Aus Buenos Aires in die Welt - Johanna Sittel - E-Book

Aus Buenos Aires in die Welt E-Book

Johanna Sittel

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Beschreibung

Wirken sich Scheinselbstständigkeit, inoffizielle Lohnzahlungen und unbezahlte Familienarbeit auf die globale Ökonomie aus? Johanna Sittel durchleuchtet am Beispiel der argentinischen Automobilindustrie das Phänomen der informellen Arbeit. Informalität entsteht aus einem komplexen Zusammenspiel betrieblicher und häuslicher Strategien und ist von grundlegender Bedeutung für die Existenz von Haushalten und wirtschaftlichem Handeln. Das Buch deckt auf, wie stark unsichtbare Arbeitsformen in Betrieben und Haushalten auf lokaler Ebene in global ausgerichtete Güterketten und Produktionsnetzwerke involviert sind.

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Johanna Sittel

Aus Buenos Aires in die Welt

Die Bedeutung informeller Arbeit in der argentinischen Automobilindustrie

Campus VerlagFrankfurt/New York

Über das Buch

Wirken sich Scheinselbstständigkeit, inoffizielle Lohnzahlungen und unbezahlte Familienarbeit auf die globale Ökonomie aus? Johanna Sittel durchleuchtet am Beispiel der argentinischen Automobilindustrie das Phänomen der informellen Arbeit. Informalität entsteht aus einem komplexen Zusammenspiel betrieblicher und häuslicher Strategien und ist von grundlegender Bedeutung für die Existenz von Haushalten und wirtschaftlichem Handeln. Das Buch deckt auf, wie stark unsichtbare Arbeitsformen in Betrieben und Haushalten auf lokaler Ebene in global ausgerichtete Güterketten und Produktionsnetzwerke involviert sind.

Vita

Johanna Sittel ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Arbeitsbereich für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.

Übersicht

Cover

Titel

Über das Buch

Vita

Inhalt

Impressum

Inhalt

1.

Einleitung: Was hat ein Weltauto mit Informalität in Argentinien zu tun?

1.1

Globale Güterketten und Arbeit: Eine Informalitätsperspektive im lateinamerikanischen Kontext

1.2

Zur Verbindung von Informalität und der transnationalen Autoindustrie in Argentinien: Fragestellung und Suchthesen

1.3

Eine empirische Annäherung an Informalität in der transnationalen Autoindustrie Argentiniens: Aufbau der Arbeit

2.

Informalität: Begriffe und Konzepte

2.1

Ausgangspunkt: Marginalität und Unterentwicklung

2.2

Begriffliche Entwicklung und Lesarten: Facetten von Informalität

2.2.1

Dualistisch: Der urbane informelle Sektor, Unterentwicklung und Binnenmigration

2.2.2

Neomarxistisch-strukturalistisch: Informelle Lohnarbeit, Abhängigkeit und Funktionalität

2.2.3

Institutionalistisch: Extra-Legalität, »Marktwirtschaft von unten« und Überregulierung

2.2.4

Voluntaristisch: Exit, Exklusion und Autonomie

2.2.5

Anthropologisch: Soziale Netzwerke, Reziprozität und Vertrauen

2.2.6

Weltsystem- und subsistenztheoretisch: Ungleiche Entwicklung, Ausbeutung und Haushalt

2.2.7

Zusammenfassung und Fazit

2.3

Informalität revisited: Weitere aktuelle Ansätze der Informalitätsforschung

2.4

Probleme bisheriger Informalitätsforschung

2.5

Ein dynamisches Informalitätskonzept und klare Analysekriterien als Grundlage für zeitgenössische empirische Informalitätsforschung

3.

Kontextuelle Einbettung

3.1

Argentiniens politische Ökonomie: Zwischen Wohlstand und Abgrund

3.1.1

Die Vorgeschichte: Vom reichen Agrarexporteur über die peronistische Industrienation bis zur industriellen Demontage und Neoliberalisierung

Exportorientierung und Prosperität 1890–1929/30

Importsubstituierende Industrialisierung (ISI) und Peronismus 1930–1976

Finanzialisierung und beginnende Neoliberalisierung zwischen Militärdiktatur und Redemokratisierung 1976–1990

3.1.2

Von Deregulierung und massiver Marktöffnung zur fundamentalen Krise: Die neoliberale Entwicklung Argentiniens von 1990 bis 2001

3.1.3

Argentiniens politische Ökonomie und informelle Arbeit: Eine kurze Bilanz bis 2001

3.2

Der »kirchnerismo« und die Ambivalenzen einer ökonomischen und sozialen Restrukturierung

3.2.1

Wirtschaftspolitische Umorientierungen unter den Kirchner-Regierungen und ihre Grenzen

3.2.2

Arbeitsmarkt, Soziales und industrielle Beziehungen unter den Kirchner-Regierungen: Politische Maßnahmen, Erfolge und Probleme

3.2.3

Die konkreten Rahmenbedingungen für Arbeitende und ihre Haushalte 

3.2.4

Informelle Arbeit unter den Regierungen Kirchner: Eine Erfolgsgeschichte?

3.3

Die Automobilindustrie und Argentinien: Untrennbar und doch entzweit

3.3.1

Die Entwicklung der Automobilindustrie aus globaler Perspektive

3.3.2

Vom Rastrojero zum VW-Amarok: Kurze Geschichte der argentinischen Automobilindustrie

Vorreiter (1900–1950)

Konsolidierung und Hochphase (1950–1975)

Krise (1975–1990)

Restrukturierung und neuer Höhepunkt (1990–2010)

3.3.3

Aktuelle Abhängigkeiten, wirtschaftspolitische Rahmenbedingungen und Entwicklung des Sektors seit/unter den Kirchner-Regierungen

4.

Methodische Grundlagen und Forschungsdesign

4.1

Methodologische Grundlagen

4.2

Angewandte Methoden, Sample, Erhebung und Auswertung

4.2.1

Qualitativer Methodenmix: Haushalts- und Betriebsfallstudien, Experteninterviews und Dokumenten-/Sekundäranalysen

Betriebliche (Kurz)Fallstudien

Haushalts(kurz)fallstudien

Problemzentrierte Leitfadeninterviews

Beobachtungen

Dokumenten- und Sekundäranalyse

4.2.2

Feldzugang, Fallauswahl und Datenerhebung

Feldzugang

Fallauswahl und Erhebungsprozess

4.2.3

Auswertung der Daten

4.2.4

Probleme bei der Operationalisierung, Erhebung und Datenanalyse 

5.

Informelle Arbeit im Betrieb

5.1

Empirische Basis: Die Betriebsfälle

5.2

Formen informeller Arbeit in Industriebetrieben und assoziierten Dienstleistern

5.2.1

Informelle Lohnabhängige

Informelle Beschäftigung

Informelle Lohnanteile

Informelle Überstunden

Vernachlässigung der Sozialversicherungsbeiträge und sonstiger Arbeitnehmerrechte

5.2.2

Informelle Selbstständigkeit

Nicht registriert auf eigene Rechnung (cuenta propia)

Monotributo

5.2.3

Unbezahlte Familienarbeit und Extra-Legalität

5.2.4

Informalität und die Grauzonen (in)formeller Arbeit in Produktionsstätten

5.3

Ursachen, Motive und unternehmensstrategische Nutzung informeller Arbeit

5.3.1

Informalisierung als Mechanismus ökonomischer Anpassung: Flexibilisierung, Kostenreduzierung und Dezentralisierung

Informalisierung als Flexibilisierung

Informalisierung als Kostenreduktion

Informalisierung durch Dezentralisierung: Auslagerung in ungeregelte und ungesicherte Bereiche

5.3.2

Informalisierung als Herrschaftsmodus: Disziplinierung und Fragmentierung

5.3.3

Deregulierung und die Verbreitung informeller Arbeit in den Betrieben

5.3.4

Habitus und Wissen als weitere Faktoren der Informalisierung

Habitus

Wissen: Mangelnde Professionalität, Qualifizierungs- und Aufklärungsdefizite

5.3.5

Ursachenkomplex und Typen unternehmerischer Informalisierung

I. Profitorientierte Überausbeutung

II. Druckausgleich

III. Duldung externer Informalität

IV. Diffus-traditionelle Informalisierung

6.

Informelle Arbeit im Haushalt

6.1

Empirische Basis: Die Haushaltsfälle

 6.2

Formen informeller Tätigkeiten auf Haushaltsebene

6.2.1

Informelle Arbeit als zweites Haushaltseinkommen

6.2.2

Changas als informeller Nebenerwerb

6.2.3

Informell und frei: Informelle Selbstständigkeit

6.2.4

Arbeit im Schatten: Extra-Legalität, Subsistenz und Reproduktion

6.2.5

Informalität auf Konsumebene: Sparsamkeit und Einkaufen im informellen Sektor

6.2.6

Formen informeller Arbeit entlang der Erwerbsbiografien

6.2.7

Facetten informeller Arbeit auf Haushaltsebene (Zwischenfazit)

6.3

Zur haushaltsstrategischen Nutzung informeller Arbeit: Vom Arbeiter zweiter Klasse bis zum Kleinunternehmer 

6.3.1

Häusliche Informalität als Mechanismus ökonomischer Anpassung

Einkommenssteigerung und Ausgabenreduzierung

Krisenabsorption und Flexibilisierung

6.3.2

Häusliche Informalität als Emanzipationsmodus

6.3.3

Informalisierung in Haushalten durch staatliche Abwesenheit

6.3.4

Häusliche Informalität als Herrschaftsmodus

6.3.5

Habitus, kulturelle Werte, persönliche Einstellung und Wissen als weitere Faktoren der Informalisierung auf Haushaltsebene

6.3.6

Ursachenkomplex und Typen der strategischen Nutzung informeller Arbeit auf Haushaltsebene

I. Überlebenspraxis

II. Besser-Leben/vivir-mejor-Pragmatik

III. Emanzipationsstrategie

7.

Informalität zwischen häuslicher und betrieblicher Arbeit: Strategien und Ambivalenzen

7.1

Informalität ist überall: Vielfältige Formen informeller Arbeit zwischen Haushalt und Betrieb

7.2

Hintergründe und Motive von Informalität: Kontextualisierte Unternehmens- und Haushaltsstrategie

7.3

Ambivalenz informeller Arbeit: Informalität als Mechanismus der Prekarisierung und sozialer Absicherung

8.

Fazit: Kein Auto ohne Informalität – vom Zusammenhang von informeller Arbeit und formeller Produktion

8.1

Zusammenfassung der Ergebnisse

8.2

Informalität als Fundament kapitalistischer Produktionsweise: Treiber der Akkumulation und vermeintliches Transformationspotential

8.3

Schlussbemerkungen und Ausblick: Informalität als Schlüsselkategorie für eine kritische Gesellschaftsanalyse

Abkürzungen

Abbildungen

Tabellen

Literatur

Anhang

Anhang I: Liste der erhobenen Interviews

Anhang II: Fotos

Dank

1.Einleitung: Was hat ein Weltauto mit Informalität in Argentinien zu tun?

