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Vincent Kliesch

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Beschreibung

Sie ist jung. Sie glaubt an die Wahrheit. Ein tödlicher Fehler? Rasant und ungewöhnlich: Thriller-Spannung aus der Zusammenarbeit zweier Bestseller-Autoren! Vincent Kliesch schrieb diesen Roman nach einer Idee von Sebastian Fitzek. Die kleinste Abweichung im Klang einer Stimme genügt dem berühmten forensischen Phonetiker Matthias Hegel, um Wahrheit von Lüge zu unterscheiden. Zahlreiche Kriminelle konnten mit seiner Hilfe bereits überführt werden. Hat der Berliner Forensiker nun selbst gelogen? Allzu freimütig scheint sein Geständnis, eine Obdachlose in einem heftigen Streit ermordet zu haben. Die True-Crime-Podcasterin Jula Ansorge, darauf spezialisiert, unschuldig Verurteilte zu rehabilitieren, will unbedingt die Wahrheit herausfinden. Doch als sie zu tief in Hegels Fall gräbt, bringt sie nicht nur sich selbst in größte Gefahr … Der Start einer neuen Thriller-Reihe von Vincent Kliesch und Sebastian Fitzek - rund um die junge True-Crime-Podcasterin Jula Ansorge und das faszinierende Thema forensische Phonetik.

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Seitenzahl: 394

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Vincent Kliesch

AURIS

ThrillerNach einer Idee von Sebastian Fitzek

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Über dieses Buch

Die kleinste Abweichung im Klang einer Stimme genügt dem berühmten forensischen Phonetiker Matthias Hegel, um Wahrheit von Lüge zu unterscheiden. Zahlreiche Kriminelle konnten mit seiner Hilfe bereits überführt werden. Hat er nun selbst gelogen? Allzu freimütig scheint sein Geständnis, eine Obdachlose in einem heftigen Streit ermordet zu haben. Die True-Crime-Podcasterin Jula Ansorge, darauf spezialisiert, unschuldig Verurteilte zu rehabilitieren, will unbedingt die Wahrheit herausfinden. Doch als sie zu tief in Hegels Fall gräbt, bringt sie nicht nur sich selbst in größte Gefahr …

Inhaltsübersicht

Der Tag, an dem er zweimal starb, hatte gerade erst begonnen …1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. Kapitel41. Kapitel42. Kapitel43. Kapitel44. Kapitel45. Kapitel46. Kapitel47. Kapitel48. Kapitel49. Kapitel50. Kapitel51. Kapitel52. Kapitel53. Kapitel54. Kapitel55. Kapitel56. Kapitel57. Kapitel58. Kapitel59. Kapitel60. Kapitel61. Kapitel62. Kapitel63. Kapitel64. Kapitel65. Kapitel66. Kapitel67. Kapitel68. Kapitel69. Kapitel70. Kapitel71. Kapitel72. Kapitel73. Kapitel74. Kapitel75. Kapitel76. Kapitel77. Kapitel78. Kapitel79. KapitelDanksagungLeseprobe »Todesrauschen«
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Der Tag, an dem er zweimal starb, hatte gerade erst begonnen …

Nun, dieser Satz hat zwar überhaupt nichts mit dem zu tun, was jetzt gleich folgt, aber ich wollte nicht, dass Sie dieses Buch sofort entnervt wieder in die Ecke schmeißen, nur weil es mit so etwas Langweiligem wie »Vorwort« oder »Wie dieser Thriller entstand« beginnt. Dann hätten wir ja gleich »Schlaftablette« und nicht »AURIS« aufs Cover schreiben können. Was übrigens das lateinische Wort für »Ohr« ist. (Auch kein fesselnder Thriller-Einstieg, ich weiß, ich weiß.)

Aber es ist mir ein dringendes Bedürfnis, darauf hinzuweisen, wie es dazu kam, dass Sie AURIS jetzt in der Hand halten. Und wieso da zwei Autorennamen vorne draufstehen. Der eine, Vincent Kliesch, zu Recht an erster Stelle.

Alles begann mit einer Funkstörung. Ich versuchte während einer Autofahrt auf der A24 zu telefonieren (keine Sorge, natürlich über Freisprecheinrichtung). Und ich weiß nicht, weshalb wir es zwar schaffen, millimetergenau an die ISS anzudocken, Funkmasten aber nicht so aufstellen können, dass keine Sendelöcher von mehreren Quadratkilometern Größe zwischen ihnen entstehen. Wie so oft hörte ich nämlich meinen Gesprächspartner entweder gar nicht oder wie durch ein verzerrtes Megafon.

Und ich dachte mir: »Autobahngespräche sind nur etwas für Stimmen-Profiler. Menschen, die aus dem Husten eines Verdächtigen sein Geschlecht, Alter, seine Herkunft und Bildung und die Schuhgröße heraushören können.«

Sofort fragte ich mich, ob es solche Profis wirklich gibt. Und tatsächlich – die forensische Phonetik ist eine anerkannte kriminalistische Disziplin, die allerdings nicht von sehr vielen Experten beherrscht wird. Diese Erkenntnis brachte mich auf eine Idee. Nicht zu einem Buch, wie ich gestehen muss, sondern zu einem Hörspiel. (Wenn Ihnen das zu un-hip ist, können Sie auch Audioplay dazu sagen.) Denn wie könnte man einen akustischen Profiler besser erlebbar machen als mithilfe des akustischen Kopfkinos, das ein Hörspiel erzeugt? Stimmen, Geräusche, Dialekte, Betonungen, Atmosphäre.

Da ich wusste, dass ich kein Hörspielautor bin, rief ich jemanden an, der sich damit auskennt: Michael Treutler, ein hohes Tier beim Hörbuchverlag Audible. Es war gegen 5.00 Uhr morgens, ich war wie immer beim Joggen (bisher finden sich zwei Lügen in diesem Satz), aber er war sofort begeistert. (Keine Lüge, glaube ich. Oder er hat sehr gut geschauspielert, als er sagte: »Das klingt super!«)

Michael habe ich übrigens sehr viel zu verdanken. Er war der Erste, der meinem Debüt »Die Therapie« eine Chance auf dem Hörbuchmarkt gab, als noch keiner daran glaubte. Und er hat Simon Jäger als Sprecher ausgewählt; also hey, wer, wenn nicht er, hat eine Anstecknadel als CEO-CFFO des Monats verdient? (Oder was immer du da bist.)

Ich arbeitete ein etwa 40000-seitiges Papier aus, wie ich mir die Geschichte von AURIS vorstellte (können auch nur 40 Seiten gewesen sein, bin mir da jetzt nicht mehr so sicher), und Treutler machte sich daran, ein Hörspielteam zusammenzustellen. An dieser Stelle muss Steffen Wilhelm ganz besonders erwähnt werden, dessen dramaturgisch genialer Geist den spannenden Kern dieser Geschichte erst so richtig freigelegt hat.

Parallel zur Hörspielentwicklung konnte ich Quatschtante natürlich mal wieder meinen Mund nicht halten und habe allen, die davon nichts hören wollten, von der Story um Hegel und Jula (ja, ohne i, kein Druckfehler) erzählt. Einer, der nicht schnell genug weggelaufen ist, war mein Freund und Autorenkollege Vincent Kliesch. Als Thriller-Fan kennen Sie ihn, er hat den Bestseller »Die Reinheit des Todes« geschrieben. Auch er war sofort begeistert und sagte mir, er wolle unbedingt einen Roman aus dieser Idee machen.

