Aus dem Bauch heraus - Jana Heinicke - E-Book

Aus dem Bauch heraus E-Book

Jana Heinicke

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Beschreibung

Superheldinnen des Alltags, sanft, geduldig, liebevoll: Mutterschaft gilt noch immer als das größte Glück und die wahre Erfüllung im Leben einer Frau. Kein Wunder, dass dieses hohe Ideal Erwartungen weckt und dass uns jede Abweichung davon wie Scheitern vorkommt. Als die Autorin Jana Heinicke Mutter wird, könnte der emotionale Spagat zwischen Vorstellung und Realität nicht größer sein. Muttergefühle hat sie jede Menge – aber Liebe ist nur eines unter vielen. Sie beginnt, den Raum zwischen Ideal und Wirklichkeit zu erkunden: Woher kommt die Vorstellung der allzeit glücklichen Mutter? Welche Erwartungen, Ängste und Zweifel schürt dieser Mythos? Wie wirkt er sich ganz konkret auf Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett aus? Wer profitiert davon? Und wieso geht es in Mutterschaftsratgebern eigentlich nie um die Mutter, sondern immer nur ums Kind? Jana Heinicke seziert mit sprachlicher Präzision, emotionalem Tiefgang und einer Prise Selbstironie das Ideal der guten Mutter und zeigt, warum es sich lohnt, ihm eben nicht gerecht zu werden. »Aus dem Bauch heraus« ist ein persönliches wie feministisches Plädoyer für selbstbestimmtes Muttersein und ein Appell an Gesellschaft, Forschung und Politik: Mütter sind Menschen, keine Superheld*innen.

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Seitenzahl: 230

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Die Autorin

Jana Heinicke, 1986 in Berlin geboren, studierte Translation an der Universität Leipzig und Literarisches Schreiben an der Hochschule der Künste Bern. Sie schreibt Kinderbücher, Essays und Theatertexte. Für ihre Arbeit ist sie mehrfach ausgezeichnet worden, erhielt diverse Stipendien und reiste auf Einladung des Goethe-Instituts bis nach Mexiko. Seit sie 2019 Mutter geworden ist, bloggt sie auf Instagram über den Versuch, Kind und Kunst unter einen Hut zu bekommen. »Aus dem Bauch heraus« ist ihr erstes erzählerisches Sachbuch. Jana Heinicke lebt mit ihrer Familie in Berlin.

Jana Heinicke

In diesem Buch werden Themen wie misogyne und ableistische Gewalt, Sexismus und Transfeindlichkeit im Kontext Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett explizit und an konkreten Beispielen benannt und verhandelt.

Bitte überlegen Sie sich vorab, ob Sie gerade die Kapazitäten dafür haben, sich mit diesen Themen auseinanderzusetzen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Nutzung des Schmuckzitats mit freundlicher Genehmigung von Micha Friemel.

Die Arbeit der Autorin wurde von Neustart Kultur der Bundesregierung und der VG Wort gefördert.

Originalausgabe November 2022

Copyright © 2022 by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Copyright © 2022 by Jana Heinicke

Covergestaltung: UNO Werbeagentur, München

Redaktion: Regina Carstensen & Susanne Umscheid

Sensitivity Reading: Susanne Umscheid

MP · Herstellung: CF

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-28596-8V005

www.goldmann-verlag.de

Für JJMT, meine Familie

Inhalt

1In die Wiege gelegt I

2Warum wir über Mutterschaft sprechen müssen

3Die Entstehung der Mutter

4Schwanger sein

5Gebären

6In die Wiege gelegt II

7Nachwehen

8Muttergefühle

9Wievielmal Kloputzen ist einmal Stillen?

Anmerkungen

Glossar

Literatur

Von Herzen: Danke!

Ich war in Paris, längst bevor ich physisch nach Paris gereist war.

Ich war schon öfters ein Mann …

Ich war krank. Ich war alt. Ich war verwirrt.

Ich sah Freunde sterben. Ich war schon öfters gestorben.

Aber kaum je war ich Mutter, bevor ich mein erstes Kind gebar. Es gibt viele Geschichten unglücklicher Kinder. Geschichten von Vätern und Müttern gibt es hingegen erst wenige. Es bräuchte viele, um uns mit Bildern zu füttern, aus denen wir wählen können.

Micha Friemel

1

In die Wiege gelegt I

Als ich ungefähr im fünften Monat schwanger war, fand meine Mutter unter ihrem Balkon eine alte Wiege aus Holz. Ein Nachbar hatte versucht, sie über eine Kleinanzeige zu verkaufen, aber der potenzielle Käufer war nie erschienen. Und so stand die Wiege dort und wartete nur darauf, von meiner Mutter gefunden zu werden.