Seit 2010 baut Volkswagen (VW) den Pickup Amarok am Standort General Pacheco im Norden von Buenos Aires für den lokalen und den globalen Markt, mit dem Ziel 90.000 Fahrzeuge pro Jahr herzustellen. Der Pickup wird in 35 Länder exportiert. Zum Werk kommt man ohne eigenen PKW nur mit dem Colectivo – also dem öffentlichen Bus –, der von der Innenstadt aus zwischen einer und zweieinhalb Stunden braucht. Die meisten Busse fahren nicht bis zum Werk, sondern nur bis zu einer 200 Meter weit entfernten Kreuzung der Schnellstraße. Auf der Fahrt nach Pacheco wird man mit den typischen Kontrasten einer lateinamerikanischen Großstadt konfrontiert: Auf regelmäßig verstopften Straßen wechseln sich Straßenbilder von informellen Siedlungen am Rande der Autobahn mit an beschauliche Festungen erinnernden »barrios cerrados« (gated communities) der reichen Bevölkerung ab. Um das VW-Werk Pacheco und die Nachbarfabrik von Ford liegen beide Welten direkt nebeneinander. Pferdekarren teilen die Straße mit neuesten SUVs der internationalen Autoindustrie. Während die einen ihren Coffee to go im Starbucks um die Ecke kaufen, sind andere auf die informellen Händler*innen1 angewiesen, die morgens in den Bussen heißen Nescafé aus Styroporbechern und Sandwiches oder Süßigkeiten verkaufen. Diese »Anderen« arbeiten zwar meist nicht bei VW, wo verhältnismäßig privilegierte Löhne gezahlt werden, aber durchaus bei anderen Autoherstellern – ich treffe einige Fordarbeiter*innen im Bus – oder bei den hunderten (Sub)Zulieferern oder Dienstleistern des argentinischen Produktionsnetzwerks Automobil. Sie sind nicht nur auf informellen Konsum, sondern häufig auch auf informelle Arbeit angewiesen.

Lateinamerika2, in dessen Kontext die oben genannten Erzählung einzubetten ist, lässt sich als periphere Weltregion verstehen (Boris 2007), deren Funktion auf dem Weltmarkt vor allem darin besteht, die industrialisierten Länder mit Rohstoffen und Lebensmitteln zu versorgen (Marini 1974; 2008). Dieses Phänomen ökonomischer Abhängigkeiten wurde in der wissenschaftlichen Literatur besonders von dependenztheoretischen (u.a. Frank 1969; Cardoso/Faletto 1976; Marini 1974) und weltsystemtheoretischen Ansätzen (Hopkins/Wallerstein 1982; Wallerstein 2004) aufgegriffen. Die strukturelle Abhängigkeit der Peripherien beziehungsweise Satelliten von den kapitalistischen Zentren beziehungsweise Metropolen hat jedoch nicht nur externe Ursachen, sondern reproduziert sich durch entsprechende Anpassungsmechanismen in den lateinamerikanischen Nationalökonomien. So bezeichnet Marini, der eher der marxistischen Dependenzschule zuzuordnen ist, die Dependenz als dialektisches Phänomen (1974). Diese fußt nicht nur auf externer Abhängigkeit und Ausbeutung, sondern auch auf die für Lateinamerika typische Überausbeutung der Arbeitskraft3, um das Produktivitätsdefizit gegenüber den kapitalistischen Zentren auszugleichen (ebd.). Marini spricht in dem Zusammenhang von Subimperialismus (ebd.). Das heißt nicht nur externe, sondern auch interne Faktoren führen zu der peripheren Position in der Weltwirtschaft. Einige Autoren betonen konkret die ebenso große Bedeutung nationaler ökonomischer Eliten und spezifischer institutionell-staatlicher Konstellationen für die Abhängigkeitssituation Lateinamerikas und die sozialen Ungleichheiten (Cardoso/Faletto 1976; auch: Bértola 2007: 68 ff.; Boris 2009). Die ökonomischen Abhängigkeiten und (post)kolonialen Strukturen haben über die ökonomischen Aspekte hinaus eine weitreichendere Tragweite, die unter anderem die Herrschaftsstrukturen und kulturellen Besonderheiten sowie Wertevorstellungen bestimmt. So ist »strukturelle Abhängigkeit« (zum Begriff: Quijano 1974) bei Ánibal Quijano eng mit der »Kolonialität der Macht« (Quijano 2000) verbunden.

Ausdruck jener Hierarchien und Abhängigkeiten im Weltsystem und ein wesentlicher Bestandteil der damit verbundenen, für Lateinamerika typischen, sozialen Ungleichheiten stellt Informalität dar. Der sogenannte informelle Sektor und informelle, also nicht regulierte ökonomische Tätigkeiten sind ein wesentliches Element der »strukturellen Heterogenität«, das heißt der Parallelität verschiedener Produktionsverhältnisse, die den lateinamerikanischen Arbeitsmärkten zugeschrieben wird (Córdova 1973). Von einigen Autoren wurde Informalität in den 1970er Jahren als Hauptursache für die sogenannte Unterentwicklung angesehen (z.B. Hart 1973). Einigkeit herrscht jedenfalls darüber, dass Informalität ein typisches Phänomen für periphere Gesellschaften darstellt, welches im Laufe der letzten Jahrzehnte nicht an Relevanz eingebüßt hat. Im Gegenteil: Gerade während der 1990er Jahre kam es in Lateinamerika zu einer Heterogenisierung und Expansion informeller Arbeit (Weller 2003: 50 ff.). Das gilt auch für Argentinien, dem als Land der Semiperipherie eine Mittlerposition zwischen den technologieorientieren industriellen Zentren und den rohstoffliefernden Peripherien zugeschrieben wird (Wallerstein 2004: 23 ff.).

Das Eingangsbeispiel stammt aus den empirischen Erhebungen, die im Rahmen der dieser Arbeit zugrundeliegenden Untersuchung durchgeführt wurden, und verdeutlicht das paradoxe Nebeneinander formeller Produktion transnationaler Konzerne und dem in Argentinien allgegenwärtigen Phänomen informeller Arbeit. Doch haben diese beiden »Welten« tatsächlich etwas miteinander zu tun? Wie kommt die Produktion eines Weltautos, wie es der VW Amarok ist, mit Informalität in Berührung? Während in den 1950er Jahren der Traum vom Weltauto entstand und mit einzelnen Modellen wie dem Peugeot Dauphine und dem VW Käfer erstmals greifbar wurde – zumindest durch den Export in die USA –, ist es heute Alltagswerk der transnational ausgerichteten Autoindustrie. Ziel dabei ist es, möglichst standardisierte Fahrzeugmodelle an verschiedenen Standorten der Welt mit geringer Fertigungstiefe zu produzieren und so möglichst viele Märkte mit dem Produkt zu versorgen. Wenngleich das Weltauto im Sinne eines Modells, dass sich überall auf der Welt verkaufen lässt, weiterhin utopischen Gedankenspielen vorbehalten bleibt, hat die von transnationalen Konzernen dominierte Autoindustrie regional angepasste Produktionsnetzwerke geschaffen, die zahlreicher standardisierte Module oder Einzelteile des Fahrzeugs – vom Sitz über Einspritzventile bis hin zu den Knöpfen für das Armaturenbrett – just in time an Montagewerke wie das von VW in General Pacheco liefern. Daran sind vor allem – zum Teil lokal ansässige – transnationale Zulieferer und lokale zuarbeitende Unternehmen beteiligt.

Das Auto ist zwar stets präsent in wissenschaftlichen und öffentlichen Debatten. Aktuell sorgt die Debatte um neue Antriebsstränge und smarte Ausstattung von Fahrzeugen für viel öffentliche Aufmerksamkeit. Über die Arbeitsbedingungen in den transnationalen und lokalen Lieferketten der Produktionsstandorte im Globalen Süden wird jedoch kaum ein Wort verloren. »Schmutzige« Arbeit wird im Zusammenhang mit der Autoindustrie meist nur bezüglich der Rohstoffgewinnung erwähnt (Seiwert u.a. 2017), gelten die Löhne bei den beteiligten Produktionsfirmen meist doch als vergleichsweise hoch. Das trifft allerdings maximal auf einige der Endhersteller zu. »Schmutzige« Arbeit wird nicht nur über die Rohstoffgewinnung oder die Textilproduktion in andere Länder »externalisiert« (Lessenich 2016), sondern ist ein fester Bestandteil der Automobilfertigung an sich. Das Eingangsbeispiel legt nahe, dass die Produktion eines internationalen Autokonzerns in Argentinien insbesondere mit den Phänomenen informeller Arbeit in Berührung kommt. Selbst eine wirtschaftlich bedeutende und als gut reguliert geltende Branche wie die argentinische Automobilindustrie4, die seit den 1950er Jahren von transnationalen Endfertigern wie Renault, Fiat oder VW dominiert wird und unter einem besonderen internationalen Druck steht5, kommt scheinbar nicht ohne Informalität aus. Zwar gelten die Produktionsstätten der ausländischen und großen lokalen Firmen als weitestgehend formalisiert und ein Job dort daher als Privileg. In den kleinen und mittleren Zulieferbetrieben sowie im Dienstleistungssektor wird allerdings nicht selten auf (teil)informelle Praktiken zurückgegriffen. Gleiches gilt für Nebeneinkünfte auf Haushaltsebene. Trotzdem wird informelle Arbeit im Zusammenhang mit der Automobilindustrie, die auch in Argentinien von den politischen Akteuren meistens protegiert wurde, weder in der Wissenschaft noch von den großen Gewerkschaften stark thematisiert.

1.1Globale Güterketten und Arbeit: Eine Informalitätsperspektive im lateinamerikanischen Kontext

Vor dem Hintergrund eines zunehmend global operierenden Kapitalismus kreisten die Diskussionen immer wieder um neue Formen von Arbeitsteilung, Organisation und Produktionsweise, die sich seit den 1970er Jahren etabliert haben und die sogenannte postfordistische Ära charakterisieren. Jene transnationale Produktionsweise ist gekennzeichnet durch globale Güterketten (Staritz u.a. 2010; konzeptionell: Hopkins/Wallerstein 1986) beziehungsweise Produktionsnetzwerke (Dicken 2011), die nicht nur neue Organisationsformen von Produktion, sondern auch weitere Abhängigkeiten zwischen Peripherien und Zentren im Weltsystem hervorbrachten beziehungsweise zur Reproduktion bereits bestehender beitrugen (Graf u.a. 2020). In den viel zitierten Untersuchungen zu globalen Güter- (global commodity chains) und Wertschöpfungsketten (global value chains)6 (Bair 2010; Gereffi/Korzeniewicz 1994; Gereffi/Kaplinsky 2001) sowie Produktionsnetzwerken (z.B. Dicken 2011) bestand jedoch lange ein Defizit an einer systematischen Betrachtung der Arbeitsbeziehungen. Inzwischen werden in der Güterkettenforschung von einigen Autor*innen zwar geringe Löhne, prekäre Arbeitsbedingungen, Arbeitsprozesse oder Armutsstrukturen vor Ort problematisiert (z.B. Barrientos 2019; Newsome u.a. 2015; Nathan u.a. 2016; Flecker/Meil 2008; Flecker 2012; Butollo 2014; Lee u.a. 2011; Selwyn 2019). In ihrem Sammelband thematisieren Newsome u.a. beispielsweise verschiedene Arbeitsprozesse in unterschiedlichen Ländern der Welt und deren jeweilige Mehrwertschaffung für die Produktion von Waren und Dienstleistungen (2015). Selwyn fokussiert in einer umfassenden Studie zur Bekleidungs- und Elektronikindustrie am Beispiel Kambodschas und Chinas »poverty chains« als fundamentalen Bestandteil des globalen Kapitalismus (2019). Und auch in den jüngeren Untersuchungen zu Güterketten mit Imperialismusbezug (Smith 2016; Suwandi 2019) werden die globalen Ungleichheiten entlang von Warenketten anschaulich thematisiert. So zeigt John Smith unter anderem am Beispiel eines T-Shirts aus Bangladesch, wie die Profite nur zu einem Bruchteil in den Herstellerländern verbleiben, und sich dort am allerwenigsten in den Löhnen der Arbeiter*innen niederschlagen (2016: 12 f.). Aktuell erwächst also in dem Bereich eine neue Debatte um Arbeit und Armut im Zusammenhang mit globalen Produktionsnetzwerken. Informalität spielt in diesen Analysen jedoch kaum eine Rolle. Das gleiche gilt für den Haushalt und die darin involvierten Subjekte. Folglich wird die Debatte um globale Warenketten bis auf wenige Ausnahmen (Dunaway 2013a; Fischer 2020; Sproll 2020) weitestgehend losgelöst von Informalität und Haushalten geführt – schon gar nicht in Verbindung mit der Autoindustrie in Argentinien. Die meisten der genannten Studien fokussieren empirische Beispiele aus dem asiatischen Raum, die häufig in der Bekleidungs- oder Elektronikindustrie oder der Lebensmittelproduktion angesiedelt sind. Neben der Abhängigkeitsdebatte (semi)peripherer Länder und Arbeit/Armut in globalen Warenketten bestehen jeweils eigene, weitestgehend voneinander losgelöste Diskurse zu Informalität und der Autoindustrie (allgemein und in Argentinien), die ich im Rahmen dieser Arbeit verbinden möchte.