Tja, und so kam es, dass einem Funkloch auf der A24 gleich zwei Originale zu verdanken sind: ein Original-Roman und ein Original-Hörspiel. Beide basieren auf meinen Ideen. An beiden habe ich mitgewirkt, gefeilt, geplottet. Geschrieben aber hat diesen Thriller hier Vincent. Roman und Hörspiel unterscheiden sich zwangsläufig, tragen sie doch unterschiedliche Handschriften. Das macht sie zu eigenständigen, unabhängig voneinander funktionierenden Werken, wie ich finde. Und wenn Sie eins davon nicht mögen, dann geben Sie mir nicht die Schuld dafür. Dafür müssen schön die Hörbuchfritzen und Vincent ihren Kopf hinhalten. Wenn Sie aber eine positive Kritik schreiben wollen, dann natürlich gerne unter [email protected].

Scherz beiseite (Habe ich wirklich so etwas Antiquiertes wie »Scherz beiseite« geschrieben? Na ja, wird der Lektor schon rausstreichen) – ich finde, Vincent hat einen großartigen Job gemacht, und ich hoffe, Sie haben am Ergebnis wenigstens halb so viel Freude wie ich an der Zusammenarbeit mit ihm. Es ist dein Buch, Vince. Ohne dich wären meine Ideen bis in alle Ewigkeit nur als Loseblattsammlung durch meine unaufgeräumten Gedankengänge geflattert.

Wow. Das war doch mal ein Satz. Hoffentlich werden die nachfolgenden spannender.

Aber ja, die schreibt ja Vincent van Kliesch. (Sorry, der musste sein. Wegen des Ohrs. Du verstehst?)

 

Viel Spaß und gute Unterhaltung mit AURIS wünscht Ihnen

Ihr

Sebastian Fitzek

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1

Das Sonnenlicht fiel aus einem kinderbuchblauen Himmel auf die Ziegeldächer der Spandauer Neubausiedlung und ließ die Tragödie, die sich im Inneren des Einfamilienhauses abspielte, noch schrecklicher erscheinen.

Bei Regen, mitten in der Nacht und in Eiseskälte wäre es leichter zu ertragen, dachte Matthias Hegel beklommen, während er das Einsatzfahrzeug bestieg.

Man erwartete das Böse nicht am ersten warmen Tag des Jahres in Berlin, der an diesem Morgen wie ein wolkenloses Versprechen auf einen langen, glücklichen Sommer angebrochen war. Die kastaniengesäumte Einbahnstraße war für sorglos abgestellte Kinderfahrräder geschaffen, für verschiedenfarbige Tonnen der mülltrennenden Nachbarn, für Flugblätter an der Baumrinde, die den nächsten Gemeindeflohmarkt ankündigten. Nicht für einen Tross von Polizisten, Rettungssanitätern und Fotografen, die in Wartestellung hinter einem Absperrband der weiteren Ereignisse harrten. All das wirkte auf Hegel ebenso fehl am Platz wie das Foto eines lachenden kleinen Mädchens unter der Schlagzeile Sie wurde nur sieben Jahre alt.

Als Professor Hegel den Einsatzwagen betrat, hob die verhandlungsführende Psychologin ihren Blick von dem Laptop, auf dem sie alle relevanten Informationen aus ihrem kurz zuvor geführten Gespräch mit dem Geiselnehmer festgehalten hatte. Hegel erkannte, dass er irgendwann schon einmal mit ihr gearbeitet hatte, viel Eindruck konnte sie dabei jedoch nicht auf ihn gemacht haben. Immerhin konnte er sich nicht einmal mehr an ihren Namen erinnern. Verlegen griff er sich an die Stirn, wobei er feststellte, dass sein zweiwöchentlicher Fünfzig-Euro-Haarschnitt wieder einmal fällig war.

»Also gut, was haben wir?«

Die Polizeipsychologin setzte ihr Headset ab und lächelte müde. Der Einsatz dauerte zwar erst zwei Stunden, doch wenn Kinder im Spiel waren, empfanden selbst hartgesottene Profis jede Minute wie eine Ewigkeit.

»Der Verdächtige ist männlich, Identität noch unbekannt. Er hat sich Zugang zum Haus verschafft und im hinteren Bereich des Wohnzimmers zwei Kinder als Geiseln in seine Gewalt gebracht. Lana ist acht, Jonas sechs Jahre alt.«

Der Spezialistin perlte Schweiß von der Stirn, obwohl die Klimaanlage den Einsatzwagen auf optimale Arbeitstemperatur gekühlt hatte.

»Die Kinder sind mit dem Geiselnehmer allein?«

»Ja!«

Hegel deutete auf einen der drei Überwachungsmonitore, die in dem fensterlosen Kastenwagen montiert waren. Dieser zeigte die rechte Zufahrt zu dem schmucklosen Fertigbau, den seine Eigentümer vermutlich noch zwanzig Jahre lang würden abbezahlen müssen. Als Hegel an der Limousine der Kriminalpolizei vorbeigekommen war, hatte er darin einen Mann auf der Rückbank gesehen, der mit starrem Blick eine weinende Frau im Arm gehalten hatte.

»Sind das die Eltern?«

»Ja, die Mutter war nur ganz kurz einkaufen. Brötchen und Saft fürs Frühstück. Sie hat die Kinder nicht mitgenommen, weil der Laden gleich um die Ecke liegt. Der Vater ist sofort nach unserem Anruf von der Arbeit gekommen. Die beiden können sich nicht erklären, wie der Mann ins Haus eingedrungen ist.«

»Stellt der Geiselnehmer Forderungen?«

Die Psychologin zuckte mit den Achseln.

»Bisher nicht, aber er ist bewaffnet.« Sie vergrößerte den Bildausschnitt auf dem mittleren Monitor. Der Vorgarten verschwand dabei aus dem Blickfeld, stattdessen rückten die gläsernen Schiebetüren näher ins Bild, die das Wohnzimmer von einer kleinen Terrasse trennten.

»Wie Sie sehen, sind die Lamellenvorhänge zugezogen. Aber vor vierundzwanzig Minuten hat der Mann sich kurz mit einem Messer in der Hand gezeigt, als er nach draußen geguckt hat.«

»Interessant.« Hegel schloss für einen Moment die Augen. »Können Sie eine Telefonverbindung zu ihm herstellen?«

»Leider nicht, aber wir haben eine Aufzeichnung.«

»Das ist gut. Sehr gut!«

Matthias Hegel war forensischer Phonetiker. Einer von gerade mal einer Handvoll Experten in ganz Deutschland, die sich auf akustische Beweisführung spezialisiert hatten. Die meisten seiner Kollegen bei der Kriminalpolizei versuchten, anhand von Fingerabdrücken, Speichelproben, Zeugenaussagen und am Tatort zurückgelassenen Stoff- oder Haarresten das Puzzle einer Tat zusammenzusetzen. Hegel hingegen hatte sich auf die akustische Spurensicherung spezialisiert. Auf die phonetische DNA, die jeden Täter unverwechselbar machte: Dialekte, Klangfarben, Stimmfrequenzen, Sprachfehler. Hegels nahezu fledermausartiges absolutes Gehör hatte ihm unter seinen Kollegen den Spitznamen Auris eingebracht, was von dem lateinischen Wort für Ohr abgeleitet war. Wobei es keiner von ihnen wagte, ihn in seiner Gegenwart so zu nennen. Immerhin, die Spaßvögel in der Personalabteilung des BKA hatten ihm tatsächlich einen Toyota Auris als Dienstwagen gestellt!

Doch das war Hegel egal. Denn er wusste, wenn dieser Einsatz hier erledigt war, würde er ihn ohnehin nie wieder fahren dürfen.

»Spielen Sie mir die Aufzeichnung bitte vor.«

Die Psychologin griff eilig nach der Maus, und nach einigem Scrollen und Klicken erklang schließlich eine Aufzeichnung.

»Hallo, hallo?«

Ein Junge, vermutlich Jonas, flüsterte in das Telefon. Er hatte den Notruf gewählt, nachdem er offenbar unbemerkt an den Hausapparat gekommen war. Falls er nicht sogar schon ein eigenes Handy besaß.

