Aus dem Takt geraten - Chris Zett - E-Book

Aus dem Takt geraten E-Book

Chris Zett

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Beschreibung

Von Schlagzeugbeats zu Herzschlägen. Nach fast einem Jahrzehnt als professionelle Drummerin kehrt Diana Petrell ihrem Leben als Rockstar den Rücken, um ihre Assistenzarztausbildung in der Notaufnahme fortzusetzen. Von nichts und niemandem möchte sie sich mehr aufhalten lassen, schon gar nicht von ihren aufkeimenden Gefühlen für ihre kühle Vorgesetzte. Die ehrgeizige Ärztin Emily Barnes ist ganz und gar nicht erfreut darüber, die Babysitterin für eine Assistenzärztin mit Lücke im Lebenslauf spielen zu müssen. Doch mit jedem Tag nimmt ihre Faszination für Diana zu. Schon bald kommen sich beide Frauen näher und die einst so klaren Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben verschwimmen. Als Dianas ungewöhnliche Vergangenheit ihren Job bedroht, gerät alles aus dem Takt und beide müssen sich fragen, wie viel sie für die Liebe riskieren wollen.

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Seitenzahl: 483

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Inhaltsverzeichnis

Danksagung

Widmung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Epilog

Über Chris Zett

Ebenfalls im Ylva Verlag erschienen

Letzte Zutat Liebe

Liebe im Trinkgeld inbegriffen

Hängematte für zwei

Küsse in Amsterdam

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Danksagung

Die deutsche Übersetzung meines eigenen Buches war einfacher und gleichzeitig schwieriger, als ich zunächst dachte. Praktischerweise wusste ich bei jedem Ausdruck und jeder Doppeldeutigkeit, was sich die Autorin dabei gedacht hatte, überraschenderweise fehlten mir in meiner Muttersprache oft die passenden Worte. Um die ganzen Anglizismen, merkwürdigen grammatikalischen Konstruktionen und Kommafehler auszumerzen, brauchte ich tatkräftige Hilfe.

Bianca leistete großartige Vorarbeit, ohne die Geduld zu verlieren, und Susanne war nicht nur unglaublich schnell, sondern auch sehr kompetent und präzise.

Für den Feinschliff danke ich meiner Lektorin Andrea Fries.

Vielen Dank auch dem Team des Ylva Verlages, insbesondere Astrid.

Widmung

Für Bianca – ich kann mir keine schönere Arbeitsromanze als unsere vorstellen.

Kapitel 1

Diana trat näher an die Glaswand, um zwischen den großen roten Buchstaben des Wortes Notaufnahme diskret einen Blick auf ihr Spiegelbild zu erhaschen. Brave Frisur, langweilige Kleidung. Noch nicht einmal nah dran an dem Rock-Star-Style, den sie letztes Jahr getragen hat.

Sie klammerte sich noch eine Sekunde länger an ihren extragroßen Macchiato, dann schmiss sie den leeren Pappbecher in den Müll und wischte ihre feuchten Handflächen an der Stoffhose ab. Ein Blick auf ihr Handy bestätigte, dass sie zwanzig Minuten zu früh dran war. Lieber früh als spät. Das war ihre letzte Chance auf eine medizinische Karriere und wenn sie die mit einem schlechten ersten Eindruck vergeigte …

Sie schluckte. Werde ich nicht.

Die automatische Tür öffnete sich mit einem Zischen. Sofort erinnerte sie der saubere Geruch von Desinfektionsmittel an die Praxis ihres Vaters und beruhigte sie. Der Eingangsbereich war offen gestaltet, in imposantem Granit, der eher an ein Bankgebäude erinnerte, und ihre hallenden Schritte verstärkten diesen Eindruck. Sie versuchte, möglichst selbstbewusst und entspannt zu wirken, als sie die Frau am Empfangstresen ansprach.

»Guten Morgen. Mein Name ist Diana Petrell, ich bin die neue Assistenzärztin. Ich suche Dr. Emily Barnes, falls sie schon da ist.«

»Hallo, Dr. Petrell. Wir haben Sie schon erwartet. Hier sind Ihre Unterlagen und die ID-Karte. Damit kommen Sie hier durch«, sie zeigte auf eine Tür in der Glaswand, »und in die Umkleide, Cafeteria und so weiter.« Als Diana zwei Versuche benötigte, um die Karte in der richtigen Richtung durchzuziehen, lachte die Frau sanft. »Ich bin Stacy. Willkommen im Seattle General Hospital.«

Diana lachte mit ihr, konnte aber nicht mehr als »Danke« sagen, als Stacy ihr schnell den Weg zur Umkleide erklärte.

»Ziehen Sie sich um und dann halten Sie am besten nach Tony, dem Schichtleiter der Pflege, Ausschau.« Stacy zeigte auf einen schlaksigen Mann in blauer OP-Kleidung, der winkte und lächelte. »Er wird Dr. Barnes für Sie finden«, fügte sie hinzu und verzog das Gesicht.

Was ist hier los? Neuankömmlinge zogen Stacys Aufmerksamkeit auf sich, bevor Diana mehr über Dr. Barnes herausfinden konnte.

Sie ging Richtung Umkleide. Ein konstantes Hintergrundgeräusch aus eilenden Schritten, Piepstönen in verschiedenen Rhythmen und dem Quietschen von schlecht-geölten Rädern umarmte sie wie ein lang-verlorener Freund, sobald sie den fahlen beigen Korridor betrat.

Sie hastete vorbei an Rollstühlen, Infusionsständern und Materialwagen in den Bereich, der nur für Mitarbeiter war. An der Frauenumkleide schaffte sie es auf Anhieb, die ID-Karte in der richtigen Richtung durchzuziehen, und betrat den fensterlosen Raum.

Mehrere der angeschlagenen Metallspinde standen leer. Die Wände hatten einen tristen Grünton, der vermutlich vor einigen Jahren ein freundliches Frühlingsgrün gewesen war. Oder eher vor Jahrzehnten.

Auf einer Ablage neben der Tür stapelte sich sorgsam gefaltete blaue Funktionskleidung: OP-Oberteile und -Hosen. Diana griff sich ein Paar in einer Größe, unter die noch ihr langärmliges weißes T-Shirt passen würde. Sie suchte sich einen der unbenutzten Spinde aus und zog sich schnell um. Die weiche Baumwolle war einfach perfekt, sie hatte das wirklich vermisst.

Aus ihrem Rucksack holte sie ihre gut eingelaufenen weißen Turnschuhe und schlüpfte hinein. Immer noch bequem. Sie hatten die neun Jahre im Lager überraschend gut überstanden. Sie hatte sie in derselben Kiste wiedergefunden wie ihre Medizinbücher, ihre Arztkittel und das dunkelrote Stethoskop, das ihr Lieblingsbruder Henry ihr zum Abschluss geschenkt hatte.

Diana verteilte einen Kugelschreiber, eine Pupillenleuchte, ihr Handy und ein kleines schwarzes Notizbuch auf die verschiedenen Taschen ihres Oberteils. Das Ritual erinnerte sie an das Anlegen einer Rüstung vor dem Kampf, aber sie würde nicht so weit gehen, sich mit einem noblen Ritter zu vergleichen. Das ungewohnte Gewicht zog an ihren Schultern und sie würde einige Tage brauchen, um sich wieder daran zu gewöhnen.

Sie setzte ihr viel geübtes Lächeln auf, das Selbstvertrauen ausstrahlen sollte, und machte sich auf den Weg, Tony wiederzufinden. Showtime.

»Und hier ist der Aufenthaltsraum für Mitarbeiter und dort sitzt Dr. Barnes. Viel Glück!« Tony beendete seine kurze Führung durch die Notaufnahme. Er öffnete die Tür und zwinkerte. War das eine Anmache oder sein normaler Kommunikationsstil?

Diana ignorierte es und lenkte ihre Aufmerksamkeit auf den Aufenthaltsraum. Die Mitte des Raumes wurde durch zwei dunkle Ledersofas dominiert, die auf gegenüberliegenden Seiten eines Couchtisches standen. Kleine runde Brandmarken zeigten, dass er bereits länger hier war als die Nichtraucher-Regeln. Nicht zusammenpassende Tische mit Computer-Arbeitsplätzen flankierten zwei Wände. Diana war froh, eine Küchenzeile mit einem riesigen Kaffeespender, einer Mikrowelle und einem Kühlschrank zu sehen. Das ideale Rüstzeug für eine Zwölf-Stunden-Schicht.

Sie richtete ihre Aufmerksamkeit auf Dr. Barnes, die Fachärztin, die sie beaufsichtigen würde. Diana war es nicht gelungen, etwas Näheres über sie von ihren neuen Kollegen zu erfahren. Jeder hatte entweder gezuckt oder die Stirn gerunzelt, wenn Dr. Barnes Name fiel.

Die schlanke, blasse Frau sendete eindeutige Sprich-mich-nicht-an-Signale aus. Sie saß auf einem der Sofas und tippte auf einem Laptop. Ihre gerade Haltung schrie nahezu nach Balletttänzerin oder Militär. Oder vielleicht Bibliothekarin. Ein strenger Knoten hielt alle Strähnen ihres hellbraunen Haares gefangen und verstärkte diesen Eindruck.

Sollte sie warten, bis sie angesprochen wurde? Das war eigentlich nicht Dianas Art. Ein höflicher Gruß hat noch niemandem geschadet. »Guten Morgen. Dr. Barnes?«

Die Frau schaute auf, nickte und musterte Diana für einen Moment mit einem kühlen Blick aus eisgrauen Augen. »Neue Assistenzärztin?«

Was für eine ungewöhnliche Farbkombination von Augen und Haaren. »Ja. Hi, ich bin Diana Petrell. Mir wurde gesagt, ich soll Sie hier treffen.« Diana trat näher und streckte ihre Hand aus.