Denn nicht nur die strukturellen Abhängigkeiten Lateinamerikas, sondern auch die global ungleich wertverteilenden Produktionsnetzwerke wirken sich auf die Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit aus. Das gilt sowohl für ökonomische Aktivitäten selbst als auch für ihre regulierenden Rahmenbedingungen. Mit dem steigenden internationalen Wettbewerbsdruck gingen zahlreiche Maßnahmen der Flexibilisierung von Arbeitsbeziehungen einher, denen in vielen Staaten deregulierende Arbeitsmarktreformen im Zuge neoliberaler Austeritätspolitiken7 in die Hände spielten. Das führte dazu, dass heute in den sogenannten Industrieländern von der Erosion des fordistischen Normalarbeitsverhältnisses gesprochen wird. Viele Beschäftigte sind mit einer neuen Intensität von Instabilität des Einkommens und von Unsicherheit am Arbeitsplatz konfrontiert, die inzwischen globale Ausmaße angenommen hat (Altvater/Mahnkopf 2002; Mahnkopf/Altvater 2015). Daran sind nicht nur Prekarisierungs-, sondern vor allem Informalisierungsprozesse beteiligt. Weltweit arbeiten derzeit 61 Prozent der insgesamt global Erwerbstätigen informell (ILO 2018: 13; ILO 2020: 19). Im informellen Sektor wird mit 25 bis 50 Prozent ein beträchtlicher Anteil am globalen Bruttoinlandsprodukt (BIP) – ohne Landwirtschaft – erwirtschaftet (Charmes 2012). Je nach Weltregion beträgt der Anteil der informellen Ökonomie zwischen 15 und 45 Prozent, wobei der Anteil in den Nationen mit hohem Einkommen am geringsten (unter 20 Prozent) und bei den Ländern mit geringem Einkommen am höchsten ist (Roberts 2014: 423). Informalität kennzeichnet dabei nicht nur Lateinamerikas Arbeitsmärkte, wie oben eingeführt, sondern vor allem die des sogenannten Globalen Südens8 insgesamt. Gleichzeitig lässt sich in den letzten Jahrzehnten eine Zunahme des Informellen auch in Ländern des sogenannten Globalen Nordens beobachten (z.B. Burchardt u.a. 2013; Mayer-Ahuja 2012; ILO 2015). Während der Anteil an Informellen in Europa (noch) bei meist unter 20 Prozent liegt, arbeiten in Ländern Asiens und Lateinamerikas in der Regel weit über zwei Drittel informell, im Großteil der afrikanischen Länder sind es sogar über 90 Prozent (ILO 2018: 13). Das betrifft in der Regel nicht nur die informell Tätigen allein, sondern auch ihre Haushalte. Die einzelnen Formen der Informalität variieren zwischen Zeit und Raum der globalen Ökonomie. Angesichts der hohen Zahlen ist der Einwand berechtigt, dass die informelle eigentlich als die normale Arbeit gelten müsste (OECD 2009). Damit zeigt sich, dass Informalität eine größere Relevanz hat, als es die ersten Studien aus den 1970er Jahren zu Unterentwicklung noch vermuten ließen. Dieser offensichtlichen Bedeutung von informeller Arbeit werden die oben genannten Forschungsperspektiven auf globale Güterketten nicht gerecht. Das ist im Besonderen mit Bezug auf die Automobilindustrie der Fall.

Obwohl die Automobilindustrie ein beliebter Gegenstand (industrie-) soziologischer Forschung ist (z.B. Voskamp/Wittke 2012), wissen wir nur wenig über lokale Zulieferer außerhalb Deutschlands und nahezu nichts über die dort arbeitenden Subjekte. Informelle Arbeit und die Haushaltsebene finden in Untersuchungen der Automobilindustrie zudem keine Berücksichtigung. Ohnehin wird der Anspruch, der Bedeutung von Arbeit in Analysen zu (überregionaler) Produktionsweise gerecht zu werden, in der Forschungspraktik nur selten eingelöst. Zudem mangelt es insgesamt an Erkenntnissen über Arrangements jenseits formeller Lohnarbeit (Aulenbacher/Riegraf 2011) und darüber, wie sich Arbeiter*innen und Haushalte tatsächlich reproduzieren (Jürgens 2012). Weder die (betriebliche) Organisationssoziologie noch die Arbeits- und Industriesoziologie waren bisher in der Lage, Arbeitsverhältnisse dahingehend allumfassend zu analysieren. Die organisationssoziologischen Betrachtungen erreichen gar nicht erst die Ebene der Arbeiter*innen (z.B. Eckhardt u.a. 1999; Freyssenet 2009). Und die Industriesoziologie (z.B. Schumann 2003) klammert mit ihrem Betriebsfokus die Haushaltsebene gänzlich aus, obwohl deren zentrale Bedeutung für die Reproduktion der Arbeitskraft, aber auch für die gesellschaftliche Gesamtkonstellation, mehrfach bewiesen wurde (Biesecker u.a. 2012; Biesecker/Winterfeld 2011). Abgesehen von Ausführungen zu unbezahlter Eigenarbeit der Beschäftigten im Arbeitsprozess (z.B. Böhle 2015; Wolf 1999) und zu informeller als gemeinnütziger Arbeit (z.B. Bode 2018) spielt der Begriff Informalität in den genannten soziologischen Feldern traditionell keine erwähnenswerte Rolle. Der hier verwendete Begriff von Informalität ist davon abzugrenzen. Er entstand aus der Entwicklungsperspektive heraus (s.u.) und gewinnt langsam auch in der deutschsprachigen Debatte um Arbeit im internationalen Kontext an Attraktivität (Maher-Ahuja 2012; interdisziplinär: Burchardt u.a. 2013a). Trotzdem bleiben jene Formen von Erwerbstätigkeit in der hiesigen Prekaritätsforschung (z.B. Brinkmann u.a. 2006; Castel/Dörre 2009; Paugam 2008), die zunehmend Anerkennung und Anwendung im Globalen Süden findet (z.B. Neffa 2010; Munck 2013; Busso/Peréz 2011), bislang weitestgehend unberücksichtigt. Außerdem sind hiesige Forschungsperspektiven auf Arbeit insgesamt bis heute zu großen Teilen von Eurozentrismus und methodologischem Nationalismus geprägt (Neuhauser u.a. 2019a; auch: van der Linden 2008).

Informalitätsforschung hat dagegen traditionell eine internationale Ausrichtung mit besonderem Fokus auf den Globalen Süden. Außerdem erlaubt sie den Blick auf die Arbeiten im Schatten der formellen Märkte und bezieht dabei globale Produktionszusammenhänge mit ein. Der Blick auf Arbeitsformen jenseits formeller Lohnarbeit erlaubt es, Haushalte systematisch mit in Analysen einzubeziehen – wenngleich dies nur von wenigen Autor*innen systematisch getan wird. Neben dem Phänomen des informellen Sektors wurden im Laufe der Zeit auch informelle Beschäftigung und Selbstständigkeit im formellen Sektor beleuchtet. Die einzelnen Autor*innen der Informalitätsforschung fokussieren meist nur Teilaspekte des viel komplexeren Forschungsgegenstands. Dadurch spiegelt die Debatte die soziale Realität nur lückenhaft wider. Außerdem hat die bisherige Informalitätsforschung nur selten Betriebs- und Haushaltsebene gemeinsam betrachtet oder gar in einen direkten Zusammenhang gebracht. Während die meisten Analysen sich auf ökonomische und institutionelle Faktoren konzentrierten (de Soto 1992; Hussmanns 2005; ILO 2002, 2007, 2011; Portes u.a. 1989; Tokman 2007), blieben subjektive Beweggründe und Verarbeitungsstrategien in der Regel genauso unberücksichtigt wie Haushalte. Das Gleiche gilt für Grauzonen zwischen formeller und informeller Arbeit sowie teilinformelle Beschäftigungsformen. Informalität aus Akteursperspektive wurde bislang nur am Rande oder aus einem zu subjektivistischen Kosten-Nutzen-Kalkül heraus (Perry/Maloney 2007) behandelt. Haushalte werden gezielt nur aus der subsistenz- und weltsystemischen Perspektive einbezogen (Smith u.a. 1984; Wallerstein 2012; Werlhof u.a. 1983). Die eben angerissenen Forschungslücken stehen in engem Zusammenhang mit dem Hauptmanko der Informalitätsforschung: Einem Empiriedefizit. Die statistisch erhobenen Daten zu informeller Arbeit bilden bei Weitem nicht den realen Umfang und Facettenreichtum informeller Arbeitsformen ab (Altvater/Mahnkopf 2002; Mahnkopf/Altvater 2015) und geben außerdem keinen Aufschluss über komplexe Fragestellungen wie den Zusammenhang von Informalität und Formalität.9 Es mangelt an umfassender aktueller Empirie dazu. Angesichts der Masse an Informellen wirken die existierenden Studien alles andere als angemessen. Qualitative Methoden stellen zudem nur selten das Hauptanalyseinstrument dar.

An dieser Stelle setzt die vorliegende Arbeit an. Sie verfolgt insgesamt vier Ziele: Erstens soll sie einen Beitrag zur Auflösung des qualitativen Empiriedefizits der Informalitätsforschung leisten und dabei sowohl eine strukturelle als auch eine akteurspezifische Perspektive einnehmen, die die dynamischen Austauschbeziehungen zwischen Betrieb und Haushalt mitdenkt. Gleichzeitig sollen die Facetten des Informellen umfassend sichtbar gemacht und nach Möglichkeit systematisiert werden. Es geht darum, spezifische Ausprägungen informeller Arbeit zu erforschen und ihren Beitrag zur formellen Produktion zu untersuchen. Zweitens sollen Informalität und Haushalte in globalen Güterketten sichtbar gemacht und ihr konkreter Beitrag an der globalen Produktion ergründet werden. Damit soll ein Beitrag zur Güterkettenforschung geleistet und die neue Debatte um Armut und Arbeit in globalen Warenketten um die bislang weitestgehend unsichtbaren informellen Tätigkeiten bereichert werden. In dem Zusammenhang können gleichermaßen empirisch ergründbare Mechanismen informeller Arbeit in globalen Warenketten zur Informalitätsdebatte beigesteuert werden. Drittens verfolgt diese Arbeit das Ziel, Lateinamerika am konkreten Beispiel Argentiniens wieder mehr in den Fokus zu rücken beziehungsweise in die Diskussionen zurückzuholen, um die vorherrschenden Erkenntnisse aus dem asiatischen Kontext fruchtbar mit Erfahrungen aus dem lateinamerikanischen Raum zu ergänzen. Argentinien eignet sich besonders als Untersuchungsgegenstand, da hier nicht nur Informalität, sondern auch die transnationale Autoindustrie eine große Rolle spielt. Letztere ist zudem von einer ausgesprochen hohen Außenabhängigkeit geprägt. Viertens steht die Verbindung zweier Untersuchungsgegenstände im Fokus, die sonst eher nicht zusammen in Erscheinung treten: Informalität und die Automobilindustrie. Aus Ermangelung an Daten von Informalität in der Autoindustrie wird das wiederum nur über eine qualitative Erhebung möglich. Darüber hinaus sollen die Ergebnisse des Promotionsprojekts zu einer globalen Perspektive auf Arbeit beitragen und die hiesigen Debatten um Prekarität und die Funktionsweise des Kapitalismus um eine Subjekt- und Haushaltsperspektive bereichern. Die hier zu entwickelnden empirischen Erkenntnisse sollen die Debatte um Informalität bereichern und zu einer Annäherung an arbeits- und industriesoziologische Diskussionen beitragen.