Zu Hegels Erleichterung hatte die Psychologin den Teilnehmer der Notrufzentrale bereits aus der Aufzeichnung herausgeschnitten.

»Sie müssen kommen. Bitte. Er, er … ich weiß nicht. Er ist böse.«

Schluchzen, schleimgefüllte Nasenlöcher, die die Mitten wegdrücken, eine Frequenzverengung aufgrund der Panik. Die pure Angst. Nichts Ungewöhnliches für einen Sechsjährigen in so einer Situation.

Doch das eigentlich Interessante, das, weswegen die Kollegen Hegel überhaupt erst zu diesem Einsatz gerufen hatten, erklang erst fünf Sekunden später. Wenn auch leider nur entfernt aus dem Hintergrund.

»Wooooo?«

Es war nur ein einziges Wort, mehr gegrölt als gelallt. Der erwachsene Mann klang betrunken und verängstigt. Mehr konnte Hegel zu diesem Zeitpunkt noch nicht sagen, doch schon bald darauf vernahm er weitere, höchst interessante phonetische Informationen. Der Geiselnehmer trat näher und schien dem Jungen das Telefon aus der Hand zu winden. Es kratzte und zerrte in der Leitung, dann sagte er:

»Wo hasscht du disch verschteckt?« Das Weinen des Jungen klang jetzt nur noch im Hintergrund. Der Unbekannte hingegen nuschelte weiterhin mit stark belegter Stimme: »Wie schafft ihr dasch … ihr Monschter?«

Dann knackste es in der Leitung, und das Gespräch riss ab. Hegel sah die Psychologin an.

»Das ist alles?«

»Ja, das ist alles!«, erklang eine feste Männerstimme.

Hegel wandte sich um. Hans Struck, der Leiter des Einsatzes, hatte sich in voller Montur in den Wagen gezwängt. Er war es auch gewesen, der Hegel zum Tatort bestellt hatte. Hegel hatte es zwar gehört, dass Struck die Tür hinter ihm geöffnet hatte, diese unbrauchbare akustische Information aber sogleich ausgeblendet, um sich nur auf die Stimme des Täters konzentrieren zu können. Er würdigte den Einsatzleiter keines Wortes. Stattdessen wandte er sich an die Psychologin:

»Können Sie die Aufnahme bitte noch einmal abspielen?«

Jetzt setzte Hegel sich Kopfhörer auf und schloss die Augen.

»Und, was denken Sie?« Die Kollegin sah ihn mit großen Augen an, nachdem er sich das Audiofile ein zweites Mal angehört hatte.

»Wir sollten stürmen!« Struck hatte Hegel keine Gelegenheit gelassen, die Frage zu beantworten. Er legte seine rechte Hand auf den Gürtel mit den Blendgranaten daran.

Ohne die Aufschrift POLIZEI auf dem Rücken würden er und seine Leute in ihrer pechschwarzen Einsatzkleidung auch als Bankräuber durchgehen, dachte Hegel.

»Das kann ich mir vorstellen«, murmelte er eher zu sich selbst, während er die Kopfhörer wieder abnahm. »Wie heißt es so schön? Wenn man als einziges Werkzeug einen Hammer besitzt, wird jedes Problem zu einem Nagel.«

»Bitte?« Struck stemmte die Hände in die Hüfte, während er Hegel mit festem Blick ansah.

Seine Leute waren auf Einsätze wie diesen jahrelang trainiert worden, und sie gierten geradezu danach, ihre hart erarbeiteten Fähigkeiten und ihre körperliche Überlegenheit endlich einmal im Einsatz demonstrieren zu können. Im Grunde war daran auch nichts auszusetzen, schließlich ging es hier darum, zwei Kinder aus der Gewalt eines bewaffneten Geiselnehmers zu befreien. Doch Hegel hatte bereits einen besseren Plan gefasst.

»Erwarten die Eltern einen Handwerker?«

Die Psychologin sah Hegel verwundert an und presste dabei die Lippen aufeinander. Sie griff zu ihrem Handy, tätigte einen kurzen Anruf und schüttelte dann den Kopf.

»Nein. Kein Handwerker, kein Besuch. Warum fragen Sie?«

»Es ist die Lunge des Täters.« Hegel erntete ratlose Blicke. »Sie ist angegriffen. Haben Sie das Rasseln nicht gehört?«

»Wen interessiert seine verdammte Lunge?« Struck atmete schneller. Er war nicht daran gewöhnt, ignoriert zu werden. »Dieser Nuschelheini ist komplett irre. Quatscht von Monstern. Der ist nicht berechenbar! Jede Sekunde, die wir abwarten, könnte er den Kindern etwas antun.«

»Schon möglich.« Hegel griff zu seinem Handy und startete eine Google-Anfrage. Dazu gab er die Adresse und das aktuelle Datum in das Suchfeld ein. »Unser Täter ist etwa einen Meter siebzig groß, maximal eins fünfundsiebzig«, sagte er, ohne von seinem Smartphone aufzublicken. »Seine Stimme hört sich an wie die eines großen Kerls, aber er ist stark depressiv. Das dehnt die Stimmbänder, und die Bassfrequenzen lassen sich deutlicher wahrnehmen. Ich schätze ihn auf maximal vierzig Jahre, vom Brustumfang eher übergewichtig. Ein großer, gepolsterter Resonanzkörper. Und er hat sein Leben lang mit den Händen gearbeitet.«

»Woher wollen Sie das denn wissen?« Struck sah auf die Uhr, während er dabei von einem Fuß auf den anderen trat.

»Also, die äußere Beschreibung stimmt schon mal!« Die Psychologin hatte auf dem Rechner das Foto geöffnet, das zu dem Zeitpunkt aufgenommen worden war, als der Geiselnehmer sich mit dem Küchenmesser in der Hand für einige Sekunden am Fenster gezeigt hatte. Das Bild war unscharf, und das Gesicht des Mannes war nicht zu erkennen. Dennoch war deutlich zu sehen, dass er tatsächlich eher klein, gedrungen, stark übergewichtig und etwa Ende dreißig war.

»Das Rasseln lässt auf eine chronische Bronchitis schließen, aber es ist kein Raucherhusten. Der wäre trockener. Unser Mann hat oft in feuchten Räumen gearbeitet, auf Baustellen oder in Kellern. Daher meine Frage, ob er Handwerker ist. Aber das hat sich erledigt.« Hegel steckte sein Handy mit einem leisen Lächeln wieder ein.

»Warum?«

»Weil ich jetzt weiß, mit wem wir es zu tun haben. Schicken Sie der GASAG ein Foto des Mannes und fragen Sie, ob sie uns einen Kontakt zu dem Hausarzt ihres Mitarbeiters herstellen können.«

»Die GASAG?« Strucks Stimme überschlug sich fast. »Was soll ausgerechnet der Berliner Gasversorger mit diesem Einsatz zu tun haben?«

Hegel wandte sich zum Einsatzleiter um.

»Ich verwette mein Wochenendhaus, dass der Kerl heute in dieser Gegend den Zählerstand ablesen sollte. Das würde auch erklären, wie er reingekommen ist. Die Kinder haben ihm vermutlich einfach die Tür geöffnet, er kommt ja jährlich vorbei. Vielleicht kennen die beiden ihn sogar.«

Struck griff zu seinem Funkgerät und gab die Information mit steinernem Gesicht weiter.

»Also gut, Auri…, äh, Hegel. Nehmen wir mal an, Sie liegen richtig. Dann haben wir trotzdem keine Zeit, so lange zu warten, bis uns der Psychiater dieses Irren erklärt, dass sein Patient heute früh nur vergessen hat, seine Schizo-Pillen zu nehmen.«

»Er ist nicht schizophren. Und Sie müssen auch nicht stürmen.«

Struck lachte grimmig auf.