Dr. Barnes drückte sie kurz und kräftig. Sie stand nicht auf, und obwohl sie zu Diana aufsah, schaffte sie es, dass Diana sich kleiner vorkam.

Beeindruckend.

»Sie sind zu spät.«

»Ich dachte, ich sei zu früh.« Ein kurzer Blick auf die Wanduhr bestätigte ihre Aussage. Fünf vor acht.

»Falsch gedacht. Die Tagschicht fing vor einer Stunde an.«

Diana biss sich auf die Innenseite ihrer Wange, um sich davon abzuhalten, auf den kalten Ton zu reagieren. Stattdessen konzentrierte sie sich auf den Inhalt der Aussage. »Es tut mir leid. Mir wurde gesagt, ich solle um acht hier sein. Ich werde zukünftig pünktlich sein.« Sie musste sich beherrschen, um nicht die Hände zu Fäusten zu ballen.

Dr. Barnes ließ sich Zeit, den Laptop zur Seite zu stellen. Es war vermutlich kein Zufall, dass er präzise parallel zur Tischkante zu liegen kam. »Ich erwarte Pünktlichkeit, harte Arbeit und gründliche Vorbereitung. Wenn Sie sich nicht auf unseren Zeitplan einstellen können, wird die Assistenzarztausbildung hier nicht funktionieren. Es ist sehr ungewöhnlich, dass Sie Ihre Ausbildung in der Mitte des Jahres nach der Hälfte des Programmes anfangen. Nicht ohne guten Grund haben wir hier in Amerika standardisierte Vier-Jahrespläne zur Facharztausbildung.« Sie runzelte die Stirn, aber in ihrem makellosen Make-up waren die Linien kaum sichtbar.

Es war schwierig, ihr Alter zu schätzen. Alles zwischen fünfundzwanzig und fünfundvierzig schien möglich. Sie war wahrscheinlich nah an Dianas eigenen siebenunddreißig Jahren.

»Ich beurteile Ihre Leistungen und supervidiere Sie, bis wir entscheiden, was Sie alleine tun können.« Dr. Barnes zeigte auf das andere Sofa. »Setzen Sie sich. Dr. Wallace hat mir Ihren Lebenslauf gemailt. Aber was für eine Arbeit haben Sie wirklich gemacht?«

Dr. Barnes hatte eine lange Liste von Prozeduren, sowohl diagnostisch als auch therapeutisch, die sie abfragte. Nach fünfzehn Minuten schwitzte Diana. Das war schlimmer als ihr Vorstellungsgespräch letzte Woche. Dr. Wallace, der Ärztliche Direktor und nominelle Leiter der Notaufnahme, war immerhin höflich gewesen.

Gerade als Diana dachte, sie seien fertig, stellte ihr Dr. Barnes einen Fall vor. »Ein dreißigjähriger Mann mit Brustschmerz. Er ist blass und etwas kurzatmig. Seine Vitalzeichen sind stabil. Was denken Sie?«

War das wie eine Facharztprüfung? Diana beschloss, die Frage zu beantworten, als ob dem so sei. »Zunächst stelle ich mich dem Patienten vor und frage ihn nach der Art des Schmerzes und der Situation, in der er auftrat. Dann erhebe ich die Anamnese zu seiner Vorgeschichte und dann …«

»Überspringen Sie das. Drei Differenzialdiagnosen. Jetzt.« Der Tonfall war schneidend genug, um Diana zusammenzucken zu lassen.

Diana schluckte jeden rebellischen Instinkt herunter, auf dieselbe Art zu antworten. »Pneumothorax, Pneumonie und Interkostalneuralgie. Ohne weitere Informationen ist es unmöglich …«

»Pneumothorax. Was tun Sie?« Dr. Barnes trank einen Schluck aus ihrer Tasse.

»Falls das Röntgenbild die freie Luft im Brustkorb bestätigt, lege ich eine Thoraxdrainage an.« Diana wünschte, sie könne auch etwas trinken. Das morgendliche Koffein war schon völlig aufgebraucht. Aber sie würde Dr. Barnes nicht die Befriedigung geben und Schwäche zeigen, in dem sie nach Kaffee fragte. »Soll ich erklären, wie das gemacht wird?«

Dr. Barnes schüttelte den Kopf. »Das heben wir uns für später auf. Haben Sie schon eine gelegt?«

»Viele. Wir haben regelmäßig Schuss- und Messerstichverletzungen in LA behandelt.« Diana könnte sich ohrfeigen, weil sie das eine Thema angeschnitten hatte, das sie vermeiden wollte: ihre letzte Assistenzarztzeit.

»Ist das der Grund, warum Sie aufgegeben haben? Zu viel Gewalt?« Dr. Barnes lehnte sich nach vorne. Sie musterte Diana streng und ihr Blick machte deutlich, dass sie keine Ausreden gelten lassen würde.

Diana straffte ihre Schultern und zwang sich, den Augenkontakt zu halten. Ja, sie hatte etwas zu verbergen, aber sie hatte nichts Falsches getan. »Während meines letzten Jahres musste ich meine Facharztausbildung aus persönlichen Gründen unterbrechen. Die Patienten der Notaufnahme hatten nichts damit zu tun.« Sie musste die Kontrolle über die Diskussion zurückgewinnen und Dr. Barnes etwas über die Neun-Jahres-Lücke in ihrem Lebenslauf mitteilen, bevor sie zu viele Fragen stellte. »Ich konnte danach nicht mehr im medizinischen Bereich arbeiten, aber ich las regelmäßig Fachzeitschriften und besuchte Konferenzen, um auf dem Laufenden bezüglich der aktuellen Standards und neuen Medikationen zu bleiben.« Diana versuchte, Dr. Barnes Reaktion abzuschätzen, aber ihr leicht kritischer Gesichtsausdruck, der von Anfang an bestanden hatte, hatte sich nicht verändert. Sie fuhr fort, bevor Dr. Barnes sie wieder unterbrechen konnte. »Sie werden sehen, dass ich Patienten beurteilen kann, die meisten Standardprobleme behandeln kann und vor allem weiß, wann ich um Hilfe bitten muss.«

Dr. Barnes musterte sie für einen Moment und Diana zwang sich, nicht zu reagieren. Wenn sie sich durch Vertragsverhandlungen mit Geschäftsführern bluffen konnte, dann konnte sie auch jetzt Selbstbewusstsein ausstrahlen.

Schließlich lehnte sich Dr. Barnes im Sofa zurück, aber ihre Bewegung wirkte nicht entspannt. »Fachzeitschriften? Konferenzen? Löblich, aber sie können nicht wahre Erfahrung ersetzen. Heute bearbeiten wir alle Fälle zusammen und schauen einmal, wie Sie sich schlagen. Ohne mein Einverständnis fassen Sie niemanden an und geben keine Anweisungen.« Sie wartete auf Dianas Nicken, um fortzufahren. »Stellen Sie sich einfach vor, Sie wären wieder eine Medizinstudentin und dann kommen wir gut miteinander aus.«

Studentin? War das ein Witz? Diana biss die Zähne zusammen. Ihre Rückkehr zur Medizin nach der langen Pause war ungewöhnlich, aber sie war keine Studentin. Sie hatte Patienten eigenverantwortlich behandelt und kannte ihre Grenzen. Sie kämpfte gegen den Drang an, Dr. Barnes genau das zu sagen. Wieder am unteren Ende der Nahrungskette zu stehen, tat weh, aber heute ging es nicht um ihr Ego. Sie entspannte ihren Kiefer und verzog ihren Mund in Imitation eines Lächelns. »Kein Problem. Ich folge Ihnen. Sagen Sie mir nur, was ich tun kann.« Sie würde die perfekte unterwürfige Medizinstudentin sein, bis sie Dr. Barnes Vertrauen erarbeitet hatte und sie würde sich dabei verdammt noch mal ganz reif und erwachsen benehmen.

Gerade als sie dachte, sie habe das Schlimmste überstanden, stellte Dr. Barnes noch mehr Fragen – diesmal wie aus der Pistole geschossen. »Was bedeutet persönliche Gründe? Hausfrau? Kinder? Gefängnis? Drogen?«

Diana lachte, bis sie merkte, dass die letzten beiden Fragen kein Scherz waren. Dachte Dr. Barnes wirklich, dass sie ihre Approbation behalten hätte nach neun Jahren Gefängnis? Unpraktischerweise hatte ihr der Ärztliche Direktor verboten, über die wahren Gründe zu sprechen, die sie in den letzten Jahren dem Krankenhaus fernbleiben ließ. Sie hoffte, dass die Geschichte, die sie sich ausgedacht hatte, nicht zu schwach war, aber die Wahrheit war nicht hilfreich, wenn sie sich ihren Respekt als Ärztin wieder erarbeiten wollte. »Nein, nichts in der Art. Ich … ähm … ich hatte andere Verpflichtungen und keine Zeit für eine Vollzeitfacharztausbildung. Und wir lebten weit vom nächsten Krankenhaus entfernt … auf einer Farm.« Diana unterdrückte ein Seufzen. Das klang laut ausgesprochen noch weniger überzeugend als in Gedanken.

Sie rückte ein wenig auf dem Sofa hin und her und suchte nach einer alternativen Richtung für das Gespräch. Ihr Blick fiel auf den Laptop. »Ich nehme an, Sie haben mittlerweile eine elektronische Patientenakte? Ich hoffe, das ist ein Vorteil, wenn wir nicht mehr die hohen Papierstapel durch die Gegend tragen müssen. Wie viele Patienten haben wir heute Morgen? Wie kann ich helfen?«

Nach dem Blick zu urteilen, den Dr. Barnes ihr zuwarf, hatte sie ihren schwachen Versuch der Ablenkung durchschaut, aber anstatt weitere Fragen zu stellen, drückte sie einige Tasten auf dem Laptop und drehte ihn um. »Hier, nehmen wir diese: weiblich, einundzwanzig, abdominelle Schmerzen seit fünf Stunden im unteren rechten Quadranten, kein Erbrechen oder Durchfall.«

Diana lächelte. Blinddarmentzündung war ein einfacher Anfang. Sogar ihre Großmutter würde das diagnostizieren können. Oder war das ein Trick von Dr. Barnes?

