Aus der Hölle zurück - Tadeusz Sobolewicz - E-Book

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Tadeusz Sobolewicz

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Beschreibung

Wie war es möglich, die Hölle von sechs Konzentrationslagern zu überleben? Tadeusz Sobolewicz schildert ebenso sachlich wie bewegend den »Alltag« der Lager und die ständige Gratwanderung zwischen Leben und Tod. Er erzählt, wie er als Siebzehnjähriger am 1. September 1941 in Czestochowa (Polen) als Verbindungsmann einer Widerstandsgruppe in die Hände der Nationalsozialisten gefallen war. Er berichtet von seiner Odyssee durch die Konzentrationslager Auschwitz, Buchenwald und Flossenbürg sowie durch die so genannten Außenlager Leipzig, Mülsen und Regensburg. Durch eine Vielzahl von Zufälllen überlebt er, weil ihm – wie er schreibt – immer wieder von seinen Mitgefangenen geholfen worden war. Kurz vor Kriegsende gelingt ihm während einem der berüchtigten Todesmärsche durch Bayern die Flucht. Bei Bauern des Dorfes Muttering fand er Unterschlupf, bis er von Soldaten Der US-Army befreit wurde. – Für seinen Lebensbericht erhielt der Autor den 1. Preis des Staatlichen Auschwitz-Museums.

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Tadeusz Sobolewicz

Aus der Hölle zurück

Von der Willkür des Überlebens im Konzentrationslager

FISCHER E-Books

Inhalt

»Ein ganz neues Leben«VorgeschichteZawodzieAuschwitzBuchenwaldLeipzigMülsenFlossenbürgRegensburgAbbildungsnachweis

»Ein ganz neues Leben«

Vorwort von Hans Simon-Pelanda

Den Tag ihrer Befreiung aus der Gefangenschaft im Konzentrationslager oder die ans Wunderbare grenzende Genesung von einer tödlichen Krankheit begingen und begehen viele KZ-Häftlinge als ihren zweiten oder sogar eigentlichen Geburtstag. Aber welchen Tag sollte der zweiundzwanzigjährige, auf etwas über dreißig Kilo abgemagerte Tadeusz Sobolewicz ab 1945 feiern? Den Weihnachtstag 1941, als er aus der über eine Woche andauernden Bewußtlosigkeit und dem Fieberwahn des Flecktyphus erwachte, den Tag des Feuers im Außenlager Mülsen, an dem er mit verbranntem Rücken und mit im Todeskampf auf immer verbogenen Fingern zu den Toten gelegt werden sollte? Den Tag Ende April 1945, als er vom Todesmarsch des Außenkommandos Regensburg fliehen konnte, oder den 1. Mai im oberbayerischen Muttering, nahe der österreichischen Grenze an der Salzach, als er endlich das Versteck in der Scheune mutiger Bauersleute verlassen und seine Ration Milch im Schutz amerikanischer Panzer nun bei Tage abholen konnte – und doch schon ahnte, daß er nie wieder so gesunden würde, wie für ein neues Leben notwendig? Vor und nach diesen Tagen gab es noch ähnliche, an denen er dem Tod genauso knapp entkommen war.

Heute noch schätzt er sich glücklich und dankt dem Schicksal, daß er zu den wenigen zählt, die ein paar Mal in letzter Minute gerettet werden konnten, zu jenen, die »aus der Hölle zurück« kamen. Und im gleichen Atemzug stockt seine Stimme: »An der Stelle eines der unzähligen Mordopfer hätte auch ich sein können, und einer von diesen könnte jetzt hier statt meiner aus dem Jenseits zurück sein!«

 

Aber wohin zurück?!

In seine Jugend, die er mit 17 Jahren gerade beginnen wollte und die 1941 endete, als die Gestapo den achtzehnjährigen Kurier der polnischen Untergrundarmee aufgriff? Wie viele Gleichaltrige konnte auch Tadeusz seine Jugend nicht nachholen: Für ihn hatte es »davor« keine gegeben und konnte es auch »danach« keine geben.

In seine Familie zurück? Den verehrten Vater sah er zuletzt eine Woche vor dessen Weg ins Gas von Auschwitz. Und daß die Mutter die Quälerei im KZ Ravensbrück seit 1941 überlebt haben könnte, wagt er nach den eigenen Erfahrungen auf seiner vierjährigen Odyssee durch die Vernichtungsmaschinerie der Lager nicht einmal zu hoffen.

Zurück in seine »Lager-Familie«, die ihn wider alle Logik am Leben erhielt, will er nicht. Soweit die Kameraden aus dem Lager noch am Leben sind, zerstreuen sie sich gerade, suchen »ihr Zurück«. Sie werden auch so immer miteinander verbunden bleiben, durch den Schmerz gemeinsamer Erinnerung, durch die Alpträume vom Grauen der Lagerzeit.

Wie sie alle will, nein muß, Tadeusz Sobolewicz ein »neues Leben« beginnen, manchmal sagt er heute: »Mein Leben beginnen.«

Aber dafür muß er alles vergessen und negieren. Den Schutz der Kameraden im Lager muß er verlassen, er will aber auch keinen neuen Schutz durch die amerikanischen Befreier oder UNRRA-Lager. Todkrank läuft er sogar vor dem Lazarett davon und läßt sich von den Amerikanern schließlich allein in einer Privatwohnung unterbringen. Nie wieder Lager! Weit weg vom Tod!

Und so bleibt er zunächst im Land der Täter, zieht von Laufen nach München, immer im Kampf gegen die schwächliche Gesundheit, aber auch gegen die ständige Erinnerung. Er nutzt seine Beziehungen und seine Stellung und arbeitet als Kurier zwischen der amerikanischen Zone und Polen. Über ein Jahr sucht er vergeblich nach seiner Mutter. Dann bei einer seiner Touren die erlösende, kaum noch erwartete Nachricht: Seine Mutter lebt, der jüngere Bruder ist zurück – auch für ihn gibt es ein »Zurück«. Ein letztes Mal wagt er den Weg über die immer dichteren Grenzen zwischen den Besatzungszonen, dann bleibt er in Polen.

Es scheint, daß er an sein früheres Leben anknüpfen kann, als er das Abitur nachholt und 1948 mit dem Philosophiestudium an der Universität von Poznan beginnt. Aber Philosophie! Fragen und Nachdenken nach dem »Woher?«, dem »Warum?«, nach »Sinn«, wie soll er das ertragen? Die »philosophischen Kollegs«, die ihm im KZ Buchenwald so wichtig waren und ihn an ein weiteres Leben glauben ließen, flieht er nun. Aber ihn hatten im Lager auch die künstlerischen Darbietungen anderer Gefangener, der Applaus, den sie dafür erhielten, sehr angesprochen. Gerne läßt er sich nun von Kommilitonen mitnehmen in ein anderes Leben, ins Theater. Und als er erstmals als Statist auf der Bühne steht und einen anderen Menschen zu verkörpern hat, da weiß er, wie sein weiterer Weg aussehen soll. Er will weg von seiner Erinnerung, in immer neue Rollen schlüpfen, aus sich heraustreten, ein anderer sein, wenigstens für Stunden.

Bei der ersten Gelegenheit kehrt er zurück zur Mutter, die wieder in ihrer Geburtsstadt Tarnow lebt, am dortigen Theater wird er Schauspielschüler. Ein neues, ein neuartiges Leben beginnt. Mit jeder Rolle, mit jedem neuen Text erobert er sich ein Stück Leben. Er taucht ein in die Welten der Literatur, entdeckt die europäische Klassik, Shakespeare und die geheimnisvollen Mythen der Antike. Und er findet ein neues Umfeld, das ihn stützt und schützt. Seine Schauspielkollegen helfen ihm, bis er 1954 als 30jähriger an seinem Ziel angelangt ist. Er hat die Prüfung zum Berufsschauspieler bestanden und kann nun an allen staatlichen und privaten Theatern arbeiten. Vor ihm liegt eine neue, scheinbar grenzenlose Welt – das Theater. Trotz seiner angeschlagenen Gesundheit, die ihn immer wieder zur Regeneration ins Sanatorium zwingt, kann er nun beständig in immer wieder neue Rollen schlüpfen. Seine Laufbahn beginnt er in Rzeszow, in Südpolen, dessen Landschaft ihn nicht mehr losläßt: Sosnowiec, Katowice, Zabrze, Bielsko, Wroclaw und schließlich Krakow. Ist es Zufall, daß er um die Stätten seiner Gefangenschaft im südlichen Polen kreist? Es scheint so, als könne er sich nicht loslösen von Auschwitz, dem ersten der Lager, wohin er aus der Gestapohaft gebracht wurde. Wo er den Vater wiedergefunden hatte und wo er mitansehen mußte, wie dieser starke Mann, der immer sein Vorbild und seine Stütze war, zugrunde gerichtet und schließlich umgebracht wurde.

