Aus dem Hintergrund Chorgesang - Georges Raillard - E-Book

Aus dem Hintergrund Chorgesang E-Book

Georges Raillard

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Beschreibung

Falsche Termine, falsche Könige, falsche Theaterstücke – kann man überhaupt noch jemandem trauen, der etwas erzählt?, fragt der Leser. Es gibt kein richtiges Erzählen im falschen Diskurs, antwortet der Schreiber. Nur Schwindler sind vertrauenswürdig.

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Seitenzahl: 112

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Inhalt

Wichtige Termine

An der Bushaltestelle

Freundschaftsschluss

Der richtige König

Die Überquerung des Platzes

Städtische Bibliothek, täglich geöffnet

Die Theateraufführung

Die Rauchwolke

Letzte Nachrichten

Wie hätten Sie Ihren Himmel denn gern?

Die Geschichte, die Sie erleben

Die Fortsetzung der Geschichte mit anderen Mitteln

Exklusiv: Bestsellerautor Loro Immsen über seinen kometenhaften Werdegang

Wichtige Termine

Herr Lürcher drängte Richtung Ausgang. Die Maschine war ärgerlicherweise mit einer halben Stunde Verspätung angekommen – Überlastung der Flugschneisen schon beim Abflug. Auch schubste man ihn von hinten. Sicher hatten die hinter ihm ebenfalls dringende Termine und wurden ihrerseits wohl von Anderen vorwärtsgeschoben, die gleichfalls ihre Termine hatten. Herr Lürcher war das gewohnt. Auch er hatte ja einen wichtigen Termin. Gewiss saßen sie bereits um den länglichen schwarzen Tisch mit den abgerundeten Ecken, die Leute von Méndez, und warteten auf ihn. Die Zeit war knapp bemessen. Am selben Tag hin und zurück. Unkosten vermeiden.

"In drei vier Stunden haben Sie das doch durch mit denen, Herr Lürcher, gerade Sie."

Herr Lürcher hatte nichts gesagt. Er kannte die Strecke, kannte den Ort, kannte die Leute, kannte die Sachlage. Gerade er – so war es schon. Eigentlich selbstverständlich, dass ihm Dr. Drechsel von Zeit zu Zeit seine Tüchtigkeit bestätigte...

"Entschuldigung", murmelte er, als sich der Mann vor ihm kurz umwandte. Dessen Blick war nicht vorwurfsvoll gewesen, ein rundes Gesicht, eher so etwas wie nachdenklich. Wahrscheinlich hatte er ihn gestoßen, ohne es zu merken.

"Bitte um Entschuldigung", murmelte Herr Lürcher noch einmal, obwohl der Andere ihm längst wieder seinen Hinterkopf zukehrte, kurz geschorene graue Haare, kranzförmig um die leicht gebräunte Glatze. Man durfte sich eben nicht verweilen, wenn es denn schon mal vorwärtsging, denn ließ man auch nur die kleinste Lücke, so schob sich rasch irgendein Nachzügler dazwischen, der seine Zeitung noch im Aktenkoffer verstaut oder eine Duty-Free-Tüte unter dem Sitz hervorgekramt hatte, während man aus dem hinteren Teil des Flugzeugs bereits nach vorn drängte. Dann musste man dem den Vortritt lassen, wollte man nicht unhöflich scheinen oder gar irgendeinen unangenehmen Wortwechsel riskieren. Und das bedeutete weiteren Zeitverlust. Gerade Herr Lürcher durfte jetzt keine weitere Zeit verlieren. Wieviel Zeit – und damit Geld – man wohl sparen könnte, wenn man in solchen Fällen nicht an die Konventionen der Höflichkeit gebunden wäre. Eigentlich war man zu gut erzogen.

Business Class, alles schon leer, Zeitungen in die Sitznetze gewurstelt, es roch nach Currysoße. Vorn sah man schon die Stewardess, Hände verschränkt, wie sie die Fluggäste verabschiedete und lächelnd zu ihren wichtigen Terminen entließ. Es ging langsam vorwärts, kurze Schrittchen, dann wieder Stopp. Irgendeiner älteren Dame hatte sich ein Riemen des Handköfferchens an einem Sitz festgehängt. Bis die nur merkte, warum ihr Köfferchen nicht weiterwollte, obwohl sie an der Ziehschlaufe riss. Herr Lürcher fühlte sich an Frau Kresp erinnert, wenn die ihren Schäferhund vom Baum wegzerrte, wo der gerade sein Bein hob, jeden Morgen das gleiche Schauspiel, wenn er das Auto aus der Garage holte, die alte bucklige Frau, die an der Leine zerrte, dabei hätte sie doch gar keinen Grund, die hatte doch nun wirklich keine Termine, höchstens mal einen Arztbesuch, aber nein – der Hund musste weiter, "du Lausbub du", rief sie, oder "willst du wohl endlich".