Dr. Barnes führte sie durch einen weiteren Flur, der mit medizinischen Utensilien vollgestopft war, zu einem großen Raum. Mehrere Untersuchungsbereiche wurden durch Vorhänge getrennt. Sie zeigte auf eine schmale Patientenakte in einem Metallhalter am Eingang eines Bereiches. »Das ist alles Papier, was wir noch benutzen, der Rest ist digital. Gehen Sie rein und untersuchen Sie die Patientin. Ich beobachte und anschließend diskutieren wir den Fall, bevor Sie weitere Untersuchungen oder eine Therapie empfehlen. Versprechen Sie nichts, was Sie nicht halten können.«

Diana schluckte ihre Antwort runter. Jeder Student lernte in der ersten Woche des Praktikums, Versprechen zu vermeiden. In der Überzeugung, dass ihre Gesichtsmuskeln am Abend schrecklich schmerzen würden, nahm sie ihr Lächeln wieder auf und betrat den Untersuchungsbereich.

Sobald sie die Patientin sah, beschleunigte sich ihr Puls. Endlich zurück auf der Arbeit. Schnell desinfizierte sie ihre Hände mit der Flasche neben dem Eingang. Die alkoholische Lösung half, ihre feuchten Handflächen zu verbergen.

»Ms. Miller? Mein Name ist Dr. Petrell. Sie kommen aufgrund von Bauchschmerzen, ist das richtig?«

Die junge Frau nickte und verzog gleichzeitig das Gesicht. Angst umgab sie wie eine Wolke.

Diana setzte sich auf einen Hocker, um sich auf Augenhöhe mit der Patientin zu bringen. Diesmal war ihr Lächeln nicht erzwungen, als sie versuchte, Ruhe auszustrahlen. »Können Sie mir mehr dazu sagen?«

Ms. Miller zählte ihre Beschwerden erneut auf und Diana hörte konzentriert zu, ließ sich einige Details noch mal erklären und befragte sie zu Vorerkrankungen, Medikation und Allergien. Das vertraute Ritual half ihr, ihre Nervosität zu überwinden.

»Sie nehmen keine Medikamente? Nicht einmal gelegentlich nicht-verschreibungspflichtige Schmerzmittel oder die Pille?« Die meisten Patienten vergaßen diese und Diana hatte auf dem harten Weg gelernt, nichts für selbstverständlich zu nehmen.

Ms. Miller schüttelte den Kopf und errötete. »Wir sind vorsichtig«, murmelte sie.

Diana nahm Schwangerschaft auf ihre mentale Checkliste mit auf. Sie stand auf und wärmte das Stethoskop in der Hand. »Ich muss Sie jetzt untersuchen. Sagen Sie mir, wenn etwas wehtut, okay?«

Sie hatte das seit Jahren nicht mehr getan, aber nach tausenden Patienten war die Routine immer noch vorhanden. Sie arbeitete sich von oben nach unten vor, bis sie das Abdomen erreichte.

Als Diana das Krankenhausnachthemd hochzog, spannte sich die Patientin an und hielt beide Hände vor ihren Unterbauch.

Diana sah auf und hielt ihren Blick stand.

Ms. Millers dunkelbraune Augen waren weit aufgerissen und Tränen glitzerten in ihnen. Ihre Lippen zitterten, aber sie sagte nichts.

Diana mochte diesen Teil auch nicht, aber es nicht zu tun, war keine Option. »Ich bin vorsichtig, aber ich muss mir das leider selbst anschauen.« Sie lächelte aufmunternd und Ms. Miller senkte ihre Hände zurück auf die Liege. Das Einzige, was Diana tun konnte, um es erträglicher zu machen, war, es so schnell wie möglich zu beenden.

Zunächst prüfte sie mit dem Stethoskop, ob Darmgeräusche vorhanden waren, dann untersuchte sie die Bauchdecke der Patientin mit sanftem Druck. Den rechten unteren Quadranten hob sie sich bis zuletzt auf. Als sie ihre Hände dort auf die weiche Haut presste, stöhnte die Patientin. Diana ignorierte es und presste mit allen Fingern so tief in den Unterbauch, wie es die Abwehrspannung erlaubte. Sie hielt den Blick der Patientin, während sie die weiteren Tests so schnell wie möglich durchführte, immer mit dem Bewusstsein, das Dr. Barnes ihr über die Schulter schaute.

Diese lehnte mit über der Brust verschränkten Armen gegen den Arbeitstisch an der anderen Wand. Immer wenn Diana in ihre Richtung schaute, bohrte sich Dr. Barnes Blick in sie.

Diana zog das Nachthemd wieder runter, ohne erneut den Bauch zu berühren. »Sind die Schmerzen erträglich, wenn Sie so liegen, oder brauchen Sie etwas?«

Ms. Miller holte tief Luft. »Solange Sie hier nicht mehr drücken, ist alles okay. Was habe ich? Was passiert jetzt?«

Diana schaute sie mit einem, wie sie hoffte, beruhigenden Gesichtsausdruck an. »Ich bespreche das mit meiner Kollegin und eine von uns wird gleich wiederkommen und es Sie wissen lassen. Ruhen Sie sich einfach für einen Moment aus.«

Ms. Miller nickte und schloss ihre Augen.

Dr. Barnes trat an Diana vorbei und hielt den Vorhang offen. Als Diana ihr folgte, führte sie sie zu einem langen Tresen mit einigen Computern. Ein paar Krankenschwestern unterbrachen ihre Unterhaltung mitten im Satz und verschwanden in verschiedene Richtungen.

Diana schaute Dr. Barnes an, ob ihre neue Vorgesetzte die Ursache für die plötzliche Flucht war.

Ihr Gesicht zeigte keine Reaktion. »Und?«

Diana lächelte, ihre Vermutung mit der Blinddarmentzündung hatte sich bestätigt. »Ich glaube, es ist eine Appendizitis.«

Dr. Barnes hob nur ihre Augenbrauen.

Konnte die Frau nicht einfach sagen, was sie von ihr wollte? Diana hasste Quizspielchen. »Wollen sie eine ausführliche Antwort?« Als sie nickte, fuhr Diana ohne Zögern fort. »Die klinische Präsentation ist klassisch für eine Appendizitis, genauso wie das Alter. Allerdings ist sie eine junge Frau mit einem Freund ohne regelmäßige Verhütung, sodass wir eine Eileiterschwangerschaft ausschließen müssen. Ein Harnwegsinfekt könnte die Symptome ebenfalls verursachen, aber das Resultat der körperlichen Untersuchung ist dafür nicht wirklich typisch. Sie könnte auch einfach Verdauungsprobleme oder die Erstmanifestation einer chronisch-entzündlichen Darmerkrankung wie Morbus Crohn haben.«

Dr. Barnes Gesichtsausdruck war immer noch neutral. »Was würden Sie als Nächstes tun?«

Jeder Medizinstudent und wahrscheinlich auch die meisten Fans von Grey’s Anatomy könnten die Frage beantworten, aber Diana hatte sich versprochen, dass sie sich diesmal an die Regeln halten würde, insbesondere die ungeschriebenen. Wenn Dr. Barnes Quizstunde spielen wollte, würde sie lächeln und antworten. »Ich würde eine Blutentnahme machen und mindestens ein Blutbild mit Leukozyten, CRP und Beta-hCG, sowie einen Urinstreifen, danach Ultraschall. Während wir auf die Ergebnisse warten, würde ich ihr ein Schmerzmittel geben und sie nüchtern lassen. Und je nach Ergebnis würde ich die Chirurgie oder Gynäkologie informieren.«

Dr. Barnes nickte. »Das werden wir tun. Haben Sie schon einmal einen Ultraschall gemacht?«

Diana schüttelte den Kopf. »Das war Aufgabe der Radiologie.«

»Nun liegt es in Ihrer Verantwortung.« Dr. Barnes verzog die Lippen nach unten. »Es ist eine wirklich nützliche Fähigkeit, aber man kann es nicht aus Zeitschriften oder Vorträgen lernen.« Sie ging los, sprach aber weiter. »Lernen Sie die Grundlagen und dann üben Sie viel. Sie können oft eine viel schnellere Diagnose erhalten, statt auf die Laborergebnisse zu warten.« Sie beschrieb die verschiedenen Einsatzgebiete des Ultraschalls, während sie sich ein fahrbares Ultraschallgerät aus einem unbenutzten Behandlungsraum schnappte. Auf dem Rückweg zur Patientin hielt sie eine Schwester an und ordnete Morphin für Ms. Miller an.

Diana machte sich eine mentale Notiz zu der Dosierung.

Dr. Barnes parkte das Ultraschallgerät neben Ms. Miller und erklärte Diana die Basiseinstellungen. Dann drehte sie sich zur Patientin, die die Maschine misstrauisch beäugte.

»Ms. Miller, ich bin Dr. Barnes.« Ihre Stimme war eine Spur wärmer als zuvor. »Ich werde einen Ultraschall machen, um zu sehen, was hier vorliegt. Wir gehen von einer Blinddarmentzündung aus, aber wir müssen noch ein paar Dinge abklären, bevor wir die Chirurgie verständigen können. Sie bekommen jetzt ein Schmerzmittel.«

Bei der Erwähnung von Chirurgie zuckte Ms. Miller zusammen, legte sich aber wieder zurück, als die Schwester das Morphin spritzte.