»Sondern?«

»Verschieben Sie Ihre Einsatzkräfte.«

»Verschieben? Haben Sie den Verstand verloren? Wir sollen abziehen, oder was?«

»Nein, nicht abziehen. Es reicht, wenn Sie alle Männer und Einsatzfahrzeuge zwanzig Meter nach rechts verlegen.«

Struck blieb das Lachen im Halse stecken.

»Zwanzig Meter nach rechts? Sind Sie betrunken?«

»Machen Sie einfach, worum ich Sie bitte. Sie stehen auf der falschen Seite.«

Struck hätte ihn vermutlich ebenso fassungslos angestarrt, wenn Hegel ihm vorgeschlagen hätte, das Haus im Tütü zu stürmen.

»Haben Sie mal rausgeschaut, Hegel? Die Ecke hier ist offen einsichtig. Wegen der weitläufigen Rasenfläche im Vorgarten hat der Kerl aus dem Wohnzimmer raus Sichtachsen bis zum Fernsehturm. Wir können uns nicht verstecken. Und überhaupt, warum sollten wir das machen?«

»Sie haben selbst gesagt, dass wir keine Zeit zu verlieren haben.« Hegel blieb ruhig, und seine Stimme klang aufmunternd. »Also, vertrauen Sie mir bitte und verlegen Sie alle Ihre taktischen Einheiten – inklusive dieses Wagens hier – von uns aus gesehen so weit wie möglich nach rechts. Ich erkläre Ihnen den Grund danach.«

»Wonach?«

Hegel schloss seine Jacke und trat an die Tür des Einsatzwagens.

»Nachdem ich die Kinder da rausgeholt habe.«

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2

Es zählte zu Hegels Privilegien, dass seine Vorgesetzten ihn für solche Einsätze mit besonderen Befugnissen ausgestattet hatten. Seine bahnbrechenden Erfolge, gerade bei Suizid- und Geiselinterventionen, hatten die anfängliche Skepsis seiner Kollegen gegenüber dem Stimmendeuter vielleicht nicht gerade in Bewunderung, aber doch wenigstens in professionelle Anerkennung umschlagen lassen. Selbst bei Struck, auch wenn er sich gerade in einem mentalen und hormonellen Ausnahmezustand befand, der es ihm im Ernstfall ermöglichte, sofort und unter Eingehung sämtlicher Lebensrisiken das Haus zu stürmen. Doch Struck war kein verblendeter Cowboy. Obwohl ihm die Methoden, mit denen Hegel seine Fälle zu lösen pflegte, mehr als suspekt waren, stellte er sich ihm am Ende dennoch nicht in den Weg.

Nach Rücksprache mit der Einsatzkoordination in der Schaltzentrale wurde Hegels Bitte schließlich entsprochen, und nachdem sämtliche Fahrzeuge um wenige Meter zur Seite verlegt worden waren, näherte sich der Forensiker dem Einfamilienhaus von der Straßenseite her. Der Eingang lag etwas abseits auf der rechten Seite.

Zum Glück!

Zur Verwunderung der Einsatzkräfte, die ihn aus hinreichender Entfernung beobachteten, gab sich Hegel keine Mühe, unentdeckt zu bleiben. Weder beschleunigte er seinen Schritt, noch duckte er sich oder zwängte sich gar durch die Büsche des Nachbarzaunes. Im Gegenteil, er schritt hoch erhobenen Hauptes auf die halb gläserne Haustür zu.

Familie Herzog, stand auf einem tönernen Schild neben der Klingel. Der Mädchenhandschrift nach hatte es die kleine Jana offenbar irgendwann einmal in der Kita gebastelt. Wie Hegel es erwartet hatte, war die Tür zugezogen. Doch dies war kein Problem, hatte er sich doch von den Eltern der Geiseln den Haustürschlüssel geben lassen.

Bedacht darauf, keine Geräusche zu verursachen, steckte er den Sicherheitsschlüssel ins Schloss. Es bedurfte nur einer Vierteldrehung, dann sprang die Tür auf. Auch damit hatte Hegel gerechnet.

Der Kerl steht unter einer enormen mentalen Anspannung. Er ist verwirrt. Verängstigt. Denkt nicht rational und hat daher auch die Tür nicht vollständig verriegelt.

Hegel betrat die Diele, in der es nach Leder und Fußspray roch. Er passierte einen halb offenen Schuhschrank, trat in den Flur und warf einen kurzen Blick auf die nach oben führende Treppe. IKEA-Kunstdrucke hingen an den Wänden, Spielzeug lag auf den Stufen, ein überquellender Wäschekorb stand auf der Kommode im Obergeschoss.

Das normale Chaos einer vierköpfigen Familie, die nicht auf Besuch eingestellt ist.

Hegel vergewisserte sich, dass in der offenen Küche niemand zu sehen war, dann tastete er sich nach links zum Wohnzimmereingang vor. Der Boden war durchgängig mit gräulichen Fliesen ausgelegt, die für Hegels Geschmack zwar etwas zu dunkel waren, sich aber als ein Gottesgeschenk entpuppten, da seine Sneakersohlen darauf so gut wie keinen Laut erzeugten. Er hielt den Atem an und lugte in das Wohnzimmer, das gleichzeitig als Esszimmer genutzt wurde. Trotz seines eingeschränkten Sichtfeldes hatte er mit einem Blick die Situation erfasst: Die Kinder saßen eng umschlungen und zitternd auf einem Kunstledersofa, die Köpfe fest aneinandergepresst. Sie hatten offenbar lange geweint und waren völlig erschöpft. Seitlich von ihnen stand der Geiselnehmer, das Messer in der herabhängenden Hand, den Blick starr auf die zugezogene Fensterfront gerichtet. Er trug einen Blaumann mit der Aufschrift GASAG, und die Haare standen ihm wie elektrisiert vom Kopf weg. Hegel konnte das Wohnzimmer betreten, ohne dass einer der Anwesenden ihn bemerkte. Erst, als er nur noch zwei Schritte von dem Gasableser entfernt war, hob das Mädchen den Blick. Die Lippen des Kindes formten ein erstauntes O, doch glücklicherweise reagierte die Kleine auf Hegels Zeichen, keinen Mucks von sich zu geben.

Mit dem Finger auf den Lippen ging er noch einen Schritt weiter, wobei er sich dem Täter von schräg rechts näherte. Als er schließlich in Reichweite war, streckte er so bedächtig, wie es ihm möglich war, seinen Arm aus und tippte dem Geiselnehmer auf die linke Schulter. Wie beabsichtigt schnellte dieser ebenfalls nach links und drehte sich entgegen dem Uhrzeigersinn zu Hegel herum. Wie ein Schüler, der seinem Klassenkameraden einen Streich spielen will, bewegte sich auch Hegel, indem er einen Schritt nach rechts auswich.

»Wasschhh …?«

Hegel spürte Gänsehaut am ganzen Körper, als er zum ersten Mal in das Gesicht des Geiselnehmers blickte. Obwohl er mit keinem anderen Anblick gerechnet hatte, war es dennoch selbst für den erfahrenen Forensiker eindrucksvoll, in diese zweigeteilte Fratze zu blicken. Der Geiselnehmer sah aus, als hätte ihm Dr. Frankenstein persönlich die halbe Gesichtshälfte betäubt. Nur eines seiner Augen bewegte sich, das andere hing schlaff in seiner Höhle. Und während einer der Mundwinkel angespannt war, tropfte aus dem anderen unkontrolliert Speichel auf den Boden.

»Wo scheid ihr?!«, brüllte der Mann.

Hegel trat noch einen Schritt weiter nach rechts. Er gab den Kindern ein energisches Handzeichen, dass sie vom Sofa aufstehen sollten. Gerade, als die beiden mit angstgeweiteten Augen der Anweisung Folge leisten wollten, wandte der GASAG-Mann sich in ihre Richtung um. Geistesgegenwärtig löste Hegel seine Uhr und warf sie mit lautem Scheppern in die von ihm aus gesehen linke Ecke des Wohnzimmers. Der Täter schnellte nach rechts, erst der Kopf, dann der gesamte Körper.