Auch die letzten 10 Jahre seines Berufslebens bleibt er in Kattowice, in der Nähe »des Lagers«. So sehr ihm immer neue Rollen helfen, Abstand zu gewinnen, so sehr erweist sich die Rettung als vorläufig und trügerisch. Mitte der 70er Jahre drängen ihn die wenigen, denen er Bruchstücke aus einem »alten Leben« erzählen konnte, immer mehr: »Jemand wie du darf nicht schweigen!« Aber wie sprechen? Er wagt den letzten Schritt, er übernimmt die Rolle der Schergen. Er tritt sich selbst als der Täter gegenüber. In Robert Youngs bekanntem Film Triumph of Spirit spielt der ehemalige Auschwitz-Häftling mit dem roten Winkel des Widerstands, Nummer P 23053, den Sturmbannführer! Noch heute erinnert er sich, daß er einen deutschen Schauspieler, der einen Hauptscharführer zu spielen hatte, erst einmal richtig »ankleiden« mußte, weil der das Eiserne Kreuz auf der falschen Seite trug. Bei mehreren polnischen Filmproduktionen übernimmt er daraufhin die Rolle des »Beraters« für den Alltag im Lager, er bürgt für die authentische Inszenierung.

Tadeusz Sobolewicz ringt mit seiner Erinnerung, er stellt sich ihr, er akzeptiert, daß er sie weiterzugeben hat. Zunächst schreibt er einzelne Erinnerungen auf, die in Zeitungen veröffentlicht so viel Resonanz finden, daß er sich bald ganz dieser Aufgabe widmet. Sein letztes Engagement hat er in Katowice, wiederum im weiteren Umkreis des Lagers. Nach seiner Pensionierung 1983 vollendet er seine »Lebensgeschichten« und reicht sie beim XVI. gesamtpolnischen Wettbewerb für Erinnerungsliteratur zu Auschwitz ein. Der 1. Preis wird ihm nicht nur verliehen, weil er ein so umfangreiches Werk abliefert, sicherlich auch nicht nur auf Grund der Tatsache, daß er sechs verschiedene Konzentrationslager oder Außenlager überlebt hat. Das Besondere seines Buches liegt darin, daß der Autor zwar eine Autobiographie schreibt, aber sich in seinem Alltag immer auch von außen beobachtet und beschreibt. Von der Perspektive des neuen Lebens aus richtet er seinen Blick auf das alte und entdeckt sich dort in der Gegenwart des Lagers. Fast scheint es, daß er erst das Theater mit den verschiedenen Rollen durchlaufen mußte, bevor er sich wieder entdecken konnte, nun aber aus der Distanz, so als ob er seine eigene Rolle spielte. So ist ein persönliches Buch und eine wichtige historische Quelle entstanden.

Das Buch erscheint deswegen auch im Verlag des Staatlichen Auschwitz-Museums und erlebt schnell mehrere Auflagen. Fast unbemerkt von der deutschen Öffentlichkeit wird es 1993 in deutscher Übersetzung im gleichen Verlag veröffentlicht, zunächst aber nur in der Gedenkstätte selbst angeboten. Dort wird es zwar von tausenden Besuchern aus beiden deutschen Staaten erworben, findet aber keinen Vertrieb, weder in der DDR noch in der BRD.

Dabei verdient vor allem der letzte Teil des Werkes als historisches Zeugnis in Deutschland größte Aufmerksamkeit, weil dort ausführlich über ein Lager berichtet wird, das mit Recht das »vergessene« genannt wurde, das KZ Flossenbürg. Dieses entstand ab April 1938 als erstes Lager der »neuen Generation«, wozu später Lager wie Mauthausen oder Neuengamme zählten. In ihnen sollte die Ausschaltung aller zu Gegnern des nationalsozialistischen Staates und zur Bedrohung der arischen Rasse Erklärten ökonomisch organisiert geschehen – »Vernichtung durch Arbeit«. In den reichen Granitvorkommen an der Grenze zur tschechischen Republik, östlich der Kreisstadt Weiden in der Oberpfalz im nördlichen Bayern, entdeckten die Planer der SS den geeigneten Ort zum Aufbau einer unabhängigen Wirtschaft, deren Erlöse direkt in die Kassen der SS fließen sollten, um so auch ökonomisch ein Stück Autarkie im NS-Staat zu erlangen. Und in der Tat erwies sich dieses Kalkül als richtig. Mit der Gründung einer GmbH, der Deutsche Erd-Steine-Werke (DEST), und der Einrichtung einer eigenen Abteilung in der SS-Hauptverwaltung in Sachsenhausen, dem Wirtschafts-Verwaltungs-Hauptamt (WVHA), gelang auf der Grundlage einer fast nichts kostenden Ausbeutung der Gefangenen der allmähliche Aufbau eines Wirtschaftsimperiums der SS. Schon 1942 gehörten die Steinbrüche von Flossenbürg, in denen für die Führerbauten und die Autobahnen Werksteine produziert wurden, zu einem der lukrativsten Unternehmen. Als ab diesem Jahr die SS begann, mit ihren Gefangenen in Flossenbürg, oder in eigens errichteten Außenlagern wie in Mülsen, für die großen Rüstungskonzerne wie Messerschmitt zu produzieren, stiegen die monatlichen Überweisungen an die Kasse der SS allein für Flossenbürg bis auf über 2 Millionen RM im Monat an. Mit mehr als 100 Außenlagern in Bayern, Sachsen und der besetzten tschechischen Republik wird Flossenbürg schließlich zum viertgrößten Lager im Reichsgebiet ausgebaut. In diesem Lager gibt es keine Gaskammern; spezielle Tötungseinrichtungen erübrigen sich, denn allein durch gnadenlose Auspressung des letzten Rests von Arbeitskraft geht ein Drittel der mehr als 100 000 Gefangenen in den Arbeitskommandos des Stammlagers und in den Außenlagern sowie auf den Todesmärschen zugrunde. Nur wenige überleben nach 1942/43 die ersten Monate, jemand wie Tadeusz Sobolewicz, der über ein Jahr dort bleibt, ist die Ausnahme. Er empfindet im nachhinein das Lager im ewig kalten Waldgebirge Nordbayerns als das schlimmste. Wegen der unbeschreiblichen Bedingungen, des häufigen Austauschs der Arbeitssklaven und der willfährigen Kapos, meist ehemaligen deutschen Gefängnisinsassen, kann nur rudimentär Widerstand geleistet werden. Oft erschöpft sich dieser in der Sabotage der Rüstungsproduktion und der gegenseitigen Hilfe für den jeweils Schwächsten. Weil die Möglichkeiten der Konspiration so sehr begrenzt sind, werden sogar Gruppen politischer Gefangener aus den anderen Lagern, die geheimer Aktionen verdächtigt werden, nach Flossenbürg abgeschoben, wo man sie besser unter Kontrolle glaubt. Für sogenannte »Ehren- oder Sonderhäftlinge«, etwa den vormaligen österreichischen Bundeskanzler Schuschnigg, wird Flossenbürg als Haftlager ausgewählt. Gegen Kriegsende wird das KZ in der Oberpfalz zu einer der meistbenützten Hinrichtungsstätten, so Anfang April 1945 für einen Teil des militärischen Widerstands gegen Hitler um Admiral Canaris.

Nach der Befreiung kann sich kein schlagkräftiges Internationales Komitee gründen, wie etwa das von Dachau, das den Aufbau der dortigen Gedenkstätte durchsetzt. Obwohl die überwiegende Mehrzahl der Gefangenen aus Osteuropa und der Sowjetunion kommt, wird dort dieses Lager kaum beachtet, weil es für die eigene Legitimation ungeeignet scheint, und ebenso wie im Westen schnell vergessen. Schließlich wird nach der Umbettung tausender Toter von den einzelnen Bestattungsorten entlang der Evakuierungsmärsche in einen Randbereich des ehemaligen Lagers die so geschaffene »Grab- und Gedenkstätte Flossenbürg« von der für das KZ zuständigen »Bayerischen Schlösser- und Seenverwaltung« zu einer Parkanlage umgestaltet, in der von der Grausamkeit der »Vernichtung durch Arbeit« selbst ehemalige Häftlinge nichts mehr zu entdecken vermögen: Anstelle der Häftlingsbaracken stehen Einfamilienhäuser, die Steinbrüche werden weiterbetrieben, nicht einmal ein kleines Hinweisschild erinnert an den Tod unzähliger Häftlinge dort, die brauchbaren Gebäude wie die Küche werden als Fabrikanlagen genutzt. Im Juni 1997 fordern die Präsidenten und nationalen Sprecher der erstmals in Flossenbürg versammelten Verbände der Überlebenden die Errichtung einer Gedenkstätte, die diesen Namen auch verdient. Und tatsächlich hat nun das zuständige Kultusministerium in München einen Ausbau und eine Erweiterung zu einer eigenständigen Gedenkstätte, vor allem die Errichtung eines Forschungs- und Dokumentationszentrums zugesichert.