Dr. Barnes führte die Untersuchung schnell durch. Blinddarm, wie Diana vermutet hatte. Dann half sie Diana, zum selben Untersuchungsergebnis zu kommen. Sie lehnte sich näher, um ihre Hand über Dianas zu halten, und kippte sanft den Ultraschallkopf in die richtige Richtung. Ihre Berührung war warm, sanft, ganz anders als ihr Benehmen bislang.

Als Diana den vergrößerten Blinddarm mit den aufgetriebenen Wänden fand, grinste sie stolz. Innerhalb einer Stunde an ihrem ersten Tag hatte sie bereits etwas Neues und Sinnvolles gelernt. Und ihre distanzierte Vorgesetzte war eine überraschend gute Lehrerin.

Dr. Barnes Erklärung der Operation für Ms. Miller riss Diana aus ihren Gedanken.

»Keine Sorge, Ms. Miller.« Dr. Barnes lächelte und tätschelte der jungen Frau die Hand. Sie wirkte authentisch, nur ein wenig steif. »Es ist ein Routineeingriff und unser chirurgisches Team arbeitet hart daran, die Schmerzen und Narbenbildung zu minimieren. Sie werden bald wieder auf den Beinen sein.«

Während der nächsten Stunden wiederholten sie Untersuchung, Medizinquiz und Lernlektion immer wieder mit unterschiedlichen Patienten. Die meisten Fälle waren so einfach wie der erste, aber Dr. Barnes war nie zufrieden mit Dianas Leistung.

Jedes Mal, wenn Diana dachte, sie habe einen guten Eindruck hinterlassen, schoss Dr. Barnes noch eine Frage hinterher. Wenn Diana nicht schnell genug antwortete oder keine andere Diagnose fand, musste sie sich einen Seitenhieb anhören. Und sie fing langsam an, Dr. Barnes kalte graue Augen zu hassen. Nicht, dass sie unattraktiv waren, ganz im Gegenteil, aber sie blieben der ausdrucksstärkste Anteil in ihrem künstlich-glatten Pokerface.

Endlich kam die Nachtschicht und Diana durfte gehen.

»Dr. Petrell.«

Dr. Barnes Stimme hielt sie davon ab, die Tür zur Umkleide zu öffnen.

Dianas Hand klammerte sich um den Türknauf.

»Nicht vergessen. Sieben Uhr. Pünktlich.«

Dachte sie, Diana sei ein Kind, das sich ihre Termine nicht selbst merken könne? Sie drehte sich um, um ihr zu sagen, dass sie keine Erinnerungshilfe brauche, aber der Flur war leer. Arrogante Schnepfe.

Diana betrat die Umkleide und schloss die Tür mit mehr Kraft als notwendig. Immerhin würden sie sich nicht zusammen umziehen. Sie brauchte ein paar Minuten allein, um herunter zu kommen. Nachdem sie den ganzen Tag ihr Temperament zügeln musste, waren ihre Schultern jetzt steif und Kopfschmerzen krochen von ihrer verknoteten Muskulatur im Nacken bis zur Stirn. Sie seufzte, als sie die zerknitterte OP-Kleidung auszog. Wenn sie doch nur eine bequeme Jeans mitgebracht hätte statt des förmlichen Erster-Tag-auf-der-Arbeit-Outfits, das keinen beeindruckt hatte.

Für einen Moment schloss Diana die Augen und lehnte ihre Stirn an den Spind. Das kalte Metall brachte nur wenig Erleichterung. Ihre Finger zuckten, sehnten sich danach, einen Rhythmus auf das Metall zu klopfen, der ihre Spannung in Musik verwandeln würde. Stattdessen zwang sie sich, zu gehen.

Sie hatte den ersten Tag überlebt. Warum auch sollte ihre zweite Chance einfacher sein als die erste?

Kapitel 2

Emily erwachte mit rasendem Herzen. War da ein Geräusch? Sie lauschte für eine Minute, konnte aber nichts hören. Ihr Schlafzimmer und der Rest der Wohnung waren komplett still, noch nicht einmal der Nachbarshund bellte. Die Dämmerung kurz vor Sonnenaufgang warf lange Schatten ohne Bewegungen. Sie war allein.

Ihr Herzschlag wurde langsamer, aber warum atmete sie immer noch so schnell? Mehrere Diagnosen rasten durch ihre Gedanken. Lungenembolie, Panikattacke, akutes Koronarsyndrom. Ja, klar. Sie rollte mit den Augen.

Wahrscheinlich war es einfach nur ein Albtraum gewesen. Als sie sich aus dem durchgeschwitzten Laken befreite, bemerkte sie das Pulsieren zwischen ihren Beinen. Oder vielleicht hast du auch einfach nur das Offensichtliche übersehen, Dr. Barnes: Erregung.

Sie stöhnte. Nicht schon wieder dieser Traum. Was hatte ihn diesmal ausgelöst? Sie zuckte mit den Schultern, es war nicht wirklich wichtig.

Gähnend rollte sie sich zur Seite, um noch etwas mehr Schlaf zu bekommen.

Das Geräusch vorbeifahrender Autos verwandelte sich in Wellen, die ans Ufer rollten, die feste Matratze wurde zu lockerem Sand und die weichen Baumwolllaken streichelten ihre Haut wie die Meeresbrise in jener Nacht. Emily atmete tief ein. Salz, Schweiß, ihre eigene Erregung rochen immer noch wie damals am Strand. Nur der Rauch fehlte.

Denk an was anderes. Sie drehte sich zur anderen Seite und wünschte, ihr Gehirn würde wieder einschlafen, am liebsten traumlos.

Es richtete sich nicht nach ihren Wünschen. Das tat es nie.

Als sie die Augen wieder schloss, funkelten die Sterne über ihr, leuchtender in der Erinnerung, als sie in jener Nacht gewesen sein konnten. Funken und Rauchschwaden von dem großen Lagerfeuer am Strand blitzten am Blickfeldrand. Das Knistern und Knacken der Holzscheite, das Lachen der anderen Studenten, der warme Geschmack von Merlot auf ihrer Zunge. Alles rollte über sie hinweg, wie brechende Wellen, bis die Strömung drohte, sie unter Wasser zu ziehen, und sie kämpfte, um der überwältigenden Erinnerung zu entkommen.

Ihr Puls hämmerte an Hals und Schläfen, als ob die Trommeln in ihr schlugen. Einige Studenten hatten seit Stunden am Feuer gesessen und einen hypnotischen Rhythmus gespielt, der langsam an- und abstieg, anscheinend ohne Plan und Richtung. Trommler waren gekommen und gegangen, ohne den Klangteppich aufzulösen. Ein neuer Musiker fädelte sich ein und legte eine weitere Klangebene über den Rhythmus. Emily spürte sofort den Unterschied. Das war kein entspannender Hintergrund mehr. Plötzlich forderte die Musik ihre volle Aufmerksamkeit.

Zunächst konnte sie die dunklen Schemen, die auf großen Stämmen saßen, nicht unterscheiden, bis sich ihre Augen an das flackernde Licht gewöhnt hatten. Und dann sah Emily sie.

Sie saß mit dem Rücken zu ihr. Die große Trommel zwischen ihren Beinen war von hinten kaum sichtbar. Breite Schultern und muskulöse Arme zogen Emilys Blick an. Um einen wohlgeformten Bizeps wand sich eine schlangenförmige Figur, smaragdgrün glitzernd im Feuerschein. Sie schlängelte sich über die rechte Schulter und verbreiterte sich zu einem schuppigen Körper, bevor sie in ihrem schwarzen Trägertop und der umgebenden Dunkelheit verschwand. Die rhythmische Bewegung von Schultern, Armen und Händen war hypnotisierend. Muskeln und Sehnen spielten unter der Haut und forderten Emily auf, sie zu benennen, aber sie hatte alles vergessen, was sie jemals im Anatomieunterricht gelernt hatte.

Emily verlor jedes Zeitgefühl, als sie sich auf diese Hände konzentrierte. Ihr Blut schlug im Rhythmus der Trommel. Deren Vibrationen berührten ihre Haut.

Die Hände spielten jetzt auf Emily. Ihre Haut brannte, ihre Brüste wurden schwerer unter der Berührung der Fremden. Oder waren es ihre eigenen Hände? Finger glitten über eine Bauchdecke, die straff wie das Trommelfell war, und tauchten ein in die Feuchtigkeit zwischen ihren Beinen.

Der Rhythmus wurde schneller. Die anderen Trommelspieler versuchten mitzuhalten, schafften es aber nicht. Die Hände der Fremden flogen schneller als alle anderen. Emilys Hände flogen ebenso. Stunden, Tage oder auch nur Minuten später kam ihr Spiel zum Höhepunkt und Emily mit ihr.

Emily erwachte wieder mit rasendem Herzen, ihre Glieder waren geschwächt und entspannt. Die Erleichterung durch den Orgasmus mischte sich mit Scham und Bedauern. Wieso musste ihre blöde Libido den Abend am Strand immer und immer wieder hervorholen?

Nach fünfzehn Jahren hatte sie erwartet, endlich über ihr Erlebnis hinweg zu sein, das ihr die Augen geöffnet hatte. Immer wieder erinnerte sie der Traum an den Moment, in dem sie sich selbst eingestanden hatte, dass sie lesbisch war oder zumindest von sexy weiblichen Armen mit einem Tattoo angezogen wurde.

Nicht, dass sich diese Erkenntnis in den Alltag übertragen hatte. Arbeit war ihr Hauptfokus, Lesen kam direkt danach. Sie hatte eine Freundin, mit der sie auch einmal weggehen konnte. Eine Liebhaberin war nicht mehr Teil des Planes seit ihren zwei kurzen Beziehungen am College. Die Zeit mit ihrem Freund hatte sie gelehrt, dass sie nicht auf Männer stand und ihre Freundin hatte ihr gezeigt, dass sie die Ablenkung nicht brauchen konnte.

