Aus Asklepios' Werkstatt - Karl Ludwig Schleich - E-Book

Aus Asklepios' Werkstatt E-Book

Karl Ludwig Schleich

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Beschreibung

Carl Ludwig Schleich war ein deutscher Chirurg und Schriftsteller. In diesem Werk veröffentlichte er eine Anzahl von Plaudereien über Gesundheit und Krankheit: Die medizinische Wissenschaft und was sie leistet Professor Carrel und die Zelle Freunde und Feinde des Lebens Was ist Krankheit? Was ist Neurasthenie? Vom Rhythmus der Epidemien Ernährung Von den Reparatur- und Flickanstalten der Natur Vom Herzen Kriege und Siege im Innern des Leibes Der "Andere" im Ich Vom Schmerze Der Ätherwellen dunkles Licht und ihre Segel Von unsichtbaren Strahlen Von den Drüsen Überempfindlichkeiten Toleranz Genüsse Selbstvergiftung Die Seekrankheiten u.v.a.

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Aus Asklepios' Werkstatt

Carl Ludwig Schleich

Inhalt:

Karl Ludwig Schleich – Lexikalische Biografie

Aus Asklepios' Werkstatt

Die medizinische Wissenschaft und was sie leistet

Professor Carrel und die Zelle

Freunde und Feinde des Lebens

Was ist Krankheit?

Was ist Neurasthenie?

Vom Rhythmus der Epidemien

Ernährung

Von den Reparatur- und Flickanstalten der Natur

Vom Herzen

Kriege und Siege im Innern des Leibes

Der »Andere« im Ich

Vom Schmerze

Der Ätherwellen dunkles Licht und ihre Segel

Von unsichtbaren Strahlen

Von den Drüsen

Überempfindlichkeiten

Toleranz

Genüsse

Selbstvergiftung

Die Seekrankheiten

Entfettung

Schlaflosigkeit

Irrenpflege

Über Blinddarmentzündung

Das Krebsproblem

Die Kriegsepidemie der Verwundungen

Heilkunst im Felde

Hygiene auf Reisen

Gnadentod

Aus Asklepios' Werkstatt, C. L. Schleich

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

86450 Altenmünster, Loschberg 9

Deutschland

ISBN:9783849635343

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

Karl Ludwig Schleich – Lexikalische Biografie

Mediziner, geb. 19. Juli 1859 in Stettin, verstorben am 7. März 1922 in Bad Saarow. Studierte in Zürich, Greifswald und Berlin, war Assistent bei Virchow, Helferich, Senator und Olshausen, errichtete 1889 in Berlin eine chirurgische Klinik und Poliklinik und wurde 1899 zum Professor ernannt. 1900 war er Leiter der chirurgischen Abteilung des Kreiskrankenhauses in Großlichterfelde. S. entdeckte die Infiltrationsanästhesie und tat sich auch auf dem Gebiete der Wundheilung mit weitgreifenden Reformen hervor. Er erfand das Glutol und andre Heilmittel und die atoxische Wundbehandlung mit Chloroform und Alkohol. Bemerkenswert sind seine mehr philosophischen Studien und Beiträge zur Mechanik seelischer Vorgänge. Er schrieb: »Schmerzlose Operationen. Örtliche Betäubung mit indifferenten Flüssigkeiten. Psychophysik des natürlichen und künstlichen Schlafes« (Berl. 1894, 5. Aufl. 1906); »Neue Methoden der Wundheilung« (2. Aufl., das. 1900); »Die Selbstnarkose der Verwundeten« (das. 1906).

Aus Asklepios' Werkstatt

Plaudereien über Gesundheit und Krankheit

Die medizinische Wissenschaft und was sie leistet

Es ist ein Irrtum, zu meinen, daß nur der Glaube, die Religion mit dem Zweifel einen dauernden Kampf zu führen hat. Auch die Wissenschaft kennt einen tief in der Menschenbrust wurzelnden Feind: den Skeptizismus. Was alles hat besonders die Medizin, diese Wissenschaft der großen Menschheitshoffnungen, schon an Spott und Witz über sich ergehen lassen müssen, ohne den absoluten Beweis ihrer Überlegenheit über alle zunftwidrigen Besserwisser offensichtlich so weit führen zu können, daß die Angriffe gegen sie in Literatur und Kunst, in Witzblatt und Pamphleten endgültig zum Schweigen gebracht worden wären! Vor einigen Jahren noch ging über die erste deutsche Bühne das vielbelachte Stück des kalten Spötters Bernhard Shaw: »Der Arzt am Scheidewege«, der kaum ein gutes Haar an uns bösen Priestern der Medizin gelassen hat. Und doch: wer möchte in den Stunden der Not, da Schmerz und Gefahr an unsere Seele pochen, nicht von Herzen wünschen, daß der Mann seines Vertrauens all das zu leisten imstande wäre, was man von seinem Können erhofft? Wir wollen an dieser Stelle einmal in aller Ruhe zu untersuchen uns bemühen, inwieweit die Medizin trotz aller Anfeindungen berechtigt ist, sich allen Sonderbestrebungen zum Trotz stolz als eine Erfüllerin großer Versprechungen, als eine Bewunderung und Achtung verdienende Spinnerin am Segen der Menschheit zu fühlen.

