit zufrieden (»Es war sehr gut«). Er gab der Menschheit einige einfache Anweisungen und sprach keine Verbote aus; nichts störte die Beziehung der Menschen zu Gott.

Außer den jüdischen, christlichen und feministischen Lesern und Leserinnen setzten sich auch andere kritisch mit dieser Geschichte auseinander, und zwar lange bevor Darwin(1) die Details widerlegte. Philosophie war keine jüdische, sondern eine griechische Erfindung. Die griechischen Denker, die eine Übersetzung der Genesis in die Hand bekamen, fanden die Darstellung der Schöpfung wenig überzeugend. Sie bemängelten, dass der Text keine Angaben über die Materialien enthalte, mit denen Gott gearbeitet haben müsse und die schon existiert haben müssten, bevor er die Welt daraus schuf; also fassten sie den ersten Vers der Bibel genau so auf, wie auch unsere gängigen Übersetzungen aus dem Hebräischen ihn verstehen. Der berühmte Arzt und Philosoph Galenus(1) berichtete in der Mitte des 2. Jahrhunderts n. Chr. über den Einwand, den griechische Denker üblicherweise gegen die Schöpfungsgeschichte der Bibel vorbrachten: Der Verfasser der Genesis(2) »glaubt, dass für Gott alles möglich sei, dass er aus Asche sogar einen Stier oder ein Pferd erschaffen könne«.8 Je mehr wir jedoch aus alten Texten über andere Schöpfungsmythen in den Kulturen des Nahen Ostens erfahren, um so weniger außergewöhnlich erscheint uns eine »Schöpfung allein durch Gottes Wort«.9 Sie wird jedoch durch dieses Wissen nicht glaubwürdiger.

Allerdings soll die erste Schöpfungsgeschichte nach weitverbreiteter Meinung einen griechischen Leser aus anderen Gründen beeindruckt haben. Wir besitzen ein Buch zum Thema Literaturkritik mit dem Titel Vom Erhabenen, das vermutlich ein Heide, dem die Wissenschaft den Namen Pseudolonginus(1) gegeben hat, in der römischen Kaiserzeit, wohl Ende des 1. Jahrhunderts n. Chr., auf Griechisch verfasste. Pseudolonginus zitiert die ersten Worte Gottes in der Genesis nach einer ihm bekannten Version (in der Antike gab es unterschiedliche griechische Fassungen) und lobt sie ihres erhabenen Stils wegen. »Es werde Licht. Und es wurde Licht.« Der vornehme Imperativ passe zu Gottes edlem Werk.10 Seit dem 17. und besonders im 18. Jahrhundert wurde dieser Kommentar als Tribut eines Nichtchristen an die literarische Kraft der Bibel gepriesen. »Die Bibel ist auch im weltlichen Sinn ein Klassiker«, schreibt C. S. Lewis(1). »In den folgenden Zeitaltern lässt sich kaum Vergleichbares finden.« Im Text des Pseudolonginus wirkt das Bibelzitat jedoch als Fremdkörper und steht seltsam störend zwischen zwei aufeinander bezogenen Anspielungen auf die Dichtung Homer(1)s. Es ist daher denkbar, dass es sich um einen späteren Zusatz handelt, den ein christlicher Leser dem heidnischen Text hinzufügte und der dann, wie so häufig, in den erhaltenen Abschriften späterer Kopisten überliefert wurde. Damit wäre gerade diese erste Lobpreisung der Bibel als Literatur ihrerseits ein warnendes Beispiel: Auch sie wäre eine Einfügung in den Text eines anderen, früheren Autors.

In Genesis 2,4 bezieht sich der Verfasser des Textes auf sein eigenes Werk: »Das ist die Entstehungsgeschichte von Himmel und Erde, als sie erschaffen wurden.« Nach üblicher Lesart beziehen sich diese Worte auf die siebentägige Schöpfung, die der Autor gerade beschrieben hat. An anderen Stellen in der Genesis, neunmal insgesamt, bezieht sich eine solche Ausdrucksweise dagegen auf das, was folgt. Wenn die Worte sich auch hier auf das Folgende beziehen, wären sie eine Art Verbindung zwischen der Geschichte der ersten sieben Tage und einer zweiten Schöpfungsgeschichte(2): Im zweiten Teil des Verses 2,4 beginnt der Autor einen zweiten Schöpfungsbericht, den von Adam(1) und Eva(1).11

Ob nun die ersten Worte in Vers 2,4 nach vorn oder, was wahrscheinlicher ist, zurückverweisen, sie können jedenfalls nicht verbergen, dass der nächste Abschnitt der ersten Passage klar widerspricht. Die Welt existiert, wird uns jetzt erzählt, es gibt jedoch noch keine Pflanzen und keinen Regen (Gen 2,5). Gott nimmt »Erde vom Ackerboden« (adamáh im Hebräischen) und formt den Menschen (adám); die Ähnlichkeit der Worte scheint auf eine echte Verbindung zwischen den beiden Objekten hinzuweisen. Anders als die Schöpfung in Genesis 1,27 ist diese hier klar männlich. Der Mann existiert vor der Vegetation. In Vers 1,12 hingegen waren Gras, Sträucher und Bäume am dritten Tag geschaffen worden; die Menschheit musste bis zum sechsten Tag warten.

Es folgt ein sehr eindrucksvolles Bild: Gott belebt die Handvoll Erde, indem er sie anbläst. Spätere Denker brachten den göttlichen Atem mit dem inneren Gewissen des Menschen in Verbindung, durch das Gott uns leitet. Gott setzt den belebten Erdklumpen in den Garten von Eden(1), zu dessen üppiger Ausstattung zwei besondere Bäume gehören, der Baum der Erkenntnis und der Baum des Lebens. Dann spricht Gott die ersten Worte zu seinem Gärtner; auch das ist ein Topos mit einer langen Geschichte. Er spricht ein Gebot und ein Verbot aus und bekräftigt beides mit einer Warnung: »Von allen Bäumen des Gartens darfst du essen, doch vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse darfst du nicht essen; denn sobald du davon isst, wirst du sterben.« Über den Baum des Lebens wird an dieser Stelle nichts gesagt.