Insgesamt wagt diese Arbeit eine Informalitätsperspektive auf globale Güterketten und Arbeit im lateinamerikanischen Kontext und nimmt dabei konkret die Autoindustrie10 in Argentinien in den Blick. Sie basiert auf einer qualitativen empirischen Studie mit explorativem Charakter, die vordergründig auf Experteninterviews sowie Kurzfallstudien in Haushalten und Betrieben fußt, die hauptsächlich 2015 und 2016 an den bedeutendsten Standorten der argentinischen Autoindustrie Buenos Aires und Córdoba sowie zu kleineren Anteilen in Rosario durchgeführt wurden. Die Untersuchung fokussiert vor allem die Peripherien der Warenkette und schließt neben Unternehmen (inklusive betriebsnaher Dienstleistungen) und Haushalten, die in die direkte Lieferkette der Autoherstellung involviert sind, auch Fälle aus dem Bereich der Kfz-Werkstätten mit ein. Welche konkreten Forschungsfragen und Vorannahmen der Untersuchung zugrunde liegen, ist Gegenstand des folgenden Unterkapitels.

1.2Zur Verbindung von Informalität und der transnationalen Autoindustrie in Argentinien: Fragestellung und Suchthesen

Angesichts des hohen Anteils informeller Arbeit an der gesamten Erwerbstätigkeit einzelner Länder und auf globaler Ebene scheint es, als komme die kapitalistische Akkumulation nicht ohne informelle Arbeit aus. Aus dieser Vermutung ergeben sich folgende Fragen: Inwiefern sind informelle Arbeitsformen lokal tatsächlich in global ausgerichtete Güterketten beziehungsweise Produktionsnetzwerke involviert? Welche Verbindung besteht zwischen formeller Produktion (eingebettet in eine globale Ökonomie) und informeller Arbeit? Diese Beziehung erscheint vor dem Hintergrund der Dynamik der kapitalistischen Akkumulation und seiner permanenten Krisenanfälligkeit von besonderem Interesse. Anders formuliert: Wie hängt also die formelle Produktion von Gütern mit informeller Arbeit zusammen? Dieser Fragestellung widmet sich die vorliegende Dissertation am Beispiel der argentinischen Automobilindustrie. Im Detail geht es darum, Antworten auf folgende Problemstellungen zu finden: Wo genau liegen die Verzahnungen zwischen der transnational operierenden Automobilindustrie in Argentinien und Formen informeller Arbeit? Auf welche Art und Weise »arbeitet« Informalität der stark formalisierten Automobilproduktion transnationaler Konzerne in Argentinien zu oder wird von derselben (mit)erzeugt? Um diesem Fragekomplex nachzukommen, ist es notwendig, sich in der Untersuchung mit zwei Aspekten zu beschäftigen. Erstens: Welche Formen von Informalität lassen sich in an der Güterkette beteiligten Betrieben und Haushalten finden? Und zweitens: Welche Motive und Strategien stecken aus Unternehmens- und Haushaltsperspektive möglicherweise dahinter oder werden gar explizit eingesetzt?

Zu Beginn der Studie wurden folgende Suchthesen formuliert, die im Laufe des empirischen Forschungsprozesses generell zu überprüfen und zu spezifizieren sind:

a)  Es existieren verschiedene Formen informeller Arbeit in unterschiedlichen Bereichen, die vom informellen Sektor über formelle Betriebe bis hin zum Haushalt reichen. Dabei sind nicht nur informelle Beschäftigung und Selbstständigkeit ein Thema, sondern auch teilinformelle Praktiken wie Scheinselbstständigkeit oder informelle Lohnanteile. Letztere sind auch unter dem Begriff Grauzonen der Arbeit fassbar. Insgesamt lässt sich zwischen einkommensgenerierender, warenförmiger Informalität und gebrauchswertorientierter Informalität, die Subsistenzarbeiten umfasst, unterscheiden.

b)  Die kapitalistische Produktion ist auf informelle Arbeit angewiesen, insbesondere in instabilen und stark von außen abhängigen Ökonomien wie der argentinischen. Informalität gehört hier zum Alltag und bestimmt die (ökonomischen) Aktivitäten in Betrieben und Haushalten. Entlang der Güterketten kommt es zu einer massiven Hierarchisierung der Beschäftigungsformen, wobei Informalität vor allem durch Auslagerung von Produktionsschritten und Dienstleistungen entsteht.

c)  Die Verzahnung zwischen informeller Arbeit und formeller Produktion von Gütern kann nur unter Einbeziehung zweier Aspekte vollständig erschlossen werden. Neben der Unternehmensperspektive müssen unbedingt der Haushaltszusammenhang der Arbeiter und die dort verrichteten Tätigkeiten mitberücksichtigt werden. Denn die Bedeutung von Informalität in den Arbeiterhaushalten ist hoch, um die strukturelle Unsicherheit auf dem Arbeitsmarkt zu kompensieren.

d)  Informalität wird auf doppelte Art und Weise erzeugt beziehungsweise (re)produziert: Auf der betrieblichen und der Haushaltsebene. Einerseits dient sie als Unternehmensstrategie: Unter anderem führt hoher Wettbewerbsdruck zur Anwendung informeller Beschäftigungsverhältnisse durch Firmen – auch mithilfe von Externalisierung –, um Kosten zu vermeiden und Flexibilität zu erhöhen. Andererseits findet Informalität als Haushaltsstrategie Anwendung: Beschäftigte des Sektors und ihre Familien greifen auf informelle (Neben-)Tätigkeiten zurück, einige sogar aus strategischen Gründen, um ihr Überleben zu sichern und/oder einen höheren Lebensstandard zu erreichen.

In Anlehnung an die Vorannahmen wird in dieser Arbeit das lokale/regionale Produktionssystem in Form verschiedener Betriebe in den Blick genommen. Hier stehen die (Sub-)Zulieferer und Dienstleister (Logistik, Catering, Sicherheit, Reinigung, Wartung, Kfz-Handwerk etc.) der Automobilindustrie im Fokus. Zum anderen wird die Perspektive der Arbeiterhaushalte einbezogen.

1.3Eine empirische Annäherung an Informalität in der transnationalen Autoindustrie Argentiniens: Aufbau der Arbeit

Die vorliegende Arbeit gliedert sich insgesamt in sechs Hauptteile – Einleitung und Schluss ausgenommen. Bevor sie sich dem empirischen Gegenstand widmet, wird die theoretische und konzeptionelle Basis von Informalität erläutert (Kapitel 2). Im Anschluss folgen die kontextuelle Einbettung (Kapitel 3) und die methodischen Grundlagen (Kapitel 4) der empirischen Ergebnisse, die danach auf Betriebs- (Kapitel 5) und Haushaltsebene (Kapitel 6) vorgestellt werden. Im siebten Kapitel werden die empirischen Befunde synthetisiert und theoretisch reflektiert bevor sie im Schlusskapitel in Thesen zusammengefasst und weiterführend bewertet werden.

In Kapitel 2 werden die Entstehung und Entwicklung der verschiedenen Konzepte und Debatten zu Informalität nachgezeichnet (2.1, 2.2, 2.3) und mit Blick auf ihre Probleme geprüft (2.4). In Anlehnung an weltsystemisch-subsistenztheoretische (z.B. Smith u.a. 1984; Werlhof u.a. 1983) und strukturalistische (z.B. Portes u.a. 1989) Lesarten klassischer Informalitätsschulen sowie dialektisch angelegte neuere Studien, die als einige der wenigen Autor*innen den Haushalt systematisch einbeziehen (z.B. Belvedere u.a. 2000; Chen u.a. 2006; Chen 2013; Komlosy 2014), wird anschließend ein dynamischer Informalitätsansatz als Forschungsheuristik entwickelt, der konkrete Analysekriterien für informelle Arbeit enthält (2.5). Das dynamische Informalitätskonzept bezieht Haushalt und Betrieb sowie die dazugehörigen Subjekte gleichermaßen ein. Als informell werden demnach nicht registrierte Aktivitäten jenseits der existierenden institutionellen Regulierung (Castells/Portes 1989: 12) bezeichnet, die der Generierung von Einkommen dienen und verschiedene Formen von Arbeit in Betrieben und/oder Haushalten annehmen können. Es kann sich bei Informellen um Arbeitgeber*innen, Lohnarbeiter*innen, Arbeiter*innen auf eigene Rechnung, Gelegenheitsjobber*innen oder unbezahlte Familienmitglieder handeln (Chen u.a. 2004; ILO 2013), die über jeweils unterschiedliche Einkommenschancen und Armutsrisiken verfügen (Chen 2013: 155). Außerdem bleiben sie in der Regel vom Gewerkschaftssystem ausgeschlossen (Castells/Portes 1989), woraus eine fehlende Einklagbarkeit von Arbeitnehmerrechten resultiert. Von dieser warenförmigen, also auf Produktion von Waren und Dienstleistungen abzielenden, Informalität lässt sich die gebrauchswertorientierte Informalität unterscheiden (Komlosy 2015: 46). Diese umfasst Subsistenzaktivitäten. Auch wenn der Fokus dieser Arbeit auf der einkommensgenierenden Informalität liegt, werden letztere ebenso mit in die Analyse einbezogen – insbesondere, weil sie häufig stark miteinander verwoben sind. Informelle Arbeit selbst stellt außerdem kein isoliertes Phänomen dar, sondern ist oft stark mit reproduktiven (Huws 2012; Bennholdt-Thompsen 1981; Werlhof u.a. 1992) und formellen Tätigkeiten verknüpft (Komlosy 2007; Webster u.a. 2008; Neffa 2010). Die genannten Phänomene sollen am Beispiel des argentinischen Produktionsnetzwerks Automobil unter Einbeziehung der Makro-, Meso- und Mikroebene – also der strukturell-makroökonomischen Strukturen, institutionellen Rahmenbedingungen und des Akteurshandelns – untersucht werden.