Der Wecker riss sie aus ihrer Grübelei und schickte sie Richtung Badezimmer. Ohne darauf zu warten, dass das Wasser warm wurde, trat sie unter die kalte Dusche, als ob es den Traum verbannen könnte oder die nachklingende Einsamkeit und Unzufriedenheit.

Nach der Umkleide steuerte Emily direkt den Aufenthaltsraum an. Sie brauchte Kaffee. Extra groß. Sie mochte den bitteren Geschmack nicht, aber ihr üblicher Darjeeling Tee würde heute nicht reichen. Ihr Ausflug in die Vergangenheit hatte sie ausgelaugt.

Dr. Petrell saß bereits auf dem Sofa, ein Bein unter sich geklemmt, und studierte den Bildschirm ihres Laptops. Seit ihrem ersten Treffen am Montag hatte Dr. Petrell sie jeden Morgen bei der Ankunft zur Arbeit geschlagen, eine Tatsache die Emily wohl oder übel bewundern musste. Sie hatte befürchtet, dass die Fähigkeiten einer Assistenzärztin, die mitten im Jahr begann, eingerostet waren und sie die gut-geölte Maschinerie der Notaufnahme verlangsamen würde. Obwohl sie eine Sonderbehandlung durch den Ärztlichen Direktor erhalten hatte, zeigte Dr. Petrell keine Spur von Anspruchshaltung. Stattdessen hatte sie hart daran gearbeitet, um auf den neusten Stand zu kommen.

Als sich Emily auf das Sofa auf der anderen Seite des Tisches setzte, schaute Dr. Petrell auf und lächelte. »Guten Morgen, Dr. Barnes.«

»Sie waren am ersten Morgen nicht zu spät.« Emily zuckte zusammen und der noch zu heiße Kaffee schwappte fast über. Sie stellte die Tasse auf den Tisch und wünschte, sie könnte ihren Kopf danebenlegen. Warum hatte sie das jetzt zugegeben? Sie musste den Kaffee noch dringender brauchen, als sie gedacht hatte. Neulingen zu sagen, sie seien zu spät, war eine Art Ritual am ersten Tag. Vielleicht war es ihre Art, den Frust darüber weiterzugeben, dass sie immer diejenige war, die alle Extraaufgaben bekam, so wie Babysitter für neue Assistenten zu spielen. Was auch immer es war, normalerweise fühlte es sich gut an. Allerdings diesmal nicht.

Dr. Petrell stellte keine Fragen und verlangte keine Entschuldigung. Sie sagte nur »Okay«, mit demselben freundlichen Ton, den sie für alle benutzte. Ihr Blick schien jedoch eine Erklärung zu verlangen.

Emily blies auf ihren Kaffee und nahm einen kleinen Schluck, um Zeit zu gewinnen. Sobald der Geschmack richtig ankam, spuckte sie ihn fast wieder aus. »Igitt! Wer hat den denn gekocht?« Sie ging zum Kühlschrank auf der Suche nach etwas Milch oder Kaffeesahne, um ihn erträglicher zu machen.

»Der ist noch von der Nachtschicht übrig.« Dr. Petrell lachte und hielt ihren Thermobecher hoch. »Ich habe meinen eigenen mitgebracht, sonst hätte ich Sie gewarnt. Trinken Sie nicht normalerweise Tee?«

»Mhm, ja. Manchmal brauche ich eben Koffein.« Emily roch an der Milch. Trinkbar. Sie verdünnte den Kaffee, bis er annähernd genießbar war, und kehrte zum Sofa zurück. Es war Zeit, die Unterhaltung in Richtung Arbeit zu steuern. »Was liegt an?« Sie zeigte auf den Laptop.

»Nichts.« Dr. Petrell reichte ihn rüber. »Ich bin mir sicher, dass sich der Warteraum schnell füllen wird, aber die Nachtschicht hat es erst mal geschafft, die Warteliste zu leeren.«

Emily kontrollierte das Computerprogramm. Jeder Patient in der Notaufnahme war entweder fertig, nach Hause zu gehen, oder wartete auf die Verlegung auf eine andere Station. Mist. Keine Arbeit, um sie abzulenken. Jetzt musste sie das Gespräch mit Dr. Petrell führen.

Sie war eine fähige Assistenzärztin, beschwerte sich nie und war immer professionell mit den Patienten. Die ersten Tage hatte Emily sie genau beobachtet und nur Kleinigkeiten entdeckt, nichts Lebensbedrohliches bislang. Sie musste zugeben, dass Dr. Petrell so gut war wie die Assistenzärzte, die sie selbst ausgebildet hatte. Vielleicht sogar besser, da sie eine Reife zur Arbeit mitbrachte, die nur durch Zeit erworben werden konnte. Die zehn oder mehr Jahre, die sie den anderen Assistenzärzten voraushatte, brachten sie näher an Emilys sechsunddreißig Lebensjahre und erleichterten die Zusammenarbeit. Wieso war es so schwierig ihr genau das zu sagen?

»Der nächste Fall gehört Ihnen alleine. Rufen Sie mich, um ihn am Ende abzuzeichnen oder wenn Sie Hilfe brauchen. Ich bin in meinem Büro.« Da. Sie hatte alles gesagt. Nun ja, zumindest das meiste. Zwischen den Zeilen. Irgendwo.

Sie gab den Laptop zurück, nahm ihre Tasse und stand auf. Sie ignorierte Dr. Petrells offen stehenden Mund, als sie aus dem Raum floh.

Emily klickte zum tausendsten Mal Erneuern auf ihrem Bildschirm. Sie grinste. Cyberstalking, nur komplett harmlos. Immer noch nichts Neues. Wie lang konnte es nur dauern, ein paar Notizen zu schreiben? Sie griff nach ihrer Tasse, um sich davon abzuhalten, die digitale Akte noch mal zu kontrollieren. Leer. Sollte sie sich einen neuen Kaffee holen? Das würde ihr eine Ausrede geben, um am Pflegetresen vorbeizugehen und Dr. Petrells Fortschritt zu überprüfen. Allerdings war sie nur eine Tasse von einem Herzinfarkt entfernt.

Sie schaute sich auf der Suche nach Ablenkung in ihrem winzigen Büro um. Ihre Zeitschriften waren gestapelt und nach Veröffentlichungsdatum sortiert, ihre Fachbücher waren frisch entstaubt und die Schachtel mit Kugelschreibern war sorgfältig in blau und schwarz geteilt. Ihre digitale To-do-Liste war leer.

Zu warten, dass Dr. Petrell mit ihren Patienten fertig wurde, war erstaunlich produktiv für Emily gewesen. Sie hatte alle E-Mails beantwortet, zwei Fallberichte geschrieben, einen Artikel beendet und einen weiteren für einen Kollegen Korrektur gelesen. Das warme Gefühl von vollbrachter Leistung ließ sie lächeln. Dr. Wallace würde stolz auf sie sein, wenn sie eine weitere Veröffentlichung für die Abteilung verbuchen konnte.

Heute war einer der seltenen Tage ohne echten Notfall oder überlaufendes Wartezimmer. Dr. Petrell hatte ihre Hilfe nicht benötigt, aber sie hatte pflichtbewusst über jeden Patienten berichtet, bevor sie ihn heimgeschickt hatte. Jetzt war es kurz vor Ende der Tagschicht und Emily könnte Platzen vor Langeweile.

Wasser. Sie sprang auf und quetschte sich an ihrem Schreibtisch vorbei. Sie könnte eine Flasche Wasser aus der Snackmaschine im Warteraum holen. Das würde sie an dem Pflegetresen vorbeiführen.

Gerade als sie nach dem Türknauf griff, klopfte jemand.

Sie öffnete die Tür und stand direkt vor Dr. Petrell. Waren diese Augen braun oder grün? Das war nichts, was sie interessieren sollte, wenn sie eine Assistenzärztin ansah. Hitze stieg in ihre Wangen. Ihr bescheuerter blasser Teint verriet immer alles, egal wie viel Make-up sie benutzte. Sie trat zurück und ging wieder zum Schreibtisch.

»Kommen Sie rein. Setzen Sie sich.« Emily zeigte auf den Besucherstuhl und konzentrierte sich darauf, die digitale Akte zu öffnen. Hoffentlich würde ihr Erröten bald verschwinden.

»Ich bin gerade mit dem letzten Patienten fertig geworden.« Dr. Petrell trug die Symptome, ihre Diagnose und ihren Therapievorschlag vor.

Die Entlasspapiere zu unterschreiben, ohne den Patienten anzuschauen, war verlockend. Eine einfache Erkältung brauchte keine Aufmerksamkeit von zwei Ärzten. Aber ihre Frustration über die Extraaufgaben war kein Grund, diese nur oberflächlich zu machen und außerdem gab es ihr endlich etwas zu tun. Sie seufzte und stand auf. »Lassen Sie uns einmal schauen.«

»Dr. Barnes! Diana!« Courtney stürmte in ihr Büro, ohne zu klopfen. »Wir bekommen mehrere Opfer eines Auffahrunfalls.« Die Stimme der Assistenzärztin im zweiten Jahr überschlug sich beinah, entweder aus Vorfreude oder Angst. Vermutlich beides. Sie drehte sich auf dem Absatz um und rannte zurück in Richtung Behandlungsbereich.

»Nicht rennen!« Emily schüttelte den Kopf. Sie hatte ihr immer wieder gesagt, dass Rennen in der Notaufnahme unprofessionell war. Wann würde Courtney endlich etwas Zurückhaltung lernen?