Die Wiege war in einem schäbigen Zustand, der weiße Lack blätterte an allen Ecken und Enden ab, und die Liegefläche muss irgendwann einmal nass geworden sein – das Holz wellte sich und war rissig.

Als ich die Wiege zum ersten Mal sah, war ich sofort verliebt.

Wir haben in unserer Familie ein Faible für alte Möbel. Wir sehen Schönheit und versteckte Möglichkeiten in alten Schränken und Kommoden, die pragmatischer veranlagte Menschen längst auf den Sperrmüll gebracht hätten. Meine Mutter ließ die Wiege äußerst aufwendig restaurieren. Sie bekam, statt der Pressspanplatte, einen richtigen Lattenrost, das Holz wurde geschliffen und geölt. Nur an vereinzelten Stellen, zwischen den gedrechselten Streben, verrieten Überreste des abblätternden Lacks das wirkliche Alter der Wiege.

Mein Freund und ich waren gerade zusammengezogen und noch dabei, uns einzurichten. Die Wiege war eines der ersten Möbelstücke, die in unserem Wohnzimmer standen. Ich saß Stunden davor und träumte davon, wie unser Baby darin liegen, schlummern und zufrieden vor sich hin glucksen würde. Ich würde neben ihm am Schreibtisch sitzen und schreiben. Dann und wann, wenn ich sein kleines Gesicht vermisste, würde ich mich über die Wiege beugen und seine Pausbäckchen streicheln. Es würde mich anlachen, ich würde verliebt seufzen und könnte mein Glück kaum fassen.

So in etwa stellte ich es mir vor, Mutter zu sein, bevor ich mein Kind gebar. Wir würden in einer Blase aus Glück und Harmonie zusammenleben. Mein Kind, das größte Wunder – und ich, seine größte Bewunderin. Alles würde etwas heller strahlen. Alles wäre nun an seinem vorbestimmten Platz. Ein Kind zu bekommen, würde etwas in mir wieder ganz werden lassen, von dem ich gar nicht so genau wusste, wann es eigentlich zerbrochen war.

Vor allem aber würde es bedeuten, selbst eine Mutter zu werden. Und Mütter waren gute Menschen. Mütter waren immer sanft, nachgiebig und bodenständig. Mütter waren geduldig, bestimmt und unfehlbar. Mütter waren selbstlos, hatten stets für alles die passende Lösung und ein sauberes Taschentuch dabei.

Die längste Zeit meines Lebens habe ich Mutterschaft aus der Perspektive einer Tochter erlebt. Seit ich denken kann, gab es nur meine Mutter und mich. Meine Eltern trennten sich, als ich noch ein Baby war – meinen Vater sah ich höchstens an den Wochenenden. Er war das Abenteuer, der beste Improvisator und Geschichtenerzähler, den ich kannte. Er schenkte mir einen Hund, wir aßen Dosenravioli, und einmal, in den Herbstferien, fuhren wir zusammen in die Berge.

Mein Vater war die Zugabe – meine Mutter war die Basis.

Meine Mutter ließ nie Zweifel daran aufkommen, dass sie mich über alles geliebt hatte, dass ich das Beste wäre, was ihr je passiert war.

Meine Mutter entsprach ziemlich genau dem Bild einer guten Mutter. Wenn ich aus der Schule nach Hause kam, stand das Mittagessen auf dem Tisch. Wenn ich krank war oder einen ganz besonders schlimmen Liebeskummer hatte, umsorgte und tröstete sie mich; wenn ich sie anrief, ging sie ans Telefon, selbst wenn sie gerade lohnarbeitete. Sie verschob wichtige Geschäftstermine und unterbrach Treffen mit Freund*innen, wenn ich sie brauchte. Bis in meine späten Zwanzigerjahre hat sie sich so gut wie nie anmerken lassen, dass sie auf dieser Welt noch etwas anderes war oder sein wollte als genau das: meine Mutter. Ich war ihre Nummer eins auf der Prioritätenliste – oder zumindest kam es mir so vor.

Vielleicht habe ich Mutterschaft bis zur Geburt meines eigenen Kindes deshalb nie hinterfragt, weil sie für mich eine selbstverständliche Konstante war, die mir Halt gab und sich durch all meine Lebensbereiche zog. Sie war etwas Grundlegendes, der Boden, auf dem ich stand.

Auf meine Mutter war immer Verlass.