Im Anschluss an das Theoriekapitel folgt deshalb eine kontextuelle Einbettung der Studie (Kapitel 3), indem die Merkmale der politischen Ökonomie Argentiniens (3.1), die ambivalenten Rahmenbedingungen unter den Regierungen Kirchner (3.2) sowie die Autoindustrie im globalen und argentinischen Umfeld (3.3) erfolgt. Argentinien steht hier als paradigmatischer Fall für ein Land der Semiperipherie, das auch aufgrund seiner intensiven neoliberalen Erfahrungen besonders verwundbar für Informalität ist. Das Land zeichnet sich durch eine strukturell heterogene, teilweise stark polarisierte Gesellschaft aus. Argentinien ist nicht nur durch Rohstoffexport, sondern auch im industriellen Sektor, besonders im Bereich der Automobilindustrie intensiv in den Welthandel eingebunden. Zwar wurden zwischen 2003 und 2015 unter den Regierungen Kirchner viele reregulierende Reformen durchgesetzt, die den Neoliberalismus (Harvey 2007: 131 f.) hinter sich zu lassen suchten. Der Neoliberalismus der 1990er Jahre hatte zu einem enormen Anstieg informeller Beschäftigung und der schwersten Krise des Landes im Jahr 2001/02 geführt. Trotz der ergriffenen formalisierenden Maßnahmen der Regierungen Kirchner arbeiten zum Untersuchungszeitpunkt nach wie vor noch rund 35 Prozent der Erwerbstätigen informell und soziale Ungleichheit stellt weiterhin ein Problem dar. Informelle Arbeit ist in Argentiniens Alltag bis heute omnipräsent und gilt als struktureller Bestandteil des Arbeitsmarkts (Weinmann/Burchardt 2013: 97), der insgesamt als stark hierarchisiert und segmentiert beschrieben werden kann (Schmalz u.a. 2013). Ständige Konjunkturschwankungen und regelmäßige Krisensituationen (Boris 2011: 23) tragen dazu bei. So ist der wirtschaftliche Aufschwung der 2000er längst rückläufig: Unter der neoliberal-konservativen Regierung Macri (2015–2019) rutschte Argentinien in eine erneute schwere Rezession, welche Armut und Ungleichheit wiederholt verschärfte. Daran hat sich, nicht zuletzt aufgrund der Corona-Pandemie, unter der aktuellen peronistischen Regierung Fernández (seit 2019) bislang nicht viel geändert. Die Regierungen Kirchner hinterließen insgesamt eine schwache Industriestruktur, die vom Flexibilisierungs- und Kostendruck transnationaler Konzerne geprägt ist. Diese strukturellen Bedingungen, die durch die Außenabhängigkeiten der argentinischen Wirtschaft verschärft werden, prägen besonders die Autoindustrie, obwohl sie als ein stark regulierter Sektor gilt. Das wurde in der Krise 2014–2016 wiederholt deutlich, insbesondere in den peripheren Zulieferbetrieben.

Mit welchen qualitativen Methoden sich Informalität im argentinischen Produktionsnetzwerk Automobil empirisch ergründen lässt, ist Gegenstand des vierten Kapitels. Methodologisch orientiert sich die Forschungsarbeit an der interpretativen Sozialforschung (Kleemann u.a. 2013) und greift einzelne Elemente der grounded theory auf (Glaser/Strauss 1967; auch: Strauss/Corbin 1996) (Kap. 4.1). Diese Ansätze ermöglichen eine intensive Auseinandersetzung mit der Empirie und eine ständige (Weiter)Entwicklung von Thesen während der Erhebung. Die qualitative empirische Untersuchung basiert auf einem Methodenmix aus Haushalts- und Betriebskurzfallstudien, Experteninterviews sowie Dokumenten-/Sekundäranalysen (Kap. 4.2/4.2.1). Der Feldzugang (Kap. 4.2.2) war über bestehende Kontakte zu Wissenschaftler*innen an der Universidad Nacional de Córdoba (UNC) sowie der Universidad de Buenos Aires (UBA), die im Rahmen von langjährigen Kooperationsprojekten entstanden und gewachsen sind11, sowie eigene Recherchen und Kontakte gewährleistet. Insgesamt umfasst die empirische Datenbasis dieser Arbeit 62 problemzentrierte leitfadengestützte Interviews (Witzel 2000; Kleemann u.a. 2013: 208) – darunter auch Gruppengespräche. 54 der Interviews wurden 2015/2016 erhoben, acht stammen aus dem Jahr 2013. Bei einigen handelt es sich um Experteninterviews mit Gewerkschaftsfunktionär*innen (11) und sonstigen Expert*innen aus Wissenschaft, Organisationen und Verbänden (17). Andere entstanden im Rahmen von neun betrieblichen Kurzfallstudien (Kitay/Callus 1998; Pflüger u.a. 2010; Kuhlmann u.a. 2014) mit (Sub)Zulieferfirmen und Dienstleistern des argentinischen Produktionsnetzwerks Automobil sowie zwölf Haushaltskurzfallstudien (Kitay/Callus 1998; Wimbauer/Monakef 2017; Aulenbacher/Riegraf 2011), in die auch Beobachtungen eingeflossen sind. Die Auswertung (Kap. 4.2.3) des protokolliert oder transkribiert vorliegenden Materials erfolgte in Anlehnung an die qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring (2000a, 2000b, 2010c; Mayring/Fenzl 2014) und wurde computergestützt mit MAXQDA vorgenommen.

Kapitel 5 widmet sich der Auseinandersetzung mit der Empirie auf betrieblicher Ebene. Nachdem die Betriebsfälle vorgestellt wurden (5.1), folgt die Herausarbeitung der verschiedenen Formen informeller Arbeit in und im Umfeld der untersuchten Firmen: Informelle Lohnabhängigkeit, informelle Selbstständigkeit sowie unbezahlte Familienarbeit und Extra-Legalität. Diese lassen sich als markt- und familienbasierte Formen von Informalität kategorisieren. Außerdem werden die besondere Bedeutung und die konkreten Ausprägungen der Grauzonen von Arbeit herausgearbeitet (5.2). Daran schließt sich die systematische Ausarbeitung der Motive und Faktoren für eine unternehmensstrategische Nutzung informeller Arbeit an (5.3). Dabei werden die informalisierenden Mechanismen ökonomische Anpassung, Herrschaft, Deregulierung sowie Habitus, Wissen und weitere auf betrieblicher Ebene herausgearbeitet. Diese werden anhand der untersuchten Fälle je nach Gewichtung der einzelnen Motive und Faktoren in drei veranschaulichende Realtypen unternehmensstrategischer Informalisierung überführt: Profitorientierte Überausbeutung (I), Druckausgleich (II), Duldung externer Informalität (III) und traditionell-diffuse Informalisierung (IV). Sie unterscheiden sich nach den Motiven ökonomischer Anpassung (Kostenreduzierung, Flexibilisierung; jeweils offensiv und defensiv) und Herrschaft (Disziplinierung, Fragmentierung).

Anschließend wird Informalität in den Haushalten untersucht (Kapitel 6). Analog zu Kapitel 5 werden hier zuerst die zugrundeliegenden Haushaltsfälle im Detail vorgestellt (6.1) bevor auf die in den Haushalten vorkommenden Formen informeller Arbeit (6.2) eingegangen wird. Dort tritt informelle Arbeit als zweites Haushaltseinkommen, informelle Selbstständigkeit, informelle Nebentätigkeiten (sogenannte changas), Extra-Legalität, Subsistenz und auf Konsumebene (u.a. Einkauf im informellen Sektor) in Erscheinung. Darüber hinaus lässt sich eine diskontinuierliche Kombination verschiedener Informalitätsformen entlang der Erwerbsbiografien der Haushaltsmitglieder ausmachen. Anschließend wird die haushaltsstrategische Bedeutung von Informalität analysiert (6.3). Häusliche Informalität zeigt sich als ökonomische Anpassung (Einkommenssteigerung, Sparmaßnahmen) und Emanzipationsmodus (Selbstverwirklichung, Aufstieg, Exit), kann aber auch Ausdruck von Deregulierung und/oder unternehmerischer Herrschaft sein, die bis in die Haushalte hineinwirkt und dabei Disziplinierung oder Selbstausbeutung verursacht. Darüber hinaus stellen Habitus, kulturelle Werte, Wissen und persönliche Vorlieben weitere Einflussfaktoren für die strategische Nutzung von Informalität dar. Je nach Bedeutung der einzelnen Faktoren und Motive lassen sich realtypisch drei Varianten haushaltsstrategischer Nutzung unterscheiden: Überlebenspraxis (I), Besser-Leben-Pragmatik (II), Emanzipationsstrategie (III).

In Kapitel 7 werden die Strategien und Ambivalenzen von häuslicher und betrieblicher Arbeit zusammengeführt und unter systematischer Einbeziehung theoretischer Bezüge diskutiert. Hier wird erstens mit einem Schema markt- und familienbasierter Informalität in Betrieben und Haushalten versucht, die Pluralität informeller Aktivitäten zu systematisieren und dabei Produktions- und Reproduktionsebene gleichwertig mit einzubeziehen. Gleichzeitig wird ein erweitertes Modell der Grauzonen der Arbeit gezeichnet, das auch Überschneidungen mit typischen Tätigkeiten im Haushaltskontext (gebrauchswertorientierte Informalität und reproduktive Arbeit) einbezieht (7.1). Bezogen auf die Hintergründe der großen Verbreitung in Argentinien folgt zweitens eine Charakterisierung von Informalität als Unternehmens- und Haushaltsstrategie. Hier werden die Erkenntnisse aus Kapitel 5 und 6 kombiniert und systematisiert (7.2). Im Anschluss daran wird drittens die ambivalente Funktionalität von Informalität als Mechanismus der Prekarisierung einerseits und sozialer Absicherung andererseits herausgearbeitet. Daran zeigt sich, wie vielschichtig und widersprüchlich haushalts- und unternehmensstrategische Mechanismen zusammenwirken können (7.3).

Im Schlussteil der Arbeit (Kapitel 8) werden die Untersuchungsergebnisse thesenförmig zusammengefasst (Kap. 8.1) und auf eine zentrale Erkenntnis zugespitzt: Informalität als Fundament kapitalistischer Produktionsweise. In dem Zusammenhang werden vor dem Hintergrund aktueller Debatten die funktionale Bedeutung auf der einen Seite und die vermeintlichen Transformationspotenziale von Informalität für den globalen Kapitalismus aufgezeigt. Dabei werden drei Triebkräfte erläutert, die informelle Arbeit aktiv an der kapitalistischen Akkumulation beteiligen, um zu zeigen, dass Informalität konstituierend auf den Kapitalismus wirkt, obwohl einige in ihrer Ausprägung eindeutige, nichtkapitalistische Züge aufweisen (8.2). Die Arbeit schließt mit einem Plädoyer dafür, Informalität als Schlüsselkategorie aktueller Gesellschaftsforschung anzuerkennen und aufzuwerten. Gleichzeitig wird auf die wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Implikationen sowie zukünftige Herausforderungen eingegangen (8.3).

2.Informalität: Begriffe und Konzepte

»In sum, although interest in the informal economy has waxed and waned since the early 1970s, the concept has continued to prove useful to many policymakers, activists and researchers. This is because of the significance of the reality that it seeks to capture: the large share of the global workforce that contributes significantly to the global economy, while remaining outside the protection and regulation of the state«

Chen 2012: 3 f.

Mit Informalität werden verschiedene soziale und ökonomische Erscheinungen im Bereich der Warenproduktion, dem Handel, der Arbeitsbeziehungen, am Arbeitsplatz und/oder auch im Haushalt assoziiert.12 Informelle Arbeit umfasst ein weites Spektrum an Tätigkeiten. Diese reichen von sogenannten »Schwarzarbeiter*innen« in der Fabrik über informelle Selbstständigkeit im Handwerksgewerbe bis hin zu Arbeiten im Haushalt. Ebenso heterogen wie das Phänomen selbst sind die verschiedenen Informalitätskonzepte.