Dabei können wir von vornherein darauf verzichten, zu untersuchen, wie weit das mechanische Können des Arztes, die Chirurgie, sich zu einer unanfechtbaren Kunst entwickelt hat. Auch der Ungebildetste weiß, daß es gegen die Segnungen der Antisepsis, der Wundheilung, der Verhütung schwerer Wundkrankheiten, gegen die Wohltaten der verschiedensten Formen von absoluter Schmerzlosigkeit, von denen wir jetzt eine stattliche Zahl von Methoden zur Auswahl besitzen, schlechterdings keinen Einwand gibt. Auch ist tief in das Volk das Bewußtsein gedrungen, daß die Chirurgie in den letzten fünf Dezennien einen wahren Siegeslauf zurückgelegt hat, indem sie dem Tod und dem Verderben auf Schritt und Tritt erfolgreich begegnet ist, soweit eben mechanische Maßnahmen zur Aufhebung der Störungen im Leibe am Platze waren. Namentlich dieser gewaltige Krieg hat der Chirurgie eine ungeheure Hochschätzung gebracht. Geben doch feindliche Generale (in Rußland) die Leistungen der deutschen Chirurgen als Grund an für die staunenswerte Regenerations- und Materialnachfüllungskraft unserer Armee, wodurch bis zu 90 Prozent der Verwundeten tatsächlich wieder felddienstfähig geworden sind. Aber ich denke doch, auch der »inneren Medizin« unter dem Banner August v. Wassermanns mit ihren Schutzimpfungen und Seuchenverhütungen wird nach dem Riesenfeldzug ein helltönendes Ruhmeslied ertönen, so daß der ungeheure Krieg wie eine unerwartete Belastungsprobe für die Sprungbereitschaft und Leistungskraft der Medizin wie so vieler anderer Kulturgebilde erscheinen muß, einer grandiosen Fragestellung an die Heilkunst, die sie vor den Augen des Volkes wie der Feinde über alles Erwarten glänzend beantwortet hat. Die Medizin des Jahres 1914 stand ausrückungsbereit wie eine geschulte Feuerwehr zu einem Riesenbrande. Die Ärzteschaft, nicht nur unsere über alles Lob erhabene militärärztliche Sanitätsverwaltung, hat ihre Kulturaufgabe bei dieser Epidemie der Vernichtung, der Zerreißungen und Verseuchungen der organisierten Armee in jeder Hinsicht erfüllt. Aber dem Krebs, diesem Fluch der Menschheit, steht auch die Chirurgie heute noch relativ ohnmächtig gegenüber. Man bedenke allein die Fortschritte, welche die operative Chirurgie in Behandlung der Wunden und Verletzungen, der Mißbildungen, der Frauenleiden, der Geburtshilfe, der Eingeweideerkrankungen bisher gezeitigt hat, und jeder Unbefangene muß zugeben, daß ein gewaltiger Prozentsatz von Menschenleben heute gerettet werden kann, die noch vor fünfzig Jahren unfehlbar dem Tode erlegen wären.

Aber wie steht es mit der inneren Medizin im Frieden, gegen die sich eine ganze Schar von Feinden, Naturheilkundigen, Wunderdoktoren, Außenseitern, Gesundbetern usw., erhoben haben und immer noch im Banne des Ausspruches unseres Nationalheros, Bismarcks, daß die innere Medizin keine Fortschritte gemacht habe, dieselbe zur offenen Konkurrenz herausfordern in Wort und Schrift? Das alles wäre nicht möglich, wenn nicht tatsächlich die für den Kundigen ganz enormen Fortschritte der inneren Heilkunde sich dem Urteil des Laien viel weniger präsentierten als die ihrer oberflächlicheren und stolzeren Schwester, der Chirurgie, bei der von einer nennenswerten Konkurrenz durch Laienmediziner gar keine Rede sein kann. Liegt doch das Problem der Beeinflussung allgemeiner, im Blute, in den Säften, in ganzen Organsystemen gelegener Leiden viel tiefer und dem naturwissenschaftlichen Spürsinn viel versteckter.

