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Handwerkerin Rowan liebt ihre kleine Heimatstadt und hält mit unermüdlichem Einsatz den Familienbetrieb am Laufen – auch wenn das bedeutet, jeden noch so kleinen Auftrag anzunehmen. Als sie ein altes Haus erbt, sieht sie endlich die Chance, die Schulden ihrer Mutter zu begleichen. Renovieren, verkaufen, weitermachen – so lautet der Plan. Doch dann tritt Maia in ihr Leben: eine charmante, etwas unbeholfene Radiologin aus der Großstadt, die nach einer Enttäuschung bei ihren Tanten Zuflucht sucht. Zwischen knarrenden Dielen, langen Sommerabenden am See und einem Sturm, der alles durcheinanderwirbelt, entsteht eine Nähe, die Rowan nie für möglich gehalten hätte. Aber kann aus einem flüchtigen Sommer eine gemeinsame Zukunft werden?
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Seitenzahl: 394
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Inhaltsverzeichnis
Über das Buch
Über Chris Zett
Von Chris Zett außerdem lieferbar
Widmung
Danksagung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Epilog
Ebenfalls im Ylva Verlag erschienen
Über das Buch
Sommer, Liebe, Herzklopfen – genau die Romantik, nach der ihr schon lange gesucht habt.
Handwerkerin Rowan liebt ihre kleine Heimatstadt und hält mit unermüdlichem Einsatz den Familienbetrieb am Laufen – auch wenn das bedeutet, jeden noch so kleinen Auftrag anzunehmen. Als sie ein altes Haus erbt, sieht sie endlich die Chance, die Schulden ihrer Mutter zu begleichen. Renovieren, verkaufen, weitermachen – so lautet der Plan.
Doch dann tritt Maia in ihr Leben: eine charmante, etwas unbeholfene Radiologin aus der Großstadt, die nach einer Enttäuschung bei ihren Tanten Zuflucht sucht. Zwischen knarrenden Dielen, langen Sommerabenden am See und einem Sturm, der alles durcheinanderwirbelt, entsteht eine Nähe, die Rowan nie für möglich gehalten hätte.
Aber kann aus einem flüchtigen Sommer eine gemeinsame Zukunft werden?
Über Chris Zett
Chris Zett lebt mit ihrer Frau in der Nähe von Berlin. Das Fernsehen inspirierte sie zum Medizinstudium. Der Alltag im Krankenhaus unterscheidet sich leider deutlich vom TV: weniger Heldentaten, mehr Papierkram. Der Teil mit einer Arbeitsplatz-Romanze erwies sich jedoch als wahr.
Dem Alltag entflieht sie am liebsten durch Lesen, Schreiben oder Reisen. Die schönsten Reiseziele der letzten Jahre waren Steinkreise in Schottland und Pinguinkolonien in Patagonien.
KONTAKT:
Webseite: www.chris-zett.com/de
E-Mail: [email protected]
Von Chris Zett außerdem lieferbar
Zu Herzen genommen
Aus dem Takt geraten
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
1. Auflage
E-Book-Ausgabe 2025 bei Ylva Verlag, e.Kfr.
ISBN (E-Book): 978-3-69006-078-3
ISBN (PDF): 978-3-69006-079-0
Dieser Titel ist als Taschenbuch und E-Book erschienen.
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Copyright © der Originalausgabe 2024 bei Ylva Publishing
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2025 bei Ylva Verlag
Die Nutzung unserer Werke für Text- und Data-Mining im Sinne von § 44b UrhG behalten wir uns explizit vor.
Übersetzungslektorat: Kati Krüger
Korrektorat: Tanja Eggerth
Satz & Layout: Ylva Verlag e.Kfr.
Bildrechte Umschlagillustration vermittelt durch Shutterstock LLC; iStock; AdobeStock
Grafiken vermittelt durch Freepik
Coverdesign: Michelle Ryan
Kontakt:
Ylva Verlag, e.Kfr.
Inhaberin: Astrid Ohletz
Am Kirschgarten 2
65830 Kriftel
Tel: 06192/9615540
Fax: 06192/8076010
www.ylva-verlag.de
Amtsgericht Frankfurt am Main HRA 46713
Widmung
Für Bianca – meine Heimat
Danksagung
Die englische Originalfassung hat mich über mehr Jahre begleitet, als ich zunächst erwartet hatte. Anfang 2020 wollte ich noch ein anderes Buch schreiben, über Abenteuer, Weltreisen und die Arbeit in der Notaufnahme. Mitte des Jahres sah es schon ganz anders aus. Plötzlich war meine Kreativität verschwunden, und ich brauchte Hilfe, um dem täglichen Chaos auf der Arbeit zu entkommen.
So träumte ich mir eine absichtlich nette, warme Geschichte herbei – ohne große Angst oder Stress. Genau die Dosis Liebe, die ich brauchte, um meine Schreibblockade zu überwinden. Als dann auch noch meine Frau und ich den (fast) Neuanfang im (quasi) Nirgendwo wagten, kamen alle Puzzleteile zusammen. Jetzt haben wir ebenfalls einen See in Laufweite, und die Wörter fließen wieder.
Astrid – vielen Dank für deine Geduld in den letzten Jahren.
Kati – vielen Dank für das sehr hilfreiche und motivierende Lektorat.
Michelle – vielen Dank für den extra niedlichen Hund und das farbenfrohe Cover.
Danke auch dem gesamten Ylva-Team für die großartige Zusammenarbeit.
Und natürlich meine unendliche Dankbarkeit an Bianca – deine Geduld und Unterstützung bedeuten mir alles.
Kapitel 1
Obst oder Brownie?
Maia drehte den Ring an ihrer linken Hand unentschlossen hin und her. Es war immer die gleiche Entscheidung: kurzfristige Befriedigung oder langfristige Ziele. Seufzend legte sie einen Apfel auf ihr Tablett zwischen die Wasserflasche und ihren Teller mit Hühnerbrust und gedünstetem Gemüse.
Während sie in der Schlange vor der Kasse stand, musterte Maia die Mitarbeiter, Patienten und Besucher an den Tischen. Es war wie damals, am ersten Schultag ihres letzten Highschool-Jahres. Sie war allein unter Fremden. Obwohl sie in den vergangenen sechzehn Jahren reichlich Erfahrungen in solchen Situationen gesammelt hatte, musste sie sich immer wieder überwinden, ins kalte Wasser zu springen. Ihr Telefon vibrierte in der Tasche. Scott.
Maia lächelte erleichtert. Vielleicht würde doch noch ein freundliches Gesicht sie begrüßen. Als jemand, der in Gesellschaft regelrecht aufblühte, hatte er ihr schon oft den Rücken gestärkt, wenn es um neue Kontakte ging. Er würde souverän die Aufmerksamkeit auf sich ziehen und dadurch jeden Druck von ihr nehmen. Sie wischte über den Bildschirm, um die Nachricht zu öffnen.
Keine Zeit für Mittagessen. Wir sehen uns zu Hause. Restaurant oder bestellen?
Okay. Das kam nicht unerwartet. Er hatte sie gewarnt, dass sie sich bei der Arbeit nur selten sehen konnten. Dafür würden sie die meisten Abende zusammen verbringen und hätten nicht mehr nur eine Handvoll gestohlener Wochenenden wie in den letzten zwei Jahren. Kein Grund, enttäuscht zu sein. Warum hatte sie trotzdem ein flaues Gefühl im Magen?
Bestellen ist okay. Ich muss noch Kisten auspacken. Wir sehen uns später. Hab dich lieb.
Maia schob ihr Tablett mit einer Hand vorwärts und sah weiter auf die Nachrichten-App. Nichts wies darauf hin, dass Scott antwortete.