In das zu Flossenbürg gehörende Außenlager Mülsen (Sachsen) kam Tadeusz Sobolewicz im April 1944, in der Zeit der größten Arbeitshetze. Auschwitz, das Vernichtungslager, hatte er überlebt, das gerne zum »Arbeitslager« verniedlichte Flossenbürg und seine »Nebenstellen« erwiesen sich als keineswegs geringere Bedrohung für einen KZ-Gefangenen. Hier wurde in der Regel nicht »willkürlich« oder »sinnlos« gemordet, weil die Arbeitskraft der Sklaven optimal ausgenutzt werden sollte. Aber optimal bedeutete nicht möglichst lange, sondern möglichst intensiv und am besten ohne Kosten. Denn anders als bei Sklaven mußte die SS für »Nachschub« nicht bezahlen, konnte praktisch unbegrenzt in vielen besetzten Ländern Europas Zwangsarbeiter für die deutsche Rüstung zusammentreiben und ohne jegliche Einschränkung für das Großdeutsche Reich arbeiten lassen – bis zum eingeplanten Tod oder zur Ermordung bei der geringsten »Störung« der Produktion. Diesen täglichen Überlebenskampf bei der Arbeit, die ununterbrochene Suche nach Eßbarem für den ausgezehrten Körper der unterernährten Schwerstarbeiter, die ständige Angst vor dem Nicht-mehr-arbeiten-Können, vor der dann unvermeidlichen Aussonderung zur »Sonderbehandlung« als Kranker führt uns der Autor ungeschminkt vor Augen. Aber ebenso eindringlich beschäftigt er sich mit der Frage, wie man überhaupt gerettet werden konnte. Noch heute kennt er die Namen aller, die ihm geholfen haben, aber er vergißt auch nicht die der Peiniger und Mörder. Und so steht er auch zur Selbstjustiz an sadistischen (Häftlings-)Kapos und Mördern der SS, als die Gefangenen auf den Todesmärschen erstmals eine Waffe in die Hand bekommen und dann die »Herrenmenschen« plötzlich jammernd und um ihr Leben bettelnd angekrochen kommen sehen. Er versteht einen Befreiten, der einen Scharführer zu Tode peinigt – »Er mußte quälen, um seine Rache zu stillen.« – und fragt sich dennoch entsetzt: »Auge um Auge, Zahn um Zahn?«

 

Ein bisher singuläres und einmaliges Dokument ist die Schilderung eines der längsten und grausamsten Todesmärsche, aus dem Außenlager Colosseum in Regensburg bis fast in die Alpen, zur ominösen »Alpenfestung«, auf die noch viel zu viele der SS-Wachen und der deutschen Zivilbevölkerung 1945 setzten. Erst Anfang Mai endet im südlichen Oberbayern der Leidensweg des Tadeusz Sobolewicz.

Wann ist er zurückgekehrt? Vierzig Jahre vergehen, bis er mit seinem Buch zum KZ-Gefangenen zurückkehrt. Aber sogar 50 Jahre dauert es, bis er erstmals überhaupt etwas aus Deutschland hört, denn so lange muß er auf eine Einladung in das vergessene Lager Flossenbürg warten. Und auch von dieser erfährt er nur auf dem Umweg über Kameraden aus dem KZ Auschwitz, weil nicht der bayerische Staat den Kontakt aufnimmt, sondern ein kleiner Verein, die »Arbeitsgemeinschaft ehemaliges Konzentrationslager Flossenbürg e.V.« Seit 1995 kommt er nun regelmäßig nach Bayern, speziell an den Ort des letzten Lagers in Regensburg, liest in Schulen und in öffentlichen Veranstaltungen, oder besser: Er erzählt. Inzwischen sieht er seine Aufgabe darin, mit jungen Deutschen ins Gespräch zu kommen, dabei treten seine Erlebnisse erst einmal in den Hintergrund, er wendet sich lieber direkt an seine Zuhörer und spricht von heute, von ihrem Leben. Unmerklich lenkt er zu seinem Thema über: Wie kann man Mensch bleiben in einer menschenverachtenden Gesellschaft, in den unmenschlichen Lagern der Nazis, gegenüber Menschen, die alles Menschliche vergessen lassen? Er belehrt nicht, er schildert nur die Situationen, denen sich ein damals sechzehnjähriger Gymnasiast plötzlich ausgesetzt sah – und er bittet um Unterstützung, um zu verhindern, daß Menschen in solche Zwangslagen gebracht werden.

Bei seinem Besuch im Mai 1998 enthüllte er mit seinem Kameraden Zbigniew Kolakowski am Endpunkt des Regensburger Todesmarsches in Laufen an der Salzach eine Gedenktafel: »Ein Mensch, der vergißt, vergißt sich selbst!«

Tadeusz Sobolewicz hat mit seinem Leben und mit seinem Buch einen Weg gegen das Vergessen gezeigt.

Vorgeschichte

Das neue Schuljahr 1939/40 begann nicht planmäßig an meinem Gymnasium in Poznań (Posen). Am 1. September überfielen Hitlers Truppen Polen, und damit brachen der Frieden und die Möglichkeit der weiteren Ausbildung für mich zusammen. Damals stellte ich mir viele Fragen: War der Krieg nötig? Hatten die Polen irgend jemanden bedroht? Hatte Polen den Krieg gewollt? Waren die Polen gezwungen, sich zu verteidigen? Und noch eine Frage stellte sich mir: Wäre das deutsche Volk, wenn es im Osten von den Polen und im Westen von den Franzosen angegriffen worden wäre, auch gezwungen gewesen, sich zu verteidigen?

Hitler und die Nationalsozialisten hatten einen grausamen Krieg ausgelöst. Und jeder Krieg ist ein Unglück für alle Menschen. Ich war gerade sechzehn. Der Zweite Weltkrieg hatte begonnen. Von der Evakuierung aus Poznań waren alle Familien der polnischen Militärangehörigen betroffen. Mein Vater war Offizier. Seit Tagen war er nicht zu Hause gewesen. Wie ich später erfuhr, war er der Versorgungschef der Armee »Poznań«. Wir bekamen die Anweisung, uns bei einem großen Reisebus einzufinden.

Das Notwendigste, einige Bündel und kleine Koffer, das war alles, was wir mitnehmen konnten. Möbel, Gemälde, Teppiche, das Klavier – nahezu alles, was meine Eltern erworben hatten – mußten zurückbleiben. Wir schlossen uns den Evakuierten an. Der überfüllte Bus erreichte die Chaussee nach Osten. Das Ziel war Warschau.

Während der Fahrt wurden wir mehrmals von Tieffliegern der Luftwaffe beschossen. Trotz zahlreicher Schwierigkeiten erreichten wir schließlich das Militärdepot in Warschau, aber dort verkündeten die Sirenen gerade Fliegeralarm. Wir wurden angewiesen, uns in die Luftschutzgräben zu begeben. Dort erlebte ich zusammen mit meiner Mutter und meinem Bruder zum ersten Mal die Hölle: einen Luftangriff. Die in kurzen Abständen niedergehenden Bomben schlugen dicht neben unserem Graben ein. Sie trafen uns glücklicherweise nicht. Nur 15 bis 20 m von uns entfernt ließen sie riesige Erdfontänen aufspritzen. Mehrere Leute in anderen Gräben wurden durch Splitter verwundet, zwei junge Mädchen von hereinbrechenden Erdmassen begraben. Kaum hatten wir den Schock dieses ersten Angriffs überwunden, wurde schon der nächste Alarm gegeben. Diesmal galt es einem anderen Teil der Stadt.