Meine Mutter betonte oft, dass sie, seit sie mich das erste Mal in den Armen hielt, ganz genau wusste, was zu tun wäre. Dass sie nun eine klare Richtung und Aufgabe im Leben hätte, die wichtiger wäre als alles andere sonst. Dass es mir an nichts fehlen sollte. Dass sie es besser machen wollte als ihre Mutter.

Ich erinnere mich nur an eine Situation, in der ich meine Mutter habe wanken sehen. Ich muss im Grundschulalter gewesen sein. Sie hatte in der Küche gestanden und gekocht, ich hatte im Wohnzimmer gespielt. Plötzlich gab es einen lauten Rums. Meine Mutter fluchte, und ich rannte zu ihr in die Küche. Dort saß sie, neben dem umgekippten Topf, in einer großen Pfütze Suppe, den Kopf in die Hände vergraben, und weinte. Ich erschrak – aber meine Mutter sagte, dass sie nur traurig um die schöne Suppe wäre. Dann kaufte sie uns einen Döner vom Imbiss, und ich war glücklich, denn normalerweise gab es bei uns zu Hause nie Döner.

Wenn ich heute an meine Mutter denke, habe ich immer wieder ein ganz bestimmtes Bild vor meinem inneren Auge: Ich sitze auf ihrem Schoß, und sie zeigt mir die Welt. Sie zeigt mit dem Finger auf Dinge, benennt und bewertet sie: Baum – gut. Cola – schlecht. Die Sonne lacht, der Clown ist traurig. Und ich halte das, was sie sagt, für ein Gesetz, und ich finde mich darin zurecht. Sie zeichnet einen fast vollständigen 360-Grad-Kreis und kartografiert alles, was sich in seinem Inneren befindet. Nur dort, wo sie selbst sitzt, ist noch heute ein weißer Fleck. Es ist paradox: Das, was mir im Leben am meisten Sicherheit gegeben hat, ist gleichzeitig auch meine größte Unbekannte.

Ich bin nun seit fast drei Jahren selbst Mutter und noch immer dabei zu begreifen, was das eigentlich bedeutet. Ich schwanke regelmäßig zwischen »Es ist das Allerschönste« und »Es ist das Allerschwerste«. Ich habe in den letzten Jahren jedenfalls schon wegen weniger als einer ausgekippten Suppe auf dem Küchenboden gesessen und geheult. Inzwischen weiß ich, dass es dabei in den meisten Fällen um viel mehr geht als um das Essen und dass ich manchmal lieber lüge, als die eigene Überforderung zuzugeben. Was ich nicht weiß, ist, ob ich das aus Liebe zu meinem Kind tue oder um vor mir selbst und vor anderen den Schein einer allzeit glücklichen, erfüllten Mutter zu wahren.

Als ich selbst noch ein Kind war, wäre es mir nie in den Sinn gekommen, dass sich meine Mutter in ihrer Rolle manchmal unwohl fühlen oder in Anbetracht der Umstände, unter denen sie ihre Mutterschaft lebte, ihr Glück anzweifeln könnte.

Ich war doch da! Und ich war, das wurde mir immer wieder von allen Seiten glaubhaft versichert, ihr allergrößtes Glück. Und so wollte ich, selbstverständlich, später einmal auch Kinder haben.

Zumindest habe ich nie einen Gedanken daran verschwendet, wie es wohl wäre, keine Kinder zu bekommen. Alle Frauen, die ich kannte und zu denen ich aufschaute, waren Mütter. Meine Mutter war eine Mutter, ihre Mutter auch, die Mütter meiner Freund*innen und die Freundinnen meiner Mutter. Sie alle sprachen davon, wie sehr es sie bereicherte und beglückte und wie sehr ihre Kinder sie täglich zu besseren Menschen machten.

Wenn ich als Kind gefragt wurde, ob ich später selbst einmal Kinder haben wollte, sagte ich: »Ja, natürlich!« – und erntete dafür ein zufriedenes Lächeln. Man hätte mich auch fragen können, ob ich tatsächlich Jana hieße oder ob ich Döner wirklich lieber mochte als Suppe.

Natürlich würde ich eine Mutter werden! Ich wäre sanft, nachgiebig und bodenständig, würde geduldig, bestimmt und unfehlbar sein. Und selbstlos. Genau wie meine Mutter würde auch ich für alles eine Lösung und ein Taschentuch dabeihaben.

Dabei war und hatte ich nichts von alldem. Ich war ungeduldig, aufbrausend, unnachgiebig und flatterig. Ich hatte tausend Flausen im Kopf und vergaß ständig die alltäglichsten Dinge – und dennoch war ich der festen Überzeugung, wäre ich eine Mutter, würde ich all das abstreifen, und die mütterlichenEigenschaften in mir kämen zum Vorschein.