»Wie möchten Sie bezahlen?« Die Kassiererin sprach laut und deutlich. Sie betonte jedes Wort, als ob sie sich nicht zum ersten Mal wiederholte.
»Mit der ID, bitte.« Maia steckte ihr Telefon in die Tasche und löste ihren Mitarbeiterausweis von der Brusttasche ihres Arztkittels.
Die Kassiererin zeigte auf das Lesegerät, die Stirn immer noch gerunzelt.
Maia zog ihre Karte durch die Öffnung. »Es tut mir leid. Ich war nur …« Sie schluckte den Rest des Satzes hinunter. Als ob Texten mit ihrem Verlobten es rechtfertigen könnte, die Schlange während des Mittagsansturms aufzuhalten. Sie warf hastig ihren Dienstausweis aufs Tablett. »Einen schönen Tag noch.«
Die Kassiererin quittierte ihre Entschuldigung mit einem knappen Nicken und einem angedeuteten Lächeln, bevor sie die nächste Person abkassierte.
Maia ging hoch erhobenen Hauptes auf einen der wenigen freien Tische zu. Sie brauchte keine Gesellschaft; sie hatte genug Klinikleitfäden und Dienstvorschriften zu lesen.
»Hey, Doc.« Eine Frau in weinroter OP-Kleidung winkte ihr zu.
Sie war ihr heute Morgen vorgestellt worden, als sie die radiologische Abteilung – ihr neues Zuhause – besichtigt hatte. Eine MRT-Assistentin, so viel wusste Maia noch. Irgendetwas mit S… Susan? Nein. Strandblondes Haar, gebräunte Haut, ein sonniges Lächeln. Sandy? Nein.
»Hallo. Summer, richtig?«
»Richtig, Dr. Fenton.« Summer strahlte sie an. »Setzen Sie sich doch.«
Jetzt zahlte es sich aus, dass sie während des Medizinstudiums gelernt hatte, Eselsbrücken zu bauen. »Nenn mich Maia.«
»Und das ist Kayla. Sie arbeitet im Herzkatheterlabor.« Summer deutete auf die dunkelhäutige Frau, die neben ihr saß.
»Freut mich, euch kennenzulernen.« Maia rutschte auf den Sitz gegenüber. Herzförmiges Gesicht, Kardiologie, Katheterlabor – Kayla.
»Summer hat mir gerade von der neuen Ärztin in ihrer Abteilung erzählt. Du hast also den ganzen weiten Weg von New York hierher nach Seattle gemacht? Aus einem besonderen Grund?« Kayla spießte ein paar Salatblätter auf ihre Gabel, schien aber auf die Antwort zu warten und aß nicht weiter.
Na toll. Das war also das Klatschhauptquartier. Jedes Krankenhaus hatte eines, genau wie jede Highschool, jedes College und jede Universität, die sie besucht hatte. Maia nickte und schnitt ein Stück Hühnerbrust ab, bevor sie antwortete. »Ich bin hergezogen, um bei meinem Verlobten zu sein.« Sie nahm einen Bissen und kaute bedächtig, um nichts hinzufügen zu müssen.
»Oh, wie romantisch.« Summer legte eine Hand auf ihr Herz und zeigte mit der anderen auf Maias linken Ringfinger. »Der ist ja riesig! Wann ist die Hochzeit? Bald?«
»Mhm.« Maia nickte. Sie war zu sehr mit dem zähen Fleisch beschäftigt, um zu antworten. Warum hatte Scott nur solch einen auffälligen Ring gewählt? Er hatte sie am Silvesterabend überrascht, und sie hatte es sechs Monate später immer noch nicht ganz verarbeitet. Es war nicht so, dass sie irgendjemandem etwas beweisen müssten, und das Geld hätte sie lieber genommen, um die hohen Studienkredite abzuzahlen oder für ein Haus zu sparen. Sie trank einen Schluck Wasser, um das Hühnchen hinunterzuspülen. Kein Grund, sich noch länger damit zu beschäftigen. Das war eben einer der vielen kleinen Unterschiede, die ihre Beziehung ausmachten. Wie der, ob man Haustiere wollte oder nicht. Oder ob man am Wochenende lieber auf große Partys ging oder sich mit engen Freunden zu Hause traf. Nichts, womit sie nicht leben konnte.
»Umziehen für die Liebe deines Lebens. Das ist der Stoff, aus dem romantische Filme gemacht sind.« Kayla seufzte. »Nicht wie das Theater zwischen den Mitarbeitern, das wir hier auf der Arbeit jeden Tag sehen.«
Die Liebe ihres Lebens war eine gewagte Aussage. Maia war sich nicht sicher, ob sie an so etwas glaubte. Ihre Beziehungen waren eher auf gemeinsame Lebensziele und weniger auf romantische Vorstellungen von »dem Einen« begründet, aber die Krankenhauscafeteria war nicht der richtige Ort, um über solche Themen zu sprechen. Schon gar nicht mit zwei Kolleginnen, die sie gerade erst kennengelernt hatte. Vielleicht sollte sie das Gespräch lieber in eine andere Richtung lenken.
»Theater?« Sie gab ihrer Stimme einen extra verschwörerischen Tonfall. »Oh, was ist denn hier alles so los?« Solange sie redeten, würden sie keine Fragen mehr stellen.
Kayla schaute Summer fragend an. »Die Rockstar-Romanze?«
»Das war aufregend. Aber ein alter Hut.« Summer winkte mit ihrer Gabel in der Hand ab. »Die Geburt auf der Parkbank?«
»Nee, lass uns nicht über Jess reden.« Kayla schüttelte den Kopf. »Sie ist eine gute Freundin. Was ist mit der Dreiecksbeziehung?«
»Ja, das war lustig.« Summer kicherte und legte ihr Besteck zur Seite. »Letztes Jahr hat sich einer der Kardiologen mit einer Assistenzärztin der Notaufnahme in den Bereitschaftsraum geschlichen. Nichts Besonderes, nur ein bisschen Spaß zwischendurch. Das kennst du bestimmt auch?« Sie beugte sich vor und zwinkerte.
»Klar. Passiert ständig.« Maia zuckte mit den Schultern. Nicht ihr, aber sie hatte schon viele ähnliche Geschichten gehört. Aber so wie Summer und Kayla bis über beide Ohren grinsten, war hier sicherlich mehr dran.
»Ja, aber dieses Mal …« Kayla zog die Augenbrauen nach oben und kaute ihren Salat, dass es nur so krachte.
»Diesmal wurden sie ertappt.« Summer griff den Satz auf, als hätten sie ihren Text vorher geübt.
»Nein!« Maia beschloss mitzuspielen und ihnen ihren Spaß zu lassen. »Von wem?«
»Seiner Freundin«, antwortete Kayla. »Sie ist Stationsschwester und wollte ihn in ihrer Pause mit einem romantischen Stelldichein überraschen. Also öffnete sie die Tür und … rate mal?«
»Sie hat ihm eine Szene gemacht? Einen Tritt dahin verpasst, wo es am meisten wehtut?« Maia konnte das nachempfinden. Fremdgehen war unverzeihlich. Sie hatte nie verstanden, warum jemand das tat, anstatt seine Hormone im Zaum zu halten oder Schluss zu machen. Ihrer Mutter hatte es das Herz gebrochen. Immer und immer wieder, bis sie ihren Vater endgültig verlassen hatte.