Am Abend des dritten Tages bekamen wir den Befehl, die Evakuierung mit PKWs in Richtung Lublin fortzusetzen. Wir fuhren durch die Nacht hindurch. Zahlreiche Fahrzeuge fuhren in dieselbe Richtung. Am Rande der Chaussee marschierten Soldaten, die einen nach Westen, die anderen nach Osten. Von Zeit zu Zeit wurde die Straße von Zivilisten verstopft, die auf Fuhrwerken, Handwagen oder kleinen Rollwagen ihr Hab und Gut mit sich schleppten. Die Fahrzeuge fuhren mit abgedunkelten Scheinwerfern, da jederzeit ein feindlicher Fliegerangriff zu erwarten war. Im Morgengrauen tauchten zwei kleine Gruppen von Flugzeugen mit schwarzen Balkenkreuzen über uns auf und schossen auf alles, was sich auf der Straße bewegte. Alle gerieten in Panik. Unser Wagen landete durch das unter den Flüchtlingen auf der Straße ausbrechende Chaos im Graben. Als die Flugzeuge endlich verschwunden waren, gelang es uns, den Wagen auf die Straße zurückzuschieben und die Reise fortzusetzen. Wir holten die anderen Wagen ein. In Lublin erfuhr der Befehlshaber unserer Kolonne, daß wir Lwow (Lemberg) umgehen und in Richtung Tarnopol fahren sollten. Aus der Ferne hörten wir Geschützdonner. In der Nähe von Lwow sahen wir über der Stadt die riesige Rauchwolke der von Bomben getroffenen Spiritusfabrik.

Trotz unserer Erschöpfung – wir hatten fast gar nicht geschlafen – setzten wir die Fahrt fort. Auf Bemühen des Kommandeurs der Kolonne wurden wir mit Benzin versorgt. Am Abend erreichten wir Tarnopol. Es war der sechste oder siebte Kriegstag. In der Umgebung des Militärversorgungslagers wurden uns Quartiere zugewiesen. In der Stadt war es zunächst verhältnismäßig ruhig, aber um den 15. September herum erreichten uns Gerüchte, daß das Gebiet, in dem wir uns aufhielten, von den Russen besetzt werden sollte. Das klang völlig unglaublich. Meine Mutter war entsetzt. Wozu waren wir vom einen Ende des Landes zum anderen geflüchtet, wenn wir jetzt den Bolschewisten begegnen sollten?

Die Ereignisse entwickelten sich jedoch schneller als unsere Gedanken. In den Vormittagsstunden des 17. September rückten Panzer und Schützenpanzerwagen mit roten Sternen in Tarnopol ein. Auf den Straßen tauchten Soldaten in grauen Uniformen und seltsamen Spitzmützen mit fünfzackigen Sternen auf. An den Kreuzungen standen russische Militärstreifen. Von verschiedenen Seiten heranziehende Soldaten zersprengter polnischer Einheiten ergaben sich und stellten ihre Waffen zu Pyramiden auf. Dann wurden sie in unbekannter Richtung abgeführt, sicherlich zu irgendwelchen Sammelpunkten oder in Kriegsgefangenenlager.

Die Truppen der Roten Armee hatten nicht nur Tarnopol, sondern alle östlichen Wojewodschaften des polnischen Staates einschließlich Wilna und Lwow besetzt. Wir erfuhren, daß es sich dabei um eine schon früher geplante, zwischen Hitler und Stalin vereinbarte Operation handelte.

Meine Mutter war völlig niedergeschlagen. Sie beschloß, um jeden Preis nach Westen zurückzukehren. Wenn Polen schon seine Unabhängigkeit verloren hatte und okkupiert war, dann sollten wir uns in der deutschen und nicht in der russischen Besatzungszone befinden, möglichst weit weg von den östlichen Besatzern. Dafür hatte sie ihre Gründe. Nach der Mobilmachung hatte sie mit dem Vater vereinbart, daß wir im Falle einer Trennung versuchen würden, nach Tarnów, in die Geburtsstadt meiner Eltern, zu gelangen.

Ende September gelang es meiner Mutter, ein Fuhrwerk zu mieten. Züge verkehrten noch nicht. Nachdem wir das Notwendigste gepackt hatten, begaben wir uns auf den Rückzug. Unterwegs boten verlassene und zerstörte Autowracks, Geschütze, Panzer und militärische Ausrüstungsgegenstände einen traurigen Anblick. Grabhügel mit hölzernen Kreuzen kennzeichneten die letzte Ruhestätte der Gefallenen. Wir kamen nur langsam voran. Fuhrwerke wie unseres waren oft zu sehen. Auf einem solchen begegneten wir Bekannten aus der Posener Evakuierungskolonne. Weil es uns sicherer erschien, setzten wir den Weg gemeinsam fort. Von Tarnopol nach Lwow waren es etwa 120 Kilometer. Patrouillen der Roten Armee kontrollierten unsere Papiere, ließen uns aber weiterfahren.

Nach zwei Tagen und einer Nacht auf einem Bauernhof erreichten wir Lwow und fanden unsere Verwandten, die uns aufnahmen. Das Leben bei ihnen glich einem Dahinvegetieren. Aber da es keinen anderen Ausweg gab, mußten wir uns mit dem begnügen, was uns der Tag brachte. Da keine Passierscheine ausgestellt wurden, war uns der Weg nach Tarnów versperrt. Die Verhandlungen zwischen Deutschen und Russen waren noch im Gange. Man mußte eben warten.

Nicht nur wir befanden uns in dieser Zwangslage. Sehr viele Flüchtlinge, Evakuierte und ehemalige Armeeangehörige unterstanden plötzlich der Verwaltung eines anderen Staates. Lange Tage vergingen, bevor wir erfuhren, daß die russischen Kommissare in Absprache mit den deutschen Behörden all jenen die Rückkehr erlaubten, die nachweisen konnten, daß sie ihren ständigen Wohnsitz in Gebieten hatten, die dem Deutschen Reich eingegliedert waren oder sich im sogenannten Generalgouvernement befanden. Auf polnischem Boden regierten sowohl im Osten wie auch im Westen ausländische Behörden. Um einen Passierschein für den Grenzübertritt zu bekommen, mußte man bis nach Przemyśl fahren. Dort hob sich nach drei Tagen und drei Nächten endlich der Schlagbaum, und Mitte Oktober ließen uns die Deutschen in das von ihnen besetzte Gebiet.

In Tarnów, dem Ziel unserer Reise, erwartete uns ein herzliches Wiedersehen mit dem Vater. Es war ihm gelungen, der Gefangenschaft zu entgehen. Obwohl unsere Irrfahrt als Evakuierte zu Ende war, flossen bei der freudigen Begrüßung Tränen. »Wir haben kein Polen, aber wir müssen es zurückerlangen«, sagte mein Vater damals zur Mutter.

Schnell kam ich dahinter, daß mein Vater eine geheime Organisation gegen die Besatzer aufbaute. Er war ständig außer Haus und führte Gespräche mit vielen Leuten. Da er über gewisse Mittel verfügte, richtete er das Handels- und Kommissionsbüro »Okazja« (Gelegenheit) ein. Damit konnte nach außen erklärt werden, weshalb einige Personen, vorwiegend Mitglieder der Organisation, bei uns zu Hause verkehrten. Auch ich bekam die ersten Aufträge. Ich sollte die neueste Ausgabe des »Biuletyn Informacyjny« aus der Druckerei abholen und die Auflage an einen bestimmten Treffpunkt bringen. Ich brachte gefälschte Kennkarten zu Major Kosiba und holte bei dieser Gelegenheit die fertige Kennkarte für einen sich verbergenden Krakauer Offizier ab. Damals unterlagen alle ehemaligen Militärs der Meldepflicht. Diejenigen, die eine geheime, konspirative Tätigkeit in einer Militärorganisation aufnahmen, mußten deshalb ihre Identität wechseln und brauchten neue Papiere. Auf diese Weise verheimlichten sie ihren Status als Berufssoldat. Ein anderes Mal fuhr ich mit dem Fahrrad zum Försterhaus »Jodłówka« und überbrachte ein Päckchen mit zwei Pistolen.

Abb. 1

Der Verfasser im Alter von elf Jahren als Pfadfinder.

So fing es an. Dutzende, ja Hunderte von Pflichten und Befehlen. Mein Vater vereidigte neue Mitglieder der Organisation – Arbeiter, Unteroffiziere, Handwerker, Lehrer, Ärzte oder Rechtsanwälte. Dabei spielte ihre politische und weltanschauliche Überzeugung keine Rolle. Diese Leute bildeten, wie ich rasch mitbekam, das weitverzweigte Netz einer militärischen Struktur. Ihre Hauptaufgabe bestand darin, sich den Anordnungen der Besatzer zu widersetzen und das Volk allmählich auf einen bewaffneten Aufstand vorzubereiten.