Dr. Petrell schmunzelte, wurde aber schnell wieder ernst, als sie Courtney folgten. Sie kommentierte nicht die Neuigkeit, dass ihre Abendpläne vereitelt wurden.

Emily kontrollierte schnell das Erkältungsopfer und schloss sich dann ihren wartenden Kollegen, Assistenzärzten und Pflegekräften an.

Auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes stand Dr. Petrell, ohne sich an den Gesprächen und Spekulationen des Teams zu beteiligen.

Emily nutzte die Gelegenheit, sie zu beobachten. Einige Strähnen ihres dunkelbraunen Haares hatten sich aus dem kurzen Pferdeschwanz gelöst, welcher, in Kombination mit ihrem gesunden Teint, sie deutlich jünger erscheinen ließ. Die zerknitterte blaue OP-Kleidung hing lose über einem Langarmshirt und verriet nichts von ihrer Figur. Dr. Petrells Lippen hoben sich in einem leichten Lächeln und ihre rechte Hand klopfte auf ihrem Oberschenkel einen komplizierten Rhythmus, schneller als Emily folgen konnte. Es war hypnotisierend und sie starrte länger auf Dr. Petrells Bein und ihre langen, muskulösen Finger, als es höflich war. Sie erinnerten Emily an irgendetwas oder irgendjemand. Die Verbindung schwebte direkt an der Grenze ihrer Wahrnehmung.

Dr. Petrell schaute auf und schien Emilys Blick auf ihr zu bemerken. Ihre Finger hörten auf, sich zu bewegen. »Ich hasse warten.«

Ihr Hals war plötzlich trocken und Emily musste ein paarmal schlucken, bevor sie antworten konnte. »Wer nicht?« Sie schaute sich um, damit sie nicht zusah, wie Dr. Petrell ihren lockeren Pferdeschwanz erneuerte.

Die Automatiktüren öffneten sich und die ersten Rettungsassistenten traten mit einem Patienten auf einer Transporttrage ein.

Emily seufzte vor Erleichterung. Sie konnte ihren Fokus von Dr. Petrells Händen und der Verbindung, die sie nicht greifen konnte, auf ihren Job lenken. Schnell organisierte sie die Gruppe in Teams und wies jedem einen Patienten zu. Sie musste ein unangemessenes Lächeln unterdrücken. Endlich richtige Arbeit.

Kapitel 3

Diana stopfte ihre Hände in die Taschen der OP-Hose, um sich zu zwingen, sie still zu halten und ihre Anspannung nicht zu verraten. Das Adrenalin, das durch die Stichworte Auffahrunfall und mehrere Opfer ausgeschüttet wurde, hatte sie mit Energie geflutet. Jetzt musste sie mit dem Drang kämpfen, es zu verbrennen. Sie erinnerte sich an das Gefühl von gebündelter Kraft von früher und schätze es, allerdings hatte sich etwas verändert, wie eine neue Note, die sich in ein bekanntes Lied geschlichen hatte, leicht schief.

Was, wenn sie einen Patienten bekäme, mit dem sie nicht fertig würde?

Hör auf. Du hast das schon öfter geschafft. Das war die Wahrheit, sie hatte erfolgreich Polytraumapatienten behandelt, aber das war vor vielen Jahren. Zuletzt hatte sie nur noch Erfahrungen im Simulator und durch Fachzeitschriften gesammelt. Sie hatte noch nie unter Lampenfieber gelitten, aber vermutlich war das flaumige Gefühl in ihrem Magen genau darauf zurückzuführen. Wie ironisch, dass sie ausgerechnet jetzt damit anfing.

Als der erste Patient ankam, folgte Diana ihrem zugewiesenen Team in den Schockraum. Sie kannte nur Tony namentlich und Dr. Clarkson, die die Leitung übernahm. Diana hatte mit dieser Fachärztin noch nicht gearbeitet, aber sie wirkte nett und, was wichtiger war, strahlte Selbstvertrauen aus.

Sobald die Rettungsassistenten die Trage in den Raum geschoben hatten, sprang jeder in Position und alle fingen gleichzeitig an, am Patienten zu arbeiten. Einer zählte die Vitalzeichen des Patienten auf und vermutlich auch noch, was passiert war, aber Diana verstand nur die Hälfte, als sie ihren Gesichtsschutz richtete. Sie schnappte sich ein paar Handschuhe und eilte zum Patienten, um beim Umlagern auf die Krankenhausliege zu helfen. Sobald er dort zu liegen kam, schnitt ein Teil des Personals die Kleidung auf, befestigte die Überwachung und stach ihn mit diversen Nadeln.

Dr. Clarkson führte eine systematische Untersuchung von oben nach unten durch. Jeder schien ohne Anweisungen seinen Platz in dem komplexen Orchester gefunden zu haben und Diana suchte nach einer Gelegenheit, einzusteigen.

»Dr. Petrell. Kommen Sie hier hoch und legen Sie einen zentralen Zugang.« Dr. Clarkson ging zum Kopf des Patienten und kontrollierte seine Pupillen, bevor sie sich an einen Pfleger wandte. »Lass uns intubieren.«

Glücklich, dass sie was zu tun hatte, tauschte Diana ihre normalen gegen sterile Handschuhe, die ihr jemand anbot, und schlüpfte in einen Papierkittel. Die Wahrnehmung der Bewegungen der Kollegen verschwand, als sich ihr Fokus auf das kleine Areal Haut unter dem rechten Schlüsselbein richtete. Desinfektion, Abdecktuch, Nadel, Draht, Zugang, Kochsalzspritze, Annaht. Alles, was sie brauchte, erschien magisch direkt neben ihren Händen, noch bevor sie sich Gedanken über den nächsten Schritt machen konnte. Sie hatte noch nie so schnell einen zentralen Venenkatheter gelegt. Stolz auf ihre Leistung schaute Diana auf, direkt in ein Paar dunkle Augen, die sie feindselig anblickten.

»Fertig? Ich muss hier ran.« Der Röntgenassistent schubste Diana aus dem Weg, um eine digitale Röntgenplatte unter den Patienten zu legen, dann drehte er sich um und scheuchte sie mit einer Handbewegung weg.

Diana trat mit dem Rest des Teams zurück. Einige verließen den Raum, aber die meisten pressten sich flach an die Wand wie Diana.

Dr. Clarkson war als Erste am Röntgenmonitor. »Pneumothorax.«

Mist. Hatte sie beim Legen des ZVK die Lunge verletzt? Diana schaute auf den Monitor.

Nein, der Pneumothorax war auf der linken Seite und am wahrscheinlichsten durch den Aufprall im Auto verursacht worden, zusammen mit den gebrochenen Rippen. Sie atmete aus und wendete sich an Dr. Clarkson. »Ich kann die Thoraxdrainage legen.«

»Vielleicht das nächste Mal. Schauen Sie, ob sie die Blutung da oben stoppen können.« Dr. Clarkson war schon auf dem Weg zur linken Seite des Patienten. »Tony, ruf die Radiologie an, wir brauchen ein CT und besorge ihm ein Bett auf der Intensivstation. Wir müssen ihn bald hochschicken.«

Eine oberflächliche Kopfplatzwunde zu nähen, mochte zwar Teil der Teamleistung sein, aber es wirkte banal im Gegensatz zu der Arbeit, die Dr. Clarkson beim Stabilisieren des Patienten leistete.

»Status?« Dr. Barnes betrat den Raum mit einem älteren Mann, dessen grüne OP-Kleidung und arrogante Haltung ihn als Chirurgen identifizierten.

Ohne von ihrer Arbeit aufzusehen, listete Dr. Clarkson die Vitalzeichen des Patienten auf, sowie seine Verletzungen und deren bisherige Behandlungen. Wann hatte sie einen Ultraschall gemacht? Sein Handgelenk geschient? Wie hatte Diana das verpasst?

»Also nichts Dringendes für dich, Richard.« Dr. Barnes trat direkt hinter Diana und griff über Dianas Schulter, um die Pupillen des Patienten zu untersuchen. Ihr Körper presste sich an Dianas Rücken und die Wärme und Weichheit standen in direktem Kontrast zu der Kälte ihrer Stimme.

Diana traute sich nicht, sich zu bewegen.

»Liz, schick ihn über das CT auf die Intensivstation. Dort kann er auf einen OP-Platz warten, falls sich die Neurochirurgen ihn nicht sofort schnappen.« Dr. Barnes ging so schnell, wie sie gekommen war.

Nachdem sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, tauschte Dr. Clarkson einen Blick mit Tony aus, der mit den Augen rollte.

»Aye, aye, Kapitän Barnes.« Dr. Clarkson lachte leise vor sich hin und schüttelte den Kopf.

Diana biss sich auf die Lippen, um nicht ebenfalls zu lachen, während sie die Naht beendete. Also war sie nicht die Einzige, die ständig von Dr. Barnes kontrolliert wurde. Noch nicht einmal eine Fachärztin wie Dr. Clarkson war vor ihr sicher.

Sie säuberte die fertige Naht mit einer feuchten Kompresse und befestigte einen Verband. Gut, die Blutung war fürs Erste gestoppt. Sie schaute, ob ihr noch etwas am Patienten auffiel, das sie tun konnte. Nichts trat hervor. »Soll ich die Papiere fertig machen?«

Dr. Clarkson nickte. »Das meiste sollte schon eingetragen sein. Aber schauen Sie bitte alles noch mal durch und verschönern Sie den Text ein wenig. Ich versuche, seine Familie zu erreichen.«

Bis Diana fertig war, hatte das Transportteam den Patienten in Windeseile abgeholt. Dr. Clarkson schaute über ihre Schulter, um den Bericht zu lesen und wies auf einige Dinge hin, die sie übersehen hatte, dann unterschrieb sie ihn digital. Sie stand genauso nah, wie es Dr. Barnes getan hatte, aber Diana machte es diesmal nichts aus. Warum machte Dr. Barnes sie nervös?