Der Geist der Chirurgie ist leicht zu fassen, ihr Wesen ist die mechanische Devise, die Korrektur durch Handgriff und Instrument; der Geist der inneren Medizin muß in den Geist der Natur selbst eindringen, um seinen Gesetzmäßigkeiten richtungändernd sich entgegenzustellen. Hier lautet die Frage nicht: wie kann ich einer Krankheit mechanisch beikommen, sondern: wie kann ich die naturgegebenen Funktionen des Leibes unter völliger Erhaltung des Bestandes in eine Richtung zwingen, die ihm selbst, dem Körper, die Möglichkeit geben, sich selbst zu helfen? Die Arbeit seiner Triebkräfte, des Herzens, des Blutes, der Säfte, seiner Drüsen, seiner Nerven, seines Stoffwechsels muß beeinflußt werden auf Wegen, die bis zu den geheimsten Werkstätten des Lebens überhaupt führen. Die Wundarzneikunst war immer ein heilsames Gewerbe auch vor dem Aufleuchten der großen Sterne der Medizin, Pasteur, Lister, Virchow, Koch, aber die innere Medizin bedurfte doch eben dieser tiefen Einblicke in den Haushalt der Natur, ehe sie zu entscheidenden Fortschritten des Könnens gelangen konnte. Virchows Wirken gipfelte in der letzten Konsequenz des anatomischen Gedankens, dem die einfache Zergliederung des Leibes nicht genügen konnte, sondern der herabschreiten mußte zu den letzten Werkstätten, den ursprünglichen Bausteinen des Lebens, den Zellen und ihren Produkten, den Säften. Pasteurs und Kochs und ihrer Schüler Lehren zeigten die Krankheiten als einen Kampf dieser Zellen mit ähnlichen Zellgebilden aus dem Reiche niederer, noch nicht zu Organen zusammengefügter, frei schwärmender Wesen. Eine Krankheit nach der anderen: die Tuberkulose, die Diphtherie, die Malaria, die Pest, die Cholera, die Pocken, der Milzbrand, Scharlach, Masern, Syphilis usw. wurde entlarvt als ein Daseinskampf zwischen Kleinlebewesen der Außenwelt und den kleinen lebendigen Organzellen des Leibes, so daß es alsbald fraglich zu werden beginnt, ob nicht alle sogenannten inneren Erkrankungen zurückzuführen sind auf den schließlichen Anprall äußerer Schädlinge und ihrer produzierten Gifte gegen die Wehrmacht der Körperzellen und ihrer abgesonderten Gegengifte. Ja selbst eine große Schar sogenannter vererbter Erkrankungen erwies sich als auflösbar in einen bei der Zeugung oder Geburt übertragenen Daseinskampf zwischen Zelle und Mikroorganismus.

Und der Lohn dieser Erkenntnis? Sein Umsatz in Können? Nun, ich meine, allein die Segnungen, welche die Besserung der hygienischen Verhältnisse gebracht hat, die Herabsetzung der Sterblichkeit der Gesamtbevölkerung, von der die Statistiken der Versicherungsgesellschaften ein merkwürdig nüchternes, aber doch hohes Lied zu singen wissen, das Schwinden der großen Epidemien, wie Pocken, Cholera, Pest, Diphtherie, das dauernde Absinken der Sterblichkeit an Lungenentzündung, Typhus, Ruhr und Tuberkulose, das stetige Steigen der Bevölkerungszunahme und das Sinken der Säuglingssterblichkeit – das alles sind wenn auch indirekte Triumphe, die für den Kundigen die Leistungen der inneren Medizin durchaus neben die der beifallgewohnten Chirurgie rücken. Nun aber ist eine Zeit angebrochen, welche die innere Medizin auch am einzelnen gegebenen Fall zu großen Taten führen muß. Der Weg, den Koch zuerst betrat, dem kämpfenden Zellorganismus durch Einverleibung von Bakteriengegengiften zu Hilfe zu kommen, der Weg, den Behring zur Bekämpfung der Diphtherie, des Wundstarrkrampfes, der Tuberkulose ging, ist allem Anschein nach ein Pfad des Ruhmes und des Triumphes. Es scheint, als wenn hier die Arbeiten eines Ehrlich, seine kühne Spekulation über einen ganz mechanischen Bau der Gifte  und eine rein mechanische Verkettung mit ihren Gegengiften an einen Felsen der Erkenntnis schlugen, aus dem noch viele Quellen der Genesung sprudeln werden. Kämpfte ursprünglich Zelle gegen Zelle, so wird jetzt Gift gegen Gift in den Saftbahnen des Körpers ausgespielt, und so ist das große Gebäude der Antitoxin- und Immunisierungsverfahren erstanden, das in sich ein Wissen von Resultaten aufgespeichert enthält, größer als die Literatur vieler Jahrhunderte zusammengenommen. Noch vor kurzem trat Ehrlich mit einer auf ganz neuen eigenen Anschauungen aufgebauten Behandlung einer der verbreitetsten Seuchen, der Syphilis benannten Lustseuche, hervor, die, wenn die von ernstesten Prüfern beglaubigten Heilwunder sich bestätigen, auch diesen Erbfeind der Menschheit auszurotten versprechen.

Man kann so auch der inneren Medizin, dieser langgeschmähten Tochter der Naturwissenschaft, eine lange Ruhmesbahn unschwer voraussagen, und die Menschheit wird dankbar anerkennen müssen, daß die Medizin unbeirrt durch alle öffentlichen und geheimen Anfeindungen im stillen Gewaltiges geleistet hat, während schon die Chirurgie im vollen Lichte des Erfolges sich sonnte. Die moderne Technik der Elektrizität, die immer tiefer greifende Erkenntnis der chemischen Zusammensetzungen der Lebensstoffe und -säfte, die Erkenntnis von dem Heilwert der rein physikalischen und rein diätetischen, Nährwert und Kraftzuwachs übermittelnden Maßnahmen haben die Anschauungen über die Gefahr vieler Krankheiten, so der Arterienverkalkungen, der Herzleiden, der Zuckerkrankheit gegen frühere Zeiten völlig verschoben.