Mein Vater wollte mir ein Alibi verschaffen und hatte sich deshalb darum bemüht, daß ich an dem einzigen, von den Deutschen eröffneten Handelsgymnasium aufgenommen wurde. Vormittags besuchte ich den Unterricht in Buchhaltung oder Warenkunde. Meine »Freizeit« war ausgefüllt mit Aufträgen und Befehlen des Vaters. Das wirkte sich negativ auf meine Ausbildung in der Schule aus, aber die Zeiten waren nun einmal nicht anders. Das wichtigste war die Organisation, die für Polen und die Unabhängigkeit des Landes kämpfte. Ich war stolz auf meine Rolle und auf die Aufgaben, mit denen mich mein Vater betraute. Dabei kamen mir meine Erfahrungen als Pfadfinder zustatten. Meine Aufträge führte ich einwandfrei aus. Meine Mutter war ebenfalls restlos der Sache ergeben. Wie hätte es auch anders sein können.

Um die Spitzel und Zuträger der Gestapo in die Irre zu führen, löste mein Vater nach einiger Zeit das Handelsbüro auf und zog mit uns in ein kleines Vorstadthäuschen. Der Umzug war vergeblich: Anfang September 1940 wurde unser Haus von der Gestapo umzingelt. Nach einem kurzen Hin und Her an der Haustür gelang es dem Vater, die Aufmerksamkeit der Geheimagenten abzulenken. Er befahl mir, durch das Fenster auszureißen. Für einen Augenblick ging im ganzen Haus das Licht aus. Trotz großer Angst sprang ich in die ringsum herrschende Finsternis. Als ich auf dem Boden gelandet war, rannte ich, so schnell ich konnte, durch die Büsche und Beete des Gartens.

Nachdem die Gestapobeamten in das Haus eingedrungen waren, ging das Licht wieder an. Sie schossen uns nach, aber ich war schon weit genug fort, so daß die Kugeln mich nicht mehr erreichen konnten. Auch dem Vater gelang die Flucht. Meine Mutter jedoch wurde von der Gestapo verhaftet und mußte meinen jüngeren Bruder einem ungewissen Schicksal überlassen.

Dank der konspirativen Kontakte konnte ich mich etwa vier Monate lang versteckt halten. Ich wechselte meist nach drei bis fünf Tagen den Zufluchtsort. Kurze Zeit blieb ich direkt in Tarnów. Längere Zeit hielt ich mich unter anderem Namen bei einer Schwester meines Vaters in dem kleinen ländlichen Ort Radgoszcz auf. Aber auch dort war ich nicht sicher. Nach einiger Zeit holte mich mein Vater in die Stadt Czȩstochowa. Dort setzte er unter fremdem Namen seine Untergrundtätigkeit fort. Ich wohnte mit ihm zusammen und bekam wiederum einen anderen Namen und neue Papiere. Ich war ein »Illegaler«, ein sich vor der Gestapo versteckender Mensch. Damals stellte ich mir zum ersten Mal die Frage, ob ich mein ganzes weiteres Leben ständig auf der Flucht sein würde und mich verstecken müßte. Ich war mir nicht klar darüber, daß dies erst der Anfang der Kriegswirren war. Um nicht zur Zwangsarbeit ins Reich verschleppt zu werden, besorgte mir mein Vater über seine konspirativen Beziehungen eine Beschäftigung im Lebensmittelgeschäft einer Genossenschaft. Als Verkäufer nahm ich weiterhin von Zeit zu Zeit verschiedene Meldungen und Sendungen der Organisation entgegen, die ich dann an den Vater oder später an bestimmte Mitglieder der Organisation weitergab.

Die Arbeit im Laden war schwer und erforderte körperliche Kraft. Man mußte Säcke mit Mehl, Grütze oder Zucker schleppen und stapeln. Das Auswiegen und Abpacken gehörte zu den weiteren Arbeitsschritten. Das Geschäft hatte jenen Teil der Bevölkerung zu versorgen, der sogenannte Schwerstarbeiterkarten bekam. Den Inhabern dieser Karten standen zusätzliche Lebensmittelrationen zu, denn die Besatzer vertraten den Grundsatz: »Wer arbeitet, soll auch essen.«

Langsam gewöhnte ich mich an meinen neuen Namen. Zu jener Zeit freundete ich mich mit Andrzej, dem Sohn von Oberst Stypulkowski an. Unter dem Decknamen »Chudy« (der Dünne) tauchte Oberst Stypulkowski häufig zu Beratungen bei meinem Vater auf. Andrzej arbeitete ebenfalls in der Genossenschaft, aber in einer anderen Abteilung. Unsere kärgliche Freizeit verbrachten wir zusammen. Bei ihm und bei mir hatte der Krieg die Ausbildung unterbrochen, und als Gleichaltrige bewegten uns viele gemeinsame Themen. Wir trafen uns auch mit dem etwas älteren Jurek Bogobowicz, der uns gewissermaßen betreute. Unser Anteil an der konspirativen Arbeit war damals zweitrangig, aber trotzdem betrachteten wir uns als Soldaten und führten kleine Aufgaben und Befehle aus.

Zu den Personen, die in unsere Wohnung kamen, gehörten zwei Melderinnen, die Schwestern Wyrzykowska. Von Zeit zu Zeit tauchten die Offiziere Jȩdrysik, Michniewski und Kwiatkowski mit Meldungen bei uns auf. Welche Aufgaben sie hatten, wußte ich nicht, denn mein Vater weihte mich nicht ein. Ich konnte es mir nur denken. Und das war richtig so. Es war überhaupt besser, so wenig wie möglich zu wissen, weil stets die Möglichkeit bestand, daß jemand aufflog.

Eines Tages erklärte mir mein Vater überraschend, daß er aus konspirativen und organisatorischen Gründen nach Radom versetzt würde. Er löste die Wohnung auf und brachte mich bei einem Unteroffizier des Infanterieregiments Czȩstochowa, dem Oberfeldwebel Madaliński, unter. Der Wechsel hatte für mich auch eine gute Seite, denn Madaliński arbeitete im selben Laden wie ich. Auf diese Weise lernte ich seine Familie näher kennen. Seine Frau und die drei Kinder, alle jünger als ich, waren gastfreundlich und herzlich zu mir. Es war zwar nicht mein Elternhaus, aber ich befand mich in einer Familie. Offensichtlich war es mir vom Schicksal beschieden, daß ich ständig unter einem anderen Dach schlafen mußte, und daß mir an jeder neuen Heimstatt Herzlichkeit und Wärme entgegengebracht wurden.

Von Jurek, den ich auf der Straße traf, erfuhr ich, daß man Stanislaw Bzowski verhaftet hatte. Er war der Sohn von Wanda Bzowska, Deckname »Babcia« (Großmutter), die mich auf der Fahrt von Krakau nach Czȩstochowa beschützt hatte. Auch Herr Jȩdrysik war verhaftet worden. Vorübergehend wurden alle Kontakte eingestellt. Ich wurde angewiesen, keinerlei Verbindung aufzunehmen. Man mußte doppelt wachsam jeden Schritt kontrollieren, um nicht der Gestapo in der Kilińskiego-Straße in die Hände zu fallen. Dort befand sich die berüchtigte Folterstätte, in der alle der konspirativen Tätigkeit Verdächtigen verhört und gepeinigt wurden. Ich hörte also auf, aktives Mitglied der Organisation zu sein. Verbindungsleute meldeten sich nicht mehr in dem Laden, in dem ich arbeitete. Eines Tages wurde ich an eine andere Arbeitsstelle versetzt. Dort war ich mit der Verteilung von Kohlen und Kartoffeln beschäftigt.

Unerwartet bekam ich über einen Verbindungsmann meines Vaters einen Brief und darin einen Kassiber von der Mutter aus dem Gefängnis. In dem Umschlag steckte auch ein Rosenkranz aus Brotkrumen. Ich war erschüttert. So lange hatten wir keine Nachricht gehabt, und nun konnte ich die Zeilen direkt von ihr lesen. Aus ihrem Herzen sprachen Unruhe und Befürchtungen um mich. Ich las den Brief viele Male. Mir kamen die Tränen, aber ich durfte nicht schwach sein. Mühsam biß ich die Zähne zusammen, als sie erwähnte, sie werde wahrscheinlich in das Konzentrationslager Ravensbrück überstellt. Ich hatte keine Ahnung, daß es irgendwo in der Umgebung von Berlin dieses Frauenkonzentrationslager gab.