Zwei Stewardessen waren herbeigeeilt und der Dame behilflich. Lächelnd behob eine mit einem Handgriff das Problem. Doch statt weiterzugehen, musste sich die Dame erst wortreich bedanken. Es klang nach Schwedisch oder Dänisch...

Wenn Frau Kresp morgens am Hund zog, grüßte Herr Lürcher sie nur kurz und tat noch eiliger, als er es sowieso schon hatte. Sonst hätte er sich wieder ihre ewigen Klagen anhören müssen, irgendeine Tochter, die offenbar arbeitete, statt die Enkel anständig zu erziehen, damit aus ihnen was Rechtes wird, dann die Gesundheit natürlich, immer irgendwelche Gebresten – doch nun, endlich, ging es wieder vorwärts…

"Hoppla! Na...", entfuhr es da Herrn Lürcher. Dieses Mal war er tatsächlich geradezu auf ihn aufgelaufen, den Herrn mit dem kranzförmigen Stoppelhaar, der sich natürlich wieder kurz umgedreht hatte, gedankenverloren. Hatte der es denn nicht eilig? Hatte der denn keinen Termin? Immerhin trug er einen schwarzen Aktenkoffer...

"Auf Wiedersehen", lächelte die Stewardess.

"Auf Wiedersehen", murmelte Herr Lürcher und trat hinter dem Menschen mit dem Aktenkoffer ins Fingerdock. Der schlenderte doch tatsächlich wie ein Spaziergänger am Sonntagmorgen vor ihm her, die freie Hand in der Hosentasche, sein Glatzkopf, der sich mal nach links, mal nach rechts drehte, die Augen zusammengekniffen, Herr Lürcher sah es genau, als er sich gewichtig an ihm vorbeidrückte, in eine Ferne gerichtet dieser Blick, eine Ferne, die es hier doch nirgends gab, in diesem langen grauen schmalen Gang, der jetzt in einen anderen, viel breiteren und hellen Gang mündete, Transit rechts, Passkontrolle links. Herr Lürcher eilte nach links.

Jetzt fehlte nur noch, dass sie's bei irgendeinem Lateinamerikaner oder Afrikaner ganz genau wissen wollten. Klar, solche musste man sich etwas genauer anschauen, aber dann sollte man sie doch einfach beiseitenehmen, damit Leute wie er, die dringende Termine hatten, rasch durch waren. Auf ihn warteten schließlich Méndez und seine Leute, die Unterlagen geordnet vor sich auf dem Tisch, Hände übereinandergelegt, Kopfschütteln, nur sein Platz noch leer, aber sie mochten sich ja denken, dass er nichts dafür konnte, gerade er, und dass das Flugzeug wohl mit Verspätung gelandet war. Schließlich war er ja nicht so einer, der imaginären Schmetterlingen nachschaute oder sonstwelche Flausen im Kopf hatte, nein, das überließ er Leuten wie diesem Glatzkopf. Ein abgeernteter Mensch, und ein bisschen wunderte sich Herr Lürcher über sein eigenes Wort. Abgeerntet – wie mochte er bloß darauf gekommen sein? Vielleicht das Haar, wo es noch welches gab, so kurz wie ein Viertagesbart.

Letzten Sonntag, ja, als sie Klaus besuchten, da waren sie an langen mattgelben Stoppelfeldern vorbeigefahren, auf denen Katzen herumstrichen und Raben sich die Erntereste pickten.

"Trostlos, wie das aussieht", hatte Herr Lürcher gemeint.

Aber Karin sah kaum hin, und es wirkte beruhigend auf ihn, dass sie gleich darauf aufs Gaspedal trat und den Wagen überholte, der schon eine ganze Weile vor ihnen hergezuckelt war.