Fragen wir uns nach dem Grunde all dieser Fortschritte, so muß derselbe als eine Konsequenz des naturwissenschaftlichen Gedankens überhaupt formuliert werden. Er ist die Folge eines unendlich zäh beobachteten Spieles von Ursache und Wirkung, von Kraft und Hemmung, und eines nimmermüden Spürtriebes des menschlichen Geistes, festzustellen, was geschieht, wenn man die Bedingungen künstlich ändert, unter welchen die Erscheinungen des Lebens aufeinander wirken. Es ist so recht eigentlich das Experiment, das unsere gesamte Zeit charakterisiert, die klare, präzise, richtig gestellte Frage an die Natur, die alle die erstaunlichen Resultate von Wissenschaft und Technik zuwege gebracht hat. Denn die Natur ist eine Sphinx, die nur klugen Fragen klare Antwort gibt, sie erwidert der falschen Fragestellung mit doppeltem Irrtum, vor reiner Logik nur ist ihre Rede: ja oder nein!

Professor Carrel und die Zelle

Durch die öffentlichen Zeitungen ging vor nicht langer Zeit die Notiz, daß es dem berühmten Biologen Professor Carrel gelungen sei, außerhalb des Leibes in geeigneten Nährflüssigkeiten tierische und menschliche Gewebe für sich weiterzuzüchten. Eine wunderbare, ganz gewaltig wichtige Tatsache, an deren Richtigkeit nicht zu zweifeln ist, da die Resultate uns Berliner Ärzten vorgeführt wurden. Man züchtet also heute menschliche Zellen genau so wie Bakterien auf geeignetem Boden und bei ganz bestimmten Temperaturen, die der Körperwärme natürlich möglichst naheliegen müssen; wenigstens wurde durchaus selbständige Fortentwicklung und Wachstum gewisser Zellen, sogar solcher aus Krebsgeschwülsten, beobachtet. Also losgetrennt vom Leibe, außer Konnex gesetzt mit der ständig Nährsaft spendenden Kanalisation des Körpers, dem Blutgefäßsystem, und ohne Anschluß an die energiespendenden Drähte der elektrischen Zentrale des Organismus, dem Nervensystem, können die einzelnen Bürger der Körperrepublik, Zellen genannt, ein selbständiges Leben führen, wenigstens eine ganz beträchtliche Zeit lang! Das ist staunenswert für den Laien, für den Biologen nicht ganz so überraschend. Wußte man doch schon seit langem, daß die kleinen Kampfzellen unseres Körperstaates, die weißen Blutkörperchen, Leukozyten genannt, auch außerhalb des Leibes in der warmen Kammer unterm Mikroskop über drei Wochen lang ihre Bewegungsfähigkeit behalten, nämlich ihre eingeborene, wundersame Möglichkeit, aus sich selbst, je nach Bedürfnis, Organe hervorzuzaubern. An sich kreisrund wie ein Tröpfchen Öl, können sie gegebenenfalls Fühler, Füße, Fangarme, Saugrüssel bilden; sie schaffen andere Organe, je nachdem es gilt, ein Bakterium oder ein Farbkörnchen, ein Sonnenstäubchen oder ein Glassplitterchen zu bewältigen, sie können sich recken und strecken und fabelhafte Formen annehmen, wenn es heißt, eine winzige Lücke zu durchkriechen oder über einen Riesenberg – ein solcher ist für sie schon ein Seesandkörnchen – hinweg zu gelangen. Nur der elektrische Schlag zwingt sie, sich gleich mikroskopischen Igelchen ganz in sich zum zierlichsten Kügelchen aufzurollen. Diese Eigenschaften haben sie gemein mit den kleinsten formlosen Lebewesen, den Amöben, ja sie sind solche, und ihre Bewegungen nennt man daher amöbenhafte, amöboide. Hier steckt eins der höchsten philosophischen Probleme, die ja so häufig erst im Reiche des Kleinsten und Einfachsten, öfter vom Baustein als vom fertigen Gebäude die Zauberhüllen fallen lassen. In diesem Zellchen waltet nämlich die ganze plastische Idee des Lebens, die menschlich unerforschbare Fähigkeit des Lebendigen, sich zu wandeln und anzupassen aus einem unerklärlichen ursprünglichen Urteil heraus, aus einem fast mystischen Wissen und Willen hervor. Das einzig schon unterscheidet alles Lebendige von der Maschine, die nur automatisch arbeitet, aber niemals sich selber Räder, Fühler, Stränge und Bänder schafft, um ständig wechselnden Aufgaben zu genügen.