Eine Woche später rief mich mein Vater nach Radom. Er war sehr besorgt über die neue Situation der Mutter. Er berichtete auch von weiteren Verhaftungen und Erschießungen vieler guter, der Sache Polens ergebener Leute durch die Nazis und von den Siegen Hitlers auf dem Balkan. Trotzdem glaubte er fest daran, daß die Nationalsozialisten am Ende zu Fall kommen würden. Immer mehr unterworfene Länder müßten durch Truppen besetzt gehalten werden, und das werde zur Niederlage der Besatzer führen.

Als wir uns verabschiedeten, warnte er mich, ich solle vorsichtig sein und mich nicht durch die allgegenwärtigen Spitzel der Gestapo provozieren lassen: »Wir brauchen viel Mut und Ausdauer, um all das zu ertragen und vor allem, um zu überleben.« Ich kehrte nach Czȩstochowa zurück, aber mir war sehr traurig zumute. Ich hatte begriffen, daß der Mensch bei jedem Kampf um eine gerechte Sache vor allem auf sich selbst gestellt ist.

Einige Tage nach dem Treffen mit meinem Vater überfielen die Nazis die Sowjetunion. Die Zeitungen und Bekanntmachungen der Besatzer berichteten von gewaltigen, Epoche machenden Siegen Großdeutschlands. Ich war niedergeschlagen und verzweifelt. Sollte niemand imstande sein, die Faschisten zu bezwingen? Würde es Polen niemals mehr geben? – Nein, das war unmöglich! Man mußte durchhalten, sagte ich mir.

Andrzej, den ich zufällig auf der Straße traf, meinte auch: »Die Deutschen haben jetzt überall Fronten, im Westen und im Osten, im Norden und im Süden. Früher oder später ersticken sie daran. Du wirst es sehen!« Beim Abschied flüsterte er mir zu: »Paß auf dich auf! Sie haben diese Schwarzhaarige, na diese Wyrzykowska, mit ›Bulletins‹ geschnappt. Bei diesen Weibern kann man nie wissen. Halt die Ohren steif!«

Ich konnte die rasch eintretenden Ereignisse nicht ganz überblicken. Ich fühlte mich irgendwie verloren im Durcheinander des Krieges. Hoffnung und Glaube kehrten nur dann zurück, wenn ich mich nach der Arbeit in die Pflichtlektüre des Gymnasiums, in die Werke von Reymont, Zeromski, Prus und Orzeszkowa vertiefte. Und in der bescheidenen Bibliothek meines Gastgebers gab es ziemlich viele dieser Bücher. Über eines wurde ich mir klar. Man durfte nicht verzweifeln. Nichts fällt einem in den Schoß. Bedeutende Ereignisse, geschichtliche Umwälzungen und Veränderungen vollziehen sich stets erst nach langen, anstrengenden, ausdauernden Bemühungen. Mit Ideen allein erlöst man die Welt nicht.

Ich erlebte eine weitere Katastrophe meines Vaterlandes mit, aber das bedeutete keineswegs, daß es Polen und die Polen nicht gab. Man mußte weitermachen, der Organisation helfen, wenn die Zeit da war. Und vorläufig durfte man nicht vergessen, daß man nur dann nützlich sein konnte, wenn man lebte. So überzeugte ich mich selbst, um Glauben und Hoffnung nicht zu verlieren, um nicht in Zweifel und Depression zu verfallen.

Zawodzie

Ende August 1941 bekam ich durch einen vertrauenswürdigen Menschen einen Brief vom Vater sowie mehrere Aufträge der Organisation. Ich sollte an drei verhaftete Mitglieder Päckchen ins Gefängnis in Zawodzie weiterleiten. Die Namen waren im Brief angegeben. Ich wußte also, um wen es ging. Im Gefängnis wurde mir klar, wie wenig man für andere tun konnte. Ich mußte in einer Menschenschlange warten, um die Päckchen abgeben zu können. Dabei lauschte ich den Gesprächen der Wartenden. Ringsum herrschte eine Atmosphäre des Mißtrauens, des Terrors und der Furcht. Eine ganze Reihe von Leuten hatte Angst, den Häftlingen irgendwie zu helfen. Man wollte nicht in den Verdacht geraten, jene Mitbürger zu kennen oder in Verbindung mit ihnen zu stehen, deren weiteres Schicksal ungewiß war.

Vielleicht war es gut, daß mein Vater mich ausgesucht hatte, um diese Päckchen abzuliefern. Die Verhafteten hatten keine Möglichkeit, sich mit ihren Familien in Verbindung zu setzen. Sie stammten aus jenem Teil Wielkopolskas (Großpolens), den die Nazis in Warthegau umbenannt und dem Reich eingegliedert hatten. Sie saßen schon über ein halbes Jahr im Gefängnis. Diese symbolischen Päckchen konnten ihnen nur für kurze Zeit Zuversicht und Hoffnung verleihen und ihnen zeigen, daß es in der Organisation Leute gab, die sie nicht vergessen hatten. Aber würde jemand erneut Päckchen abgeben und ihnen helfen, durchzuhalten? Würden jene das noch brauchen? Ich hatte meine Pflicht erfüllt.

 

Der nächste Tag war der erste September. Wie seit Wochen begab ich mich zu meiner Arbeitsstelle in der Genossenschaft. Ich arbeitete in einer Holzbude in der Nähe der Waage. Aufmerksam und genau notierte ich die Menge der gewogenen Kartoffeln auf der Waage, zog das Verpackungsgewicht ab und trug dann den Endstand in das Auslieferungsbuch des Lagers ein. Gegen Mittag kam mein älterer Kollege, der außen die Waage und das Ladegut kontrollierte, in die Bude und sagte sehr verlegen: »Irgendwelche Herren suchen dich und wollen mit dir sprechen.«

Durch das kleine Fensterchen erblickte ich zwei ziemlich hochgewachsene Uniformierte und einen Zivilisten mit Hut, die Herr Karwat, der Direktor der Genossenschaft, persönlich zur Bude führte. Mein Herz begann wie wild zu schlagen. In welche Richtung sollte ich ausreißen? Ich stand in der Tür. Die Fremden waren schon ganz nah. Da haben sie mich also doch erwischt, dachte ich. Ich sah, daß die beiden Uniformierten runde Offiziersmützen mit schwarzem Mützenband trugen; und in der Mitte … ein Totenkopf. Gestapo! Ich hatte keine Zweifel mehr.

Einer von ihnen wandte sich in akzentfreiem Polnisch an mich: »Sie sind also Herr Sobolewicz.« In seiner Stimme schwang gleichsam Verwunderung mit. »Ja«, antwortete ich, und er wiederholte: »Tadeusz Sobolewicz, nicht wahr?« »Das stimmt«, gab ich zurück. »Sie kommen mit«, warf der zweite – in minder höflichem Ton – ein. Unterdessen betrat der bebrillte Zivilist die Bude, sah sich um, murmelte dem Direktor, der wie eine Salzsäule dastand, so etwas wie ein »Heil Hitler!« zu und kam uns nach.

Auf der Straße stand ein Auto. Sie befahlen mir, mich zwischen sie auf den Rücksitz zu setzen. Der zweite Uniformierte setzte sich ans Steuer. Der Wagen fuhr an. Derjenige, der Polnisch sprach, wandte sich an mich: »Wenn du die Wahrheit sagst, ist alles in Ordnung, und du kehrst zur Arbeit zurück. Wann bist du geboren?« Jetzt siezte er mich nicht mehr. Er war sich bewußt geworden, daß ich noch ein unreifes junges Bürschchen war. Mein Aussehen bestätigte das. »Am 25. März 1923«, antwortete ich in Übereinstimmung mit der Kennkarte. »Wo geboren?« – »In Lemberg.« – »Wo wohnst du?« lautete die nächste Frage. »In der Kilińskiego-Straße.« – »Na, das ist gut! Dann wirst du jetzt länger dort wohnen«, warf der in Zivil auf dem Vordersitz höhnisch ein. »Hausnummer?« fragte der andere. »154.« – »In Ordnung. Vorerst reicht’s!«

Das Auto hielt vor der Nummer 10 in der Kiliłńskiego-Straße. Der Fahrer hupte, und ein Posten öffnete das Einfahrtstor. Auf dem Hof befahlen sie mir auszusteigen. Einer führte mich in den Keller. Er öffnete eine Tür, befahl mir hineinzugehen und schloß gleich hinter mir ab. Ein kaum wahrnehmbarer Lichtschein fiel von einem hoch angebrachten vergitterten Fenster herab.