Jetzt oder nie!

Hegel stürmte zu den Kindern, griff deren kleine Hände und zog sie hinter sich her, bis sie den Hinterausgang des Hauses erreicht hatten.

»Ihr Monschter …« Das Brüllen des Geiselnehmers klang nur noch aus der Ferne.

Blitzschnell waren die Kinder in den kleinen Garten gerannt, wo Struck mit seinen Männern bereits wartete. Einsatzbereit hielten sie die Waffen auf die Tür gerichtet, vor der sich aber niemand zeigte.

Der Kerl läuft keinem mehr hinterher!

»Alles okay mit Ihnen?« Struck fasste Hegel an die Schulter und sah ihm in die Augen.

Die völlig verstörten Kinder wurden sofort von einer Polizistin in Sicherheit gebracht. Zurück zu ihren Eltern, die sie voll überschwänglicher Freude in die Arme nehmen würden.

»Es ist alles in Ordnung. Gut, dass ich noch einmal Menschen retten konnte.« Hegel sah den Kindern nach.

»Was können Sie mir über den Täter sagen?« Struck hielt seinen Blick noch immer auf die Hintertür gerichtet.

»Er ist bewaffnet, aber ungefährlich.«

»Wie kommen Sie darauf?«

Hegel seufzte.

»Ich habe jetzt nicht die Zeit, es Ihnen zu erklären. Gehen Sie einfach rein, entwaffnen Sie ihn und halten Sie den Notarzt bereit.«

»Den Notarzt? Ich denke, er ist ungefährlich?«

»Wir müssen das Vivantes-Klinikum vorbereiten, dass wir gleich den Schockraum brauchen. Sonst gibt es heute doch noch einen Toten!«

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3

Und das haben Sie alles aus seiner Stimme rausgehört?«

Hegel und Struck saßen auf Klappstühlen vor dem Einsatzwagen. Die Psychologin hatte sich zur Familie der Kinder begeben, um dort ersten seelischen Beistand leisten zu können.

»An seinem Nuscheln. Eindeutig ein rechtsseitiger ischämischer Apoplex.« Hegel lehnte sich erschöpft zurück.

Er schloss die Augen und genoss die warmen Sonnenstrahlen auf seiner Haut. Er wusste, er würde lange warten müssen, bis er sie wieder spüren durfte. Ein kühles Bier, dachte er, würde diesen letzten Moment des Glücks noch vervollständigen. Doch er musste sich mit stillem Wasser aus einer PET-Flasche begnügen.

»Der Kerl hatte einen Schlaganfall?«, fragte Struck.

»Ganz genau. Der Hirninfarkt muss ganz plötzlich aufgetreten sein. Kurz nachdem die Kinder ihn reingelassen hatten. Der Stroke hat zu einer halbseitigen Gesichtslähmung geführt, die dann wiederum für die charakteristischen Sprachausfälle verantwortlich war. Kein Wunder, dass der Mann so außer sich und verängstigt war. Für ihn muss es sich angefühlt haben, als ob auf einmal eine fremde Macht von ihm Besitz ergriffen hat.«

Struck schüttelte den Kopf. »Und ich dachte, der wäre einfach ein Geistesgestörter. Was sagten Sie, weswegen er Sie nicht sehen konnte?«

Hegel nahm noch einen Schluck aus der Flasche.

»Das war ein Neglect, eine Leugnung. Der Schlaganfall im rechten Vorderhirn hat dazu geführt, dass er alles, was links von ihm in seinem Gesichtsfeld war, nicht mehr sehen konnte. Sobald die Kinder links standen, waren sie für ihn verschwunden. Daher hat er sie als Monster bezeichnet. Der arme Kerl hielt das für eine übersinnliche Erfahrung!«

»Also deswegen sollten wir die Autos wegfahren.«

Hegel nickte.

»Der Anblick der Polizei hat ihn verstört. Zwanzig Meter zur Seite, und die Bedrohung war plötzlich unsichtbar für ihn. So wie ich, als ich im Haus immer darauf geachtet habe, nicht in seine rechte Hemisphäre zu treten.«

»Spooky!« Der Einsatzleiter reichte Hegel die Hand. »Aber wirklich gute Arbeit.«

Hegel stellte die Flasche beiseite, drehte sich aus dem Klappstuhl heraus zu ihm herum und ergriff Strucks Hand.

»Sie haben mal wieder was gut bei mir, schätze ich.«

Hegel lächelte, doch Struck entging der niedergeschlagene Ausdruck in seinem Gesicht nicht.

»Was haben Sie eigentlich gerade gemeint, als Sie sagten: Gut, dass ich noch einmal Menschen retten konnte?«

Hegel senkte seinen Blick und atmete tief aus, bevor er antwortete.

»Also, wenn ich wirklich etwas gut habe …« Er ließ den Satz in der warmen Sommerluft stehen.

»Was dann?«

»Könnten Sie mir einen Gefallen tun?«

»Worum geht es denn?«

Hegel räusperte sich, bevor er Struck seine Handgelenke entgegenstreckte.

»Bitte verhaften Sie mich!«

»Was?«

Der Einsatzleiter lachte auf, doch das Lachen erstarb sofort, als Hegel hinzufügte:

»Wissen Sie, als ich vorhin Ihren Anruf bekommen habe, da wollte ich gerade die Kollegen verständigen.«

Strucks Wimpern begannen zu zucken.

»Ich verstehe nicht. Warum denn das?«

Hegel richtete seinen Blick ein letztes Mal in den Himmel. Dieser war noch immer strahlend blau, und keine Wolke schien ihn trüben zu wollen.

»Ich habe gestern eine Obdachlose mit einem Aschenbecher niedergeschlagen und danach dreiundzwanzig Mal auf sie eingestochen. Die Leiche liegt bei mir zu Hause. Im Keller.«

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4

Buenos Aires, zwei Jahre zuvor

Jula ging durch eine Allee des Todes, aber dennoch vermochte sie sich nicht zu erinnern, wann sie das letzte Mal so glücklich gewesen war. Es war bereits kurz vor Mitternacht, doch sie benötigte nicht einmal das dünne Jäckchen, das sie sich um die Hüften gebunden hatte. Noch immer herrschten über fünfundzwanzig Grad, und mit Rock, T-Shirt und Flip-Flops war sie perfekt für ihren nächtlichen Friedhofsbesuch gekleidet. Es war bereits der dritte in diesem Urlaub, doch es würde vermutlich auch der letzte sein. Übermorgen würde sie zu ihrem Bedauern schon wieder zurück nach Berlin fliegen müssen.

»Hier ist es!« Moritz war einige Schritte vorausgegangen und vor dem schwarzen Tor in der Wand eines Mausoleums stehen geblieben.

Der Reiseführer hatte wahrhaftig nicht zu viel versprochen. Der Friedhof La Recoleta lag im teuersten Viertel von Buenos Aires und war zu Recht eine der beliebtesten Touristenattraktionen der Stadt. Dass hier einige namhafte argentinische Staatsmänner, Künstler und Sportler ihre letzte Ruhe gefunden hatten, war allein schon an den prächtigen Grabstätten und Denkmälern zu erkennen. Einige der Ruhestätten waren wie kleine Häuser errichtet worden, jedes für sich ein eigenes Kunstwerk.

»Eva Perón«, las Jula auf der Tafel am Mausoleum.

Hier also lag sie, die zweite Frau des Präsidenten Juan Perón, die vielleicht bekannteste Tochter des Landes. Aufgewachsen in bitterer Armut, hatte sie sich aus der Unterschicht zur First Lady emporgekämpft. Vielen Menschen war ihre Lebensgeschichte aus dem Musical Evita von Andrew Lloyd Webber bekannt.