Als ich tatsächlich Mutter wurde, prallten diese meine Vorstellung von Mutterschaft und die Realität mit voller Wucht aufeinander.

Als der Staub sich langsam gelegt hatte, fragte ich mich, wie das hatte passieren können – und ich begann, nach Antworten zu suchen.

2

Warum wir über Mutterschaft sprechen müssen

Eine kurze Einordnung und ein kleines bisschen Wut

Müssen ist ein hartes Wort. Es passt nicht zu Mutterschaft.

Mütter sind weich, nachgiebig und wohlwollend.

Mütter sind für andere da.

Müssen setzt unter Druck. Es zwingt das Gegenüber in eine alternativlose Situation.

Müssen ist kein Wort für Mütter, es ist ein Wort für Bestimmer. Ein herrisches Wort.

Lieber einen Konjunktiv benutzen: »Es wäre schön, wenn …«, »Vielleicht könnten wir mal …« – und dazu möglichst aufgeschlossen lächeln, Kompromissbereitschaft zeigen.

So und nicht anders, das habe ich von klein auf gelernt, würde ich – als Frau – in diesem Leben weiterkommen.

Empfehlungen aussprechen statt Befehle.

Andernfalls würde ich dreist wirken, zu fordernd, oder gar verbissen. Und dann wäre ich auch irgendwie selbst schuld, wenn man mir nicht zuhören wollte.

Und weil ich mir wünsche, dass man mir zuhört, weil ich will1, dass dieses Buch gelesen wird, habe ich lange mit seinem Titel gerungen. Habe ich versucht, einen Titel zu finden, der einladender ist, einen, der besser zu Mutterschaft passt, denn um Mutterschaft soll es in diesem Buch schließlich gehen.

Aber es wird in diesem Buch auch um unser Bild von Mutterschaft gehen. Ein Bild, das recht ausdauernd mit Weichzeichner bearbeitet worden ist, so lange, bis niemand mehr so richtig erkennen kann, dass Mütter und müssen eigentlich ziemlich viel miteinander zu tun haben.

Mütter müssen nämlich eine ganze Menge:

Kinder gebären, zum Beispiel, Kinder großziehen, Kinder lieben. Windeln wechseln und stillen, Po abwischen und Brote schmieren, verschmähte Brote selber essen und ein Müsli anrühren, unter den Tisch geklebte Popel abkratzen. Mütter müssen so tun, als würden sie sich tierisch über einen Popel freuen. Mütter müssen Kinder anziehen, Kinder in die Kita bringen oder zur Schule oder zum Schwimmkurs. Mütter müssen einen Haushalt organisieren. Einen Ärzt*innentermin ausmachen, einen Ärzt*innentermin verschieben, einen Ärzt*innentermin wahrnehmen. Mütter müssen Wäsche waschen, Wäsche aufhängen, Wäsche aus- und Wäsche einsortieren, Mütter müssen neue Wäsche kaufen. Mütter müssen zusehen, wo sie das Geld für neue Wäsche hernehmen. Mütter müssen immer da sein. Mütter müssen das wollen, immer da zu sein. Mütter müssen dabei lächeln. Mütter müssen damit leben, dass die Arbeit, die sie täglich leisten, weder gesehen noch wertgeschätzt wird. Mütter müssen später mit der Hälfte der Rentenbezüge ihrer männlichen Altersgenossen auskommen; ein Viertel von ihnen wird unterhalb der Armutsgrenze leben. Mütter müssen damit rechnen, dass sich ihre mentale Gesundheit in den ersten Jahren mit Kind(ern) signifikant verschlechtern wird.

Mütter müssen sich mal zusammenreißen.

Mütter müssen sagen: »Am Ende des Tages weiß ich, für wen ich das alles tue.« Mütter müssen, ob sie wollen oder nicht, Mütter müssen, auch wenn sie nicht mehr können.

Eigentlich, so könnte man fast meinen, käme Mutter von müssen.

»Aber das alles ist doch völlig selbstverständlich«, höre ich meine eigene innere Stimme erwidern, »Mütter wollen das alles ja auch tun, sie haben es sich schließlich selbst ausgesucht!«

Jein.

Wenn eine Mutter Glück hat, ist an ihrer Seite mindestens noch eine zweite Person, die mit der Betreuung des eigenen Kindes bedacht werden könnte – ein Vater zum Beispiel, der das alles auch tun wollen könnte und es sich höchstwahrscheinlich ebenso selbst ausgesucht hat, Vater zu werden.