»Das ist die richtige Einstellung!« Summer lachte. »Ihre Reaktion war sogar noch besser. Sie schnappte sich die Kleider der beiden und sperrte von außen zu.«
»Sie hatten nichts, kein Telefon, noch nicht einmal Unterwäsche. Sie hämmerten an die Tür, bis sie jemand hörte.« Kayla wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln. »Ich wünschte, ich hätte Scotts Gesicht gesehen, als sie ihn gefunden haben. Ich schätze, in dem Moment hatte er endlich einmal sein selbstgefälliges Grinsen verloren.«
Scott? Maias Gabel kratzte über den Teller und Karottenstücke hüpften über den Tisch.
Reiß dich zusammen. Hier arbeiten vermutlich ein halbes Dutzend Männer namens Scott.
Wirklich? In der Kardiologie?
Maia versuchte zu schlucken, aber ihr Mund war trockener als die Hühnerbrust auf ihrem Teller. Wie …?
Sie war nicht so naiv wie ihre Mutter. Wenn Scott sie betrügen würde, hätte sie die Zeichen bemerkt, oder? Eine weitere Freundin und nebenher eine Affäre? Das war unmöglich.
Das konnte ihr nicht passieren.
Sorgfältig sammelte sie das entflohene Gemüse ein und legte es auf ihr Tablett. Dann wischte sie ihre Finger an der Serviette ab. Ein orangefarbener Fleck trübte den Glanz des Diamanten an ihrem Ring.
Wie jahrelang geübt, setzte sie ihr neutrales Arztgesicht auf. »Wer ist Scott?«
»Scott Dawson. Kardiologe. Groß, dunkle Haare, blaue Augen, hält sich für Gottes Geschenk an die Frauen.« Kayla rollte mit den Augen. »Halt bloß Abstand, wenn er dich anbaggert. Und das wird er. Du bist genau sein Typ. Die anderen Frauen waren auch alle brünett.«
Summer fügte noch etwas hinzu, aber ihre Stimme verlor sich im Hintergrund. Dutzende von Menschen unterhielten sich und lachten. Besteck klirrte, Telefone piepten und Stühle schrammten über den Boden.
Dann war es für einen Moment totenstill. Vor ihren Augen verschwamm alles, und Maia fürchtete, ohnmächtig zu werden.
Das würde er mir nie antun.
Das ist nur hohles Geschwätz.
Dann: Mom hatte recht.
Plötzlich kehrte die Kakofonie zurück, und sie sah alles klar vor sich.
Sie würde nicht blindlings glauben, was die Gerüchteküche so hergab. Aber sie würde auch nicht den Kopf in den Sand stecken. Es gab einen Weg, die Wahrheit herauszufinden. Heute Abend würde sie Scott fragen. Bei dem Gedanken an die Konfrontation kam ihr die Galle hoch, aber sie schluckte den bitteren Geschmack hinunter. Dies war weder der richtige Ort noch die richtige Zeit, um Angst zuzulassen.
Maia stand auf und griff nach ihrem Tablett. Das harte Plastik grub sich in ihre Handflächen, als sie versuchte, ihre Hände am Zittern zu hindern. »Danke für die unterhaltsame Geschichte, aber ich gehe besser zurück an die Arbeit. Ihr wisst schon, der erste Tag.« Sie wollte ihre Worte mit einem Lächeln abmildern, die Anspannung in ihrem Kiefer ließ das jedoch nicht zu.
Ohne auf eine Antwort zu warten, drehte sie sich um und ging. Sie war sich sicher, dass Summers und Kaylas Blicke ihr bis zur Geschirrrückgabe folgten. Sie straffte ihre Schultern. Das war die geringste ihrer Sorgen.
~ ~ ~
Wieder und wieder ertönte das Freizeichen, während Maia im winzigen Hotelzimmer zwischen ihren Koffern, den Stapeln von Umzugskisten und dem Bett hin und her tigerte. Ihre beste Freundin antwortete nicht. Das war keine Überraschung, schließlich hatte sie letzte Woche eine einjährige Weltreise angetreten.
Sie legte auf, ließ sich auf das Bett fallen und blätterte durch die Kontaktliste in ihrem Handy. Die Zahl der Menschen, mit denen sie reden konnte, war so gering wie nie zuvor. Wieso hatte sie nicht bemerkt, dass die meisten ihrer Freunde aus ihrem Leben verschwunden waren? Zwischen den unmöglichen Arbeitszeiten und unzähligen Überstunden als Assistenzärztin und der Fernbeziehung, die sie die letzten zwei Jahre geführt hatte, waren zahlreiche Freundschaften auf der Strecke geblieben. Und zu viele waren ohnehin zuerst Scotts Freunde gewesen. Das war eine seiner attraktivsten Eigenschaften – diese Leichtigkeit, Kontakte zu knüpfen.
Sie stöhnte. Sie hätte es besser wissen müssen. Ihr Vater war genauso ein charmanter, extrovertierter Typ. O nein. Hatte sie sich in Scott verliebt, weil er sie an ihren Dad erinnerte? Was für ein Klischee!
Maia massierte ihre pochenden Schläfen. Sie konnte jetzt nicht über Dad nachdenken, geschweige denn mit ihm reden, schon gar nicht darüber. Und Mom?
Ihr wurde übel bei dem Gedanken daran, beichten zu müssen, wie gutgläubig sie gewesen war. Sie hatte Scott vertraut, wenn er nicht videochatten konnte, weil er Überstunden machte oder spontan mit »den Jungs« ausging und ein Spiel anschaute. Sobald sich der leiseste Zweifel regte, hatte sie das Gefühl von sich geschoben. Sie hatte niemals wie ihre Mutter enden wollen – immer misstrauisch sein, immer den Partner kontrollierend.
Ihre Mutter würde sehr wahrscheinlich eine ihrer endlosen Tiraden über die Wurzel allen Übels loslassen – Ehebrecher. In den sechzehn Jahren seit ihrer Scheidung hatte sie sich zwar etwas beruhigt, dieses Thema brachte jedoch immer wieder die alte Bitterkeit hervor. Nur Tante Ann war in der Lage gewesen, ihre Mutter aus ihrem Tief herauszuholen.
Ann. Warum hatte sie nicht gleich an sie gedacht?
Maia schaute auf die Uhr und rechnete automatisch aus, wie spät es auf der anderen Seite des Kontinents war. Diese Art von mentaler Gymnastik beanspruchte ihre Gehirnmuskeln nach Jahren voller nächtlicher Telefonate mit Scott nicht mehr. Elf Uhr war für eine Nachteule wie Ann kein Problem.
Ihre Tante meldete sich gleich beim ersten Klingeln und hörte sich geduldig Maias konfusen Bericht über ihr Mittagessen, ihr Gespräch mit Scott und ihre spätabendliche Flucht ins Hotel an.
»Was? Der Kerl hat Nerven!« Ann knurrte. »Willst du, dass ich zu dir komme und meine Kastrationsinstrumente mitbringe? Die Betäubungsmittel lasse ich zu Hause.«
Maia lachte zum ersten Mal seit dem Mittagessen. »Danke, nicht nötig.«
Ein Hund bellte zweimal. Ann machte ein beschwichtigendes Geräusch. »Ist schon gut, Jasper. Es ist alles in Ordnung. Ich bin nur wütend, aber nicht auf dich. Du bist ein guter Junge.«
Jasper. Der Name war neu. Er war vermutlich eines der vielen Sorgenkinder, die Ann und ihre Frau als Tierärztinnen mit angeschlossenem Tierheim bei sich aufgenommen hatten.
Maia stellte das Telefon auf Lautsprecher und hörte zu, wie ihre Tante den Hund beruhigte, während sie auf die Lichter der Stadt starrte. So viele Menschen gingen ihren eigenen Geschäften nach, und sie saß hier allein in ihrem Hotelzimmer, ohne eine Menschenseele zu kennen. Sie schnappte sich ein Kopfkissen und drückte es fest an ihre Brust.