Die von Professor Carrel entdeckte Tatsache, daß solche und andere Zellen in eigenem Blutsafte (Plasma) ihr Leben und ihre Fähigkeiten erhalten, beweist eben den alten Satz Virchows, unseres deutschen Heros der Biologie, daß schließlich jede Zelle ihre eigene Seele und ihren eigenen selbständigen Leib habe, zur Evidenz. Was wir alle geahnt und gesucht, jener Forscher hat es uns vor die Augen gestellt: jedes Leben ist an kleinste Zellen gebunden, ist ein Wunderwerk für sich und enthält alle Rätsel auch des größten, gewaltigsten Körperkomplexes. Ein Elefant birgt kein größeres Geheimnis als die weiße Blutzelle, ja sein und unser Gesamtproblem ist das der kleinsten Zelle! Auch von den Flimmerepithelien, den feinen Besatzzellen der Schleimhäute von der Nase bis in die kleinsten Luftröhrchen hinab, wußte man schon, daß sie achtzehn Tage lang den Lidschlag ihrer Wimperhärchen in der mikroskopischen Wärmekammer behalten (Busse), und nach Grohé bleibt auch die Knochenhaut noch 100 bis 192 Stunden entwicklungsfähig, d. h. sie kann auch außerhalb des Körpers ihre Fähigkeit, Knochen zu bilden, bewahren. Es war der geistvolle und überaus findige und konsequente Berliner Chirurg Gluck, der schon in den achtziger Jahren daranging, auf Grund dieser Tatsachen kühnste Überpflanzungen von Sehnen- und Knochenstücken zu unternehmen, grundlegende Versuche, die durch Professor Lexer nunmehr zu staunenswerten Resultaten ganzer Gelenküberpflanzungen von Mensch auf Mensch erhoben worden sind. Lange vor beiden jedoch gelang es Reverdin und Thiersch, auf große, sonst unheilbare Geschwürflächen Hautstückchen zu überpflanzen, sogar aus Leichenhaut auf Lebendige, die anwuchsen und die Defekte völlig schlossen. Selbst der Laie weiß heutzutage, daß um das zwölfte Jahrhundert arabische Ärzte schon Nasen aus Arm- und Stirnhaut zu bilden vermochten, und ich selbst habe, wie gewiß viele Chirurgen ähnlich, ein auf der Mensur abgeschlagenes Nasenstück, das auf den Boden flog, mit vollem Erfolg durch ein paar Nähte wieder an seine naturbestimmte Stelle placiert, nachdem der immer sprungbereite anwesende Korpshund glücklich daran verhindert war, es seinerseits zu verschlucken. Ja man hat abgeschlagene Finger noch nach Stunden glücklich wieder zum Anheilen gebracht. Ganz vor kurzem erst gelang es dem genialen Leipziger Chirurgen Payr, an die Stelle zerschossener Finger eigens zu diesem Zwecke abgeschnittene Zehen auf die Fingerstümpfe zu verpflanzen. Hier liegen staunenswerte Resultate von Organverpflanzung und Substitution von Körperteilen vor, eine Art Zell- und Gewebsunterschiebung. Ein voller Triumph eines Künstlerarztes! Schlägt man Hähnen die Sporen ab und näht sie in die Kopfhaut ein, so heilen sie nicht nur mit allen Gefäß- und Nervenverbindungen ein, sondern wachsen sogar. Bert brachte Schwänze und Füße von Ratten, nachdem er die losgetrennten Glieder enthäutet hatte, unter die Rückenhaut desselben Tieres und sah sie wachsen und gedeihen, freilich ohne daß die armen Tiere weiteren Gebrauch von ihren deplacierten Gliedern machen konnten. Eben gezogene Zähne – es kommt vor, daß ein ganz gesunder Zahn versehentlich der Zange nachgeben muß – können glücklicherweise sogleich wieder zurückgestopft und zum Einheilen gebracht werden; Stücke der menschlichen Hornhaut können auf andere Augen überpflanzt werden und behalten ihre Glashelle, durch die die ganze Welt ihr Bild in unserer Seele spiegelt. Allen diesen Überpflanzungen, wie auch denen von Blut und Lymphe (Transfusion), ist aber von der Natur eine strenge Grenze gezogen, sie gelingen ohne Schaden nur dann, wenn die Gewebe und Flüssigkeiten derselben Tierspezies entnommen sind, also nur von Mensch auf Mensch, von Kaninchen auf Kaninchen, von Meerschweinchen auf Meerschweinchen und so fort. Fremde Zellarten und fremde Gewebsflüssigkeiten verhalten sich geradezu feindlich und giftig. Ja, man hat die Beobachtung gemacht, daß beim Aneinandernähen zweier Kaninchen (Sauerbruch und Heyde) dergestalt, daß ihre geöffneten Leibeshöhlen miteinander in Kommunikation blieben, nur dann die Tiere am Leben blieben, wie Siamesische Zwillinge, wenn sie gleichen Geschlechtes waren; eine sonderbare Bestätigung Strindbergscher Anschauungen, daß es etwas Lebensfeindliches gibt, auch rein physisch, zwischen Männlein und Weiblein! So zwecklos an sich derartige Experimente dem Laien erscheinen mögen, so wichtig ist die Tatsache der Aneinandernähbarkeit verschiedener, verwandter Individuen für den forschenden Biologen. Näht man z. B. zwei Ratten mit der Rückenhaut zusammen und gibt dann einem Tier Atropin, so erweitern sich auch die Pupillen des anderen, und durch Injektionen kann man beweisen, daß der Blut- und Saftstrom durch beide Tiere gemeinsam geht. Da könnte experimentell erforscht werden, ob nicht und unter welchen Bedingungen das gesunde Tier dem angenähten und künstlich krank gemachten zur Genesung verhelfen könnte, weil nunmehr zwei Organismen mit dem Krankheitsgifte kämpfen, und ganz von ferne winkt die Möglichkeit, ein geliebtes krankes Wesen durch das heroische Mittel einer zeitweisen Vereinigung von Blut und Leben, etwa der Mutter mit dem Kinde, vom Tode zu erretten!