Als Gott bemerkt, dass der Mensch allein ist, formt er die Vögel und die Tiere des Feldes und bringt sie zu Adam, damit er sie benenne. Er schafft dem Mann aus einer seiner Rippen eine Gehilfin. Der Mann (hebräisch isch) nennt das Wesen ischáh (»vom Mann ist sie genommen«). Der Text stellt eine Verbindung zwischen der Erschaffung der Frau und der später folgenden sexuellen Vereinigung und Geburt von Kindern her (»ein Fleisch«).12 Das Paar ist nackt, bis die Schlange die Frau verführt, indem sie Gottes Verbot verzerrt darstellt.13 Sie fragt: »Hat Gott wirklich gesagt: Ihr dürft von keinem Baum des Gartens essen?«, als seien alle Bäume verboten und nicht nur einer oder zwei. In ihrer Antwort bezieht sich die Frau nur auf den einen Baum, und während Gott nur das Essen der Früchte verboten hatte, geht sie noch darüber hinaus: »Gott (hat) gesagt: Davon dürft ihr nicht essen, und daran dürft ihr nicht rühren, sonst werdet ihr sterben.« Die Schlange versichert ihr, dass die Missachtung des Gebotes nicht den Tod zur Folge haben werde, und sie behält recht. Das Menschenpaar isst, beiden gehen die Augen auf, und Gott macht seine Drohung tatsächlich nicht wahr. Obwohl er seinem Gärtner die Todesstrafe angedroht hatte, gibt er jetzt nach und vertreibt das Paar in ein Leben voll mühseliger Arbeit. Wie der Mann und die Frau hat auch Gott seine Freiheit und nutzt sie aus: Die Todesstrafe wird zum ersten Mal als Abschreckungsmittel eingesetzt und versagt.

Die erste Schöpfungsgeschichte gliedert die Zeit in sieben Tage; der zweite Bericht unterteilt den Raum, trennt einen Garten von der Welt ab und hebt zwei besondere Bäume aus dem Arboretum Gottes hervor. Die zweite Geschichte stellt uns vor noch mehr offene Fragen als die erste. Im Hebräischen wuchern die Wortspiele wie das Grün im Garten von Eden, doch dienen sie der Erzählung, indem zum Beispiel ähnliche Namen auf eine reale Verbindung zwischen den bezeichneten Dingen hinweisen. Die Abfolge der Ereignisse wirft Probleme bezüglich der genauen Zeitpunkte, der Motive und der Beziehungen zwischen den Geschlechtern auf. Angesprochen werden auch die Themen Sexualität und Tod. Welchen Status hatte die erste Frau als Gehilfin des Mannes: Stand sie dem Mann vor dem Sündenfall(1) gleichrangig gegenüber oder war sie ihm untergeordnet?14 Wie sollen wir uns die ersten Stunden unserer Ureltern vorstellen? Waren sie nackt, aber unsterblich, solange sie unschuldig blieben? Waren sie wie Kinder, bis sie die Realitäten des Lebens erkannten und ins Erwachsenenleben gestoßen wurden? Das entspricht am ehesten den heute gängigen Vorstellungen. Oder waren sie von Beginn an sterblich und schon im ersten Garten der Glückseligkeit sexuell aktiv, wie es von vielen jüdischen Rabbinern und von John Milton(1) dargestellt wurde?15 Wie steht es dann um die zeitliche Abfolge: Wenn Adam und Eva schon im Garten von Eden miteinander schliefen, wurde dann Kain(1), ihr gottloses Kind, im Paradies gezeugt? Sicher nicht. Also müssen alle Ereignisse in einen einzigen Tag gepackt werden. Als der Tag, den Adam und Eva im Paradies verbrachten, wurde früher häufig der 22. April genannt. Wenn die Schöpfung am Mittag und der Sündenfall vor Einbruch der Dämmerung stattfand, war die Chance einer zwischenzeitlichen Empfängnis nur gering. Viele Details können sexuell gedeutet werden. Verlieh die Frucht vom Baum der Erkenntnis moralisches, universelles oder sexuelles Wissen? Warum drängte sich die Schlange Eva auf? Nach einer Interpretation wurde sie eifersüchtig, als sie das menschliche Paar im Garten miteinander schlafen sah.

Außerdem ist unklar, warum Gott gerade eine Frau schuf, um Adam eine Hilfe an die Hand zu geben. Augustinus(2) fragte sich, warum er ihm stattdessen nicht einen zweiten männlichen Gärtner zur Seite stellte. Schließlich war die Frau nicht das erste Lebewesen, das Gott nach dem Mann erschuf: Erst nachdem er schon Vögel und Feldtiere geschaffen hatte, stellte er fest, dass »eine Hilfe, die dem Menschen entsprach«, noch nicht gefunden war. Hatte er angenommen, dass Tiere genügen würden? Adam begrüßte die Erschaffung Evas mit den Worten: »Das endlich ist …«16 Ein jüdischer Gelehrter hat die Ansicht vertreten, dass die Tiere zuerst erschaffen werden mussten, damit Adam beim Anblick ihrer Paarung bewusst wurde, dass ihm etwas fehlte. Gott führte alle Tiere vor den Menschen, um sie benennen zu lassen: Setzt Namengebung nicht gründlicheres »Erkennen« voraus? »Und du sollst, meinem Gefühl nach, ›Igel‹ genannt werden …«

Die beiden Schöpfungsberichte von der Erschaffung der Welt in sieben Tagen und von Adam(2) und Eva(2) können nicht beide wahr sein, da sie sich in Einzelheiten widersprechen. Der Mensch, die Tiere und die Pflanzen werden in unterschiedlicher Reihenfolge geschaffen, Mann und Frau auf verschiedene Weise. Aufmerksamen Lesern in der Antike fielen die Widersprüche auf, und wir kennen Erklärungsversuche gelehrter Juden aus christlicher Zeit. Wie auch viele spätere Leser nahmen sie an, dass die Kohärenzprobleme der Schrift auf eine weitere Bedeutungsebene des Textes hinwiesen, die ein erleuchtetes Ganzes aus ihm mache. Der Garten, die Schlange und die doppelte Schöpfung seien Hinweise auf verborgene Wahrheiten. Juden, die mit der griechischen Philosophie vertraut waren, glaubten, die erste Entstehung des Menschen »als Abbild Gottes« sei eine ideale Schöpfung in Gottes Gedanken, während die zweite, irdische Menschwerdung Gottes Schöpfung in der sichtbaren Welt darstelle. Es wurde sogar die Ansicht vertreten, der erste Adam sei ein Hermaphrodit gewesen und die Unterteilung in die beiden Geschlechter habe erst bei Gottes zweitem Versuch stattgefunden.17

Leser, die an der wortgetreuen Bedeutung des Textes festhielten, widersprachen dieser Interpretation, zahlreiche jüdische Gelehrte, frühchristliche Denker und Philosophen der Renaissancezeit hingegen schlossen sich ihr an. Ihre Überlegung war einfach: Die Widersprüche in Genesis 1–3 sind so offensichtlich, dass sie beabsichtigt sein müssen.