Die Zelle war sauber, glatt betoniert, ohne jede Einrichtung. Dort gab es buchstäblich nichts, nur saubere, weißgetünchte Wände. Als ich mich – in dem kärglich einfallenden Licht – an diesem Weiß sattgesehen hatte, vernahm ich plötzlich ein Stöhnen. Ich erstarrte. Nach einer Weile wiederholte sich das Stöhnen. Es kam aus der Nachbarzelle. Und wieder hörte ich es. Es war etwas schwächer geworden. Dann vernahm ich aus der Ferne plötzlich das Knarren der Eingangstür zum Keller und gleich darauf das Gebrüll eines Deutschen: »Du polnischer Bandit! Du wirst hier verrecken, verfluchtes Schwein!« Ich hörte einen Stoß oder Schlag, und dann so etwas wie das Geräusch eines hinfallenden Körpers. Wiederum drehte sich der Schlüssel im Schloß der Nachbarzelle. Schritte. Und Stille.

Ich begann mir Gedanken über meine Lage zu machen und wurde plötzlich von entsetzlicher Angst ergriffen. Um Gottes willen! Ich hatte schließlich den Brief des Vaters mit seiner Geheimadresse und ein zehn Tage altes »Biuletyn Informacyjny« bei mir! Heilige Jungfrau Maria! Welch ein Glück, daß sie mich nicht durchsucht hatten! Vielleicht aus Versehen? Sie hatten es eilig gehabt. Sollte sie mein harmloses Aussehen genarrt haben? Oder sollte das eine Falle sein? Vielleicht beobachtete mich jemand vom Flur aus? Vielleicht belauschten sie mich in der Zelle?

Meine Phantasie begann zu funktionieren. Ich befühlte mit der Hand die hintere Hosentasche. Der Brief war da. In den anderen Taschen entdeckte ich einige Zigaretten und Streichhölzer. Doch wie sollte ich den Brief verbrennen, ohne Spuren zu hinterlassen? Ich steckte zunächst den Umschlag, dann den Brief und das »Blatt« in Brand. Die verkohlten Überreste versteckte ich in meinem Schuh. Ich hatte Angst, irgendeine Spur in der Zelle zu hinterlassen. Brandgeruch und etwas Rauch hingen weiterhin in der Luft. Hoffentlich kamen sie nicht gerade jetzt! Ich atmete auf. – Wenn sie diese Papiere bei mir gefunden hätten, hätte das riskant werden können.

Der verbrannte Brief und das Bewußtsein, daß ich keinerlei belastenden Beweis für meine Tätigkeit in der Organisation mehr bei mir hatte, beruhigten mich etwas. Innerlich war ich bereit, alle Anschuldigungen abzuleugnen. Ich würde nichts zugeben. Übrigens wußte ich ja nicht einmal, worum es ihnen ging. Vielleicht war es ja ein Irrtum. Irgend etwas mußten sie haben. Aber was? Was wußten sie? Wahrscheinlich ging es nicht um die Flucht aus Tarnów, denn dann hätten sie anders mit mir geredet! Seitdem war genau ein Jahr vergangen. Immer am 1. September passierte mir etwas! Ein Pechtag für mich, dieser 1. September. Damals war ich entkommen. Aber jetzt war eine Flucht aus dem verschlossenen Keller vollkommen unmöglich. Was mit mir geschehen würde, hing vom Verhör ab.

Ich befand mich in den Fängen der Gestapo, und das bedeutete ein ungewisses weiteres Schicksal. Die in mir aufkommende Furcht steigerte sich, je mehr Zeit ich in diesem Keller verbrachte. Auf der Uhr, die man mir nicht abgenommen hatte, rückten die Zeiger Stunde um Stunde vorwärts.

Gegen sechs Uhr abends hörte ich auf dem Flur Geräusche. Gleich darauf öffnete sich die Tür meiner Zelle und das Licht ging an. »Raustreten!« Nur das eine Wort aus dem Mund eines Gestapo-Mannes. Gehorsam verließ ich die Zelle. »Vorwärts«, befahl der Mann und stieß mich mit seinem Schlüsselbund in den Rücken. Auf dem Hof stand ein größerer Lieferwagen und daneben zwei weitere Gestapo-Leute. Sie befahlen mir einzusteigen. Im Wagen saßen mehrere Häftlinge auf niedrigen Bänken. Es waren ungefähr zehn. Ich muß sehr kümmerlich ausgesehen haben, denn einer von ihnen, ein älterer Mann, meinte: »Jetzt verhaften sie sogar schon Kinder.« Und er nickte mitfühlend. Ich erzählte niemandem, daß ich bereits siebzehn war. Es ist sogar gut, daß ich jünger aussehe – dachte ich mir.

Als sich die drei Gestapo-Posten mit entsicherter Waffe im Wagen niedergelassen hatten, fuhren wir los. Es gab keine Fenster. Wir sahen nicht, wohin man uns brachte. Von den anderen Untersuchungshäftlingen im Wagen kannte ich niemanden. Es dauerte nicht lange, und nach einigem Auf und Ab hielt der Wagen an. Die Posten öffneten die Tür und befahlen uns auszusteigen. Es zeigte sich, daß wir uns im Gefängnis in Zawodzie, einem Stadtteil von Częstochowa, befanden.

Uns wurde befohlen, nacheinander an einen Tisch zu treten, an dem zwei Posten unsere Personalien aufnahmen. Eine dritte Person hieß uns, die Taschen auszuleeren, Gürtel, Uhr, Geld und andere Kleinigkeiten abzugeben. Gut, daß ich die Papiere verbrannt hatte. Ich war so von den Formalitäten in Anspruch genommen und von Furcht erfüllt, daß ich das, was man mir befahl, fast automatisch ausführte. Nachdem unsere Aufnahme ins Gefängnis abgeschlossen war, wiesen uns die Gestapo-Leute an, ihnen über die Flure ins Obergeschoß zu folgen.

Damals erblickte ich zum ersten Mal ein Gefängnis von innen. Links und rechts der Wandgänge sah man lange Reihen einheitlicher Türen, gekennzeichnet durch Nummern. Es war wohl im zweiten Stock, wo in einer gesonderten Abteilung ein anderer Gestapo-Mann und ein Wärter vor uns auftauchten. Sie quittierten, daß sie uns von den ersten beiden übernommen hatten, und brachten uns der Reihe nach in den Zellen unter. Ich kam in die Zelle Nr. 37. Sie war nicht größer als etwa 5 × 3 Meter. Darin befanden sich 16 Häftlinge. Ich war der siebzehnte. Zellenältester war, wie sich später herausstellte, der Oberfeldwebel des polnischen Heeres Stanislaw Sukiennik.

Über meine Einweisung war man nicht gerade erfreut. In der Zelle gab es nur ein paar Strohsäcke und Decken. Jeder zusätzliche Häftling schmälerte den sowieso schon engen Platz zum Schlafen. Sukiennik fragte, weshalb man mich, einen so jungen Burschen, hier eingesperrt habe. Ich antwortete, daß ich es nicht wisse, daß es vielleicht ein Irrtum sei. Voller Verständnis nahm er meine Erklärung zur Kenntnis. Die anderen waren offensichtlich mit ihren eigenen Sorgen beschäftigt. Jeder hatte irgend etwas auf dem Gewissen, sprach aber nicht gern davon – sei es die Zugehörigkeit zu einer Organisation, sei es eine unbedachte Äußerung, sei es illegaler Handel oder sei es am Ende das am häufigsten anzutreffende Vergehen »Lesen verbotener Zeitungen« bzw. »illegales Rundfunkhören«.

All diese »Verbrechen« genügten, um ins Gefängnis zu geraten. Für mich waren die Festnahme und die Berührung mit dem Gefängnis ein Schock. Ich wußte nicht, wie ich mich verhalten, was ich tun, was ich sagen sollte. Ob ich überhaupt reden sollte. Ich hatte lange genug alles mögliche über die Gestapo mitangehört. Was mich erwartete und was mit mir geschehen würde, das entzog sich meinem Willen. Ich hatte aufgehört, ein freier Mensch zu sein. Von den Mithäftlingen erfuhr ich, daß ich mich in der Abteilung für politische Gefangene befand.

In der Zelle war es stickig, und das Fenster wurde nachts geschlossen. Die ersten Nächte kamen mir entsetzlich vor. Wenn man sich auf die andere Seite drehen wollte, störte man den Nachbarn, so eng war es. Die Nachbarn rechts und links wachten oft auf. Auch ich wurde wach. Nachher konnte man nur schwer wieder einschlafen. Ich lauschte dann den ungleichmäßigen Atemzügen meiner Unglücksgefährten, ihrem Schnarchen, ihrem Stöhnen, ihren Seufzern. In Gedanken floh ich in die Freiheit. Immer wieder fragte ich mich, wie es dem Vater gehen mochte. Wann würde er von meiner Verhaftung erfahren? Wer würde ihm diese Nachricht überbringen? Die Mutter im Lager, und jetzt hatten sie mich geschnappt. Weshalb hatten sie mich verhaftet?