Bei Vätern sprechen wir aber nicht mehr von »müssen«, sondern von »mithelfen« oder von: »Unfassbar, wie toll der das alles hinbekommt!«

Warum das so ist und was daran falsch ist, sollte eigentlich auf der Hand liegen, tut es aber nicht, und deshalb müssen wir auch darüber sprechen.

Oft haben Mütter nämlich gar keine Wahl. Wie wir im Laufe dieses Buchs noch feststellen werden, ist sogar die Entscheidung, Mutter zu werden, nicht immer eine selbstbestimmt getroffene. Und ich beziehe mich hier noch nicht mal auf den Paragrafen 218 im Strafgesetzbuch, der Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland kriminalisiert und damit das Recht auf Selbstbestimmung schwangerer Personen untergräbt.

Und selbst wenn sich eine Person bewusst entscheidet, ein Kind zu bekommen, befürwortet sie damit nicht automatisch alle Bedingungen, unter denen Mutterschaft, gesellschaftspolitisch betrachtet, in Deutschland aktuell möglich ist.

Eine selbstbestimmte Wahl treffen zu können, bedeutet auch, Zugang zu möglichst vielen Informationen zu haben.

Wussten Sie das mit der Altersarmut und der mentalen Gesundheit? Kannten Sie die Zahlen? Haben Sie sich gut informiert gefühlt, als Sie Mutter wurden? Und haben Sie sich immer noch gut informiert gefühlt, als Sie Mutter waren?

Wussten Sie zum Beispiel, dass sich das Gehirn einer Person, die schwanger ist und gebärt, dauerhaft verändert? Dass die Strukturen ihres Gehirns vermutlich für den Rest ihres Lebens andere sein werden und dass dieser Umstand ihr Denken beeinflussen wird, die Art und Weise, wie sie sich organisiert, wie sie arbeitet, wie sie funktioniert, wie sie sich sorgt, wie ihr Umfeld sie wahrnimmt? Ich werde darauf in einem späteren Kapitel ausführlicher eingehen.

Als ich Mutter wurde, habe ich das nicht gewusst.

Aber ich hätte es gerne gewusst.

Und ich frage mich, woran es liegt, dass diese Information, die immerhin das komplexeste Organ des menschlichen Körpers betrifft, gesellschaftlich und medial nicht genauso präsent ist, genauso leidenschaftlich diskutiert wird wie beispielsweise Dehnungsstreifen, Hängebäuche und Stillbrüste.

Warum habe ich in meinem Leben schon so viel über den »After-Baby-Body« gehört und gelesen, aber vor der Geburt meines Kindes noch nie etwas über das »After-Baby-Brain«?

Warum kann ich in der Apotheke Salben kaufen, die mir versprechen, meine Dehnungsstreifen und Geburtsverletzungen unsichtbar zu machen, aber nirgendwo finde ich eine Anleitung für die neue Funktionsweise meines Gehirns? Von wegen Wochenbett- und Stilldemenz! Ich habe vor anderthalb Jahren abgestillt und schlafe seit einem knappen Jahr in der Regel die Nächte durch. Aber meine kognitiven Fähigkeiten von vor meiner Schwangerschaft, die für mich als Autorin nicht ganz unwesentlich sind, habe ich dennoch nicht in Gänze wiedererlangt.

Sind Gehirne bei Menschen, die über einen Uterus verfügen, nicht so wichtig wie beispielsweise Brüste? Woran liegt es, dass es bisher kein großes Interesse daran gegeben hat, Gehirne von Eltern zu erforschen?

Ich glaube übrigens nicht, dass eine der oben genannten Informationen etwas an meiner Entscheidung, Mutter zu werden, geändert hätte. Aber vermutlich hätte ich die Dimension dessen, was es bedeutet, Mutter zu sein, vorher mehr hinterfragt.

Vielleicht wäre dann die Diskrepanz zwischen meiner Vorstellung von Mutterschaft und der Realität weniger groß und vor allem weniger schmerzhaft gewesen. Vielleicht hätte ich nicht das erste Jahr im Leben meines Kindes damit verbracht, Antworten auf Fragen zu suchen, die ich noch nicht mal konkret hatte formulieren können. Was vermutlich auch damit zusammenhängt, dass sie, wenn überhaupt, im öffentlichen Diskurs noch viel zu selten gestellt – und geschweige denn beantwortet werden.

Wussten Sie, dass Mütter für die psychologische Forschung bis vor ein paar Jahren noch keine eigenständigen Individuen darstellten, sondern Mutterschaft immer nur in Abhängigkeit zum Kind beziehungsweise mit Fokus auf das kindliche Wohlbefinden untersucht worden ist?