Freunde und Feinde des Lebens

Berthold Auerbach sagt einmal, die Erde sei ein Buch, dessen Blätter mit den Füßen umgeschlagen werden müßten. Das ist sehr treffend für eine oberflächliche Wanderlektüre, will man aber zwischen ihren Zeilen und in ihren Tiefen lesen, so findet man, daß Mutter Erde ihre Geschichte und die aller ihrer Kinder selbst geschrieben hat in den sorgfältig geschichteten Phasen (Erdschichten) ihrer eigenen Entwicklung. Das geht so weit, daß wir aus den in ihren Tiefen begrabenen Testamenten ihrer Vergangenheit, aus Versteinerungen und Abgüssen, Schlammabdrücken und Medaillierungen in Kalk- und Lehmbrei die Phasen des Lebendigen rekonstruieren können, das – eine ewige Kette – vor uns und unserer winzigen Daseinsspanne den Odem der Luft und die Schwungkraft des Lichtes einsaugen durfte. Da hat man mit Staunen gefunden, daß schon die allerersten Lebensspuren begleitet waren von der Anwesenheit der winzigsten Wesen, die wir vorläufig kennen, nämlich der Bakterien, die heute als die eigentlichen Gegner und hinterlistigen Hunnenscharen des Lebendigen, vielfach mit Unrecht, angeschuldigt werden. Eine einfache Überlegung muß uns sagen: wenn es immer Bakterien gegeben hat, so muß das sich entwickelnde Leben bald ihrer Herr geworden sein, um die wunderreiche Stufenleiter des Aufstieges der organisierten Wesen, von der Amöbe bis zum Halbgott »Mensch«, erklimmen zu können.

Wenn nun auf der anderen Seite es heute unzählige Arten von Bakterien gibt, die Krankheiten, Seuchen, Epidemien und Endemien (vorübergehende oder im Volk bleibende ansteckende Krankheiten) veranlassen sollen nach der Lehre der Schule, so müssen daneben von den etwa dreißigtausend Arten Mikroorganismen sehr viele sein, die dem Körper des Menschen nichts anzuhaben vermögen. Und so ist es in der Tat. Die bei weitem größte Mehrzahl der Kleinorganismen, Kokken und Spirillen (Stäbchen-, Kugel- und Schraubenbakterien) ist völlig harmlos für die Zellen der den Leib konstituierenden Gewebsteppiche; sie können sie nicht zerfasern, zerfressen, sie sind nur harmlose Stäubchen, ja bisweilen helfen diese kleinen Liliputaner des Lebens selbst sticken und aufbessern am Gefüge der lebendigen Substanz.

So weiß man längst, daß z. B. die Milchsäurebakterien für die Säuglingsernährung eine erhebliche Rolle spielen; man kennt die Wichtigkeit der mikroskopischen Höhlenbewohner des Darms für die vollkommene Ausnutzung der Nahrung, und ich selbst konnte nachweisen, daß bestimmte Bakterienarten die Wundheilung geradezu fördern, weil völlig bakterienlose Wunden beliebig lange, z. B. mittels Jodoform, künstlich unverheilt gelassen werden können. Dazu stimmt die Erfahrung, die man mit völlig bakterienfreier Nahrung und Atmungsluft beim Federvieh gemacht hat: daß in ganz aseptischer Luft und mit völlig bakterienfreier Nahrung gehaltene Tiere bald sterben.

Es ist damit bewiesen, daß, wie wir vorher andeuteten, gewisse Bakterien für uns nicht nur unschädlich, sondern unserem organischen Getriebe geradezu angepaßt sind: sie leben mit unseren Zellen in Symbiose (Lebensgenossenschaft), wie es mit uns auch die Haustiere tun, wie die Blattlaus mit der Ameise, der Schmetterling mit der Blüte. In die Sprache der Gesundheitslehre übersetzt, heißt das: der Mensch (respektive jedes Lebewesen) ist immun (unempfindlich) gegen die eine (größere) Reihe der Kleinlebewesen, die andere (kleinere) Reihe vermag ihn zu attackieren, ja zu vernichten, sie ist für ihn pathogen (krankheitsauslösend).

Nun ist es ein schwerwiegender Fehler, den die bakteriologische Schule lange Zeit hartnäckig verteidigt hat, zu glauben, daß die krankmachenden Bakterien alleinig die Ursache der Krankheiten seien. Auf diesem Gebiete stehen uns bestimmt noch die größten Überraschungen bevor, insofern, als einmal festgestellt werden wird, daß die Bakterien es nicht anders machen als die Geier, die Hyänen und anderes auf Kadaver gieriges Raubgesindel, sie sammeln sich an Stellen, wo sich Gefallenes, Absterbendes, Verwesendes findet. Es muß also ihrer Ansiedlung im Körper auch des Lebenden eine Veränderung vorangegangen sein, eine Gruppe der unzähligen Kleinbürger unserer Zellenrepublik (des Leibes) muß in ihrer Lebensenergie geschädigt, zu Fall und Absterben, wenigstens zur Widerstandslosigkeit gebracht sein, ehe die Breschen der Gewebszäune für Bakterien durchlässig werden.