Denkbar ist allerdings auch, dass sich die beiden Geschichten auf zwei verschiedene Schöpfungen beziehen und beide wahr sind. Mitte des 17. Jahrhunderts erklärte der Franzose Isaac La Peyrère(1) (1594–1676), ein protestantischer Gelehrter, die erste Schöpfung habe die nichtjüdischen Völker hervorgebracht, die zweite das besondere Volk Adams, die Juden.18 Die Vorstellung von prä-adamitischen Völkern war angesichts der Fragen, mit denen sich die Gelehrten damals beschäftigten, äußerst plausibel. Sie erklärte den Widerspruch zwischen der Zeitangabe der Bibel für die Erschaffung Adams und den viel älteren und weiter zurückreichenden Chroniken der Griechen und Ägypter, die auch durch indische und chinesische Texte bestätigt wurden. Sie erklärte, warum in der Geschichte von der Bestrafung Kains (Gen 4) neben Adams Familie noch weitere Menschen erwähnt werden. Und sie erklärte die Herkunft der Bewohner der Arktis(1) und Amerikas(1), von denen man erst kurz zuvor im Zeitalter der Entdeckungen erfahren hatte. Die Amerikaner, so glaubte man jetzt, waren nicht etwa lange verloren gegangene Kinder Adams, die die Kontinentalverschiebung aus dem Garten von Eden nach Westen verschlagen hatte. Sie waren wie die Eskimos Präadamiten, Nachfahren jener Völker, die nach Genesis 1,27 als Abbild Gottes in der ersten Schöpfung entstanden waren. Die Theorie der Präadamiten wurde in ganz Europa heftig diskutiert und hatte weitreichende Auswirkungen auf Geschichts- und Rassentheorien. Wenn die Geschichte der Bibel von der Erschaffung Adams an nur die Geschichte der Juden, der Nachkommen Adams, war, dann konnte die Frühgeschichte anderer Völker rekonstruiert werden, ohne die Autorität der Bibel zu schmälern. Und wenn es zwei Schöpfungen gab, eine der Nichtjuden und eine der Juden, stellte sich natürlich die Frage, welche höherwertiger war. La Peyrères Idee der zwei Schöpfungen erlebte verschiedene Interpretationen und eröffnete den Historikern neue Perspektiven. Entgegen den Absichten ihres Urhebers wurde sie bis ins 19. Jahrhundert benutzt, um Sklaverei und Antisemitismus zu legitimieren.

Die beiden Schöpfungsgeschichten lassen sich jedoch viel einfacher erklären: Sie wurden zu verschiedenen Zeiten von zwei verschiedenen Autoren verfasst. Die erste Veröffentlichung dieser richtigen Theorie 1711 durch den deutschen Geistlichen H. B. Witter blieb allerdings unbeachtet, und gewöhnlich wird Jean d’Astruc(1), ein Arzt Ludwigs XV., als ihr Urheber genannt.19 Er unterschied 1753 zwei Quellen für die ersten Kapitel der Genesis(3) und erklärte, Mose(1) habe das gesamte Buch aus vier verschiedenen Texten zusammengestellt, die der aufmerksame Leser noch immer unterscheiden könne. Die Theorie wurde verbessert und erweitert und erlangte bis zum Ende des Jahrhunderts bei den Gelehrten allgemeine Anerkennung.

Heute ist die Auffassung, Mose habe den Text des Buches Genesis geschrieben oder bearbeitet, überholt. Außerdem wissen wir, dass der erste Schöpfungsbericht später entstanden ist als der zweite. Der erste Bericht stammt von einem jüdischen Priester, der an eine Schöpfung in sieben Tagen glaubte.20 Von ihm stammen Teile der Genesis und der folgenden Bücher Exodus(1), Levitikus(1) und Numeri. Über den Zeitpunkt der Abfassung und mögliche Revisionen seiner Arbeit streiten sich die Wissenschaftler zwar noch, am wahrscheinlichsten ist aber, dass der Text als Ganzes gegen Ende des 6. Jahrhunderts v. Chr. entstand. Nach der Rückkehr der Juden aus dem Exil(1) kam dem Sabbat, dem heiligen Tag, in den religiösen Texten dieser Periode besondere Bedeutung zu. Deshalb stellte der Autor den Tag, der als Mittelpunkt des jüdischen Lebens galt, ins Zentrum der Schöpfung Gottes.

Die zweite Geschichte erzählt vom Garten Eden, von Eva und dem Sündenfall. Das Werk des Autors, der nachweislich noch andere Teile der Genesis und der folgenden Bücher verfasste, enthält keinen Hinweis auf die große Katastrophe; das Ende des Nordreiches von Israel um 722 v. Chr., wurde also vermutlich früher geschrieben.21 Einige Forscher setzen den Ursprung der Geschichte sogar schon in die Zeit zwischen 930 und 900 v. Chr. Sie könnte also aus derselben Zeit stammen wie die Werke eines berühmten westlichen Nachbarn: Die ersten griechischen Texte zum Ursprung der Götter und den Ursachen des menschlichen Elends sind die Dichtungen Hesiod(1)s (um 730–700 v. Chr.). Hesiod knüpft in vielem an die Mythen und Geschichten der Phönizier an, der Nachbarn des Volkes Israel. Auch er schreibt eine Schöpfungsgeschichte und einen Mythos von der ersten Frau, Pandora(1), die schuld ist am Elend der Menschheit. In der Geschichte der Frauen ist das 8. Jahrhundert v. Chr. eine dunkle Zeit.

Die Leistungen der beiden Verfasser der Genesis sind unterschiedlich beurteilt worden. Einer Ansicht nach steht hinter der Geschichte der Schöpfung in sieben Tagen eine Lehre, ein »altes heiliges Wissen, das über viele Generationen von Priestern bewahrt und weitergegeben, immer wieder überdacht, gelehrt, verbessert und erweitert wurde«.22 Der Autor erdachte die Schöpfung nicht: Er schrieb nur nieder, was andere Menschen sich über Jahrhunderte hinweg erzählt hatten. Die besondere Hervorhebung des Sabbat(2) lässt vermuten, dass die Niederschrift aus dem 6. Jahrhundert stammt. Anders als in Homer(2)s Epen weisen jedoch weder die Sprache noch der Stil der beiden Geschichten auf eine Entstehung in der mündlichen Überlieferung hin. Unseren Erkenntnissen nach könnten beide als die jeweils persönliche Version eines einzigen Autors entstanden sein, dessen Meinung nicht unbedingt mit der seiner Zeitgenossen übereinstimmen musste.

Vor allem einige große deutsche Wissenschaftler vertreten die Ansicht, dass die Geschichten, wie wir sie heute vor uns haben, anderen Erzählungen entstammen, deren Spuren wie eine Geheimschrift zwischen den Zeilen hervorscheinen. Die Autoren müssen sich im Klaren darüber gewesen sein, was sie den Texten schuldig waren: Wie konnten sie dann glauben, dass sie die letzte Wahrheit zum Thema Schöpfungsgeschichte(3) niederschrieben, wenn sie doch alte Berichte verwendeten oder zumindest kannten, in denen andere Meinungen vertreten wurden? Der Autor des später entstandenen Schöpfungsberichtes in Genesis 1 kannte sicher die ältere Erzählung von Eva und dem Garten von Eden(2): Sein Bericht ist weniger detailliert und zeigt darin »deutlich die Tendenz zu äußerster Zurückhaltung … gegenüber dem Interesse, wie die Erschaffung des Menschen vor sich ging«. Und diese Zurückhaltung sollten auch wir walten lassen, »entsprechend dem den ganzen Schöpfungsbericht der Priesterschrift(1) bestimmenden Bestreben, in Ehrfurcht das Geheimnis der Schöpfung zu wahren, das dem menschlichen Verstehen nicht zugänglich ist. Gerade damit aber wird dem menschlichen Fragen und Forschen nach den Anfängen des Menschengeschlechts – sofern es dieses letzte Geheimnis respektiert – Raum gegeben«.23 Wir müssen jedoch kritischer sein als ein Autor aus dem 6. Jahrhundert v. Chr.