Ein Mitarbeiter des Reinigungspersonals wischte um ihre Füße herum und Dr. Clarkson zog Diana zur Seite. »Schauen wir einmal in die anderen Räume. Vielleicht können wir irgendwo helfen.«

Als nach ein paar Stunden endlich die Warteliste abgearbeitet war, suchte Diana nach Dr. Barnes, um zu sehen, ob es noch Arbeit gab oder sie gehen konnte. Sie fand sie am Pflegetresen, im Gespräch mit Dr. Clarkson.

Dr. Barnes runzelte die Stirn. »Was machen Sie noch hier?«

Warum klang Dr. Barnes so angepisst? »Ähm, ich bin gerade in Raum drei fertig geworden. Brauchen Sie meine Hilfe noch irgendwo anders?«

»Sie wissen doch, dass Sie Überstunden mit mir abklären müssen. Wir nehmen das Arbeitszeitgesetz hier sehr genau.«

Diana hatte das nicht gewusst, aber sie war zu müde zum Streiten. »Das werde ich nächstes Mal so machen.«

Dr. Barnes wollte etwas erwidern, als Dr. Clarkson sie unterbrach. »Wir haben gerade unsere Runde durch die Behandlungsräume gemacht. Die Nachtschicht hat alles unter Kontrolle. Sie können nach Hause gehen.« Sie lächelte. »Und danke dafür, dass Sie länger geblieben sind. Gute Arbeit, Dr. Petrell. Und schönes Wochenende.«

Dr. Barnes runzelte immer noch die Stirn, widersprach ihrer Kollegin aber nicht.

Diana nickte beiden zu. »Danke. Bis Montag.«

Ihre Gedanken überschlugen sich, als sie zur Umkleide ging. Sie hatte nicht wirklich gute Arbeit geleistet. Bei ihrem ersten Patienten war sie viel zu langsam gewesen, egal wie es ihr in dem Moment vorgekommen war. Und die Situation hatte sie so überwältigt, dass sie den Überblick verloren hatte. Wenn sie alleine gewesen wäre, hätte die Behandlung in einer Katastrophe enden können.

Sie schälte sich die OP-Kleidung vom Leib und rümpfte die Nase, als der Geruch von Schweiß aufstieg, vermutlich eine Mischung aus ihrem eigenen und dem ihrer Patienten. Rostbraune Flecken und Streifen bedeckten die Kleidung. Immerhin übernahm das Krankenhaus die Wäsche. Sie zog ihre Jeans an und zögerte. Flecken und Geruch hatten sich auf das Langarmshirt ausgebreitet, dass sie immer unter der Arbeitskleidung trug. Auf gar keinen Fall würde sie das auf dem Heimweg tragen und riskieren, ihre Lieblingslederjacke zu verschmutzen. Sie schaute sich um, um sich zu vergewissern, dass sie immer noch alleine war, und schnappte sich ein sauberes OP-Oberteil.

Gerade als sie ihr Hemd ausgezogen hatte, öffnete sich die Tür.

Diana sprang mit einem peinlichen Quietschen zurück und schlüpfte schnell in ihr Oberteil. Vielleicht hatte niemand ihr Tattoo gesehen. Sie schloss den Spind und riskierte einen Blick in Richtung Tür.

Dr. Clarkson sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Alles okay?«

»Ähm, ja. Mein Shirt war nur schmutziger als gedacht und ich hoffe es ist okay, dass ich mir ein Oberteil geborgt habe. Ist es okay?« Toll. Jetzt hatte sie sich in eine stammelnde Idiotin verwandelt.

»Klar. Das machen alle.« Sie öffnete ihren Spind und zog sich rasch aus.

Diana konzentrierte sich darauf, ihr Langarmshirt so zu falten, dass die Flecken nicht noch ihre Tasche verschmutzten. »Es tut mir leid, dass ich bei dem ersten Patienten nicht so eine große Hilfe war, Dr. Clarkson.«

Die Fachärztin hatte sich fertig umgezogen und drehte sich lächelnd herum. »Nenn mich Liz. Jeder macht das. Du bist Diana, richtig?«

Diana nickte. Sie stopfte ihr Shirt in ihren Rucksack und wünschte, sie könnte ihre Probleme so einfach wegpacken.

»Keine Sorge. Wir waren alle einmal so. Es ist deine erste Woche.« Liz warf ihre OP-Kleidung in den Wäschesack.

»Ich dachte, ich sei besser.« Und sie war auch besser gewesen, vor etlichen Jahren.

»Dann wirst du beim nächsten Mal besser sein. Denk nicht zu viel darüber nach. Wenn du willst, können wir uns am Montag unterhalten und schauen, wie wir deine Ausbildung verbessern können. Lass uns hier verschwinden.« Liz hielt die Tür für sie auf.

»Danke.« Diana meinte nicht nur die Tür und Liz schien sie zu verstehen, dem Blick nach zu urteilen, den sie ihr zuwarf.

Dianas Handy lärmte und vibrierte direkt neben ihrem Ohr. Wer rief mitten in der Nacht an? Ihr Puls schlug schneller als der Klingelton. Hatte sie im Krankenhaus etwas Wichtiges vergessen? Sie schnappte das Telefon und antwortete, ohne auf die Nummer zu achten. »Petrell. Hallo?«

»Hey, Dee. Habe ich dich geweckt, alte Frau?« Laute Musik und Stimmengewirr im Hintergrund machten es schwierig, Mel zu verstehen.

Diana stieß einen zitternden Atemzug aus. Nicht das Krankenhaus. Nur ihre beste Freundin und Kollegin. Ehemalige Kollegin, korrigierte sie sich selbst. »Ähm, ja. Wie spät ist es? Und überhaupt, du bist älter.«

»Mitternacht. Und weißt du nicht, dass es unhöflich ist, das Alter einer Dame zu erwähnen?« Mel lachte. »Ich dachte, wir könnten uns auf ein Bier treffen.«

Noch vor ein paar Wochen wäre das eine ganz normale Uhrzeit für Diana gewesen, um wegzugehen, aber jetzt wollte sie nur noch weiterschlafen. »Lieber demnächst? Die Arbeit war heute kein Vergnügen.«

»Das wollte ich eigentlich mit dir feiern, deine erste Woche als Ärztin.« Der Lärm im Hintergrund ebbte ab und ließ vermuten, dass Mel rausgegangen war. »Willst du mir davon erzählen?«

»Vielleicht später.« Sie gähnte. »Viel später. Warum rufst du mich nicht morgen früh an? Oder nachmittags. Falls du dir wirklich anhören willst, wie ich darüber jammere, dass ich wieder ganz am unteren Ende der Nahrungskette gelandet bin. Oder über meinen ständigen Kampf, mich wie eine Erwachsene zu benehmen, oder wie ich nicht zu den anderen Kids passe.«

»Klar. Immerhin ist es was Neues und es geht nicht schon wieder um deine Ex und ihre bescheuerten Lebensentscheidungen.« Mel seufzte. »Ich wollte dich um einen Gefallen bitten, aber das hat Zeit. Morgen Abend gehen wir aus und feiern.« Der letzte Satz war keine Frage, sondern eine Feststellung.

Diana stöhnte. »Kannst du dich nicht an das letzte Mal erinnern, als wir meine erste Woche als Ärztin gefeiert haben? Wir haben zwei Tage am Stück Party gemacht und ich bin am Ende mit einem Kater zur Arbeit gegangen. Ich überlebe so was nicht mehr. Ich bin definitiv nicht mehr in den Zwanzigern.«

»Ich auch nicht. Wir halten uns nur von hartem Alkohol und Tattookünstlern fern, dann wird das schon.«

Diana fuhr über den kleinen Asklepiosstab über ihrem linken Knöchel. »Ich erinnere dich morgen daran.«

»Nicht notwendig.« Jemand rief Mels Namen und die Hintergrundgeräusche nahmen wieder an Intensität zu. »Ich lass dich jetzt schlafen.«

»Danke. Viel Spaß heute Abend.«

Diesmal steckte Diana das Telefon auf die Ladestelle in der Küche, wo es hingehörte, bevor sie wieder ins Bett ging.

Diana nahm einen tiefen Atemzug der frischen Luft, während sie sich am Eingang zum Green Lake Park dehnte. Ihre Muskeln und Sehnen protestierten nach einer Woche der Vernachlässigung. Sie hatte sich eigentlich selbst versprochen, dass sie sich während ihrer zweiten Assistenzarztzeit besser um ihre Gesundheit kümmern und fit bleiben würde.

Immerhin hatte sie keinen Kater nach dem Abend mit Mel. Sie hatten die Feier simpel gehalten und in einem kleinen vietnamesischen Restaurant Pho gegessen und Bier getrunken, anstatt in einer Bar mit viel zu jungen Frauen Schnäpse zu trinken. Davon hatte sie in LA genug gehabt und sie vermutete stark, dass Mel in Wahrheit auch einen ruhigeren Abend bevorzugt hatte.

Diana band einen Schnürsenkel neu und joggte entspannt los. Die meisten Bäume um sie herum hingen noch im Winterschlaf fest, aber hier und da waren schon einige kleine grüne Knospen gesprossen. Sie freute sich schon auf die blühenden Kirschbäume auf der anderen Seite des Sees.

Diana wich einem kleinen Mädchen aus und stieß mit einer Frau zusammen, die in die entgegengesetzte Richtung lief. Beide hielten sich aneinander fest, bis sie das Gleichgewicht wiedergewonnen hatten.

»Es tut mir leid.«

»Entschuldigung. Ich habe Sie nicht …« Diana schaute auf. Dr. Barnes? Wie unwahrscheinlich ist das denn?