Ich stellte mir unablässig Fragen. Was wußten sie, und um welche Informationen mochte es ihnen gehen? Mit wem sollte ich meine Festnahme in Verbindung bringen? Auf die Antwort mußte ich noch warten. Vorerst verbrachte ich Tag um Tag in der Zelle. Eigentlich sah ein Tag wie der andere aus: morgens das Wecken und das Hinaustragen des »Kübels« aus der Zellenecke, in der die Häftlinge den ganzen Tag über und die Nacht hindurch ihr Bedürfnis erledigten. Dann folgte der Gang zum Waschraum und das Waschen selbst, soweit man es überhaupt Waschen nennen konnte. Eher ein Besprenkeln des Gesichts und ein kurzes Abspülen der Hände. Danach ging es zurück in die Zelle. Nach einer Weile bekamen wir »Tee«, irgendein dunkles, ins Kochgeschirr gefülltes Gebräu, und dazu ein dünnes Stück Brot. Mittags gab es »Suppe«, zerkochte Kartoffeln und Rüben in einer Knochenbrühe; Fleisch bekam ich die ganze Zeit hindurch kein einziges Mal zu sehen. Abends tranken wir dasselbe wie morgens – das Gebräu und ein Kanten Brot. Bei jedem Öffnen der Zelle war Sukiennik verpflichtet, den Stand der Belegung zu melden und zu berichten, ob alles in Ordnung sei. Die einzige »Abwechslung« der Zellenbewohner bestand darin, daß man zum Verhör gerufen wurde.

Meistens gegen acht Uhr morgens rief der Gestapo-Diensthabende bestimmte Personen aus den Zellen heraus. Sie wurden dann mit dem Auto in die Gestapo-Zentrale in der Kilińskiego-Straße gebracht. Im Laufe der ersten zwei Wochen meines Gefängnisaufenthalts wurde kein Häftling meiner Zelle zum Verhör abgeholt. Wir waren alle erregt, als zum ersten Mal der Name eines Zellenkameraden aufgerufen wurde. Man hatte uns nicht vergessen. Zum Verhör ging ein kleiner, ruhiger, phlegmatischer Mann aus der Umgebung von Radomsko, von Beruf war er Tischler. Er gab zu, verbotene »Blätter« gelesen zu haben. Seine Sache schien nicht sonderlich schwerwiegend zu sein. Nachmittags wurde er zurückgebracht. Die Kalfaktoren mußten ihn buchstäblich hereintragen. Sein Gesicht war nicht wiederzuerkennen. Er hatte am ganzen Körper gelbblau unterlaufene Flecke und Blutergüsse. Er atmete nur mühsam. Seine Zellenkameraden legten ihn auf einen Strohsack, obwohl das am Tage verboten war.

Am nächsten Tag wurde Rechtsanwalt Lipiński aufgerufen, ein sehr sympathischer, fast immer fröhlicher Herr. Er kam früher zurück, ungefähr gegen Mittag. Auch ihn hatte man verprügelt. Sie hatten ihm »nur« zwei Zähne ausgeschlagen und ihn ordentlich durchgewalkt. Das Lächeln war aus seinem Gesicht verschwunden. In der Nacht stöhnte er vor Schmerzen. Am nächsten Tag wurde wieder der Tischler gerufen. Er konnte kaum gehen. Er wurde zum Verhör abgeholt und kam bis zum Abend nicht zurück. In der Zelle gab es zwei Lehrer, Szprynger und Wieczorkowski. Szprynger wurde eines Tages aufgerufen, und auch er kam nicht mehr zurück. Von den Kalfaktoren erfuhren wir, daß man ihn nach Auschwitz ins Lager geschickt hatte. Sein Verfahren war abgeschlossen. Er meinte, daß das Lager ein besserer Ausweg sei als der weitere Verbleib im Gefängnis, wo er schon fast ein halbes Jahr saß. Er hatte jedoch große Angst davor, daß man ihn letztlich doch noch der Gruppe der zur Erschießung Bestimmten zuteilen werde.

In gewissen Zeitabständen wurden aus den Häftlingen, die ihre Verhöre bereits hinter sich hatten, Gruppen zusammengestellt, die ohne Gerichtsverfahren zum Tode verurteilt wurden. Aus der Nebenzelle hatte man vor einigen Tagen sieben Männer zur Erschießung abgeholt.

Die ständig zunehmende Spannung bewirkte, daß man in Gedanken immer mehr von der Frage gepeinigt wurde, was der kommende Tag bringen würde. Das war einfach nicht zu ertragen. Der eingesperrte, seiner Freiheit beraubte Mensch unterliegt früher oder später einer gewissen inneren Verzweiflung. Möge kommen, was da will, wenn man nur nicht länger auf diesen 15 Quadratmetern mit den fremden Menschen und dem Kübel in der Ecke ausharren muß. Aber die Häscher wußten bestens darüber Bescheid. Einen erschöpften, verzweifelten Häftling konnte man beim Verhör leichter zum Aufgeben zwingen. Die dritte Woche meines Aufenthalts in der Zelle ging zu Ende. Eines Tages bat ich meine Leidensgenossen, sie möchten mir erlauben, in der Zelle gymnastische Übungen zu betreiben. Ich wollte nicht in Zweifel verfallen und nicht schwach sein, wenn sie mich zum Verhör holten. Ich brauchte Bewegung, irgendwelche Bewegung. Andere folgten meinem Beispiel. Nur Sukiennik hielt an der Tür Wache. Leibesübungen waren in der Zelle untersagt. Um die beunruhigenden Gedanken irgendwie abzulenken, sprach Wieczorkowski laut über Literatur, über das Schaffen von Mickiewicz und dann über Zeromski. Das Thema interessierte nicht alle gleichermaßen, aber sie hörten zu. Der Zweck an sich war, abgelenkt zu werden und wenigstens eine kurze Zeit nicht an die eigene Situation zu denken. Eines Tages wurden zwei neue Häftlinge in unsere Zelle gestoßen, der Lehrer Rychlewski und der Schlosser Szulakowski. Wiederum wurde es enger, aber da half eben nichts.

Und dann kam schließlich der Tag, an dem morgens mein Name aufgerufen wurde. Ein Krampf verschlug mir den Atem. Diese verfluchte Ungewißheit! Was würde mit mir geschehen? Sukiennik und Wieczorkowski drückten mir die Hände. Halt dich tapfer – las ich in ihren Augen. Ich ging auf den Flur und dann auf den Gefängnishof. Im PKW befanden sich zwei weitere, mit Handschellen gefesselte Häftlinge. Die Gestapo-Leute stiegen zu, der Wagen fuhr an. An diesem Tag schien die Sonne. Es war Oktober, Herbstbeginn. Das Verlassen der Zelle und die frische Luft berauschten mich. Irgend etwas dröhnte im Kopf, in den Ohren vernahm ich ein angenehmes Rauschen. Durch die Wagenscheibe sah ich in Freiheit herumspazierende Menschen.

Eilig strebten sie irgendwohin, mit Taschen, Aktentaschen, Einkaufsnetzen. In den Alleen liefen Kinder zwischen den Bäumen herum. Ältere Herren führten ihre Hunde aus. Plötzlich nahm ich mit entsetzlicher Klarheit die Vielfarbigkeit der Kleidung wahr, die die von mir betrachteten Leute trugen. Die fröhlichen, hellen Farben fesselten meinen Blick; wahrscheinlich, weil im Gefängnis alles irgendwie grau, dunkel und trübselig war. Noch irgendeine junge Frau mit einem Kinderwagen, dann eine Kirche mit mehreren Türmchen … und eine scharfe Kurve. Das Auto fuhr an dem mir bekannten Tor vor, wir wurden auf den Hof gelassen. Der Film von der Freiheit war zu Ende. »Raus!« Dieser Befehl verhieß nichts Gutes.

Ich stieg aus. Die beiden mit Handschellen Gefesselten wurden in den Keller gebracht. Mir befahl man, nach oben zu gehen. Im dritten Stock befahl mir der Gestapo-Begleiter stehenzubleiben. Er klopfte an eine der Türen, und nachdem von innen die Antwort gekommen war, führte er mich in ein Zimmer. Ein Zivilist in mittleren Jahren saß an einem Schreibtisch. Es war derjenige, der bei meiner Festnahme dabeigewesen war. Neben ihm stand ein Gestapo-Mann in Uniform: »Hinsetzen«, er deutete auf einen Stuhl.