Beide Geschichten bieten keine geradlinige Erzählung. Es gibt Passagen in direkter Rede, es wird berichtet, was Gott sagte und dachte, und die Menschen sprechen Lobpreisungen aus oder reden von der Zukunft. Glaubten die Autoren selbst, dass alles genau so vonstatten gegangen war, wie sie es beschrieben? Wir versuchen heute, ihr Ansehen zu wahren, indem wir ihre Geschichten Mythen nennen, als hätten sie nur eine allgemeine Wahrheit ausdrücken wollen, Gottes Beteiligung an der Schöpfung vielleicht oder sein Geschenk der moralischen Freiheit an die Menschheit.24 Die erste Geschichte mit ihren sieben Tagen ist jedoch kein Mythos, sondern ein bemerkenswert unmythischer Auftakt, der sich von den uns bekannten Schöpfungsmythen der anderen Kulturen des Nahen Ostens stark unterscheidet. Dort geht die Entstehung der Welt immer mit Kämpfen einher, hier handelt Gott, ohne Kampf oder Widerstand herauszufordern. Die zweite Erzählung ist schwerer zu beurteilen. Geschichten über unsere Ureltern und deren Entstehung aus der Erde gibt es auch in anderen Kulturen, nur die Besonderheiten bei der Erschaffung der Frau sind uns aus keiner anderen Überlieferung im Nahen Osten bekannt. Glaubte der Autor der zweiten Geschichte, dass alles so geschehen war, wie er es beschrieb? Was für uns Mythos ist, mag für ihn etwas ganz anderes gewesen sein. Der frühgriechische Dichter Hesiod leitet seine Erzählung von der Herkunft der Götter und der ersten Frau damit ein, dass ihm die Musen erscheinen und versprechen, die wahre Geschichte, keine Lügen zu erzählen. Was er dann aufschreibt, sind unserer Auffassung nach Mythen. Was wir einen Mythos oder eine Erzählung nennen, kann demnach für einen früheren Autor Wahrheit gewesen sein, auch wenn er selbst sich der Problematik des Mythos und seiner Wahrheit bewusst war und sie diskutierte.

Wir wissen nicht, welche Absichten die beiden Autoren mit ihren Schöpfungsberichten verfolgten, aber wir wissen mit Sicherheit, dass die Nachwelt die Berichte als wahr ansah. Einige Zeit nach ihrer Abfassung, höchstwahrscheinlich vor 400 v. Chr., verband ein dritter Schreiber die beiden Geschichten zu einer einzigen. Wahrscheinlich waren beide inzwischen zu bekannt geworden, als dass eine hätte ausgeschlossen werden können. Und während wir heute ihre Widersprüche herausstellen, war der Herausgeber vielleicht gerade von ihrer Ungleichartigkeit beeindruckt. Die erste Geschichte erzählte vom Ursprung des Universums, die zweite dagegen befasste sich mit den Gründen für das Leiden des Menschen. Die Widersprüche waren allerdings offensichtlich, um so mehr, als die Worte in Genesis 2,4 über die »Entstehungsgeschichte von Himmel und Erde« vielleicht schon in der ersten Version die Geschichte abrundeten. Hat der Herausgeber den Konflikt gesehen und gerade mit diesen Texten begonnen, um uns darauf aufmerksam zu machen, dass die Schöpfung eine Angelegenheit war, in der nicht Tatsachen, sondern Ansichten vorherrschten? Sollte wirklich diese Absicht dahinter gestanden haben, so war es erst Darwin(2), der sie den Lesern nahebrachte. Wenn man die Widersprüche an anderen Stellen der Bibel zählt und weiß, wie Herausgeber mit dem Material, das sie erhalten, umzugehen pflegen, wird man eine naheliegendere Lösung vorziehen. Der Kompilator der Genesis bekam zwei Schöpfungsgeschichten mit offensichtlich völlig verschiedenen Grundthemen in die Hände. Also stellte er die eine hinter die andere, als seien sie komplementär. Ein paar Kapitel weiter tat er dasselbe mit zwei widersprüchlichen Geschichten über die Sintflut.

Der von ihm edierte Text hat viele Leser gefunden, aber dennoch enthalten die Bücher der hebräischen Bibel, des Alten Testaments der Christen, nur wenige direkte Verweise auf die Schöpfungsgeschichten.25 Überraschenderweise werden auch die Verführung Evas und das Drama des Sündenfall(2)s nicht mehr erwähnt, obwohl das Thema spätere jüdische Autoren faszinierte. Erst um 200 v. Chr. finden wir in den Schriften von Ben Sira(1) (dem Autor des Buches Jesus Sirach) den Fall Evas als Ursprung von Sünde und Tod beschrieben.26 Zur Interpretation dieser Stelle wurde darauf hingewiesen, dass zu Lebzeiten des Ben Sira jüdische Frauen mehr Rechte als im 8. Jahrhundert v. Chr. besaßen. Sie bekamen eine Mitgift, wenn sie heirateten; sie konnten erben und vererben; sie konnten Heiratsverträge zu ihren Gunsten aufsetzen lassen, die vom Ehemann beachtet werden mussten. Für Ben Sira waren gehorsame Ehefrauen selten, und selbstbewusste Frauen waren die Wurzel allen Übels.

Erst im Neuen Testament finden sich die bekannten innerbiblischen Bezüge auf die Schöpfungsberichte. Im Markusevangelium(1) spielt Jesus auf Verse aus den Schöpfungsgeschichten an, um das jüdische Gesetz zu verschärfen und seine Ablehnung der Scheidung zu untermauern: »Am Anfang der Schöpfung aber hat Gott sie als Mann und Frau geschaffen. Darum wird der Mann Vater und Mutter verlassen, und die zwei werden ein Fleisch sein« (Mk 10,6–8). Jesus zitiert hier aus beiden Geschichten, als seien sie eine zusammenhängende Einheit, und bezieht die Zitate auf ein Thema, mit dem sie ursprünglich nichts zu tun hatten. »Gott (hat) sie als Mann und Frau geschaffen« – warum aber sollten sie sich deshalb nicht scheiden lassen? Es ist sogar behauptet worden, dass der Jesus des Markusevangeliums der Auffassung seiner jüdischen Zeitgenossen anhing, der von Gott geschaffene Mensch sei ein Hermaphrodit gewesen, der beide Geschlechter in sich vereinigte.