Informalität liegen unterschiedliche wissenschaftliche Ansätze und Interpretationen zugrunde. Der Begriff fand seinen Ursprung in wissenschaftlichen Erkenntnissen der 1970er Jahre. Zu dieser Zeit wurde in Regionen der sogenannten »Dritten Welt« der informelle Sektor als bedeutender Bestandteil der dortigen Ökonomien entdeckt. Der informelle Sektor entstand im Zusammenhang massiver Urbanisierungsprozesse und gab einem großen Teil der ehemaligen Landbevölkerung, zum Beispiel durch ambulanten Handel, eine monetäre Einkommensmöglichkeit. Die Informellen wurden gemeinhin zu den Marginalen der neuen städtischen Bevölkerung gezählt und im Zusammenhang der Marginalisierungsthesen intensiv erforscht. In diesem Zusammenhang wurde Informalität häufig als Indikator für Unterentwicklung der peripheren Länder gegenüber den industrialisierten Zentren interpretiert (z.B. ILO 1972).

Im Laufe der 1970er und 1980er Jahren stieß diese dualistische Lesart von Informalität, insbesondere durch dependenztheoretische (Santos 2017 [1979]) und marxistisch-strukturalistische Ansätze (Portes u.a. 1989), zunehmend auf Kritik. Die Interpretationen von Informalität wurden insgesamt heterogener und komplexer (Pérez Sáinz 1991: 52 ff.). Seitdem wurde es zwar um Informalität in den wissenschaftlichen Debatten ruhiger, das Phänomen war jedoch aus Diskussionen um ungleiche Entwicklung und Globalisierung (u.a. Altvater/Mahnkopf 2002; Hürtgen u.a. 2009; Komlosy 2007; auch: Standing 1999) sowie aus bestimmten regionalen Kontexten wie Lateinamerika und Asien (Lüthje/Sproll 2002) nie ganz verschwunden. Auch im Rahmen der unter anderem durch Deregulierung, Liberalisierung, Flexibilisierung und Transnationalisierung vorangetriebenen Erosion des formellen Normalarbeitsverhältnisses, das sich nach dem zweiten Weltkrieg im Rahmen des Fordismus herausgebildet hatte (Mückenberger 1985), wurde Informalität vereinzelt problematisiert (Altvater/Mahnkopf 2002: 115; konkret: Jessen u.a. 1988). Und das nicht ohne Grund: Der informelle Sektor wuchs in den 1980er Jahren etwa doppelt so schnell wie der formelle (Pérez Sáinz 1991: 61 f.). Und auch heute macht der informelle Sektor mit 25 bis 50 Prozent noch einen beträchtlichen Teil am globalen BIP (ohne Landwirtschaft) aus (Charmes 2012). Weltweit arbeiten derzeit circa zwei Milliarden Menschen informell, was 61 Prozent der insgesamt global Erwerbstätigen darstellt (ILO 2018: 13; ILO 2020: 19). In Anbetracht des statistischen Defizits zu informell Arbeitenden (mehr dazu in Kap. 2.4 und 4.2) dürfte die Dunkelziffer jedoch bei weitem höher ausfallen. Während der Anteil an Informellen in Europa meist unter 20 Prozent liegt, arbeiten in Ländern Asiens und Lateinamerikas oft weit über zwei Drittel informell, in über der Hälfte der afrikanischen Länder sind es sogar über 90 Prozent (ILO 2018: 13). Die Zahlen legen den Gedanken, das informelle im globalen Kontext eher die »normale« Arbeit darstellt (u.a. OECD 2009), nahe.  

Spätestens seit der Krise ab 2007 wird das Phänomen, das bislang meist im Zusammenhang mit dem Globalen Süden diskutiert wurde, auch im europäischen Kontext bedeutsamer, da in dem Zusammenhang vermehrt ein Einzug des Informellen in den Globalen Norden diagnostiziert wurde (Burchardt u.a. 2013a; Mayer-Ahuja 2012; Schneider/Buehn 2012; ILO 2015). Dieser trifft nicht nur auf periphere europäische Länder zu, die besonders stark unter der Krise litten (Schmalz/Sommer 2019), sondern auch auf Deutschland. Er zeigt sich vor allem in besonders verwundbaren Branchen wie Logistik/Handelsdienstleistungen (Holst/Singe 2013) und der Pflege (Haubner 2017). Die Corona-Pandemie, die Deutschland ab März 2020 erfasste, könnte diese Trends noch verstärken.

2.1Ausgangspunkt: Marginalität und Unterentwicklung

Als Antwort auf die Herausbildung von Armenvierteln am Rande der Städte, die sich im Zuge der Urbanisierung zunehmend mit Menschen füllten, entstand in den 1950/1960er Jahren in Lateinamerika die »Theorie der Marginalität« (Bennholdt-Thomsen 1981). Diese – die eigentlich zu facettenreich ist (Delfino 2012), um sie als eine Theorie zu bezeichnen13 – erlangte schnell internationale Bekanntheit und wurde in den nachfolgenden Jahrzehnten kontrovers diskutiert. Anfangs wurde die Marginalität städtischer Bevölkerungsteile im Lichte der Modernisierungstheorie als ein defizitärer Entwicklungsprozess betrachtet, dem durch Wirtschaftswachstum und Entwicklungspolitik entgegengewirkt werden könne (z.B. Lewis 1966; Germani 1980). Dieser eher sozial-kulturelle Fokus auf Marginalität lässt sich von einem eher ökonomisch-strukturellen abgrenzen (Delfino 2012: 20 ff.): Bereits für die Desarollist*innen14 war das Marginalitätskonzept bedeutend, um auf die strukturellen Probleme Lateinamerikas hinzuweisen, die durch Industrialisierung überwunden werden sollten. Im Zuge der – vor allem marxistisch orientierten – dependenztheoretischen15 Kritik an der Modernisierungstheorie, wurde Marginalität immer weniger als Entwicklungsdefizit, sondern vielmehr als Folge der abhängigen Entwicklung Lateinamerikas interpretiert (Bennholdt-Thomsen 1981: 1507). Marginalität wurde hier als Spiegel der abhängigen Entwicklung (Perlmann 1977) und als strukturelle Unmöglichkeit des Kapitalismus, alle verfügbaren Arbeitskräfte zu beschäftigen (Cardoso/Faletto 1976), diskutiert. Insbesondere die marxistischen Dependenztheoretiker*innen verstanden Marginalisierung als einen Prozess, der im Lichte kapitalistischer Akkumulation vonstattenging. Die bekanntesten konzeptionellen Überlegungen dazu entwickelten vor allem José Nun und Miguel Murmis. Nun sprach von der »marginalen Masse« (1969)16 in Abgrenzung zu Überbevölkerung und industrieller Reservearmee. Miguel Murmis verwies auf das marginale Arbeitskräftepotenzial als besonderes Merkmal für abhängige kapitalistische Entwicklung und differenzierte marginale Formen der Arbeitsmarktintegration jenseits kapitalistischer Ausbeutung aus – unter anderem sklavenähnlicher, Subsistenz und instabiler Formen freier Lohnarbeit, die man heute als prekär bezeichnen würde (Murmis 1969). Im Laufe der 1960er Jahre entstanden in Lateinamerika verschiedene Definitionen von Marginalität und Marginalisierung, die seitdem immer wieder aufgegriffen wurden (z.B. Auyero 1997; Waquant 2003; Davis 2006; Salvia 2010). Grundsätzliche Einigkeit besteht darin, dass das Marginalitätskonzept auf einen relevanten Teil der Bevölkerung verweist, der nicht durch dauerhafte Beschäftigung in den kapitalistischen Sektor integriert ist.

Im Zusammenhang mit der weiteren Betrachtung jener wissenschaftlich nur diffus erklärbaren marginalen Masse in Ländern des Globalen Südens entstand in den 1970er Jahren auch das Konzept der Informalität. Der Begriff tauchte erstmals prominent in Auftragsstudien für die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) zu Arbeitsverhältnissen in Ghana und Kenia auf (Hart 1973; ILO 1972) und beschrieb dort »informell« im sogenannten urbanen informellen Sektor Tätige als Arbeitende geringer Arbeitsproduktivität, deren Löhne nicht zur Subsistenzsicherung ausreichten. Diese ersten Analysen standen im Lichte der Modernisierungstheorie und sahen die Ursache für Informalität ähnlich wie ihre Vordenker*innen aus dem Umfeld der sozial-kulturellen Marginalität (z.B. Lewis 1966; Germani 1980) im Überangebot an städtischen Arbeitskräften durch Binnenmigration und in Defiziten im kapitalistischen Entwicklungsprozess. Sie gingen von einer dualen Ökonomie aus und betrachteten den informellen Sektor demnach als Ausprägung der traditionalen Wirtschaft der sogenannten Entwicklungsländer und damit als Indikator für Unterentwicklung (mehr dazu in Kap. 2.2.1). Der informelle Sektor galt dort als vorrübergehendes Auffangbecken für die vielen Migrant*innen, die vom Land in die Städte strömten. Aus dieser modernisierungstheoretisch inspirierten Perspektive wurde Informalität meist als Ergebnis von Unterentwicklung in der »Dritten Welt« betrachtet, die es durch den Ausbau einer modernen kapitalistischen Wirtschaft zu überwinden gelte (ILO 1972). Informalität wurde in diesem Sinne als ein Phänomen im Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft angesehen. Die international bekannteste Untersuchung in Lateinamerika aus dieser Zeit steht zwar ebenfalls in dieser Tradition, arbeitet bei der Analyse von Straßenhändler*innen in Kolumbien jedoch bereits erste Anzeichen für eine Verbindung des informellen mit dem formellen Sektor heraus (Bromley 1978).

Ausgehend von der Auseinandersetzung mit Marginalität und dem informellen Sektor in den sogenannten Entwicklungsländern entwickelten sich – vor allem zwischen modernisierungs- und dependenztheoretischer Ausrichtung teilweise sehr kontroverse – Debatten rund um das Phänomen der außerhalb beziehungsweise am Rande kapitalistischer Lohnarbeit Tätigen, die im Besonderen durch lateinamerikanische Autor*innen sowie Autor*innen aus dem Umfeld der ILO und Weltbank geprägt wurden. Hierbei kam der Entwicklungsforschung eine besondere Bedeutung zu. Im Laufe der Jahrzehnte wurde das Informalitätskonzept immer heterogener. Im folgenden Kapitel werden die wichtigsten Lesarten von Informalität in systematisierter Weise vorgestellt.