Jasper schien besänftigt, denn Maia konnte ihn nicht mehr hören. Der beruhigende Tonfall ihrer Tante hatte die gleiche Wirkung auf sie.
»Also, was brauchst du jetzt, mein Häschen?« Ann klang, als ob sie sich sofort um jedes Bedürfnis kümmern würde.
Maia seufzte. Der Spitzname ließ Erinnerungen an lange Abende auf der Veranda hochkommen, mit Gesprächen, heißer Schokolade und den besten Umarmungen, die ein frustrierter Teenager sich wünschen konnte. Das gab ihr die Kraft, ehrlich zu antworten. »Keine Ahnung. Ich wünschte, ich wüsste es.«
»Das ist okay. Wir finden es zusammen heraus.«
»Ich brauche einen neuen Job, eine eigene Wohnung.« Maia war sich nicht sicher, ob sie es schaffen würde, morgen zur Arbeit zu gehen, aber ihre Studienkredite ließen ihr keine andere Wahl. »Ich brauche einen Plan.«
»Ich meinte zwar das Emotionale, aber damit können wir sicherlich auch anfangen. Hattest du nur ein Jobangebot in Seattle? Könntest du in ein anderes Krankenhaus wechseln?«
»Nein. Im selben Krankenhaus wie Scott zu arbeiten, war nicht meine erste Wahl gewesen, aber nichts anderes hat so gut zu mir gepasst. Wenn ich mich außerhalb der Stadt umgesehen hätte, hätte ich sicher was gefunden, aber ich bin nicht hierhergezogen, um jeden Tag stundenlang zu pendeln. Mein einziges anderes gutes Angebot kam von einer Online-Praxis. Ich könnte von zu Hause aus arbeiten, egal wo ich wohne.« Maia massierte ihre linke Schulter mit der rechten Hand. Es war, als würde sie Stahl kneten.
»Von zu Hause aus? Würdest du die Patienten per Video untersuchen? Klinge ich gerade sehr alt?« Ann lachte. »Ich hab keine Vorstellung, wie so etwas funktioniert.«
»Ich bekomme die Röntgen-, CT- und MRT-Bilder online, um sie zu befunden, und dann schicke ich die Berichte an die Praxis oder das Krankenhaus, die die Bilder angefordert haben. Die besprechen alles mit den Patienten, und ich wäre nur für den Diagnoseteil zuständig.«
»Hm, wenn du gern so arbeiten würdest. Ich kann mir nicht vorstellen, meine Patienten nicht direkt zu sehen.«
»Deine Patienten sind auch alle niedlich und kuschelig.« An manchen Tagen bereute Maia, Human- und nicht Veterinärmedizin studiert zu haben. »Du hast recht. Das wäre nicht mein Traumjob. Aber das Gute daran ist, dass ich es von überall machen kann. Das bringt mich direkt zu Problem Nummer zwei: kurzfristig eine erschwingliche Wohnung zu finden. Ich weiß sowieso nicht, ob ich hierbleiben will. Oder zurück nach New York gehe oder … Ich weiß es nicht.« Keine der beiden Optionen gefiel ihr im Moment, und ihr leeres Gehirn konnte keine ihrer gewohnten Pro- und Kontra-Listen erstellen.
Sowohl das große Ganze zu betrachten als auch jedes kleinste Detail zu bedenken, war immer ihre Stärke gewesen und hatte zu ihrer Karriere in der Radiologie geführt. Aber so sehr sie sich bemühte, ihre eigene Situation zu analysieren, im Moment hatte sie nur von Emotionen überflutete verschwommene Bilder vor Augen.
»Vielleicht musst du dich auch gar nicht sofort entscheiden. Du könntest zu uns kommen und hier leben, wenn du online arbeitest. Du hättest Zeit, dich zu erholen, dich neu zu orientieren und einen soliden Plan zu machen. Wir haben frische Luft und jede Menge Tiere zum Knuddeln.« Nur Ann konnte ein Leben mitten im Nirgendwo dermaßen verlockend erscheinen lassen.
»Nein, ich kann mich nicht einfach bei euch einnisten. Was würde Gabby dazu sagen? Musst du nicht erst mit ihr reden?« Vor sechzehn Jahren war es Anns introvertierter Frau zunächst schwergefallen, das Haus mit Maia und ihrer Mutter zu teilen, als sie nach der Scheidung ihrer Eltern dorthin gezogen waren.
»Sie wird dich mit offenen Armen empfangen. Sie liebt dich genauso sehr wie ich.« Die Überzeugung in Anns Stimme ließ keinen Zweifel aufkommen.
»Stimmt, aber …« Maia musste zugeben, dass Gabby, nachdem sie sich näher kennengelernt hatten, eine wichtige Stütze im schlimmsten Jahr ihres Lebens gewesen war.
»Du gehörst zur Familie, und wir haben dich in den letzten Jahren kaum gesehen.« Ann seufzte. »Das war nicht deine Schuld, aber wir haben dich trotzdem vermisst.«
Eine weitere Sache, die sie für diese Fernbeziehung geopfert hatte. Maia presste ihr Gesicht ins Kissen, um ihr frustriertes Stöhnen zu dämpfen. Warum hatte sie jemals gedacht, dass Scott eine gute Idee wäre? Nur weil er attraktiv und charmant war und sich mit ihren Eltern verstand, war das kein Grund, ihre Familie zu vernachlässigen. Beim Heiratsantrag hatte er ihre Zukunft in Seattle in schillernden Farben und mit so viel Leidenschaft geschildert, dass sie ihre eigenen Pläne in New York ihm zuliebe über den Haufen geworfen hatte.
Möglicherweise waren ein paar Wochen bei ihren Tanten genau das, was sie jetzt brauchte. Während sie von zu Hause aus arbeitete, konnte sie sich für andere Jobs bewerben, sobald sie sich entschieden hatte, wohin sie wollte. Aber war sie bereit, in einer winzigen Kleinstadt mitten im Norden des Staates New York zu leben? Weit weg von allen Annehmlichkeiten einer Großstadt? Ihre Tanten waren der einzige Grund, warum sie den Fleck auf der Landkarte kannte.
Ja, sie würde es schaffen, da sie wusste, dass sie jederzeit gehen konnte. Es wäre nicht wie in der Highschool; sie war kein launischer Teenager mehr, der von seiner nach der Scheidung noch launischeren Mutter aus der lebendigen Großstadt in die Provinz verfrachtet wurde.
Der Hund bellte wieder, dieses Mal freundlicher.
»Siehst du, Jasper ist auch dafür. Er braucht noch viel mehr Aufmerksamkeit in seinem Leben. Er ist unser neuester Pflegehund und ganz wild auf Knuddeln und Streicheleinheiten.«
Knuddeln, Unterstützung und Familie. Das war exakt das, was sie im Moment brauchte.
»Okay. Ich komme.« Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, schien sich der Knoten in ihrer Brust zu lösen.
Kapitel 2
Behutsam ließ Rowan ihre rechte Hand tiefer in die Dunkelheit gleiten.
Wo ist die Stelle? Die Feuchtigkeit an ihren Fingerspitzen bewies, dass sie in der richtigen Richtung suchte.
»Ah, hier!« Mit einem Seufzer der Erleichterung drückte sie einen Finger auf den Punkt, um den Ort zu markieren. Mit der anderen Hand griff sie blindlings hinter sich nach dem Isolierband. Jetzt konnte sie die Sache schnell zu Ende bringen.
Ein kurzer Piepton signalisierte eine eingehende Textnachricht, und ihr Telefon begann laut auf dem Werkzeugkasten zu vibrieren.
Rowan stöhnte. Bitte nicht noch ein Job. Wer auch immer etwas von ihr wollte, würde warten müssen. Zumindest bis sie diesen Auftrag erledigt hatte.