Später zitiert der christliche Verfasser des 1. Briefes an Timotheus(1) die Geschichte von Adam(3) und Eva, um das geringere Ansehen von Frauen in der christlichen Gemeinde zu rechtfertigen. »Dass eine Frau lehrt, erlaube ich nicht, auch nicht, dass sie über ihren Mann herrscht« (1 Tim 2,12). Adam war überlegen, weil er vor Eva(3) geformt worden war; außerdem wurde Eva verführt, nicht Adam. Der Autor des Timotheusbriefs zitiert nur aus der zweiten Schöpfungsgeschichte, denn aus der ersten geht nicht hervor, dass der Mann zuerst geschaffen wurde. Zudem stellt er den Text verzerrt dar: Eva ließ sich zwar zuerst verführen, doch dann überredete sie Adam zur Sünde. Nach der Aussage des Briefes kann die Frau dadurch gerettet werden, dass sie Kinder zur Welt bringt. Im Buch Genesis(4) steht nichts dergleichen. Dort werden vielmehr die Geburtsschmerzen und die Fruchtbarkeit als Strafe für Evas Ungehorsam dargestellt.27

Durch den konstruktiven Missbrauch des Alten Testaments entstand es in den späteren Texten völlig neu. Den Höhepunkt dieser Entwicklung markieren die dem Paulus(1) zugeschriebenen Briefe(1). Im Brief an die Epheser(1) (Eph 5,31–32) deutet der Verfasser die Verbindung von Mann und Frau (»ein Fleisch«) als einen geheimnisvollen Hinweis auf die Einheit von Christus und der Kirche. Für diese Interpretation finden sich in der Schöpfungsgeschichte jedoch keine Anhaltspunkte. Im Brief an die Römer(1) (Röm 5,12–18) schreibt Paulus seinen Mitchristen, »durch einen einzigen Menschen«, Adam, sei »die Sünde in die Welt (gekommen), und durch die Sünde der Tod«. Die berühmten Verse haben umfassende Theorien über die Sünde und die Erbsünde(1) nach sich gezogen und bei vielen Christen die Einstellung zur menschlichen Natur verändert, denn in Paulus’ Interpretation ist der Sündenfall von Adam und Eva offensichtlich nicht nur eine moralisierende Geschichte über das Schicksal eines Paares, sondern die Ursache einer alle Menschen betreffenden Veränderung. Die Worte Sünde oder Sündhaftigkeit kommen im hebräischen Text jedoch nicht vor. Erst Augustinus(3) kam zu dem Schluss, dass die Erbsünde durch Adam auf uns alle übertragen worden sei, und untermauerte seine Ansicht mit den Worten des Paulus in Römer 5.28 Dabei stützte er sich jedoch auf eine fehlerhafte lateinische Übersetzung des Textes. Im griechischen Text stand nur: »Auf diese Weise gelangte der Tod zu allen Menschen, weil alle sündigten.« Augustinus’ Interpretation basierte auf einem Text, der fälschlicherweise lautete: »Der Tod gelangte zu allen Menschen wegen Adam, durch den alle sündigten.« Die Erbsünde wurde also in die Genesis hineingelesen und dann infolge eines Übersetzungsfehlers mit dem Paulusbrief in Zusammenhang gebracht.

Im Buch Genesis spricht nichts gegen die Annahme, dass Adam und Eva von Beginn an dazu geschaffen waren, miteinander zu schlafen, Nachkommen zu zeugen und schließlich zu sterben. Gott spricht sein Urteil und sagt zu Adam, er solle »im Schweiße seines Angesichts« sein Brot essen, »bis du zurückkehrst zum Ackerboden; von ihm bist du ja gekommen. Denn Staub bist du, zum Staub musst du zurück«. Die Mühsal, nicht der Tod ist die Strafe. Der Tod war schon immer Teil der Natur des Paares, und trotz der Bestrafung sterben beide erst lange Jahre nach der Vertreibung aus dem Garten von Eden. Weil jedoch Adam gesündigt hat, wird die Arbeit des Mannes anstrengend, er muss jedes Stückchen Erde mühsam bearbeiten, damit es Frucht bringt. Durch Evas Sünde wird die Geburt schmerzhaft. Die beiden sündigen durch die Übertretung des Verbotes, vom Baum der Erkenntnis zu essen. »Ungehorsam: die Erbtugend des Menschen«, bemerkte Oscar Wilde süffisant. Gott vertreibt sie nicht aus dem Garten von Eden, um sie sterben zu lassen, sondern um zu verhindern, dass sie weitere Verbrechen begehen und auch noch vom Baum des Lebens kosten (Gen 3,22). Adams und Evas Fehlverhalten verdammt uns nicht zum Tod, sondern zu harter Feldarbeit und schmerzhafter Geburt. Und es nimmt uns die Möglichkeit, uns das ewige Leben anzueignen.

»Jeder Exeget schafft sein eigenes Eden«, schreibt Voltaire.29 Christliche Interpreten haben Adams Sünde mit der Erlösung durch Christus verbunden oder sich mit den Parallelen befasst, die auch in der christlichen Kunst immer wieder dargestellt wurden: Es gibt Übereinstimmungen zwischen der Benennung der Tiere durch Adam und den frühchristlichen Wundern, zwischen der Vertreibung Adams und Evas aus dem Paradies und der Verkündigung an Maria(1), die bescheidene zweite Eva.30 Außerdem haben die Lücken des Schöpfungsberichtes immer wieder Anlass zu unzulässigen sexuellen Deutungen gegeben. Die Frucht des Baumes war nach Augustinus ein Aphrodisiakum, das sexuelle Begierden auslöste und den Willen bezwang.31 Viele Künstler, darunter Dürer, setzten in ihren Darstellungen eine sprungbereite Katze unter den Baum, von dem unsere Ureltern aßen. Katzen waren in der frühchristlichen Literatur ein Symbol für sexuelles Verlangen geworden (von den Muslims dagegen wurden sie hochgeachtet). Wir müssen die theologischen Vorstellungen vieler späterer Jahrhunderte vergessen, bis wir Adam und Eva im Garten von Eden sehen, wie Rembrandt sie zeichnete: weltliche, grobe Menschen, keine kindlichen Wesen ohne sexuelles Wissen.

Wenn man diese Zeichnungen mit der Geschichte im Buch Genesis vergleicht, stellt man fest, dass hier den Katzen und Äpfeln (die Frucht wird in der Bibel nicht spezifiziert), vor allem aber den Schlangen und den Frauen Unrecht getan wird. John Donne beschrieb das Paradoxon: »Wer sündigte eigentlich? Es war weder der Schlange noch ihr, die noch nicht geschaffen war, verboten worden.«32 (Gottes Verbot, vom Baum der Erkenntnis zu essen, ist nicht an die Schlange gerichtet und wird ausgesprochen, bevor Eva aus Adams Rippe geformt wird.)