Da kann es denn noch einmal dahin kommen, daß die Ursachen zu den Erkrankungen des Leibes anderenorts gesucht werden müssen als in den schließlich überall um uns herum vagabundierenden Mikroben. Vielleicht birgt diese »Disposition« (heute fast ein nur imaginärer, fiktiver Begriff in der Medizin) zu Krankheiten eine Unsumme von biologischen Geheimnissen, deren Entschleierung unter anderem auch dazu führen wird, zu erkennen, wie groß gerade der Einfluß der Seele, ihrer Qualen und Leiden auf die Entstehung der Krankheiten ist.

Mich würde das nicht überraschen, denn schon heute bin ich der Meinung, daß die Ärzte allzusehr vernachlässigen, zu erforschen, was vorher in der Seele eines Menschen vorgegangen ist, ehe er einer Ansteckung verfiel; für viele Erkrankungen lassen sich schon heute da eigentümliche Beziehungen feststellen. Geschädigtes Zelleben auch auf dem Wege des Nervenstoffwechsels, der vielfach vom psychischen Geschehen abhängig ist, geht also der Bakterieninvasion voraus und macht (auch erblich übertragen) einen großen Teil des Sammelbegriffes »Disposition« aus. Für die Wundinfektion steht es für mich außer Frage, daß dem Eindringen der Mikroben in das festgefügte Gitter der Gewebe eine Schädigung durch mechanische oder chemische Verletzung vorausgeht, wie denn z. B. bei Verwundungen es sehr darauf ankommt, welche gleichzeitigen chemischen Gifte mit in die zerrissenen Teile einverleibt werden (Rost, ranzige Fette, Fleisch-, Fischgifte, Uniformstücke usw.). Diese das Zelleben in seiner Widerstandskraft paralysierenden Substanzen (zellebenlähmende Gifte) reißen die Lücken in die sonst festgefügten Bauwerke der Daseinsverteidigung, durch die das Schwarmvolk der Bakterien einwandert. Es kann mit dem Einbruch der mikroskopischen Horden bei inneren Erkrankungen nicht anders sein, also von Rachen, Magen, Darm her, hat doch Robert Koch selbst zugegeben, daß sogar der Cholerabazillus nicht attackieren kann, wenn nicht vorher eine Schädigung durch Magendarmkatarrh einhergeht, der, nebenher gesagt, sehr wohl durch große Angst (also durch psychisches Geschehen!) verursacht sein kann; ja noch plausibler: Koch konnte Tiere mit dem Cholerabazillus nicht innerlich infizieren, wenn nicht zugleich mit der gefährlichen Mahlzeit einer Cholerabazillen-Nährgelatine eine tüchtige Dosis Opium verabfolgt war. Da ist ja sogar experimentell das Zellgift, das der Infektion vorangehen muß, nach unserer Forderung! So wie bei den Wunden wird es wohl eben auch bei den sogenannten inneren Infektionen sein. Man muß bedenken, daß unser sogenanntes Innere eigentlich nur eine Einstülpung der Oberfläche nach innen ist, respektive eine vielkanalige Einsenkung und Umbildung der Haut zu den Schleimhäuten. Es ist ein Weg vom Lippenrand bis zu den feinsten Verästelungen des Lungenbaumes und ein Weg vom Aftersaum bis in die tiefsten Kanäle der Gallengänge und Leber; ebenso offen liegen die Wege des Nieren- und Geschlechtsdrüsensystems, und Herz-, Gefäß- und Nervensystem reichen in jedem Äderchen, jeder Lymphbahn, jedem Tastkörperchen in fast unmittelbare Annäherung an die Körperoberfläche: die Haut.

Damit soll nur gesagt sein, daß es wohl eine prinzipielle Differenz der Art der Infektionen von außen oder innen wegen der anatomischen Einheit kaum geben dürfte und also auch bei inneren Infektionen der Satz gelten muß: Bakterien an sich können den unbeschädigten und auf der Höhe des Lebens vor Widerstand strotzenden Zellen buchstäblich den winzigen Buckel hinunterrutschen. Diese kleinen Drillbohrer lassen die Phiolen des Giftsaftes erst ausströmen, wenn vorher den Fäßchen der Boden eingeschlagen ist.

Was ist Krankheit?

In den später folgenden Aufsätzen werden wir neben den Vorschriften zur Bekämpfung des Schmerzes uns auch mit seinem physiologischen Wesen (als Kurzschluß sensibler Nervenleitungen) befassen müssen, und werden, seinen biologischen Sinn andeutend, ihn als die durch das Gefühl bemerkbar gemachte Gefahr, als die fühlbare Störung der Harmonie des Organbestandes bezeichnen. Denn wie z. B. ein Meteorstein, dem Rhythmus des Ganzen entfallen, aufleuchtet und sich entzündet, wenn seine Flugbahn die rollende Atmosphäre der Erde kreuzt, so blitzen gleichsam auch alle Schädlichkeiten, die die Harmonie des Körperbestandes stören, an der Schutzschicht der Nervenenden auf, alarmieren das Gehirn – unsere Sternwarte des Lebens – und zwingen uns zur Abwehr. Wir werden den Schmerz einreihen in die große Summe körperlicher Abnormitäten, ins Gebiet des durchaus Pathologischen, Krankhaften. Da liegt die Frage nach einer allgemein annehmbaren Definition des Krankheitsbegriffes nahe. Wollte ein Laie unsere medizinischen Enzyklopädien und Lehrbücher nach dieser Definition zu durchstöbern sich die Mühe machen, so würde er zu seinem Erstaunen sehr selten den Versuch gemacht finden, eine philosophisch propre Deutung dieses uns leider alle angehenden Begriffes zu geben. Lange Zeit hat Rudolf Virchows Ausspruch, daß die Krankheit »Leben unter veränderten Bedingungen« sei, wenn man so sagen darf, den Markt unseres biologischen Denkens beherrscht, bis man dahinterkam, daß damit die Unbekannte: Krankheit definiert werde durch das noch viel unbekanntere X: Leben, und durch ein häufig ebensowenig entschleierbares Y: die neuen oder veränderten Bedingungen.