»Soll ich dir dein Telefon geben? Ich glaube, das war deine Mutter.« Mrs Woods gebrechliche Stimme war unter dem Waschbecken kaum zu verstehen.
»Was?« Rowan versuchte, sich umzudrehen, ohne das Rohr loszulassen. Sie schaffte es aber nur, sich den Kopf an der Schrankoberseite zu stoßen. »Autsch!«
»Hast du dich verletzt? Brauchst du etwas?« Schritte kamen näher.
»Nein, nein. Es ist alles in Ordnung.« Rowan strich sich durch ihr kurzes Haar. Da sie nichts Nasses fühlen konnte, war auch nichts Schlimmes passiert. Eine Beule würde sie nicht umbringen. »Was haben Sie über meine Mom gesagt?«
»Da ist eine SMS von deiner Mutter auf deinem Handy angekommen. Willst du sie jetzt lesen?«
»Nein, danke. Ist bestimmt wegen der Arbeit, ich schaue sie mir später an.« Wahrscheinlich ging es nur wieder um den Laden. Entweder betraf es einen neuen Auftrag oder sollte sie an die Buchhaltung oder irgendeine andere Verpflichtung erinnern. Warum konnte ihre Mutter nicht begreifen, dass Rowan eine bessere Handwerkerin als Geschäftsführerin war? Sie griff nach der Rohrzange. Hoffentlich waren die alten Stahlrohre nicht komplett korrodiert. »Ich mache das hier erst fertig.«
»Ist sie noch im Urlaub? Florida, oder?«
»Ja. Sie besucht ihre Schwester. Mein Onkel ist kürzlich verstorben.« Stöhnend drückte Rowan die Zange eine halbe Umdrehung weiter, bis das Gewinde nachgab.
»Das tut mir leid. Aber es ist gut, dass deine Mutter sie unterstützt. Witwen sollten zusammenhalten.« Mrs Wood seufzte.
Das Telefon piepte und vibrierte erneut. Toll. Und wenn diese Nachricht jetzt nicht so harmlos war wie die ihrer Mutter?
Ja klar, als ob du irgendetwas Anrüchiges zu verbergen hättest! Rowan rollte die Augen über sich und fuhr fort, das beschädigte Rohr auszutauschen. Da die meisten Häuser in der Umgebung älter als ihre Eltern und niemals modernisiert worden waren, konnte sie die Arbeit im Schlaf erledigen.
Zehn Minuten später kroch sie unter dem Waschbecken hervor und ließ das Wasser laufen, während sie ihr Werkzeug und die rostigen Überreste wegpackte.
Nachdem sie alles sauber gemacht hatte, kniete Rowan auf den Boden und fuhr mit ihren Fingern über die neue Verbindung. Trocken. Sie drehte den Wasserhahn zu. »Das sollte genügen.«
»Oh, du hast mich gerettet. Danke, dass du so kurzfristig vorbeigekommen bist, noch dazu an einem Freitagnachmittag. Ich hoffe, ich habe dich nicht von deinen Plänen für den Abend abgehalten?«
Da haben wir es wieder. Diesmal hatte Mrs Wood erstaunlich lange gebraucht, bis sie nach ihrem Liebesleben fragte. Rowan schmunzelte. »Keine Pläne.«
»Aber eine junge Dame wie du sollte nicht ständig nur an ihre Arbeit denken. Mädchen mögen das nicht.« Sie strich mit beiden Händen die verblichene blaue Schürze über ihrem Kleid glatt, obwohl sie faltenfrei war.
Rowan hob die Augenbrauen. »Stimmt. Ich werde es im Hinterkopf behalten.« Wenn sie ein Mädchen oder besser gesagt eine Frau hätte, mit der sie den Abend verbringen könnte, hätte Rowan vermutlich eine andere Einstellung zu ihrem Job. Aber die Aussichten auf ein Date waren mager in Ashlake, New York, Mitten im Nirgendwo.
»Ich wasch mir noch schnell die Hände, wenn das okay ist.« Rowan trug den Werkzeugkasten in den Flur und ging ins Bad.
Als sie zurückkam, hatte Mrs Wood einen Teller mit Keksen auf den Tisch gestellt.
Lecker, Schokochips.
»Möchtest du lieber Tee oder Milch?« Mrs Wood öffnete ihren Kühlschrank.
»Tee, bitte.« Ihr selbst gemachter Eistee war der beste. Rowan warf einen Blick durch das Küchenfenster auf die vordere Veranda. Normalerweise saßen sie draußen und unterhielten sich, aber heute war es zu heiß. »Der Sommer scheint noch nicht aufzugeben.« Sie vermisste die Zeit, in der Sommerhitze Freizeitspaß bedeutete und sie mehr Stunden am See als zu Hause verbracht hatte.
»Ja, ich kann nur frühmorgens oder nachts in meinen Garten.« Mrs Wood goss zwei Gläser Tee aus einer Glaskanne ein.
»Danke.« Rowan trank einen großen Schluck von dem erfrischenden Getränk und nahm sich einen Keks. Er war noch warm, innen saftig und voller klebriger Schokolade. »Die Blumen sehen welk aus. Ich könnte sie gießen, bevor ich gehe.«
»Ach nein. Es ist zu früh, ich muss bis heute Abend warten, dann kühlt es ab. Das mache ich sowieso lieber, anstatt die Nachrichten zu schauen. Ist viel besser für meinen Blutdruck.«
Rowan lachte. »Ich weiß, was Sie meinen.« Sie leerte ihr Glas und schüttelte den Kopf, als Mrs Wood ihr Nachschub anbot.
»Hast du gehört, dass Anns Nichte wieder in der Stadt ist? Sie war so ein fleißiges Mädchen. Immer in der Bibliothek. Wie war ihr Name? May?« Mrs Wood brach ein Stück Keks ab und ein Tropfen dunkler Schokolade fiel auf ihren Teller.
»Maia, nicht May.« Dunkle Augen, fast wie die Schokolade, versteckt hinter einem hellbraunen Pony, umrahmt von einer Brille mit einem runden silbernem Metallgestell. Sie war distanziert, unnahbar und das schönste Mädchen, das Rowan mit ihren damals siebzehn Jahren je gesehen hatte. Sie konnte sich nicht an eine einzige Unterhaltung mit ihr erinnern.
Das war eine gefühlte Ewigkeit her. Warum erwähnte Mrs Wood sie ausgerechnet jetzt? Sie sollte lieber gehen, bevor sich das Gespräch weiter nur um ihr nicht vorhandenes Liebesleben drehte. »Kann ich sonst noch irgendwie helfen?«
»Ich bin mir nicht sicher. Ich habe letzte Nacht etwas auf das Dach fallen hören. Vielleicht ist ein Ast von einer der Eichen abgebrochen? Ich habe Angst, dass die Schindeln beschädigt sind und sich beim nächsten Gewitter eine undichte Stelle zeigt.«
Das Dach. Na toll. Rowan unterdrückte eine Grimasse. Von allen Reparaturen am Haus gefiel ihr das am wenigsten. Sie war keine Freundin von Höhe. Hoffentlich konnte sie das Problem von der Dachgaube aus untersuchen, die der größten und ältesten Eiche am nächsten war – zu nahe für ihren Geschmack. »Ich wünschte, Sie würden mich diese Bäume fällen lassen. Eines Tages werden sie auf das Haus fallen.«
»Aber sie kühlen im Sommer so schön, und im Winter kann ich die Vögel beobachten.«
Rowan seufzte. »Das sagt Mom auch immer über unsere Kiefern.« Das war keine Auseinandersetzung, die sie in nächster Zeit gewinnen würde. Aber es bedeutete nicht, dass sie aufgab. »War das Geräusch in der Nähe des Schlafzimmers oder auf der anderen Seite?«
»Ich bin mir nicht sicher. Ich war, äh, im Erdgeschoss. Ich muss auf dem Sofa eingeschlafen sein. Ich glaube, es kam von der anderen Seite. Aus Andys Zimmer.« Ein Schatten legte sich über ihr Gesicht. Es war bestimmt fünfzig Jahre her, dass ihr Sohn und ihr Mann bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren, aber sie erwähnte ihre Namen nie ohne einen traurigen Unterton.