Dennoch wird das unterwürfige Verlangen der Frau nach dem Mann als eine Strafe für den Sündenfall betrachtet. Im England des 17. Jahrhunderts wurden die Frauen ermutigt, in ihren Gebeten um Verzeihung für die Sünden Evas zu bitten. Eine religiöse Gruppe in Israel verlangt noch immer ein ähnliches Gebet von den jüdischen Frauen.

Die ersten Kapitel der Genesis besitzen nicht die Kohärenz(2), die nötig ist, um Wahrheit zu stiften, denn sie setzen sich aus zwei widersprüchlichen Quellen zusammen. Sie entsprechen nicht den Fakten: Wir wissen heute genauer Bescheid über das Alter der Welt und ihre Evolution, die länger als sechs Tage dauerte und mehr war als ein Garten voller Pflanzen in der Nähe des Eufrat(1). Die Spuren unserer Eva führen nach Afrika(1), Adam muss man sich als Pygmäen vorstellen. Trotzdem inspirieren die Schöpfungsgeschichten noch immer unsere Vorstellungskraft. So wurden im 16. Jahrhundert die Reliquien aus der Kathedrale von Canterbury entfernt, und dabei ging auch die Handvoll Staub verloren, aus der nach der Vorstellung der Gläubigen Adam(4) geschaffen wurde. In den Schöpfungsberichten werden Themen angesprochen, die auch heute noch interessant sind: die Beziehung zwischen den Menschen und den Tieren, die Rechte von Mann und Frau, die Interpretation von Geschichten zu zentralen, grundlegenden Themen. Das ökologische Denken, der Feminismus und die strukturalistische Mythenanalyse: Jeder neue Denkansatz findet in der Genesis Material.33 In der Bibel steht nicht, dass Eden(3) zerstört wurde: Es kann irgendwo sein, lebendig in den Gärten des Geistes. In Indien gibt es einen sogenannten Eva-Apfelbaum, der gelbe Früchte mit einer Kerbe trägt, als habe jemand hineingebissen und dann nicht weitergegessen.34 Die Feldarbeit bleibt mühsam, und eine Geburt kann noch immer äußerst schmerzvoll sein.

III

Die Schöpfung der Welt, der Anfang des Alten Testaments, war für die Verfasser der Berichte ein altes Thema voller Ungewissheiten. Das Neue Testament dagegen beginnt mit der Geburt Jesu, dem Anfang eines neuen Zeitalters, das der Entstehungszeit der Evangelien(2) sehr viel näher liegt. Von den Einzelheiten der Geburt wird sehr genau berichtet. Wir hören Jahr für Jahr zu Weihnachten in der Kirche davon: Da geht es um Herodes(1), um Betlehem(1), um den »Befehl, alle Bewohner des Reiches in Steuerlisten einzutragen«. Die kleine Stadt Betlehem ist zu einer Pilgerstätte geworden, und in vielen Kirchen wird die Geschichte als das »Wort Gottes« verlesen.

Sie ist nicht in allen Evangelien zu finden. Markus beginnt mit der Taufe Jesu und erwähnt die Geburt überhaupt nicht. Johannes(1) ist ähnlich zurückhaltend. Matthäus(1) verbindet Christi Geburt mit den letzten Jahren des Königs Herodes und lokalisiert sie in Betlehem. Bei Lukas(1) wird während der Herrschaft des Königs Herodes der Elisabet die Geburt Johannes’ des Täufers verheißen. Die Geburt Jesu in Betlehem wird mit einem konkreten Ereignis in Zusammenhang gebracht: »In jenen Tagen erließ Kaiser Augustus(1) den Befehl, alle Bewohner des Reiches in Steuerlisten einzutragen. Dies geschah zum ersten Mal; damals war Quirinius(1) Statthalter von Syrien.«

König Herodes und Quirinius, Augustus und die Volkszählung(1) sind Personen und Ereignisse aus der nichtchristlichen Umgebung der biblischen Geschichten. Sie sind durch die Geschichtsschreibung des Römischen Reiches, seine Münzen und Inschriften belegt. Während die Schöpfungsgeschichten von Naturwissenschaftlern auf ihre Übereinstimmung mit den Fakten hin untersucht wurden, ist es Aufgabe der Historiker, die Geschichte der Geburt Christi auf ihre Übereinstimmung mit der historischen Wahrheit hin zu überprüfen. Dabei wird nicht infrage gestellt, dass Christi Geburt stattgefunden hat und Jesus eine historische Persönlichkeit ist. Zu untersuchen bleibt nur, ob die Verfasser der Evangelien wussten, wann und wo er geboren wurde. In dem umfangreichen Werk Die Geschichte des jüdischen Volkes im Zeitalter Jesu Christi, das von 1885 an erschien, lieferte der christliche Geistliche Emil Schürer eine maßgebliche Antwort auf diese Frage. Seine Ausführungen sind noch immer die Grundlage einer jeden Diskussion über die Wahrheit im Neuen Testament. Nach 1885 haben viele Wissenschaftler versucht, seine Erkenntnisse zu widerlegen, doch als Schürers gewaltiges Werk in England 1973 für eine neue, kritische Ausgabe überarbeitet wurde, gingen die beiden ausgezeichneten Bearbeiter in ihren Anmerkungen auf diese Versuche ein und ließen den wichtigsten Punkt in Schürers Darstellung, seine Untersuchung zur Geburt Christi, korrekterweise unverändert.

Die Schwierigkeiten beginnen an einem kleinen Punkt und breiten sich aus wie Trockenfäule, die alles von innen heraus vernichtet. Quirinius, den im Lukasevangelium erwähnten Statthalter von Syrien(1), kennen wir aus einer sorgfältig geschriebenen Geschichte Judäa(1)s, die von dem gebildeten Juden Josephus(1) zwischen 75 und 80 n. Chr. in Rom(1) auf Griechisch verfasst wurde.35 Josephus war nicht frei von Vorurteilen und setzte eigene Schwerpunkte, aber er ging bei seiner Arbeit von einem Gerüst sorgfältig ausgewählter Fakten aus, die für jeden nachprüfbar waren. Nach Josephus war Quirinius im Jahr 6 n. Chr. Statthalter in Syrien und übernahm auch die Herrschaft über Judäa, als die Provinz Rom direkt unterstellt wurde. Dieses Jahr war für die jüdische Geschichte ebenso wichtig wie für Nordirland das Jahr 1972, in dem Großbritannien die direkte Regierungsgewalt dort übernahm. Josephus, der jüdische Historiker, und seine Quellen für diese Zeit können nicht einfach beiseitegeschoben werden. Und so entsteht ein lästiges Problem: Im Lukasevangelium wird Christi Geburt mit Quirinius und dem König Herodes in Zusammenhang gebracht. Im Jahr 6 n. Chr. lebte Herodes jedoch schon lange nicht mehr. Er starb kurz nach der Mondfinsternis, die von den meisten Astronomen auf den 12. oder 13. März 4 v. Chr. datiert wird, während eine Minderheit von Forschern für das Jahr 5 v. Chr. plädiert.