2.2Begriffliche Entwicklung und Lesarten: Facetten von Informalität

Wie schon angedeutet, bestehen bis heute in der Literatur verschiedene Interpretationen von Informalität, die man auch als Informalitätsschulen bezeichnen kann, da sie jeweils unterschiedliche Perspektiven auf Informalität und/oder entsprechende diverse Lesarten des »wandelbare[n] Wundertier[s]« (Kößler/Lenz 1984) entwickelt haben. Die Lesarten umfassen nicht nur theoretische Interpretationen, sondern zum Teil auch politische Ansätze. In der Literatur gibt es verschiedene Vorschläge, diese »Schulen« von Informalität mehr oder weniger ausdifferenziert zu strukturieren (Komlosy u.a. 1997; Tokman 2007; Bouffartigue/Busso 2010; Chen 2012)17. In den folgenden Unterkapiteln gebe ich einen Überblick über die wichtigsten Informalitätskonzepte und -interpretationen. Die meisten Autor*innen unterscheiden zwischen drei traditionellen Hauptströmungen beziehungsweise Spielarten: dualistisch, strukturalistisch und institutionalistisch (Bouffartigue/Busso 2010: 2) beziehungsweise klassisch-strukturalistisch, neomarxistisch und neoliberal (Pérez Saínz 1991; Pries 1996). Martha Alter Chen beziehungsweise die WIEGO-Organisation unterbreiten jedoch einen differenzierteren Strukturierungsvorschlag, indem sie zwischen dualistischer, strukturalistischer, institutionalistischer (legalist im Englischen) sowie voluntaristischer Perspektive unterscheiden (2012: 5 ff.). Damit werden sie der Heterogenität der Debatte (siehe dazu: Altvater/Mahnkopf 2002: 116 ff.) schon sehr gerecht. Um weitere Aspekte nicht zu unterschlagen, füge ich Chens Viererstrukturierung in Anlehnung an Komlosy u.a. (1997) noch die anthropologischen sowie die weltsystem-subsistenztheoretischen Ansätze hinzu. In den folgenden Unterkapiteln (2.2.1–2.2.6) werde ich die einzelnen Schulen jeweils genauer erläutern.

2.2.1Dualistisch: Der urbane informelle Sektor, Unterentwicklung und Binnenmigration

Die ersten Studien zum urbanen informellen Sektor aus dem afrikanischen Kontext (Hart 1973; ILO 1972) untersuchen diesen in wachsenden Städten von – aus modernisierungstheoretischer Perspektive – unterentwickelten Ländern (Hart 1973: 88) in Abgrenzung zur »modernen« formellen Ökonomie. Viele der im Rahmen des Urbanisierungsprozesses in die Städte strömenden Menschen fanden nur in marginalen Aktivitäten18 ein Einkommen als Absicherung im Allgemeinen oder in Krisenzeiten (Hart 1973; ILO 1972; Sethuraman 1976). Es zeigte sich, dass nicht nur Arbeitslosigkeit, sondern auch »working poor«, also das Arbeiten für einen sehr geringen Verdienst, jenseits der formellen Ökonomie, die Lebensgrundlagen auf ein Minimum reduziert. Der informelle Sektor bot den Betroffenen gleichzeitig einen Ausweg aus Armut, Unterbeschäftigung und Arbeitslosigkeit (Hart 1973: 79 ff.), er ermöglichte dem urbanen »Sub-Proletariat« die notwendigen »Erwerbsquellen«, die im Unterschied zum Marginalitätskonzept nicht unbedingt nur aus formeller abhängiger Erwerbsarbeit hervorgehen mussten (Pries 1996). Hart veranschaulicht unter anderem mit der Geschichte des Ghanaers Atinga, der nebenbei eine kleine informelle Gin-Bar betrieb, dass »informal activities as a buffer against unemployment« (Hart 1973: 79) und »against destitution and dependence on others« (ebd.: 81) eingesetzt werden. Meist findet sich in diesen Zusammenhängen eine Kombination aus verschiedenen Einkommensquellen (ebd.: 78).

Während Hart vor allem die unternehmerischen Selbstständigen, die den informellen Sektor im Gegensatz zur lohnarbeitsdominierten formellen Ökonomie ausmachten, in den analytischen Vordergrund stellte (»petty capitalism« als Ergänzung zum »wage-employment«, 1973: 67 f.), betonte die ILO den unbürokratischen Einstieg in den informellen Sektor. Der informelle Sektor fußt aus diesem Blickwinkel auf lokalen Ressourcen, einheimischem Kapital, Familienarbeit, hoher Arbeitsintensität, geringer Produktivität, Unregelmäßigkeit, einem reduzierten Wachstumspotenzial sowie auf Fertigkeiten, die außerhalb des formellen Bildungswesens erworben wurden. Bei den informell Tätigen handelt es sich um kleine Betriebe mit weniger als fünf Beschäftigten (oder Selbstständige), die häufig am Rande der Legalität und ohne arbeitsrechtliche Regelungen agieren (ILO 1972: 6).

Dieser sehr verbreitete Informalitätsbegriff, der von diversen internationalen Organisationen vertreten wurde – neben der ILO und dem regionalen Beschäftigungsprogramm für Lateinamerika und die Karibik PREALC (Programa Regional del Empleo para América Latina y el Caribe) auch von der Weltbank – tendiert dazu, die Ökonomie in zwei Bestandteile zu zerlegen: Zum einen in einen modernen (formellen) Sektor, der sich an der Profitgenerierung orientiert, durch Lohnarbeit gekennzeichnet ist und deren Arbeitsbedingungen gesetzlich geschützt sind und zum anderen in einen informellen Sektor, der sich durch kleine ökonomische Einheiten/Aktivitäten, wenig Kapital- und Technologieeinsatz, geringe Arbeitsteilung und den oben bereits genannten Merkmalen kennzeichnet. Im informellen Sektor landen all diejenigen, die vom formellen Arbeitsmarkt nicht absorbiert werden können (Tokman 1982; Souza/Tokman 1995). Obwohl einige der hier genannten Untersuchungen tendenziell eine strukturalistische Perspektive19 auf die informellen ökonomischen Aktivitäten einnehmen (ebd.), wird der strukturelle Zusammenhang von informellem und formellem Sektor mehr oder weniger offengelassen. Zwar verweisen einige Autor*innen durchaus auf Austauschbeziehungen (Handel, Transaktionen) zwischen beiden Ökonomien (Hart 1973: 84 ff.; auch: ILO 1972; Tokman 1978), diese werden aber weder stark gewichtet oder weiter ausgeführt noch als grundlegende Interdependenzen problematisiert. In dieser dualistischen Lesart haben informelle Einheiten und Aktivitäten demnach – wenn überhaupt – nur wenige Verbindungen zur formellen Wirtschaft, sondern operieren vielmehr eigenständig. Es wird zudem argumentiert, dass informelle Akteure aufgrund von Ungleichgewichten zwischen den Wachstumsraten der Bevölkerung und den verfügbaren industriellen Arbeitsplätzen sowie einem Missverhältnis zwischen den menschlichen Fähigkeiten und der Struktur der modernen Ökonomie von den »modernen« wirtschaftlichen Chancen ausgeschlossen sind (Chen 2012: 5). Daraus ergeben sich auch entsprechende politische Implikationen: Zur Bekämpfung von Informalität empfahlen die Dualist*innen der 1970er Jahre und folgender Jahre den Ausbau formeller Jobangebote und einer sozialen Infrastruktur, um den dualistischen Arbeitsmarkt zu überwinden (ILO 1972; auch: Chen 2012: 5).

2.2.2Neomarxistisch-strukturalistisch: Informelle Lohnarbeit, Abhängigkeit und Funktionalität

Im Anschluss an die eben beschriebenen ersten dualistischen Analysen von Informalität, gewannen Studien zum informellen Sektor in verschiedenen theoretischen Kontexten weltweit zunehmend an Popularität, die der Informalität eine klare Abhängigkeit von der kapitalistischen Wirtschaft zuschrieben oder sie gar als funktionalen Bestandteil der formellen Ökonomie betrachtetem (Bromley 1978: 1167; auch: Gerry 1974). Dabei wurde informelle Arbeit zunehmend nicht mehr nur außerhalb der formellen Ökonomie – also im informellen Sektor – thematisiert (z.B. Peattie 1982; Standing 1986). Im Folgenden beschränke ich mich auf die wohl populärste und ausführlichste funktionale Interpretation von Informalität für die kapitalistische Wirtschaft, die neomarxistisch-strukturalistische.20 Diese folgt auch der dependenztheoretischen Kritik an modernisierungstheoretischer Interpretation von Entwicklung (siehe Kapitel 2.1).

Bereits Santos (2017 [1979]) zeigte, dass durch den informellen Sektor, der auf nichtkapitalistischen Arbeitsformen wie zum Beispiel unbezahlter Familienarbeit beruht, Lohnkosten gesenkt und so zusätzliche Profite für den »modernen« Sektor generiert werden können. Auch für Portes u.a. ist die Entstehung von Informalität nicht etwa auf nationale Unterentwicklung, sondern auf den Kostendruck zurückzuführen, der im Rahmen der Globalisierungsprozesse durch die zunehmende Möglichkeit der Verlagerung von Produktion in die Länder des Globalen Südens vermehrt auf den Unternehmen lastet (1989). Diese Autor*innen sehen die Globalisierung als treibende Kraft für die Entstehung informeller Arbeitsbeziehungen und erweitern ihren Blickwinkel damit weit über den reinen urbanen informellen Sektor hinaus.

Die wesentlichen Faktoren beziehungsweise Motive der mit der Globalisierung verbundenen Zentralisierung der Produktion, sind Kostenreduktion und Flexibilisierung. Portes u.a. definieren die informelle Wirtschaft folgendermaßen: »The informal economy is thus not an individual condition but a process of income-generation characterized by one central feature: it is unregulated by the institutions of society, in a legal and social environment in which similar activities are regulated« (Castells/Portes 1989: 12). Für Castells und Portes macht der Ausschluss aus der gesellschaftlichen, institutionellen und staatlichen Regulierung den Kern von informeller Wirtschaft aus. Es handelt sich meist um kleine ökonomische Einheiten (Mikrofirmen) und Arbeiter*innen, die der Reduzierung von Arbeits- und Investitionskosten und somit der Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit von großen kapitalistischen Firmen dienen (Castells/Portes 1989; auch: Moser 1978). Portes u.a. gehen damit erstmalig ausführlich auf informelle Lohnabhängige ein. Informalität entsteht aus der kapitalistischen Wachstumslogik heraus. Das heißt, die Bemühungen formeller Firmen, Kosten zu senken, Wettbewerb zu steigern, flexibler zu werden (u.a. durch Subcontrating) und in diesem Sinne Arbeitermacht einzuschränken und staatliche Regulierung zu umgehen/missbilligen, tragen zur Entstehung von Informalität bei. Diese Lesart grenzt sich deutlich von der dualistischen Perspektive rund um ILO und PRELAC ab und erntet wiederum Kritik aufgrund der angeblich universalistischen Funktion des informellen für den formellen Sektor (Klein/Tokman 1988).

Die strukturalistische Interpretation arbeitet die untrennbare Verzahnung zwischen formellen und informellen Wirtschaftsbereichen heraus. Informalität kommt demnach kapitalistischer Entwicklung zugute, indem sie günstige Arbeitskraft und Waren bereitstellt. Nach neomarxistisch-strukturalistischer Lesart wurde Informalität in diesem Sinne funktional für die globale Kapitalakkumulation betrachtet.21 Informalität sei funktional für das kapitalistische System, weil politische Entscheidungsträger*innen sie oft stillschweigend hinnehmen, um Arbeitslosigkeit zu reduzieren und kollektive Interessenrepräsentation zu schwächen. Allerdings fassen sie unter Informalität alle Tätigkeiten, die Einkommen generieren und nicht durch den Staat reguliert werden. Sie führen so eine institutionelle Komponente ein und machen die Kategorie auch auf entwickelte Gesellschaften anwendbar (Portes/Sassen-Koob 1987). Dabei werden auch die Regulationsdefizite des Staates hinsichtlich der Wirtschaft und der Arbeitsbeziehungen, um die Ungleichgewichte zwischen kapitalstarken Akteuren und kleinen Produzent*innen und Arbeiter*innen auszutarieren, kritisiert.