Rowan drückte Mrs Woods Arm. »Sie brauchen nicht aufzustehen. Ich schau vom Fenster aus nach.«
Bei jedem Schritt auf der knarrenden Holztreppe wirbelten Staubwölkchen auf. Rowan nieste. Das passte nicht zu Mrs Wood. Normalerweise war überall penibel geputzt. Benutzte sie das Obergeschoss nicht mehr? Wo schlief sie stattdessen?
Das Zimmer ihres Sohnes war bis auf eine hölzerne Kommode und ein Bett, das mit einem handgefertigten blau-weißen Quilt bezogen war, leer. Auch hier war alles mit einer Staubschicht bedeckt. Bei nächster Gelegenheit musste Rowan sich eine Ausrede einfallen lassen, um zu putzen. Möglicherweise eine Reparatur, die hinterher eine gründliche Reinigung notwendig machte? Unentgeltlich versteht sich.
Sie schob den Vorhang beiseite und entriegelte das Fenster. Es öffnete sich erst beim zweiten Versuch und quietschte wie eine verängstigte Katze. Rowan setzte Scharniere ölen auf ihre gedankliche To-do-Liste.
Rowan hielt sich mit beiden Händen an der Fensterbank fest und streckte ihren Kopf nach draußen, den Blick fest zur Seite gerichtet. Sie brauchte nicht nach unten zu sehen. Das Problem lag oben, nicht unten.
Heute war ihr Glückstag. Ein großer, knorriger Ast lag direkt neben dem Fenster. Er war fast so dick wie ihr Arm. Die abgestorbenen Reste kleinerer Äste standen in alle Richtungen ab, aber es hingen keine Eichenblätter mehr daran. Offensichtlich war er die Dachschräge heruntergerutscht, bis die Regenrinne ihn gestoppt hatte.
Dank der Spuren, die die Rinde hinterlassen hatte, konnte sie leicht erkennen, wo er aufgeschlagen war. Die Schindeln waren nicht beschädigt. Sie brauchte nicht hinausklettern, um das Dach genauer zu inspizieren. Sie musste nur den Ast entfernen.
Rowan streckte langsam einen Arm aus, konnte ihn aber nicht erreichen.
Sie zog sich zurück ins Zimmer, ihre Knie gaben nach und sie sank auf das Bett. Verdammt. Ein Schweißtropfen lief ihr über die Stirn. Sie wischte ihn mit der Hand weg, die genauso schweißnass war.
Sie könnte eine Leiter holen und außen am Haus hochklettern. Ihr Magen protestierte, als würde sie bereits fallen. Sollte sie Daniel oder Nick anrufen?
Nein. Es war nicht nötig, ihre Freunde zu belästigen. Sie musste nur ihre alberne Höhenangst überwinden.
Vermutlich könnte sie den Ast erreichen, wenn sie sich auf die Zehenspitzen stellte. Oder wenn du dich nicht wie ein Baby an die Fensterbank klammerst. Reiß dich zusammen.
Sie wischte sich noch einmal die Hände an der Hose ab, stand auf und ging zum Fenster, als wäre es ein Zahnarztstuhl. So, wie sie mit den Zähnen knirschte, würde sie dem ohnehin bald einen Besuch abstatten müssen.
Als sie am Fenster ankam, presste sie sich so eng es ging an die Fensterbank. Ganz vorsichtig lehnte sie sich wieder hinaus. Diesmal stellte sie sich auf die Zehenspitzen und schob sich, so weit sie konnte, nach links. Der Fensterrahmen grub sich in ihre Rippen. Lieber Schmerz als Schwindel. Nur noch ein paar Zentimeter …
Dann hielt sie den Ast in den Händen und stieß einen langen Seufzer aus.
Langsam zog sie ihn zu sich. Er durfte nicht zerbrechen. Als sie sicher war, dass er sich nirgends mehr verhaken konnte, warf sie das verflixte Ding in den Garten.
Zehn Minuten später war der Ast in handliche Stücke zersägt und lag auf dem Brennholzstapel. Rowan hatte die Hälfte ihres Körpergewichts an Schweiß verloren. Sie würde gern die Julihitze dafür verantwortlich machen, aber sie kannte die Wahrheit. Sie war ein Feigling.
Mrs Wood wartete auf der Veranda mit einem weiteren Glas Eistee. »Ich danke dir. Ich werde viel besser schlafen, wo ich jetzt weiß, dass das Dach noch heile ist.«
»Gern geschehen. Ich musste nicht viel tun, und Sie brauchen sich keine Sorgen vor dem nächsten Regen zu machen.« Rowan drückte das eiskalte Glas an ihre glühenden Wangen und lehnte sich gegen die Wand. »Aber wir müssen über die Bäume reden. Bald. Bevor die Sturmsaison beginnt.«
»Wenn du das nächste Mal kommst, kannst du wieder versuchen, mich zu überreden.« Ihr Grinsen sagte Rowan, dass sie es nicht schaffen würde. Sie hatten diese Diskussion bereits unzählige Male geführt.
»Ich bringe die Kettensäge mit, wenn ich mit den Lebensmitteln komme.« Rowan zwinkerte ihr zu. »Brauchen Sie dieses Wochenende etwas Besonderes aus dem Supermarkt?«
»Nein, nur das Übliche. Vergiss nicht das Himbeereis!«
Rowan nickte. Als ob sie jemals die Eiscreme vergessen würde. »Wir sehen uns am Sonntag.«
Mrs Wood winkte zum Abschied von der schattigen Veranda, während Rowan ihre Werkzeugkiste auf der Ladefläche ihres Pick-ups verstaute.
Der Geruch ihres eigenen Angstschweißes schlug ihr entgegen, als sie den Arm hob, um zurückzuwinken. Sie verzog das Gesicht.
Glücklicherweise war dies der letzte Auftrag für heute gewesen. Jetzt konnte sie den Abend genießen und den Stress des Tages im See abspülen.
Kühles Wasser und ein extralanges Schwimmtraining würden Wunder bewirken, um ihre verspannten Muskeln zu lockern und den Rücken zu entspannen. Und ihren Kopf frei zu bekommen von all den Dingen, die sie mit ihrer Mutter besprechen musste.
Kapitel 3
Das Klopfen an der Tür unterbrach Maia, als sie gerade die nächste Datei mit den Bilddaten öffnen wollte. »Herein.«
»Entschuldige, wenn ich störe. Arbeitest du noch?« Tante Ann lehnte sich an den Türrahmen und lächelte. »Das Abendessen ist in einer halben Stunde fertig, falls du mit uns essen willst.«
Maia schaute auf ihre Uhr. Huch, schon fast sieben. »O ja, das wäre gut, danke. Ich bin auch fertig mit meinem Fall.«
»Sie lassen dich viel zu lange arbeiten. Du bist schon ganz blass.« Ann musterte sie, als wäre Maia eine ihrer Patientinnen.
»Äh, ja.« Maia schaute auf ihre Hände mit den durchscheinenden Venen. Tatsächlich sah sie neben Ann und deren natürlicher leichter Bräune aus wie ein Gespenst.