Bis vor Kurzem hätte ich das noch nicht mal für verwunderlich oder gar für eine gefährliche Schieflage gehalten. Denn für wen sollte es Mutterschaft geben, wenn nicht für das Kind?

Offensichtlich müssen wir auch darüber sprechen: welche Personen das Wort »Mutterschaft« meint und warum es sich bei ihnen, unabhängig von ihrer Beziehung zueinander, um verschiedene Individuen handelt. Die somit auch eigenständige gesellschaftliche, politische, familiäre, psychologische und medizinische Beachtung verdienen.

Aber Moment mal, könnte man sagen, gerade Schwangere erfahren mit immerhin zehn bis zwölf Vorsorgeterminen während der Schwangerschaft doch eine sehr große medizinische Beachtung!

Und das stimmt! Solange sich die heranwachsenden Föten in ihren Bäuchen befinden, wird der Gesundheitszustand von Mutter und Kind ein- bis zweimal pro Monat kontrolliert.

Ist das Kind jedoch geboren, hat die Mutter nur noch das Anrecht auf eine reguläre gynäkologische Nachuntersuchung – sechs bis acht Wochen nach der Geburt.

Nur eine einzige Untersuchung, die den Gesundheitszustand der Wöchner*innen erfasst – und das, obwohl für Personen, die geboren haben, bis zu einem Jahr nach der Geburt ein erhöhtes Risiko besteht, an den körperlichen und psychischen Folgen des Mutterwerdens zu sterben. Die Erfassung der mütterlichen Mortalitätsrate ist in Deutschland übrigens unvollständig und entspricht nach wie vor nicht den Vorgaben der WHO.

Würden Sie mir zustimmen, wenn ich sagte: Das muss sich ändern? Darüber müssen wir sprechen?

Macht Sie das genauso wütend wie mich? Oder denken Sie, ich übertreibe? Spüren Sie einen inneren Widerstand? Möchten Sie mir direkt widersprechen?

Wenn Sie bis hierher gelesen haben, ist Ihnen vermutlich aufgefallen, dass es einen kleinen Unterschied in der Tonalität der ersten beiden Kapitel gibt. Und vielleicht denken Sie jetzt: Meine Güte, wenn sich die Heinicke weiter so aufregt, schaffe ich keine zwei Seiten mehr.

Deshalb möchte ich Ihnen drei kleine Geheimnisse verraten:

Erstens wird es von jetzt an etwas sachlicher. Zweitens, davon bin ich fest überzeugt, werden Sie sich, sollten Sie bis zum Schluss weiterlesen, fragen, wie ich eigentlich so sachlich habe bleiben können.

Und drittens: Ich habe nicht nur über den Titel dieses Buchs lange nachgedacht, sondern auch über den, nennen wir ihn mal »Vorgeschmack« an Wut, den ich hier offenlege. Denn Frauen, die sich wütend zeigen, werden in unserer Gesellschaft selten ernst genommen. Wo Gefühle sind, da können keine Fakten sein, oder? Zumindest gibt es diese eigentümliche Annahme, dass Fakten nur sachlich und nüchtern vorgetragen werden dürften, um als solche anerkannt zu werden.

Das ist ein ungünstiger Widerspruch, denn, und ich denke, da sind wir uns einig, Mutterschaft ist ein recht emotionales, oder zumindest emotionalisiertes Thema. Auch wenn Wut eine Emotion ist, von der wir im Kontext Mutterschaft eher selten hören.

Warum ich glaube, dass gerade wir Mütter, Gebärenden und Sorgearbeit Leistenden öfter wütend sein und unsere Wut auch öffentlich zeigen sollten, wird sich am Ende hoffentlich geklärt haben.

Ich glaube aber auch, dass Wut ein Wegweiser sein kann. Einer, der uns unsere Grenzen aufzeigt. Und die Momente, in denen wir selbst oder andere diese Grenzen nicht respektieren. Wut kann uns viel über unsere Beziehungen und die Dynamiken, in denen wir als Gesellschaft zusammenleben, erzählen.

Meine Wut hat mir viel über mich selbst erzählt und mich letztlich zum Schreiben gebracht.

Und jetzt verrate ich Ihnen noch ein viertes Geheimnis: Bevor ich wütend wurde, war ich sehr traurig. Ich war verwirrt und orientierungslos. Als ich Mutter wurde, hatte ich das Gefühl, den Boden unter meinen Füßen zu verlieren.