2.2.3Institutionalistisch: Extra-Legalität, »Marktwirtschaft von unten« und Überregulierung

Während die (neomarxistischen)-strukturalistischen Lesarten von Informalität vordergründig auf die ökonomischen Strukturen fokussieren, gewannen Ende der 1980er Jahre institutionalistische Ansätze an Popularität. Diese betrachten die gesellschaftlichen Institutionen als bedeutendsten Entstehungskontext informeller Phänomene. Der wohl bekannteste Vertreter dieser Sichtweise ist der peruanische Ökonom Hernando de Soto. Seine Erkenntnisse zu Informalität stehen in diesem Unterkapitel im Vordergrund.

De Sotos Interpretationen von Informalität basieren auf neoklassischen Annahmen. Er definiert Informalität juristisch, also danach, ob es sich um legale Aktivitäten handelt oder nicht. Konkret spricht de Soto von informellen als »extra-legalen« Aktivitäten. Das heißt die im informellen Sektor operierenden – meist selbstständig – Tätigen folgen ihren eigenen »extra-legalen Normen« und haben damit »das offizielle Recht dort, wo es nicht funktioniert, durch ein eigenes Rechtssystem ersetzt« (de Soto 1992: 46). Illegale Aktivitäten wie Drogenhandel sind explizit davon ausgenommen. Die Entstehung des informellen Sektors betrachtet der Autor als Konsequenz von nicht marktkonformen Irrationalitäten politisch-ökonomischer Rahmenbedingungen, mit denen besonders Migrant*innen in den wachsenden Städten konfrontiert wurden. Dort, »wo der Staat geltendes Recht nicht durchsetzen kann, entsteht Informalität« (ebd.: 44). Es handele sich um das Resultat von exzessiver staatlicher Regulierung, Bürokratie und Korruption, die viele Unternehmer*innen systematisch aus der legalen Marktökonomie ausschließen. De Soto untersucht in seiner empirisch umfassenden Analyse22 die extra-legalen Aktivitäten von realen Akteuren.

Er betont die Rolle von Gesetzen bei der Bestimmung der Effizienz von wirtschaftlichen Aktivitäten, die sie regulieren, und analysiert auf dieser Basis die jeweiligen Kosten von (In)Formalität (1992: 151 ff.). Der Autor spricht von »gutem Recht« und »schlechten Recht«: »Gutes Recht« garantiert und fördert wirtschaftliche Effizienz und »schlechtes« behindert und stört sie. Durch schlechte Gesetze entstehen unnötige Kosten der Formalität und die Kosten der Informalität23 resultieren aus dem Fehlen eines guten Gesetzes. Insgesamt wirft er den formellen als auch informellen Akteuren Verschwendung ökonomischer Ressourcen vor (ebd.: 151).

Der Autor schließt an die dualistische Perspektive der 1970er Jahre an, indem er keine klaren Interdependenzen zwischen extra-legalen und formellen Aktivitäten herausarbeitet, sondern beide nach ihren rechtlichen Grundlagen voneinander trennt. Funktionalitäten, wie sie Portes u.a. herausarbeiten, lehnt er weitestgehend ab. Informalität ist vielmehr Ausdruck eines »Aufstand[s] gegen den Merkantilismus« (ebd.: 47), der sich in Peru seit der spanischen Herrschaft etabliert hatte. Informalität wird hier also nicht mehr als Ergebnis von Unterentwicklung angesehen, sondern im Gegenteil als Emanzipation von Entwicklungsproblemen, die durch Überregulierung verursacht wurden. Für de Soto ist der informelle Sektor insofern auch nicht unbedingt etwas Negatives, was es – wie tendenziell bei den Dualist*innen – zu überwinden gelte. Vielmehr erlaubt die Extra-Legalität auch die volle Entfaltung der Gesetze des Marktes, was zu einer bestmöglichen Organisation von Produktion und Konsum führe. Das heißt der informelle Sektor ist ein Experimentierfeld deregulierter Märkte gegen die Kosten von Formalität24, die eine »kohärente Alternative« zur herrschenden institutionellen Ordnung darstellen (de Soto 1992: 45). Im informellen Sektor operieren mutige Kleinunternehmer*innen, die sich dafür entschieden haben, informell zu agieren, um Kosten, Zeit und Aufwand für die formelle Registrierung zu sparen, und Eigentumsrechte benötigen, um ihr Vermögen in rechtlich anerkannte Vermögenswerte umzuwandeln. Das gilt insbesondere auch für den informellen Wohnungsbau (ebd.: 48 ff.).

Insofern plädiert der Autor für eine klare Trennung von Markt und Staat sowie eine entsprechende absolute Deregulierung und Liberalisierung, um den einzelnen Akteuren einen höchstmöglichen Grad an Autonomie und so eine wirtschaftlich freie Entfaltung jenseits von Korruption und Bürokratie zu ermöglichen (ebd.: 300 ff.). Unter anderem aufgrund solcher Positionen wird de Sotos Lesart der Informalität von lateinamerikanischen Kolleg*innen häufig als neoliberale Perspektive bezeichnet (Busso 2004: 21; Komlosy u.a. 1997: 6). Gleichzeitig bedarf es eines starken Staates, der einen handlungsfähigen Justizapparat aufbaut, anstatt sich auf Detailregulierungen zu konzentrieren (de Soto 1992: 301 ff.). Unternehmen sollten mit der Regierung zusammenarbeiten, um die bürokratischen »Spielregeln« festzulegen. Die institutionalistische Perspektive setzt vor allem informelle Unternehmen in Beziehung zum formellen regulatorischen Umfeld, vernachlässigt dabei aber informelle Lohnarbeiter*innen.

2.2.4Voluntaristisch: Exit, Exklusion und Autonomie

In den 2000er Jahren wurde die institutionalistische Lesart von Hernando de Soto um eine subjektorientierte Perspektive erweitert, in der Informalität auf der Ebene individueller Kosten-Nutzen-Entscheidungen untersucht wurde. Ähnlich wie de Sotos entstand diese Lesart im Kontext der Weltbank sowie in Anlehnung an eine neoklassische Ökonomik und die Rational-Choice-Perspektive25. Für Guillermo Perry, William Maloney u.a. ist der konzeptionelle Kern von Informalität stets die Relation von Individuen oder Firmen zum Staat (2007: 22 ff.). Die Autor*innen betonen die Heterogenität der Phänomene, die sich hinter Informalität verbergen, und die Motive der Individuen. So ist für sie die »razón de ser« von Informalität nicht nur Exklusion, sondern auch Exit (ebd.: 1 ff.; 43 ff.). Informalität wirkt auf Individuen also nicht nur exklusiv, sondern stellt oft eine Exit-Option aus den Fängen staatlicher Institutionen dar. Das heißt insbesondere informelle Selbstständige beziehungsweise Kleinunternehmer*innen vermeiden willentlich Steuern und andere Regularien (ebd.: 63 ff.). Im Gegensatz zu de Sotos institutionalistischer Wahrnehmung tun sie das jedoch nicht aufgrund eines Rechtssystems jenseits ökonomischer Effizienz, sondern ausschließlich, um die Profitabilität ihrer Arbeit zu steigern, Ausgaben zu senken et cetera Hintergrund von informeller Arbeit ist also ein klares Kosten-Nutzen-Kalkül der betroffenen Akteure. Die Ursache dafür sind defizitäre Marktmechanismen in der formellen Ökonomie, das heißt dort wird das individuelle Kosten-Nutzen-Kalkül nicht ausreichend bedient, weshalb die Akteure auf Informalität zurückgreifen.

Auf Basis von Sekundäranalysen verschiedener statistischer Daten zu Informalität aus Lateinamerika stellen Perry u.a. fest, dass dies zur Exklusion von beziehungsweise zum Exit aus profitablen formellen Marktmechanismen, aber auch zur selektiven Nutzung staatlicher Regulierung führt: »[…] many workers, firms, and families choose their optimal level of engagement with the mandates and institutions of the state, depending on their valuation of the net benefits associated with formality and the state’s enforcement effort and capability« (Perry u.a. 2007: 1 f.). Somit ist Informalität für die Betroffenen aus dem voluntaristischen Blickwinkel eine bewusste Exit-Option aus den formellen Gegebenheiten, wenn diese sich nach der Abwägung von Kosten und Nutzen nicht (mehr) lohnen. Bei dieser analytischen Ausrichtung stehen Autonomie und Freiheit des Einzelnen im Vordergrund. Wenngleich insbesondere des anderen – subjektorientierten – Untersuchungsschwerpunkts geschuldet, haben die Voluntarist*innen auch eine eher dualistische Perspektive auf formelle und informelle Ökonomie beziehungsweise Firmen. Abgesehen davon, dass sie den informellen Firmen unlauteren Wettbewerb vorwerfen, da diese sich der Steuerpflicht entziehen (Chen 2012: 6), sind mögliche Zusammenhänge und Austauschbeziehungen zwischen formell und informell kaum Gegenstand der Ausführungen der voluntaristischen Informalitätsschule. Um der durch die informellen Aktivitäten verursachten Wettbewerbsverzerrung politisch entgegenzuwirken und die Wettbewerbsgleichheit wiederherzustellen, verlangen die Autor*innen formalisierende Maßnahmen seitens der Politik im Interesse der Unternehmer*innen. Dabei gelte es nicht nur Kosten von Formalisierungsprozessen zu reduzieren und überflüssige Bürokratie abzubauen, sondern auch den realen Nutzen wirtschaftlicher Aktivitäten in der formellen Ökonomie zu erhöhen, zum Beispiel durch einen erleichterten Zugang zu Krediten (Perry u.a. 2007: 176).

2.2.5Anthropologisch: Soziale Netzwerke, Reziprozität und Vertrauen

Die unter 2.2.1 bis 2.2.4 beschriebenen Schulen der Informalität stammen weitestgehend aus den Händen von Ökonom*innen und Soziolog*innen. Ein weiterer im sozialwissenschaftlichen Bereich verbreiteter Ansatz, der seine Anfänge auch in den 1970er Jahren fand, ist anthropologisch-kultureller beziehungsweise ethnografischer Natur. Dieser rückt bei der Untersuchung von Informalität die menschliche Interaktion sowie kulturelle Aspekte in den Vordergrund. In Anlehnung an Komlosy u.a. 1997 bezeichne ich – in dem Bewusstsein, dass sich weit heterogenere Ansätze dahinter verbergen – diese Lesart hier als anthropologisch.

Diese Perspektive fokussiert auf interaktive Prozesse innerhalb des informellen Sektors, der weitestgehend als ein auf sozialen Netzwerken basierendes Phänomen untersucht wird. Hier geht es nicht allein um ökonomische Aktivitäten oder Arbeit, sondern vielmehr die Verbindung von Arbeiten und Leben als Untersuchungsgegenstand (Semsek 1986; Lomnitz 1977). Grundlage hierfür ist die Bedeutung von sozialen Netzwerken für das Überleben marginaler Bevölkerungsteile in den Städten des Globalen Südens in den 1970er Jahren: Familie und Verwandte operierten hier als zentrale Quellen von Arbeit und Nachbarschaftshilfe, während der formelle Sektor den Marginalisierten weder Qualifizierung noch Einkommen oder gar Eigentum bereitzustellen vermochte. Die informellen Beziehungen und Aktivitäten basieren auf »Reziprozität« (Semsek 1986; Lomnitz 1977) und »Vertrauen« (Lomnitz 1077, 1992). Gleichfalls wird die kulturell bestimmte Dynamik des informellen Sektors betont: »Informelle Aktivitäten und Beziehungen gehorchen […] einer symbolisch-kulturellen Logik, die sich sowohl von der im formellen Sektor vorherrschenden ökonomischen Rationalität als auch von der offiziellen Staatsideologie abhebt« (Komlosy u.a. 1997: 9). In diesem Sinne wird Vertrauen (confianza