»Hast du heute überhaupt das Zimmer verlassen? Eine Mittagspause gemacht?« Ann seufzte, als ob sie die Antwort längst kannte.
Maia zuckte mit den Schultern. »Eine kurze.« Sie hatte sich die Zeit genommen, ein Sandwich von unten aus der Küche zu holen, um es während der Arbeit zu essen. Das zählte doch als Pause, oder?
Ihre Tante meinte es nur gut. Aber Maia wollte nicht zugeben, dass sie ihre Schicht schon vor Stunden beendet hatte und jetzt freiwillig Überstunden leistete. Die Arbeit machte ihr Spaß, half ihr, ihren Studienkredit abzubezahlen und, was am wichtigsten war, hielt sie von endlosen Grübeleien ab. Während sie die feinen Details von schwarz-weißen Röntgenbildern oder CTs in allen Grauschattierungen analysierte, konnte sie nicht immer wieder sämtliche Gespräche, die sie jemals mit Scott geführt hatte, im Kopf abspielen oder sündhaft teure Immobilienangebote in New York City durchsuchen.
Aufgeregtes Bellen kündigte Jasper an, der den Flur entlangrannte.
Ihre Tante schnappte sich den braun-weißen Jack-Russel-Terrier, bevor er in Maias Zimmer springen konnte. »Nein, Jasper, du wirst nur ihre Kisten umwerfen und unter der Lawine begraben werden. Wir gehen gleich Gassi.«
Maia verzog angesichts der Übertreibung das Gesicht, aber etwas Wahres war dran. An allen Wänden stapelten sich Umzugskisten, die den schmalen Durchgang von der Tür zu ihrem Bett bedrohlich einengten. »Ich hätte sie in Seattle einlagern sollen, bis ich eine eigene Wohnung habe. Es tut mir leid, ich habe nicht richtig nachgedacht.«
»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Du konntest nicht wissen, dass wir das Haus seit deinem letzten Besuch noch weiter in ein provisorisches Tierheim verwandelt haben. Ich muss zugeben, dass mir nicht klar war, wie viele Katzenbäume und Hundebetten wir haben, ganz zu schweigen von all dem Spielzeug, den Transportboxen überall und dem Tierfutterlager im Keller.« Ann lachte. »Und du weißt ja … Nachdenken wird sowieso überbewertet.« Sie zog vielsagend die Augenbrauen hoch.
»Stimmt.« Maia musste bei der Erinnerung an das erste Mal, als Ann das zu ihr gesagt hatte, schmunzeln. Maia war damals noch eine Teenagerin und ihre neu entdeckte Bisexualität hatte sie verwirrt und aus der Bahn geworfen. Anns bedingungslose Akzeptanz hatte ihr dabei geholfen, ihre Gefühle zu sortieren und zu akzeptieren. Sie hatte ihr gezeigt, dass nicht alle emotionalen Probleme mit Logik zu lösen waren.
Maia streckte die Arme über den Kopf, und ihre Wirbelsäule knackte. Sie hatte heute eindeutig zu lange gesessen. »Ich komme gleich nach unten. Wenn es dir nichts ausmacht, könnte ich mit Jasper vor dem Abendessen noch einen kurzen Spaziergang machen.«
»Das wäre großartig. Und mach dir keine Sorgen, wenn es ein langer Spaziergang wird, das Abendessen wird nicht kalt. Gabby ist sowieso noch nicht zu Hause. Bis später, Häschen.«
Maia lächelte, als sie sich aus dem Befundungssystem ausloggte. Vielleicht konnte sie nach dem Abendessen noch ein paar Stunden Arbeit anhängen, wenn sich die Warteschleife mit den Aufträgen wieder gefüllt hatte.
Jasper wartete neben der Hintertür zur Terrasse schon auf sie und ließ sich geduldig anleinen.
Maia führte ihn durch den Garten in Richtung Wald. Sie schloss das Tor hinter sich, das zwischen den alten Bäumen versteckt war, und vergewisserte sich zweimal, dass der Riegel sicher eingerastet war. Einmal hatte sie es vergessen, und die Erinnerung bereitete ihr immer noch Bauchschmerzen. Mit siebzehn war sie nach einer der vielen Streitigkeiten mit ihrer Mutter in den Wald gestürmt und hatte das Schloss ignoriert. Ihre Teenagerprobleme waren keine ausreichende Entschuldigung dafür, die Hunde im Garten ihrer Tante in Gefahr gebracht zu haben. Seltsamerweise konnte sie beim besten Willen nicht mehr sagen, worum es bei dem Streit gegangen war, aber sie erinnerte sich glasklar an jede Minute, die sie den entlaufenen Sammy gesucht hatte. Es waren die längsten drei Stunden ihres Lebens gewesen.
Maia folgte dem schmalen, ausgetretenen Pfad zwischen hohen Eichen, Ahornbäumen und Eschen. Das Laub spendete Schatten vor der Abendsonne, die immer noch überraschend kräftig schien, und der Boden hatte tagsüber genug Hitze gespeichert, sodass er angenehm warm war. Der Duft des Holzes mischte sich mit dem erdigen Staub, der bei jedem Schritt aufwirbelte.
»Hey!« Maia wäre fast über die Leine gestolpert, als Jasper ihren Weg kreuzte.
Hinter ihrem Rücken wechselte er wieder auf die andere Seite und fesselte ihre Beine.
Lachend stieg Maia aus der Falle. Sie könnte ihn ohne Leine laufen lassen, aber sie waren für ihren Geschmack zu dicht an der Straße. »Vorsicht ist besser als Nachsicht. Was meinst du, Jasper?«
Er antwortete mit einem kurzen Bellen. Wahrscheinlich reagierte er nur auf seinen Namen, aber sie nahm es als Bestätigung.
Gemeinsam spazierten sie den Weg zum See entlang und tanzten dabei immer wieder umeinander, bis sie zu zwei großen Felsen kamen.
Der schmale Durchgang öffnete sich zu einer etwa zehn Meter breiten Bucht mit einem halb sandigen, halb steinigen Strand. Die Felsen von der Größe eines Autos ragten bis in das smaragdgrüne Wasser hinein und umschlossen die Bucht von beiden Seiten. Hier konnte sie Jasper ohne Bedenken frei laufen lassen, denn der einzige Zugang zur abgelegenen Bucht lag hinter ihr.
Als wäre er noch nie hier gewesen, hüpfte er vom Wasser über die Steine zu den spärlichen Grasbüscheln und nahm schnuppernd alles in sich auf.
Maia kletterte auf einen der größeren Felsen, um ihre Energiereserven in der Sonne aufzuladen, während Jasper seine aufbrauchte. Sie streckte ihre Beine aus und stützte sich auf die Ellbogen. Die glatte Oberfläche des Steins unter ihr war warm und die Luft so klar und frisch, wie sie es in den letzten Jahren kaum erlebt hatte. Es duftete nach Kiefern, Wasser und Erholung. Ann hatte recht, das war genau das, was sie jetzt brauchte.
Zu ihrer Rechten erstreckte sich der Lake Ash, das Ufer auf beiden Seiten mit Bäumen und Büschen überwuchert, so weit sie sehen konnte. Sie wusste, dass er hinter der Biegung einige Kilometer bis zur nächsten Stadt weiterging. Ashgrove war etwas größer als das winzige Ashlake, dort gab es ihre ehemalige Highschool, ein Einkaufszentrum, Fast-Food-Restaurants und sogar ein Krankenhaus. Falls es noch existierte. In den letzten sechzehn Jahren, seit sie hier weggezogen war, waren viele Krankenhäuser auf dem Land geschlossen worden, weil es an Geld und qualifiziertem Personal mangelte. Kein Wunder, wer würde mitten im Nirgendwo arbeiten wollen? Sie massierte ihre Nasenwurzel. Warum dachte sie schon wieder an die Arbeit? Sie war hier, um sich zu entspannen.