Über all diese Gefühle habe ich angefangen, öffentlich zu schreiben. Denn ich habe mich nicht ernst genommen gefühlt, als ich lediglich im Privaten über sie sprach.

Dieses Buch ist deshalb auch ein sehr persönliches. Es ist streckenweise ein Protokoll meines Versuchs, die Mutter zu werden, die ich, all den gesellschaftlichen, familiären und meinen eigenen Vorstellungen zum Trotz, gerne sein möchte.

Ich schreibe aus der Perspektive einer weißen, nicht-behinderten, heterosexuellen, cis Frau, die in der DDR geboren und in der Nachwendezeit im ehemaligen Ostberlin aufgewachsen ist. Einige der Erfahrungen, die aus meiner Perspektive erwachsen sind, teile ich hier, wobei es mir wichtig ist, auch anderen Lebensrealitäten neben der meinen Raum zu geben. Deswegen gendere ich unter anderem mit dem Asterisk,2 um zu kennzeichnen, dass es mehr als nur zwei Geschlechter gibt. Weil prinzipiell alle Menschen mit einem gebärfähigen Uterus schwanger werden können, aber nicht alle Personen mit Uterus Frauen sind, schreibe ich beispielsweise Wöchner*innen.

Meine eigenen Erfahrungen ziehen sich wie ein roter Faden durch dieses Buch, in dem es vor allem um biologische Mutterschaft im Kontext bestimmter historischer und kultureller Einflüsse und Entwicklungen gehen wird.3Wie ich Mutterschaft oder biologische Mutterschaft hier definiere, steht im anhängenden Glossar, in dem auch weitere Begriffe erklärt werden, die beim Lesen unter Umständen Fragen aufwerfen könnten.

In den vergangenen zwei Jahren habe ich mich durch Studien, Zahlen, Kontroversen, Sachbücher und Belletristik gelesen und irgendwann begonnen, meine eigenen Gedanken zu notieren. Es war, wie die von mir sehr geschätzte Autorin bell hooks in ihrem Essay Theory as Liberatory Practice schreibt: »Ich wandte mich der Theorie zu, weil ich verletzt war … Ich wandte mich der Theorie zu, weil ich verzweifelt war und begreifen wollte – um erfassen zu können, was um mich herum und in mir passierte. Vor allem wollte ich, dass der Schmerz wegginge. In der Theorie fand ich dann einen Ort, um zu heilen.«4

Anfangs schrieb ich in die Notizen-App auf meinem Handy, meistens wenn ich stillte oder mein Kind im Kinderwagen durch die Gegend schob. Später fuhr ich zum Schreiben aufs Land in unseren Bauwagen, um meine Gedanken zu Ende denken und in größere Zusammenhänge setzen zu können.

Das wäre nicht möglich gewesen ohne eine Reihe an Privilegien, wie zum Beispiel das Privileg des Zeithabens. Mareice Kaiser schreibt in ihrem Buch Das Unwohlsein der modernen Mutter: »Kunst ist ein Luxus, wenn man Mutter ist. Sich das überhaupt zu erlauben: Dinge zu tun, die vielleicht auf den ersten Blick keinen kapitalistischen oder kümmernden Sinn haben. Und auf den zweiten auch nicht. Zeit ist Luxus.«5 Und weiter: »Bevor ich Mutter wurde, dachte ich nie darüber nach, was es bedeuten würde, als Mutter zu schreiben … Ungestörtheit ist der seltenste Aggregatzustand einer Mutter.«6

Dass ich mich in den vergangenen Monaten sehr häufig in diesem Aggregatzustand der Ungestörtheit befunden habe, liegt daran, dass der Vater meines Kindes, mein Freund, ebenso Verantwortung für unser Kind übernimmt wie ich. Während meines Schreibprozesses lagen sicherlich 80 Prozent all der Aufgaben, die mit einer Familie einhergehen, bei ihm. Ich finde das wichtig zu erwähnen. Denn meistens werden die Personen vergessen, die sich um die Sorgearbeit kümmern, während andere im Rampenlicht stehen, Karriere machen oder zumindest einer Arbeit nachgehen, die honoriert wird.

Meistens sind diese Personen Mütter. Auch das möchte ich nicht unerwähnt lassen, und ich bin mir durchaus bewusst, dass es keine Selbstverständlichkeit ist, als Mutter in den Baby- und Kleinkindjahren des eigenen Kindes so viel Zeit zur eigenen Verfügung zu haben, wie ich sie in den vergangenen Monaten hatte.