Es besteht auch kein Zweifel daran, welchen Herodes der Evangelist meinte. Als Herodes der Große starb, wurde das Königreich unter seine Söhne aufgeteilt, von denen zwei zusätzlich den Namen Herodes annahmen. Herodes Antipas(1) herrschte bis 39 n. Chr. als Tetrarch über Galiläa(1), in Lukas 1,5 wird aber bei der Verheißung von Herodes als dem »König von Judäa« gesprochen. In Vers 3,1 bezieht sich Lukas auf Herodes Antipas und betitelt ihn korrekt als Tetrarchen und nicht als König. Herodes Archelaus(1) regierte bis zum Jahr 6 n. Chr. in Judäa, allerdings nur als Ethnarch. Lukas könnte ihn, wie auch Matthäus in Vers 2,22, fälschlicherweise als König bezeichnet haben, doch hätte er ihn dann wie Matthäus wahrscheinlich Archelaus oder Herodes Archelaus genannt. Der Herodes in Vers 1,5 muss also Herodes der Große sein. Auch im Matthäusevangelium fällt die Geburt Christi in die Regierungszeit Herodes’ des Großen, der die Kinder zu Betlehem umbringen lässt. Erst nach Herodes’ Tod kehrt Josef mit seiner Familie aus Ägypten(1) zurück.

Im Lukasevangelium treten also König Herodes und der Statthalter Quirinius als Zeitgenossen auf, obwohl ihre Regierungszeiten mindestens zehn Jahre auseinander lagen. Doch die inkohärent(3)e Datierung ist nur der Anfang des Problems. Die Geschichte der Geburt Jesu ist im Lukasevangelium mit dem Befehl des Kaisers Augustus(2) verbunden, »alle Bewohner des Reiches in Steuerlisten einzutragen«. Augustus war zwar zu dieser Zeit römischer Kaiser, die Juden jedoch waren Untertanen des Herodes, Bewohner eines von Rom abhängigen Königreiches, nicht einer Provinz unter direkter römischer Herrschaft. Die Vasallenkönige des Römischen Reiches behielten das Recht, von ihren Untertanen Steuern einzuziehen.36 Das Verhältnis zwischen Kaiser Augustus und König Herodes war nicht sehr gut, und Rom drohte sogar, direkt in Judäa einzugreifen, doch Herodes und seine Gesandten wussten diese Drohung abzuwenden. Trotz der Konflikte wurde Herodes nie der königliche Status entzogen, obwohl dies der einzige Weg gewesen wäre, sein Königreich nach dem römischen Modell zu besteuern. So liegen nicht nur zehn Jahre zwischen der Amtszeit Herodes’ des Großen und der des Statthalters Quirinius, sondern es fand in der Regierungszeit des Herodes bestimmt auch kein Zensus des Augustus zur Steuerfestlegung in Judäa statt.

Es ist nicht einmal sicher, ob Kaiser Augustus jemals einen diesbezüglichen Befehl an die römischen Provinzen erließ.37 Die Römer führten zwar durchaus in den einzelnen Provinzen, die direkt von ihren Statthaltern regiert wurden, Volkszählungen durch, soweit uns bekannt ist, wurden sie jedoch nicht durch einen alle Reichsteile umfassenden Befehl des Kaisers Augustus koordiniert.38 Da diese Zeit in Geschichtswerken, in lokalen Inschriften und durch auf Papyrus geschriebene Quittungen ägyptischer Steuerzahler gut belegt ist, wäre ein neuer, derart folgenreicher Erlass kaum undokumentiert geblieben. Wir wissen, dass Augustus im Jahr 6 n. Chr. eine neue Erbschaftssteuer einführte, um seine Armeen bezahlen zu können. Die Steuer betraf jedoch nur römische Bürger und nicht die Juden von Nazaret(1), sodass kein Anlass für eine Registrierung ihrer Namen bestand.39

Aus den Aufzeichnungen des Josephus ist uns bekannt, dass in Judäa zur Zeit des Quirinius so etwas wie eine Zählung stattgefunden hat. Dabei handelte es sich jedoch nicht um einen reichsweit zu befolgenden Erlass, sondern um einen lokalen Zensus im Jahr 6 n. Chr. Als Judäa nicht mehr von der Familie des Herodes regiert wurde, sondern als Provinz Rom direkt unterstellt war, mussten die Steuergrundlagen neu festgesetzt werden. Obwohl dieser Steuerzensus nur auf lokaler Ebene stattfand, rief er eine Welle der Empörung hervor, nicht zuletzt, weil die Neuerung nach Meinung einiger Juden der Heiligen Schrift und damit dem Willen Gottes widersprach. Nach der Darstellung im Lukasevangelium fand das Ereignis, das Josef(1) nach Betlehem(2) brachte, »zum ersten Mal« statt, und »damals war Quirinius Statthalter von Syrien«. Der Zensus des Quirinius war in der Tat der erste in Judäa, doch gehört er in das Jahr 6 n. Chr., als König Herodes, von dem Lukas ebenfalls spricht, schon lange tot war.

Seit dem 19. Jahrhundert gab es mehrere Versuche, den griechischen Text des dritten Evangeliums anders zu interpretieren, indem man den Wortlaut veränderte. Aus: »Dies geschah zum ersten Mal; damals war Quirinius Statthalter von Syrien« wurde »Die Schätzung wurde vor derjenigen abgehalten, die Quirinius als Statthalter von Syrien durchführte.« Doch konnte sich diese Übersetzung schon aus sprachlichen Gründen nicht behaupten: Sie lässt sich aus dem griechischen Text nicht ableiten, schon gar nicht aus dem klaren Griechisch des dritten Evangeliums.

Andererseits hat man versucht, Josephus’ Darstellung anzufechten. Es ist allerdings sicher richtig, für die erste Zählung in Judäa das Jahr 6 n. Chr. anzusetzen. Wir wissen von dem gut informierten Historiker Dio(1) (einem römischen Senator, der etwa zwischen 200 und 220 n. Chr. schrieb), dass der letzte jüdische Herrscher in Judäa, Herodes(2)’ Sohn Archelaus, in jenem Jahr verbannt wurde. Judäa wurde zur römischen Provinz erklärt, und damit war normalerweise auch eine Volkszählung verbunden. Ein detaillierter Bericht des Josephus über die Zählung im Jahr 6 n. Chr. findet sich in seinem umfangreichen Werk Jüdische Altertümer (Buch 18, Kap. 1). Das gelehrte Werk wurde im Jahr 93/94 n. Chr. veröffentlicht, und nichts spricht dafür, dass gerade dieser Bericht des Josephus aus irgendwelchen persönlichen oder politischen Gründen verzerrt dargestellt wurde.