Die Oberfläche des Sees war glatt und wie ein Spiegel für die hellgrauen Steine am Ufer, die Bäume in ihren unendlich vielen Grüntönen, den strahlend blauen Himmel und ein paar Schäfchenwolken. Eine Linie zog sich durch das Spiegelbild, teilte den Himmel in zwei Hälften, und die kleinen Wellen, die von ihr ausgingen, ließen die im Wasser gespiegelten Bäume verschwimmen.
Maia blinzelte und konzentrierte sich auf den winzigen Punkt, der durch das Wasser glitt. Ein Vogel?
Dann durchbrach ein Arm die Oberfläche, gefolgt von einem weiteren, dessen helle Haut sich vom dunklen Blau abhob. Der Schwimmer beschleunigte immer mehr und raste auf sie zu, als ob er ein Wettrennen veranstaltete. Schneller als Maia erwartet hatte, erreichte er die andere Seite ihrer kleinen Bucht, wo ein fast ein Meter hoher Felsvorsprung über den See ragte.
Als die Person sich aus dem Wasser reckte, waren auf dem gebräunten Rücken keine Bikini- oder Badeanzugträger zu sehen. Ein Mann also. Die Muskeln in seinen Armen dehnten sich erst, dann spannten sie sich an, als er über seinen Kopf griff und sich an der Felskante hochzog.
Hör auf zu starren! Maia konnte nicht anders, sie hatte schon immer eine Schwäche für eine gut durchtrainierte Muskulatur gehabt. Deshalb hatte sie während ihres Studiums anatomische Zeichnungen den echten Bildern vorgezogen. Zu ablenkend.
Huch, keine Badehose. Maia schaute weg. Sie war nicht hier, um einen nackt badenden Typen zu begaffen. Wo war Jasper? Sie sollten lieber gehen, bevor der Schwimmer sie bemerkte.
Zu spät. Jasper rannte auf die andere Seite der Bucht und bellte fröhlich, um die Aufmerksamkeit des Neuankömmlings zu erregen.
»Jasper? Hallo, wo sind deine Muttis?« Die Stimme, die vom Felsen kam, klang eindeutig nicht männlich.
Eine Frau lag auf dem Bauch und ließ ihre Arme nach unten baumeln, wo Jasper versuchte, hochzuspringen und sie zu erreichen. Wasser tropfte von ihrem kurzen blonden Haar und lief an ihren Armen hinunter. Die Tropfen glitzerten auf ihren Händen wie Diamanten, bevor sie auf Jasper fielen.
Aber diese starken Hände und muskulösen Arme passten nicht zu dem Typ Frau, die Diamantschmuck trug. Eher zu Leder und rostfreiem Stahl.
Was sind denn das für Vorurteile? Maia riss ihren Blick und ihre Gedanken von den Händen der Frau los. »Jasper. Komm her.«
Der kleine Verräter sprang weiter vor der nackten Frau herum und wedelte mit dem Schwanz, als ob sie jede Sekunde herunterkommen und mit ihm spielen würde. Nackt.
Maia wurde ganz heiß. Sie musste los, bevor sie sich vor der Fremden blamierte. Der nackten Fremden.
Reiß dich zusammen, du bist Ärztin. Du hast Hunderte nackte Menschen gesehen, ohne dass es dir je etwas ausgemacht hätte.
»Jasper!« Okay, der Tonfall war ziemlich streng. Aber er wirkte. Sofort kam er angerannt und ließ sich anleinen.
»Guter Junge.« Maia streichelte kurz seinen Rücken und versprach ihm, es wiedergutzumachen. Sobald sie zu Hause in Sicherheit waren und sie sich nicht mehr wie ein Teenager aufführte.
Kapitel 4
»Ein winziges bisschen nach links.« Rowan schob Gabbys Finger vorsichtig zur Seite. »Genau so. Ich bin fast fertig.«
»Du bist so eine Perfektionistin.« Gabby stöhnte vor Anstrengung, als sie sich bemühte, ihre Hände im richtigen Winkel über den Kopf zu halten.
»Und deshalb liebst du mich.«
»Ja, ja.« Gabby runzelte die Stirn, konnte die Belustigung in ihrer Stimme jedoch nicht verbergen. »Ich würde dich noch mehr lieben, wenn du dich beeilen würdest.«
»Perfektion kann man nicht beschleunigen.« Rowan drehte die Schrauben in den Holzrahmen und arbeitete dabei um Gabby herum. Diese Arbeit wäre einfacher gewesen, wenn zwei Leute den Rahmen gehalten hätten, aber Freiwillige waren schwer zu finden.
Sie zog die letzte Schraube fest und gab der Wand einen kleinen Schubs. Der Hundezwinger schwankte leicht, aber hielt. »Du kannst jetzt loslassen. Er wird schon nicht umfallen, bis wir die Bretter und den Draht angebracht haben.«
Mit einem Seufzer schüttelte Gabby ihre Arme aus. »Ich gebe es nur ungern zu, aber ich werde nicht jünger.«
Nun rollte Rowan mit den Augen. »Also bitte. Du willst ja nur, dass ich dir widerspreche. Ich dachte, du wärst cooler.« In Wahrheit würde Rowan sich glücklich schätzen, wenn sie mit Mitte Fünfzig noch so fit war wie ihre Freundin. Das lag wahrscheinlich an deren Job als Tierärztin.
Rowan hatte als Teenager selbst mit dem Gedanken gespielt, Tiermedizin zu studieren, aber ein Blick auf die wissenschaftlichen Anforderungen und die erforderlichen Noten hatten diesem Plan ein jähes Ende gesetzt.
»Willst du die Bretter festhalten oder an den Rahmen nageln?« Rowan platzierte das erste Brett an den unteren Rand der Wand.
»Das solltest besser du machen.« Gabby übernahm das Brett. »Der Akku-Nagler und ich sind nicht die besten Freunde.«
»Mhm, ich erinnere mich.« Rowan versuchte, eine ernste Miene zu bewahren; das tat sie wirklich. Und es kostete sie all ihre Selbstbeherrschung, sich nicht vor Lachen zu biegen, während sie die Nagelpistole in die richtige Position brachte und das erste Brett befestigte.
Gabby musste selbst schmunzeln, als sie das zweite Brett darüber hielt. »Du kannst so viel lachen, wie du willst. Ich sage kein weiteres Wort dazu. Es war schon schlimm genug, dass ich meine gesammelten Heldenpunkte bei meiner Frau auf einen Schlag verloren habe.«
»Oh, bitte. Falls ich jemals jemanden finden sollte, der mich so ansieht, wie Ann dich ansieht, dann bin ich für den Rest meines Lebens wunschlos glücklich.«
»Und wie läuft es mit der Suche? Hattest du in letzter Zeit irgendwelche vielversprechenden Dates?«
»Vielversprechend?« Rowan schnaubte. »Überhaupt mal ein Date zu haben, wäre gut gewesen. Aber du weißt ja, wie es hier draußen ist. Manchmal denke ich, dass ich mit allen potenziell interessierten Frauen im Umkreis von drei Stunden schon ausgegangen bin. Oder mit ihren Ex-Freundinnen. Und dass ich die meisten von ihnen seit dem Kindergarten kenne, ist auch nicht gerade hilfreich.«
»Ich erinnere mich.« Gabby klopfte ihr auf die Schulter und nahm das nächste Brett in die Hand. »Ich bin so froh, dass ich die Liebe meines Lebens an der Uni gefunden habe und sie bereit war, ihre Großstadtträume für uns aufzugeben.«
Groß. Stadt. Träume.