Glück, dieses Mal hatte er Glück. Nun, immerhin hatte er sich beeilt, sein Termin, war geschäftig an den Leuten vorbeigeprescht, bis er in die Halle mit den Kontrollschaltern kam. Aber es hätte auch gleichzeitig oder, schlimmer noch, ein paar Minuten vorher ein Jumbo aus Übersee ankommen können, und dann hätten nicht bloß vier, fünf Leute angestanden, besonders heute, da von den sechs Schaltern nur zwei besetzt waren. Der Beamte sah sich nur rasch die Passfotos an, klappte den Pass wieder zu, das ging ja wie am Schnürchen. Wieso hätte man auch Herrn Lürcher Schwierigkeiten machen sollen, gerade ihm. Es hatte seine Vorteile, wenn man einen Termin hatte. Irgendwie verlieh es einem eine Aura von Wichtigkeit, ja Unantastbarkeit, und obwohl Herr Lürcher natürlich wusste, dass der Beamte ihm seinen Pass bloß aus Routine, Überdruss, Trägheit und dergleichen so rasch wieder ausgehändigt hatte, fühlte er sich doch gewissermaßen ausgezeichnet. Es war ein Beweis dafür, dass sein Termin um einiges wichtiger war als alle bürokratischen Bedenken, auf die so ein kleiner Vertreter seines Landes, eines großen Landes immerhin, je kommen konnte. Was mochte so einer auch nur ahnen von den Millionen, über die er mit Méndez verhandeln würde. Sein Angebot lag auf dem Tisch, er hatte es persönlich Anfang Woche runtergemailt. Jetzt musste man schauen, was Méndez dazu meinte.

"Im einen oder anderen Punkt können Sie sich schon flexibel zeigen", hatte Dr. Drechsel ihn angewiesen, "nur in der Substanz, da bleiben Sie mal schön hart."

Das Rollband für die Kofferausgabe lief schon, aber hoch kam noch nichts. Herr Lürcher schaute sich um. ‚Bienvenido‘ las er auf einer großen Tafel. Méndez musste akzeptieren. Breitformatige Reklamen für Hotels, Mietautos und Banken an den Wänden. Auch für ihn sprangen ja schöne Gewinne heraus. Ein jüngeres Ehepaar im Urlaubslook nahm neben ihm Aufstellung. Probleme konnte es höchstens mit dem Zahlungsmodus geben. Zwei kleine Kinder, mit farbigen Rucksäckchen und auf dem Arm Teddybären. Am besten war es, einen Stichtag für den Wechselkurs zu vereinbaren. Die Kinder ließen die Teddybären zu Boden gleiten und rannten zum Rollband.

"Hab' ich euch nicht gesagt, ihr sollt...!", keifte die Mutter und zerrte die beiden von der Kante des Rollbands herunter. Immer noch keine Koffer. Gewissen technischen Abläufen war man einfach machtlos ausgeliefert. Da half nur Geduld. Wenn es noch lange dauerte, kam sogar dieser abgeerntete Mensch noch vorher. Ob der wohl schon durch die Passkontrolle war? Da schau an, in der Tat. Er war unschlüssig auf halbem Weg stehengeblieben, sah scheu nach links und nach rechts die Wände der weiten Halle hinauf, als suchte er etwas, wovon er zugleich Angst hatte, es zu finden, ein seltsamer, zielloser Mensch, tat ein zwei Schritte, hielt wieder inne, schaute sich nochmals um, kam dann zögernd näher, den schwarzen Aktenkoffer in seiner rechten Hand. Na, was ist denn das, jetzt lässt er den Aktenkoffer zu Boden fallen. Da, er fällt selbst zu Boden. Was ist mit dem? Er rührt sich nicht. Leute springen herzu. Man öffnet ihm das Hemd. Dann wird der Kreis, den die Leute um ihn bilden, zu dicht. Herr Lürcher kann nichts mehr erkennen.

"Hoffentlich ist es nicht zu spät", sorgt sich jemand.