»Danke!«

Moritz lachte auf.

»Wofür? Dass ich dir das Grab gezeigt habe?«

Jula schüttelte den Kopf.

»Dafür, dass du mich zu dieser Reise überredet hast.«

Als Moritz seine Schwester gefragt hatte, ob sie Lust hätte, ihn auf eine seiner Geschäftsreisen zu begleiten, hatte Jula zunächst abgelehnt. Moritz war Reisekaufmann und regelmäßig im Auftrag eines großen Pauschalreiseveranstalters unterwegs, um sich direkt vor Ort ein Bild von neuen Hotels, Sehenswürdigkeiten und der Infrastruktur eines Landes zu machen. Was sich wie ein Traumjob anhörte, artete allerdings nicht selten in Stress aus, denn Moritz war gezwungen, Dutzende von Stationen an nur einem einzigen Tag abzuarbeiten und während eines einwöchigen Trips nicht weniger als sieben Mal das Hotel zu wechseln.

Zudem hatte Jula geglaubt, dass es kaum einen schlechteren Zeitpunkt geben könne, ihre Eltern allein in Berlin zurückzulassen. Jetzt, da ihr Vater beim Familienrat die Bombe hatte platzen lassen, einfach so, am Küchentisch. Immerhin, die Schocknachricht war nicht aus heiterem Himmel gekommen, für niemanden. Die Zeichen hatten zwischen ihren Eltern schon länger auf Trennung gestanden, zumal die Kinder inzwischen erwachsen und aus dem Haus waren.

Aber zwölf Jahre lang?

Dass Julas Vater bereits seit über einem Jahrzehnt so etwas wie eine Zweitehe führte, hatte ihre Mutter an den Rand der Verzweiflung getrieben. Und das, obwohl Jutta Ansorge wahrhaftig einiges von ihrem Mann gewohnt gewesen war. Der endgültige Zusammenbruch kam jedoch erst mit dem zweiten Teil des Geständnisses:

»Ich habe mit meiner zweiten Frau einen gemeinsamen Sohn gezeugt. Er heißt Elyas.«

Julas Vater hatte tatsächlich das Wort gezeugt verwendet – in ihren Ohren das widerlichste, das er hätte wählen können. Für einen kurzen Moment hatte sie sich gefragt, ob sie das alles vielleicht nur träumte. Ihr Vater, der sich tatsächlich mit einem Leinenanzug und gekämmten Haaren zurechtgemacht hatte, so, als wären sie zu einem Geburtstag eingeladen. Die Lippen ihrer Mutter waren zunächst schmal geworden und schließlich ganz verschwunden. Ihre altersfleckigen Hände, die lange nicht mehr von ihrem Mann gestreichelt worden waren, krampften sich um eine leere Kaffeetasse.

Das hört sich an wie eine dieser Trash-Geschichten von den Assifamilien, über die wir morgens immer im Radio reden, hatte Jula gedacht.

Doch sogleich hatte sie sich eingestehen müssen, dass dies nicht die Morgensendung auf 101.5 war, dem Radiosender, bei dem sie ein Volontariat machte. Dieses unfassbare Geständnis betraf ihre eigene Familie, und Jula war froh, dem Ganzen nach Argentinien entflohen zu sein. Wenn auch nur für eine Weile.

»Danke, dass du mich mitgenommen hast«, wiederholte sie und drückte die Hand ihres Bruders.

Moritz hatte recht gehabt, als er ihr sagte, dass Abstand die Probleme zwar nicht vertreiben konnte, zumindest aber einen besonneneren Blick auf sie ermöglichte.

»Wir sollten uns mit Elyas treffen«, hörte Jula sich selbst sagen, während sie weitergingen, begleitet von einer warmen Brise, die sich wie ein Seidentuch um ihre nackten Beine legte.

»Ja, sollten wir wohl«, murmelte Moritz, und es war ihm anzumerken, wie wenig Lust er hatte, seinen bis vor Kurzem noch unbekannten Halbbruder kennenzulernen.

»Und du, mein Lieber, solltest jetzt zum Hotel zurück!«, meinte Jula schmunzelnd.

Moritz blieb stehen und sah seine Schwester fragend an. Im weichen Licht der Friedhofslaternen wirkte er um einiges jünger als siebenundzwanzig. Allerdings war er eine markante Erscheinung mit seinen wilden Locken, den auffälligen Wangenknochen, der ausgeprägten Nase und dem großen Kinn. Sein schlanker, vom Rudertraining geformter Körper brachte ihm viele Komplimente ein. Zuletzt erst vor wenigen Stunden, von der jungen, dunkelhaarigen Rezeptionistin, die bald Feierabend hatte.

»Lass Patricia nicht warten!« Jula kicherte.

»Dir entgeht aber auch gar nichts!«

»Mehr als ein Lächeln brauchst du nicht, um das Herz einer Frau zu erobern, was?«

»Na ja, manchmal muss ich auch noch Hallo sagen.« Beide lachten. »Aber ich will dich hier nicht allein lassen, Jula. Wir wollten den Abend schließlich gemeinsam verbringen.«

»Das haben wir doch. Und ich finde es toll, dass du dich so um mich gekümmert hast, trotz deiner Termine. Also, jetzt denk auch mal an dich, ich lauf dir ja nicht weg. Aber mit Patricia kannst du ab übermorgen nur noch skypen, nicht mehr fummeln.«

»Du bist unmöglich!« Moritz lachte und gab Jula einen Kuss auf die Wange. »Dann lass uns zurück zum Hotel gehen.«

»Nein, nicht uns.« Jula tat so, als wolle sie ihren Bruder mit einer Handbewegung verscheuchen. »Ich will noch ein bisschen allein sein.«

Moritz zog seine Augenbrauen hoch.

»Sicher?«

»Ja, ich merke, dass es mir guttut. Die Stille hier. Das Nachdenken.«

»Okay, aber melde dich bitte, wenn du im Hotel bist. Schick mir eine WhatsApp, sonst mache ich mir Sorgen.«

»Keine Angst, ich kann schon allein auf mich aufpassen. Versprochen!«

Nur kurz nachdem Moritz aus Julas Blick verschwunden war, vernahm sie ein Rascheln, das aus einem der Büsche zu kommen schien. Sie erschauerte für einen Augenblick.

Das ist nur ein Instinkt aus der Steinzeit. Unser Gehirn ist darauf trainiert, Gefahren im Dunkeln auszumachen. Da wird ein Baum zu einem Mann und das Rauschen des Windes im Gebüsch zu einem lauernden Säbelzahntiger.

Es raschelte erneut, dieses Mal jedoch stärker.

So windig ist es doch gar nicht? Jula schüttelte den Kopf und fuhr sich mit den Händen durchs Gesicht. Jetzt reiß dich mal zusammen! Nur, weil du nachts allein auf einem Friedhof bist, musst du ja nicht gleich durchdrehen.

Jula reckte ihren Hals in die Richtung, in die Moritz verschwunden war. Sicher hatte er das Gelände längst durch das mächtige Säulenportal am Ausgang verlassen.

Sobald er eine schöne Frau sieht, hält ihn nichts mehr. Irgendwann wird ihn seine lockere Einstellung zu Beziehungen noch in Schwierigkeiten bringen. So wie seinen Vater. Unseren Vater …

Jula war keine Freundin von Klischees, doch sie musste sich eingestehen, dass in der Familie Ansorge der Apfel nicht weit vom Stamm gefallen war. Wobei sie selbst mehr nach ihrer Mutter kam. Oft zu sorglos, lieber einmal öfter weg- als hinschauen, in der Hoffnung, dass Probleme verschwinden würden, wenn man sie bloß in Ruhe ließe. Nur um dann doch jedes Mal wieder von der Realität eingeholt zu werden. So wie ihre Mutter die Augen vor den offensichtlichen Anzeichen eines jahrelangen Doppellebens ihres Mannes verschlossen hatte, so neigte auch Jula dazu, den Blick gelegentlich abzuwenden, wenn sie eigentlich hätte hinsehen sollen. Sichtbare Anzeichen zu ignorieren, Warnsignale ihres Unterbewusstseins zu verdrängen.