Der Irrtum mag auf den ersten Blick unwichtig erscheinen. Im Lukasevangelium wurde eine lokale Volkszählung in Judäa mit einem reichsweiten Erlass des Augustus verwechselt. Der Zeitpunkt dieser Zählung wurde mit einem unbedeutenden Statthalter namens Quirinius in Verbindung gebracht, während sie nach anderen Quellen, beispielsweise dem Matthäusevangelium, unter Herodes(2) dem Großen stattgefunden haben soll. Doch die Probleme reichen weiter, als man auf den ersten Blick vermutet. Die Geschichte des Lukas enthält einen Widerspruch: Für die Zeit der Provinzverwaltung durch Quirinius ist die römische Volkszählung glaubwürdig und belegbar, doch die Nennung des Herodes muss dann ein Fehler sein. Und auch zur Geschichte des Matthäus ergeben sich Widersprüche: Ist Lukas’ Darstellung in Bezug auf Quirinius und die Volkszählung korrekt, dann war Herodes zu dieser Zeit nicht mehr König in Judäa. Also können die Geschichten des Matthäus über die Sterndeuter(1), den Kindermord und die Flucht nach Ägypten(2) aus chronologischen Gründen nicht wahr sein. Unter Herodes als König konnte andererseits keine Zählung auf Befehl des Kaisers Augustus durchgeführt werden.

Im Lukasevangelium finden sich noch weitere Probleme: Mit dem Befehl des Kaisers war eine Registrierung verbunden (griechisch apographé). Genau dieses Wort wird auch in zeitgenössischen Dokumenten aus Ägypten verwendet und bezeichnet dort einen Zensus zur Steuererhebung. Es gab eigentlich auch keinen anderen Grund, die jüdischen Untertanen des Reiches in Listen eintragen zu lassen. Augustus plante mit Sicherheit keine Einberufung: Die Juden waren vom Militärdienst in der römischen Armee befreit. Also ist anzunehmen, dass die Zählung zur Festsetzung der Steuern durchgeführt wurde, doch stimmen die römischen Steuerpraktiken nicht mit den Angaben des Evangeliums überein. Dort steht zunächst ganz richtig: »Da ging jeder in seine Stadt, um sich eintragen zu lassen« (Lk 2,3). Josef wird »seiner Stadt« im Evangelium aufgrund seiner Herkunft zugeordnet und nicht danach, wo er gerade lebt oder wo er Eigentum besitzt. Laut Lukas stammte Josef vom Geschlecht David(1)s ab. Er ging also nach Betlehem(3), »in die Stadt Davids«, einen angemessenen Geburtsort für einen künftigen Messias(1). Bei römischen Volkszählungen spielte eine so entfernte Abstammung jedoch keine Rolle. Der Zensus richtete sich nach den Besitzverhältnissen der Lebenden, nicht nach denen irgendwelcher Vorfahren. Wie schon anlässlich der Verheißung von Jesu Geburt in Lukas 1,26 zu lesen ist, lebten Josef und Maria(2) in Nazaret in Galiläa(2), in der Stadt, die später den Propheten Jesus ablehnte. Einer römischen Volkszählung wegen hätte Josef nicht nach Betlehem gehen müssen, wo er und Maria kein Eigentum besaßen und deshalb als Gäste in einer Herberge wohnen mussten.

Eine solche Zählung hatte einleuchtende Gründe: Sie bildete die Grundlage für die Erhebung einer Kopfsteuer und einer Steuer auf Vermögen verschiedener Art. Für Maria gab es aus juristischer Sicht allerdings keinen Grund, sich zusammen mit ihrem Verlobten registrieren zu lassen. Wir wissen aus Zeugnissen der römischen Steuerzählungen in Ägypten, die auf Papyrus erhalten sind, dass ein Haushaltsvorstand die Eintragung für alle Angehörigen seines Haushalts vornehmen lassen konnte. Vielleicht wollte Maria Josef dennoch begleiten, doch war die Reise für die hochschwangere Frau nicht unbedingt notwendig.

Dazu kommt, dass ein Galiläer, ein Mann aus Nazaret, die Reise gar nicht hätte machen müssen. Im Jahr 6 n. Chr. hatte Galiläa im Gegensatz zu Judäa noch einen eigenen Herrscher und wäre demnach nicht von einer römischen Volkszählung oder Steuererhebung betroffen gewesen. Die Existenz dieses Herrschers ist durch von ihm geprägte Münzen, durch Josephus und durch andere Historiker belegt: Josef aus Nazaret brauchte als Galiläer gar nicht an der Volkszählung teilzunehmen.

Jetzt wird das Ausmaß der Irrtümer in dem Evangelium deutlich. Die erste Zählung fand unter Quirinius(2) im Jahr 6 n. Chr. statt, als Herodes der Große schon lange tot war. Es handelte sich um eine lokale Zählung in der römischen Provinz Judäa, und es gab keinen reichsweiten Befehl des Kaisers Augustus(3) dazu. Sodann hätte sich Josef aus Nazaret im fraglichen Jahr sicher nicht in Betlehem registrieren lassen: Als Galiläer unterstand er nicht direkt der römischen Herrschaft. Seine Frau schließlich hatte aus rechtlicher Sicht keinen Grund, ihr Heim zu verlassen. Lukas’ Geschichte ist historisch unmöglich und inkohärent. Sie steht im Widerspruch zu Lukas’ eigenen Angaben über den Zeitpunkt der Verheißung (in Herodes’ Regierungszeit) sowie zu Matthäus’ langer Erzählung über die Geburt Christi, die ebenfalls König Herodes den Großen als Herrscher nennt. Sie ist daher falsch.

Die Irrtümer und Widersprüche in der Geschichte des Lukas sind leicht zu erklären. In der frühchristlichen Überlieferung gab es keine präzisen Erinnerungen an Christi Geburt, und vielleicht wusste man nie, wann und wo genau Jesus geboren wurde. Man interessierte sich vor allem für seinen Tod und dessen Folgen. Jesus war als der Messias mit dem Geschlecht des Königs David verbunden, und diese Verbindung war schon vor der Niederschrift der Evangelien(3) bekannt, wie der Brief des Apostels Paulus(2) an die Römer(2) beweist (Röm 1,3). Im Alten Testament nahm Betlehem als Heimatstadt des jungen David, des künftigen Königs, eine besondere Stellung ein. Die Stadt spielte auch in einer Verheißung des Micha(1) im späten 8. Jahrhundert v. Chr. eine Rolle: »Aber du, Betlehem-Efrata, so klein unter den Gauen Judas, aus dir wird mir einer hervorgehen, der über Israel herrschen soll« (Mi 5,1). Erst nachdem sich der Glaube an die Auferstehung(1)