Zu spät, Herr Lürcher war es auf jeden Fall, sein Termin mit Méndez. Einen Termin hatte offensichtlich auch dieser arme Mensch da gehabt, aber zu so einem käme man gern zu spät. Herr Lürcher wandte sich kopfschüttelnd ab. Endlich, die Koffer, säuberlich nebeneinander auf dem Rollband. Als Herr Lürcher seinen zu erspähen versuchte, fiel es ihm ein. Er schlug sich mit der Faust gegen den Oberschenkel. Er hatte doch gar keinen! War nur für den Tag hier. In drei vier Stunden durch. Nachmittags zurück. Verärgert eilte Herr Lürcher davon. Da hatte er nun zehn Minuten vertrödelt, verschwendet, verloren, und dabei warteten sie bei Méndez schon seit drei Viertelstunden auf ihn! Zum Glück standen sie bei der Zollkontrolle nur herum. Wieso nur hatte er sich für die Koffer angestellt! Ganz automatisch, so gedankenlos! Und hatte Zeuge werden müssen, wie dieser Mensch da zusammengebrochen war. Er lief zielstrebig durch die Ankunftshalle zum Ausgang. Ihm hatte das passieren müssen, gerade ihm. Wenn er nicht sinnlos gewartet hätte, hätte er das nicht mitansehen müssen. Er hatte doch Wichtiges zu tun. Es ging um Millionen. Er trat durch die automatische Tür und winkte energisch ein Taxi heran.

An der Bushaltestelle

Im schrägen Licht der Morgensonne verläuft eine Straße. Die Straße taucht hinter einer Pappelgruppe hervor, ihr wahrer Anfang aber liegt fern in der Nacht. An Häuser und Gärten, Buckel und Wiesen schmiegt sie sich an, entwindet sich ihnen wieder, krümmt sich erneut, wie tyrannisch sind Landschaften. Dann, näher, weit schwingt sie aus, langgezogener Eigensinn, hier weichen ihr Natur wie Kunst. Bestärkt, am Ausgang des Bogens, streckt sie sich und strebt geradewegs fort und stößt in den fernen Dunst hinein. Aber erst dort, wo die Sonne senkrecht steht, oder noch weiter beginnt ihr wahres Ende.

Aus dem Land tritt ein Mann. Er geht in kurzen, schleppenden Schritten, gebeugt unter der Last einer Stange, an deren Ende ein Schild befestigt ist. Langsam stapft der Mann die Böschung hoch. Am Straßenrand lässt er die Stange von der Schulter gleiten, stellt sie auf den Boden, umfasst sie schwer atmend. Es ist ein alter Mann, sein Haar ist weiß. Er schaut dahin, woher die Straße kommt, die Morgensonne blendet. Er wendet seinen Blick, wohin die Straße führt, noch fallen die Schatten lang. Hier ist der richtige Ort. Er stellt die Stange gerade und dreht sie bedächtig in den tauweichen Grund. Er ächzt bei jedem Griff, Schweiß rinnt über sein furchiges Gesicht. Endlich, prüfend, rüttelt er an der Stange, sie steckt fest. Dann, nochmals, die Straße entlang, blickt er zurück, blickt er voran, er nickt. Die rechte Hand taucht in die Tasche seines abgeschossenen Mantels und zieht einen Filzstift hervor. Mit erhobenem Arm beschriftet er das Schild, in spitzen Buchstaben ein Wort, schwarz ein Name, der Name dieses Ortes, welches der richtige Ort ist. Er steckt den Stift wieder ein, lehnt sich müde an die Stange. Bald wird hier der Bus halten, er ist der erste Mann, der wartet, und der erste, der einsteigen, und der erste, der sich einen Sitzplatz aussuchen wird.

Die Sonne steigt höher, und aus dem Hintergrund naht mit langen, kräftigen Schritten ein zweiter Mann. Mächtig greift sein Schatten über den Boden aus. Kaum hat er die Bushaltestelle erspäht, steuert er darauf los. Scharf blicken seine Augen auf das Schild, schwarz der Name, dies ist der richtige Ort. Er stellt seinen Aktenkoffer ab, zupft seine Krawatte zurecht, rot mit grünen Streifen.

"Na!", schnaubt er und blickt verdrossen auf den an die Stange gelehnten ersten Mann.

"Grüß Gott", murmelt der erste Mann geistesabwesend, wie weit und herrlich wird die Fahrt sein.

Widerwillig stellt sich der zweite Mann neben den ersten. Der Bus kommt bald, aber er wird länger warten müssen, er wird erst als zweiter einsteigen, ein Sitzplatz wird schon besetzt sein. Ungeduldig wippt er mit dem linken Knie und starrt vor sich hin. Dann sieht er, sein Schatten ist länger und breiter, er verdeckt den Schatten des ersten Mannes vollständig. Dies ist der richtige Ort, der Ort gehört ihm.