So wie an diesem Tag.

So wie jetzt. In diesem Moment.

»Hallo?«

Jula hatte eine leichte Bewegung im Dunkeln bemerkt. Natürlich konnte es sich auch um einen Lichtreflex auf dem Jugendstil-Grabmal mit der Bronzehaube gehandelt haben. Oder war da tatsächlich jemand, der sie belauerte? Sie griff zu ihrem Handy.

Okay, urzeitliche Instinkte hin oder her. Ich rufe jetzt Moritz an. Vielleicht spielt er mir ja gerade einen blöden Streich und will mich erschrecken.

Während sie die Nummer ihres Bruders anwählte, entging Jula, dass hinter ihr ein Schatten auf eines der Grabmäler fiel. Der Umriss eines Mannes!

»Hallo, hier ist die Mailbox von Moritz Ansorge. Bitte hinterlassen Sie mir eine Nachricht!« Jula verdrehte die Augen.

»Warum machst du denn dein Handy aus? Hast du Angst, dass ich dein Date störe?« Gerade, als Jula das Telefonat beenden wollte, drang ein ekelhafter Duft in ihre Nase. Sie sprach schlagartig leiser. »Moritz, ich glaube, hier ist noch irgendjemand. Es riecht nach Schweiß. Aber ich sehe niemanden.«

Während Julas Puls sich rasant beschleunigte, schossen ihr die Worte durch den Kopf, mit denen sie sich von Moritz verabschiedet hatte.

Keine Angst, ich kann schon allein auf mich aufpassen. Versprochen!

Erneut roch Jula den Gestank kalten Männerschweißes, dieses Mal sogar noch intensiver als zuvor. Und wenn sie auch Schatten und Geräusche fehldeuten konnte – dieser Geruch konnte nur von einem Menschen stammen. Von einem Mann, der sich in ihrer unmittelbaren Nähe befinden musste.

»Moritz, kannst du bitte zurückkommen, ich glaube, …«

Weiter kam Jula nicht. Denn schon im nächsten Augenblick packte sie etwas, schleuderte ihr das Telefon aus der Hand, warf sich auf sie und ließ etwas in ihrem Rücken mit einem hellen Knacken brechen. Das, was sie jetzt noch in ihrem Mund hatte, waren keine Schreie mehr.

Nur noch Erde, Blut und Schmerz.

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5

Jula schien es, als senke sich die Decke des Verhörraumes mit jedem Schlag ihres Herzens ein kleines Stück weiter zu ihr hinab. Immer tiefer, von Minute zu Minute, so lange, bis sie schließlich von ihr zermalmt werden würde. Es war unerträglich heiß, die stickige Luft schnürte ihr fast den Atem ab, und die pochenden Schmerzen an ihrer Wirbelsäule schienen im selben Maße zuzunehmen wie die Anzahl der Fliegen in dieser verdammten fensterlosen Kammer.

»Wie lange wollt ihr mich denn hier noch warten lassen?« Jula schrie so laut in die Leere hinein, dass sich ihre Stimme überschlug und sie husten musste.

Bereits seit mehr als drei Stunden wartete sie nun schon darauf, dass man sich ihrer endlich annehmen würde. Die kleine Flasche Wasser hatte sie längst ausgetrunken. Fliegen und kleine Käfer waren ihre einzige Gesellschaft, und es stank nach Zigarettenrauch. Jula legte den Kopf auf die Tischplatte und schloss die Augen, während sich die Erinnerungen an die Geschehnisse vor vier Tagen unablässig vor ihrem geistigen Auge wiederholten.

Der Ruck, der Aufprall, das Knirschen.

Sie zuckte zusammen, so als erlebe sie den Überfall jetzt noch einmal in diesem verdammten Verhörraum.

Das Fett, der Schweiß, die Haare.

Diese Bestie musste auf dem Friedhof bereits auf sie gelauert haben. Auf sie oder auf irgendeine andere Frau. Nur, dass es eben nicht irgendeine andere Frau gewesen war, die er überfallen hatte, sondern sie.

Es hat geraschelt, so wie wenn ein großes Tier, das auf Beute gelauert hat, hinter einem Gebüsch hervorgeschossen kommt. Ich konnte gar nicht begreifen, was los war, weil ich hinter dem Mausoleum sofort zu Boden gerissen wurde. Ich wollte noch meinen Bruder anrufen, aber der ist nicht rangegangen. Mein Rücken, ich weiß nicht, er hat plötzlich so wehgetan, ich konnte mich überhaupt nicht wehren. Dieser Kerl muss riesig gewesen sein, ich hatte das Gefühl, sein widerlicher Leib begräbt mich unter sich wie eine Decke. Eine ekelhafte Decke aus heißem, verschwitztem Fett. Eine abstoßende, behaarte Decke, die einen kleinen, widerwärtigen Schwanz hat, den sie unbedingt in mich hineinstecken will.

Jula ballte ihre Hände zu Fäusten, als sie an den Polizisten dachte, der sie als Erster vernommen hatte.

»Sie hatten diesen Rock an?«

Ja, natürlich war sie attraktiv gekleidet gewesen. Eine junge Frau von Mitte zwanzig, die im Urlaub einen schönen Abend mit ihrem großen Bruder verbrachte. Was hatte dieser dämliche, arrogante Penner in seiner schneidigen Uniform denn erwartet, wie sie sich kleiden sollte? In ein Ordensgewand, unter das sie sich einen Keuschheitsgürtel geschnallt hatte?

»Er hat mich vergewaltigt!« Jula hatte ihn angebrüllt, doch der Kerl hatte nicht einmal mit der Wimper gezuckt.

»Wir erleben so was hier jeden Tag. Die europäischen Frauen kommen zu uns, um sich einen rassigen Argentinier für ein kleines Abenteuer zu angeln. Und hinterher kommen sie dann an und beschweren sich, weil sie gemerkt haben, dass er doch nicht der Richtige war. Kann es sein, dass Sie einfach nicht mit seinem Temperament zurechtgekommen sind?«

Jula wusste bereits in diesem Augenblick, dass sie die dämliche Visage dieses verdammten Bullen niemals wieder vergessen würde. Anders als das ihres Vergewaltigers. Sie hatte dem Kerl nämlich niemals ins Gesicht gesehen.

»Haben Sie das Schwein endlich gefunden?«

Der Polizist hatte nur arrogant gelächelt.

»Wie denn? Sie konnten ihn ja nicht beschreiben. Was sollen wir denn Ihrer Meinung nach machen? Einfach jeden Mann festnehmen und einsperren? In der Hoffnung, dass dann schon der Richtige dabei sein wird?«

»Er war groß und fett. Und er war Raucher, sein Atem hat nach Nikotin gestunken! Und er hatte einen Vollbart! Diese ekelhaften Gesichtshaare haben die ganze Zeit in meinem Nacken gepiekt, und dann später an meiner …«

Jula war aufgesprungen. Sie hatte den Raum verlassen wollen, um nach Moritz zu suchen. Doch die Schmerzen hatten sie gezwungen, sich wieder auf ihren Stuhl sinken zu lassen.

Ein Anbruch des Rückenwirbels. Sie können froh sein, dass Sie nicht querschnittsgelähmt sind!

»Entschuldigen Sie bitte, dass Sie so lange warten mussten!«

Jula schrak aus ihren Erinnerungen auf, als sich schließlich die Tür des muffigen Raumes öffnete und ein Mann in weißem Anzug eintrat. Sie hatte ihn noch nie zuvor gesehen, und das, obwohl sie während der Tage, in denen sie wieder und wieder das Gleiche hatte zu Protokoll geben müssen, absolut jeden Polizisten Argentiniens kennengelernt zu haben glaubte.