Mein Freund hat mir den Rücken freigehalten und mir die Räume ermöglicht, die ich zum Arbeiten brauche. Die geistigen wie auch die physischen Räume. Weil er wusste, wie essenziell wichtig es für mich ist, meine Gedanken in Worte zu fassen.

Indem ich schreibe, finde ich Schönheit in den Dingen. Und Wahrheit.

Indem ich schreibe, habe ich angefangen zu heilen.

3

Die Entstehung der Mutter

Von steinzeitlichem Irrglauben, kopflosen Idealen und einem farblich abgestimmten Geschirrservice

Es gibt diese grundsätzliche Annahme, dass Kinder das eigene Leben besser machen oder sogar vervollständigen würden. Eine Umfrage des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) hat ergeben, dass 85 Prozent der kinderlosen Frauen und Männer (ungeachtet dessen, ob ihre Kinderlosigkeit gewollt oder ungewollt ist) Kinder für eine »Bereicherung für Identität und Lebenssinn« halten und mit einer Familiengründung unter anderem eine »richtige Familie« und das Gefühl, angekommen zu sein, verbinden.7

Die französische Philosophin und Feministin Élisabeth Badinter wertet eine Studie aus, die ähnliche Ergebnisse vorgelegt hat. Badinter gelangt zu dem Schluss, dass die Entscheidung, ein Kind zu bekommen, weniger auf konkreten, pragmatischen Abwägungen beruht als vielmehr auf Emotionen, verinnerlichten Normen, familiärem und gesellschaftlichem Druck.8 Vor allem kinderlose cis Frauen müssen sich für ihre Kinderlosigkeit rechtfertigen, werden ihretwegen stigmatisiert oder beschuldigt, egoistisch zu handeln und ihrer Verantwortung gegenüber der nachfolgenden Generation nicht nachkommen zu wollen. Aus einem harmlos daherkommenden »Möchtest du später einmal Kinder haben?« wird ein empörtes »Und du möchtest wirklich keine Kinder haben?«, oder gar ein: »Narzisstische Frauen, die nur an ihre Freiheit denken. Mach eine Therapie, damit deine gestörte Seele geheilt wird.«9

Derlei Vorstellungen, Normen und Stigmata sind bereits aus verschiedenen Perspektiven erforscht worden. Sie gehen zurück auf unsere pronatalistischen Grundwerte: Kinder gelten als etwas durchweg Positives, ihre Bedeutung für Familie, Gesellschaft und Staat wird überhöht. Pronatalismus befürwortet ein Bevölkerungswachstum im politischen und kinderreiche Familien im privaten Kontext. Pronatalistisch ist beispielsweise das Vorhaben der Ampelkoalition, eine unbürokratischere Kindergrundsicherung – und damit einen größeren Anreiz für eine Familiengründung (oder das Bekommen weiterer Kinder) zu schaffen.10 Genauso pronatalistisch ist jedoch auch der bereits erwähnte Paragraf 218 des Strafgesetzbuches, der einen Schwangerschaftsabbruch unter Strafe und damit das ungeborene Leben über das der schwangeren Person stellt.

In dieser Gewichtung schwingt eine weitere Ursache für die oben erwähnten Vorstellungen und Stigmata mit: die Art und Weise, wie wir auf Menschen mit Uterus schauen – welchen Nutzen, welche Bestimmung und welchen Stellenwert wir ihnen zuschreiben.

Ein paar Tage bevor ich mein Kind gebar, ging ich mit meiner Mutter spazieren. Ich fragte sie, wie sie den Moment meiner Geburt erlebt hatte. Sie erzählte mir, wie unfassbar schön sie es fand, meinen kleinen Körper aus ihrer Vagina gleiten zu spüren, als das Köpfchen schon geboren worden war: »Als die Ärztin verkündete, dass du ein Mädchen warst, habe ich gedacht, was für ein unbeschreibliches Glück, so was Tolles wird meine Tochter eines Tages auch erleben.«

Ich war mir sicher, dass ich so was Tolles auch erleben wollte – und würde. Das Schicksal, das mich erwartete, war eines, auf das ich mich wirklich freute.

Dass meine Mutter schon im Moment meiner Geburt keinen Zweifel daran hatte, dass auch ich einmal Mutter werden würde, ist genauso wenig Zufall, wie mein stetig geäußerter Kinderwunsch individuell gewählte Überzeugung gewesen wäre. Im bloßen Vorhandensein meiner Vulva lag bereits die Konsequenz, ja, mein vorbestimmtes Schicksal, später einmal selbst zu gebären.

2019 schreibt der Boulevard-Journalist Franz Josef Wagner in seiner Bild-Kolumne: »Für mich ist eine Frau eine Mutter«11