»Guten Morgen, Dr. Petrell.« Dr. Barnes verlagerte ihr Gewicht von einem Fuß auf den anderen und schaute Diana nicht direkt an. Sie trug Laufkleidung, die brandneu aussah. Und wer trug so viel Make-up zum Joggen?

»Guten Morgen. Tut mir leid, aber ich war so enthusiastisch, endlich loszulaufen. Ich freue mich drauf, endlich etwas Sonne tanken zu können.« Vielleicht war das eine gute Gelegenheit, sich etwas besser kennenzulernen und die steife Arbeitsatmosphäre etwas aufzulockern. Diana wippte auf ihren Zehen auf und ab und lächelte. »Haben Sie auch vor, auf dem Pfad um den See zu laufen?«

»Nein. Ich habe, ähm, empfindliche Haut. Ich könnte niemals bei Sonnenschein laufen gehen. Normalerweise gehe ich in das Fitnessstudio da drüben.« Dr. Barnes zeigte auf die andere Straßenseite, dann schob sie eine Haarsträhne hinter ihr Ohr.

Diana konnte sich gerade noch beherrschen und verzog nicht das Gesicht. Drinnen Rennen würde sie nicht gerade als ihr Lieblingstraining bezeichnen. Wer würde nicht einen schönen See und frische Luft einem Raum schwitzender Leute vorziehen? Die Haut war doch nur eine Ausrede, dafür gab es schließlich Sonnencreme.

Oder hatte Dr. Barnes ihr das gesagt, um eine Einladung zum gemeinsamen Laufen zu verhindern?

Herzlich willkommen zurück in der Welt strenger Hierarchie: Fachärzte verbrachten ihre Freizeit nicht mit Assistenzärzten. Vielleicht war die Erinnerung auch notwendig, sie hatte Dr. Barnes genau das fragen wollen.

Mit einem oberflächlichen Lächeln nickte Diana. »Okay. Ich geh dann los. Bis morgen.«

»Warten Sie, bitte.« Dr. Barnes fuhr sich wieder durch ihr Haar, obwohl es sich keinen Zentimeter bewegt hatte. »Wenn Sie ein paar Minuten haben, würde ich gerne über Freitag reden.«

Diana zuckte mit den Schultern. Das war sicherlich nicht der optimale Ort für Kritik an ihrer Arbeit. Aber sie sollte sich glücklich schätzen, dass es nicht in Hörweite der anderen Assistenzärzte war.

»Ich habe beobachtet, wie Sie einige der kleineren Verletzungen behandelt haben. Sie waren gründlich und haben sich nicht hetzen lassen …«

»Sie meinen, ich war zu langsam. Ich weiß.« Diana wollte sich keine höflichen Floskeln anhören. Sie nahm ihre Kritik lieber direkt an.

»Es stimmt. Sie hätten schneller sein können, aber was für mich wichtiger ist, Sie haben nichts übersehen. Das wäre inakzeptabel.« Dr. Barnes Stimme war mit den letzten Worten kalt geworden. »Übersteigertes Selbstbewusstsein ist ein typischer Assistenzarztfehler.«

Diana nickte. Es gab nicht wirklich etwas, das sie darauf erwidern konnte. Was wollte Dr. Barnes ihr sagen? War es eine Warnung, dass sie beobachtet wurde? Immer noch auf Bewährung war? Dr. Barnes konnte sie so viel beobachten, wie sie wollte, übersteigertesSelbstbewusstsein war im Moment bestimmt nicht ihr Problem.

»Sie sind reifer als die anderen. Ich denke, es liegt am Altersunterschied.«

Das klang fast wie ein Kompliment, aber Dr. Barnes verteilte keine. Zumindest wenn man den anderen Assistenzärzten Glauben schenkte.

»Danke.«

»Vielleicht haben Sie medizinische Erfahrung verloren, aber Ihre Arbeitseinstellung hat durch die Pause nicht gelitten.« Dr. Barnes neigte den Kopf zur Seite und sah ihr zum ersten Mal seit Beginn der Unterhaltung direkt in die Augen. »Was haben Sie in den neun Jahren gemacht? Sie sagten, Sie haben einer Freundin geholfen und auf einer Farm gelebt?«

Mist. Diana biss ihre Zähne zusammen und schluckte die aufsteigende Wut herunter. Das Fast-Kompliment war nur ein Vorspiel für die wahre Frage gewesen. Sie wich Dr. Barnes Blick aus. Warum hatte sie sich nicht eine bessere Tarngeschichte ausgedacht? Sie musste die Unterhaltung beenden, bevor sie entweder log oder gegen die Anweisung ihres Vorgesetzten verstieß. »Dr. Clarkson hat mir angeboten, mir am Montag zu helfen, damit ich schneller werde. Ist das in Ordnung?«

Dr. Barnes runzelte die Stirn. »Natürlich. Wenn Liz Ihnen helfen will …«

»Großartig. Dann bis Montag.« Diana hoffte, dass ihr Ton nicht ihre Besorgnis verriet.

Dr. Barnes schaute sie für einen Moment nur an. Ihr Gesichtsausdruck war angestrengt neutral, vermutlich derselbe, den sie auf der Arbeit aufsetzte, wenn ihre Patienten ihr die seltsamsten Geschichten erzählten. Dann lockerte er sich ein wenig. »Genießen Sie Ihren freien Tag.« Sie winkte und ging, ohne einen Blick zurückzuwerfen.

Diana nahm einen tiefen Atemzug, aber die Frühlingsluft, die sie vorher genossen hatte, half ihr nicht, einen freien Kopf zu bekommen. Sie schaute nach oben. Die Sonne schien, kleine flauschige Wolken waren auf dem leuchtenden Blau verteilt und die Temperatur war angenehm mild. Ein perfekter Frühlingstag. Sie würde sich ihren Sonntagmorgen nicht von dieser Begegnung verderben lassen. Sie lief los, schneller und schneller.

Sobald sie den See erreicht hatte und auf den Rundweg eingebogen war, lief sie langsamer und konzentrierte sich auf ihren Herzschlag. Das ist kein Wettrennen. Du musst hier nichts beweisen. Sie lachte leise und ein älteres Pärchen, das auf einer Bank saß, starrte sie an. Jetzt, da ihre Verlegenheit, und wenn sie ehrlich war auch ihr Ärger, abgeklungen waren, konnte sie die Ironie in der Situation erkennen.

In den letzten Jahren war sie diejenige gewesen, die andere beeindrucken wollten. Zu viele Leute hatten versucht, ihr zu schmeicheln. Das war einer der vielen Gründe gewesen, warum sie ihr altes Leben verlassen hatte und zur Medizin zurückgekehrt war. Sie wollte wieder wie eine normale Person behandelt werden. Und nun gefiel es ihr nicht, als es endlich passierte. Dr. Barnes hatte jedes Recht, ihr Fragen zu stellen.

Dianas Abwehrreaktion war eigentlich nicht das, was sie von sich selbst erwartete; jetzt da sie angeblich so reif und erwachsen war. Das nächste Gespräch würde sie auf jeden Fall auf einem professionelleren Level führen.

Auf dem Rückweg vom Fitnessstudio ging Emily erneut durch den Park. Sie ließ sich dabei Zeit in der Hoffnung, Dr. Petrell noch einmal zu treffen. Und was würdest du ihr sagen? Das erste Gespräch war ja auch nicht so großartig. Sie wusste auch nicht, was schiefgelaufen war. Genau wie Liz es am Freitag getan hatte, wollte sie Dr. Petrell wissen lassen, dass sie gute Arbeit geleistet hatte, aber sie hatte reagiert, als ob sie kritisiert werden würde.

Und gerade als sie gedacht hatte, dass sie das Gespräch in die richtige Richtung gelenkt hatte, hatte sie das Gespräch im Keim erstickt, als sie nach der Neun-Jahres-Lücke im Lebenslauf gefragt hatte. Sie hatte bereits gesagt, dass es etwas Persönliches war und Emily hätte das wahrscheinlich einfach respektieren sollen. Aber was, wenn sie etwas getan hatte, das den guten Ruf des Krankenhauses bedrohte?

Ein eiskalter Schauer lief Emilys Rücken hinab. Das würde sie nicht zulassen.

Und warum war Dr. Petrell so verschlossen mit ihrer Vergangenheit? Und warum machte das Emily überhaupt etwas aus? Normalerweise hielt sie Abstand zu ihren Kollegen, insbesondere zu den Assistenzärzten. Sie traten nur kurzzeitig in ihr Leben. Warum war Dr. Petrell anders?

Emily seufzte. Warum war es so schwer für sie, Menschen zu verstehen? Insbesondere auch sich selbst. Manchmal ärgerte sie sich darüber, dass ihre Eltern sie so isoliert von anderen Kindern gehalten hatten, aber es war nicht fair, ihnen alleine die Schuld zu geben. In der Schule und an der Universität hatte sie absichtlich die meisten Einladungen zum Ausgehen abgelehnt. Die Gesellschaft ihrer Bücher war ihr schon immer lieber gewesen als die ihrer Altersgenossen. Und wenn Jenn nicht darauf bestanden hätte, Freundinnen statt Mitbewohnerinnen zu sein, hätte sie keine beste Freundin.

Emily blickte ein letztes Mal durch den Park, konnte aber Dr. Petrell in der Masse der Läufer, Fahrradfahrer, Skater und Spaziergänger nicht entdecken. Dieselbe Sonne, die sie alle nach draußen gelockt hatte, drängte Emily zurück nach drinnen. Wenn sie nicht mit würdelosen Sommersprossen und Hautrötungen enden wollte, musste sie jetzt gehen.

Sie würde am Montag mit Dr. Petrell reden. Nein, nicht reden, sie würde ihr einfach mitteilen, dass sie ihre Arbeit schätzte. Einfach und direkt, ohne die Gefahr eines weiteren Missverständnisses.