»Wer sind Sie?«

Der Mann hatte, anders als die meisten seiner Vorgänger, feine, fast aristokratische Gesichtszüge, die Jula an Filme aus dem viktorianischen England erinnerten. Filme, in denen sich die Herren der High Society nach dem Tee zum Krocket trafen, um dabei über die neuesten Gerüchte aus dem Königshaus zu plaudern.

»Mein Name ist Antonio Verón. Ich komme von der deutschen Botschaft, man hat mich gebeten, mit Ihnen zu sprechen. Es gibt eine neue Entwicklung.«

Jula horchte auf. Immer wieder hatte sie um konsularischen Beistand gebeten, nicht zuletzt deswegen, weil sich die Verständigung mit den diversen Polizisten und Ärzten mehr als schwierig gestaltet hatte. Und weil es ihr seit Tagen verwehrt worden war, ihren Bruder zu sehen. Damit wollte man angeblich verhindern, dass die Aussagen der Geschwister voneinander beeinflusst würden. Und das, obwohl Moritz bei der Tat gar nicht dabei gewesen war.

»Was für eine neue Entwicklung? Haben Sie den Kerl etwa gefunden?« Für einen Moment spürte Jula keine Schmerzen in ihrem Rücken.

»Nun ja, es ist ein wenig komplizierter.« Verón sah Jula fest in die Augen, doch die Art, wie er seine Hände ineinandergefaltet hatte, verriet ihr, dass er nervös war. »Der Täter hat bereits gestern gestanden. Wir haben seine Aussage auf Video aufgenommen, und unsere Experten haben sie mittlerweile begutachtet und für glaubhaft befunden.«

Julas Gesichtszüge hellten sich schlagartig auf. Der Zorn, der Schmerz und die Angst waren dem Hochgefühl gewichen, dass diese widerliche, fette Qualle nicht einfach so davongekommen war. Dem Triumph, dass diese dämlichen Bullen, mit denen sie wieder und wieder jedes Detail des Verbrechens hatte durchgehen müssen, endlich begreifen würden, dass sie keine kleine deutsche Zicke war, die sich mal nicht so anstellen sollte.

»Das heißt, der Kerl ist hinter Gittern?« Der ausweichende Blick ihres Gegenübers ließ Jula Böses ahnen. »Sagen Sie jetzt nicht, dass …«

»Frau Ansorge, die Dinge liegen anders, als Sie denken. Deswegen bin ich anstelle der Kollegen von der argentinischen Polizei hier.«

Jula nahm den Raum, in dem sie stundenlang mit Verhören gepeinigt worden war, jetzt gar nicht mehr wahr. Das Einzige, was sie noch sah, war das verdammte Krocketgesicht dieses Kerls im weißen Leinenanzug, der irgendetwas vor ihr verheimlichte.

»Jetzt reden Sie schon!« Jula schlug so fest auf den Tisch, dass die leere Wasserflasche umfiel.

»Frau Ansorge, es tut mir sehr leid, aber ich muss Ihnen mitteilen, dass Sie Ihren Vergewaltiger kennen.«

Innerhalb von Mikrosekunden schossen Bilder durch Julas Kopf. Der junge Mann am Hotelempfang, der ihr mit einem charmanten Lächeln den Zimmerschlüssel ausgehändigt hatte, der lustige Taxifahrer, mit dem sie zur Casa Rosada gefahren waren, der Kellner im Steakhaus oder der Kerl, den sie auf der Straße nach dem Weg gefragt hatte – einfach jeder Mann, dem Jula an diesem Tag begegnet war, defilierte noch einmal vor ihrem geistigen Auge vorüber.

»Also gut.« Jula sprach so ruhig, wie sie konnte. »Sagen Sie es einfach. Wer hat mir das angetan?«

Verón senkte kurz den Blick, bevor er Jula direkt in die Augen sah und ohne weitere Umschweife antwortete.

»Es war Ihr Bruder. Moritz Ansorge hat gestern gestanden, Sie überfallen und vergewaltigt zu haben.«

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6

Jula saß einfach nur da und betrachtete diesen komischen Typen, auf dessen Nase und Wangenknochen bei näherem Hinsehen bereits die ersten roten Äderchen zu erkennen waren, die auf regelmäßigen Alkoholkonsum hinwiesen. Vermutlich, dachte sie, gönnt sich Antonio gern mal das eine oder andere Fläschchen Rotwein, wenn er abends mit seinen Freunden auf der Terrasse der deutschen Botschaft zusammensitzt. Wie sie ihn wohl nennen mochten? Toni? Vermutlich schon, sie würde das zumindest machen. Auch, wenn dieser Name eigentlich gar nicht zu ihm passte

»Frau Ansorge, haben Sie verstanden, was ich Ihnen gerade gesagt habe?«

Jula schrak aus ihren Gedanken auf. Ohne erkennbare Gefühlsregung, beinahe schon apathisch, stellte sie fest:

»Moritz ist schlank und durchtrainiert. Der hat einen Waschbrettbauch, so einen haben Sie noch nie gesehen. Die Frauen fliegen auf ihn! Und er hat keine Körperbehaarung, das liegt bei unseren Männern nicht in der Familie. Moritz hat auch keinen Bart, und er raucht nicht.«

Verón wollte seine Hände auf Julas Schultern legen, doch sie zuckte zurück.

»Ich verstehe, dass diese Nachricht ein Schock für Sie ist. Aber Sie sollten beginnen, es zu akzeptieren.«

Jula lächelte ihrem Gesprächspartner mechanisch zu. Und plötzlich – es mochte wohl der Schock sein, den die unfassbare Behauptung dieses Typen bei ihr ausgelöst hatte – kam ihr etwas in den Sinn, das sie noch bei keiner ihrer Vernehmungen zuvor erwähnt hatte. Etwas, das wie aus ihrem Gedächtnis gelöscht gewesen zu sein schien. Bis zu diesem Augenblick.

»Ich hatte Moritz gerade auf seine Mailbox gesprochen, als dieser fette Scheißkerl über mich hergefallen ist. Er hat mir das Handy aus der Hand gerissen.« Jula sprach noch immer monoton und kraftlos. Selbst dann noch, als sie die unglaubliche Erkenntnis formulierte, die ihr soeben gekommen war: »Die Vergewaltigung muss auf seiner Mailbox aufgezeichnet worden sein.«

Verón zeigte keine nennenswerte Regung.

»Frau Ansorge, die argentinischen Ermittler haben wirklich alles überprüft. Es gab keine solche Nachricht auf der Mailbox Ihres Bruders, das hätte in der Akte gestanden. Ich habe mich sehr gewissenhaft auf unser Gespräch vorbereitet, das würde ich wissen.«

Jula huschte für den Bruchteil einer Sekunde so etwas wie ein Lächeln über die Lippen.

»Ich will jetzt zu ihm, wir fliegen nach Berlin zurück. Lassen Sie mir doch ein Foto von sich da. Wir hängen es uns dann zu Hause auf und lachen jeden Tag über Sie.«

Verón schüttelte den Kopf.

»Die Argentinier haben Ihren Bruder gestern sofort in Haft genommen.«

»Ich will zu ihm.« Jula zeigte noch immer keinerlei Emotion. »Das ist eine Verschwörung. Die haben mich hier von Anfang an wie einen Verbrecher behandelt.«

Verón erhob sich von seinem Stuhl und trat ganz nah an Jula heran.

»Sie können nicht zu ihm, Frau Ansorge.«

Jula begann, die ersten Takte eines Liedes zu summen, das sie vor einigen Tagen im Autoradio gehört hatte.

»Warum nicht?«