Diese Definition Virchows, die übrigens einer Zeit entstammt, wo man noch nicht das Leben als einen Daseinskampf aller gegen alle (nach Darwin) ansah, war unzureichend, weil Unbekanntes mit Rätselhaftem erklärt werden sollte. Heute, wo vielfach die Krankheiten aufgelöst sind in Zellkämpfe belebter, freier Zellen (Bakterien) gegen die organisierten, zu Individualverbänden geschlossenen Leibeszellen (Gewebe), hat man die Krankheit wohl besser als eine Form des Kampfes um das Dasein, als einen Konflikt des Erhaltungsprinzips des Lebens mit dem Trieb seiner Vernichtung bezeichnet. Aber auch diese allzu philosophische Definition behagt uns nicht, wegen ihres indifferenten, für das Wohl und Wehe des Menschengeschlechts sich allzu wenig interessierenden Charakters. Wir verlangen instinktiv, aus dem naturgegebenen Sehnsuchtsgefühl der Menschenhoffnung heraus eine Definition des Leidens als eines Entwicklungsprozesses zur aufsteigenden Linie, mit einem Anflug von froher Aussicht, von Zukunftswerten und beseligenden Möglichkeiten! Und sonderbar! Meine von dem genialen Hygieniker Prags, Ferdinand Hueppe akzeptierte, an sich kühle und schlichte Definition der Krankheit – »sie ist eine Antwort der Abwehr auf Schädlichkeiten, für die der Mensch (und alle Lebewesen) nicht oder noch nicht eingestellt ist« – enthält diese frohe Botschaft und Zukunftshoffnung, die der Leidende und der Arzt so wohl vertragen können.

Sehen wir uns daher diese Reaktion des Menschen auf Schädlichkeiten einmal näher an. In der Tat, eingespannt als ein einzelnes, wohl von vornherein etwas begünstigtes Glied in der Kette der Lebenserscheinungen, hätte der Mensch im Kampfe mit Natur und Lebenskonkurrenten es ja ohne weitgehende Einstellung gar nicht »so herrlich weit« bringen können.

Wir können es uns, ausgestattet mit den befruchtenden Methoden Kant-Darwinscher Denkformen, gar nicht anders vorstellen, als daß alle unsere sicheren Bestände: die Konstanz der Körperwärme, das Gleichgewicht zwischen Nahrungs- und Arbeitsleistung, unser Herz- und Atmungsrhythmus, die Chemie unserer Verdauung im Kampfe mit unserem Milieu erworben sind, ja wir müssen zugeben, daß der eigentliche Schöpfer unserer lebenschützenden Handwerkszeugs vom Beil bis zur Büchse – unser Denkapparat – ein modifiziertes Tastorgan ist, das uns orientiert und von der ausweichenden, respektive sich anpassenden Ganglienzelle emporgereift ist zu dem Nervenwunder eines Erfindergehirns oder dem eines Philosophen. Wo die Natur der geformten Materie es ihr versagte, sich den Schädigungen der Umwelt entsprechend umzubilden, sich anzupassen, da gab die konstruktive Idee der geistigen Welt indirekte Kampfmittel – Kleidung, Ortswechsel, Waffe, Schutzwehren, menschliche Gemeinschaften, Trutzverbände – an die Hand. Alles das konnte nicht erreicht werden ohne die direkte (körperliche) oder indirekte (geistige) Einstellung des Menschen auf die bedrohenden Gefahren. Freilich nicht ohne Myriaden von Opfern von Einzelwesen zugunsten der Gesamtheit der Überlebenden und Nachgeborenen. Wenn ein nach vielen Tausenden zählendes Heer der Wanderschnecken einen Bach überschreiten will, so kann das nur geschehen, indem Tausende von Einzelschnecken sich ertränken und durch ihre kleinen Heldenleiber den paar Überlebenden eine Brücke bauen, über die sie siegreich das Leben ihres Stammes an ein Jenseitsufer tragen. Das ist das Bild der auch mit Opfern und durch sie siegenden Menschheit! So ist es nicht nur im Kampf mit den Elementen der Natur, bei Schiffsuntergängen und aeronautischen Katastrophen, wobei die notwendigen Anpassungen an die Gefahren der Umwelt ebenfalls mit unzähligen Opfern erkauft werden, so ist es auch im Kampf mit den kleinen, unsichtbaren Feinden des Lebens, den bekannten sowohl wie den unbekannten, den Seuchen, Epidemien und endemischen Würgengeln.