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Heinz Spielmann

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Beschreibung

Im Frühjahr 1949 kaufte der Primaner Heinz Spielmann für den Gegenwert von 4,50 DM und einigen Kilogramm Altpapier das Buch Die Kunst der letzten dreißig Jahre mit Vorlesungen Max Sauerlandts aus dem Sommer 1933. Mit dieser Episode beginnt der »Museumsmann« Heinz Spielmann die Erzählung seines Lebens, die durch die Begegnung mit namhaften Künstlern geprägt ist. Er erzählt, wie er zur Kunst gekommen ist, von seinen Bekanntschaften mit Künstlern, aus denen so manche Freundschaft entstanden ist: Henry Moore, Oskar Kokoschka, HAP Grieshaber, Mies van der Rohe, Alberto Giacometti, Jan Bontjes van Beek, Horst Janssen und viele, viele mehr. Mit dem Blick eines Menschen, von dem Kokoschka sagte, er zeichne ihn mit den Augen als Lokomotive, entsteht vor dem Leser ein umfassendes, in mancher Hinsicht vom Gewohnten abweichendes Panorama der Kunst seiner Lebenszeit. »Die Begegnung mit Künstlern wurde mir seit Mitte des Jahrhunderts zur ständigen Bereicherung«, schreibt Heinz Spielmann. Davon erzählt dieses Buch.

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Heinz Spielmann

Aus der Nähe

Heinz Spielmann

AUS DER NÄHE

Mein Leben mit Künstlern1950 – 2000

Geschichten für Hans und Henri

Oskar Kokoschka, Heinz Spielmann, Kreidezeichnung, 1. 7. 1976

Verlag und Autor danken einem ungenannten Förderer vielmals für seine Unterstützung dieser Publikation.

© 2014 Wachholtz Verlag – Murmann Publishers, Neumünster / Hamburg

Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Lektorat: Werner Irro, Hamburg

Umschlaggestaltung: Wiebke Buckow, Jesteburg

Satz: Das Herstellungsbüro, Hamburg

ISBN 978-3-529-09213-8

Besuchen Sie uns im Internet:

www.wachholtz-verlag.de

Inhalt

Frühe Begeisterung

Emil Schumacher

Willi Baumeister

Henry Moore

Ludwig Mies van der Rohe

Alberto Giacometti

Ernst Wilhelm Nay

Stuttgarter Bohème

Max Bill

Jan Bontjes van Beek

Erich Heckel und Karl Schmidt-Rottluff

Oskar Kokoschka

Meine erste Kokoschka-Ausstellung – Der Gobelin »Die Zauberflöte«, Portraits und Druckgraphik der sechziger Jahre – Die Fächer für Alma Mahler – Das Adenauer-Portrait, Ansichten von New York, London und Berlin, die graphischen Zyklen »Frösche« und »Penthesilea« – Die Mosaiken, Israel und Golda Meir – »Comenius«: Lithographien zu den »Troerinnen« – Letzte Gemälde, Lithographien und Zeichnungen

HAP Grieshaber

Max Ernst

Töpfer in Europa und Japan

Antoni Cumella – Bernard Leach und seine Nachfolger – Lucie Rie, Hans Coper, Ruth Duckworth – Gilbert Portanier – Nihon Yakimono, Japanische Keramik – Ursula, Karl, Sebastian Scheid und ihr Freundeskreis

Hans Martin Ruwoldt

Gustav Seitz

Hans Wimmer

Hamburger Bildhauerfreunde

Edgar Augustin – Jörn Pfab – Manfred Sihle-Wissel

José Vermeersch

Gerhard von Graevenitz und Günter Haese

Joseph Beuys – ein Exkurs

Horst Janssen

Entdeckungen im und für das Museum – Vorgeschichte einer Janssen-Retrospektive – Die »Retrospektive auf Verdacht« und ihr Epilog – Schüler, Lehrling, Geselle, Meister – Zeitgenossen des »Angeber X« – »Mein Mausoleum aus Papier«

Paul Wunderlich

Philip Rosenthal

Siegfried Lenz

Photographen

Fritz Kempe – Ulrich Mack – Karin Székessy – Japanische Photographen

Goldschmiede und Glasbläser

Ragna Sperschneider – Wolfgang Tümpel – Andreas Moritz – Gerda und Wilfried Moll – Erwin Eisch

Tatsumura Ken

Huang Zhou

Klaus Fußmann

Walter Stöhrer

Künstler im Jüdischen Museum

Rudi Lesser – Berthold Goldschmidt – Josef Hebroni

Wilhelm Loth

Günter Kunert und Reiner Kunze

Statt eines Epilogs: Fälscher, Geheimdienste und Friseure

Kurzbiographien

Namenregister

Abbildungsverzeichnis

Frühe Begeisterung

»Der Zufall macht die schönsten Sachen«

WILLI BAUMEISTER WÄHREND DER ENTWICKLUNG SEINES LETZTEN BILDMOTIVS

Manche Zufälle zeigen ihre Bedeutung erst später – so für mich der Kauf eines Buches im Frühjahr 1949 für 4,50 DM und von einigen Kilogramm Altpapier in einer Hagener Buchhandlung. Sie war nach der Zerstörung der Stadt in einer Baracke untergekommen und bot ein den Umständen entsprechend gutes Sortiment; sie wies auf Neuzugänge hin, die 18- und 19-jährige Primaner interessieren konnten. Dazu gehörte eine gerade erschienene Publikation »Die Kunst der letzten dreißig Jahre«; sie bezog sich auf das erste Drittel des 20. Jahrhunderts und enthielt die Vorlesungen Max Sauerlandts an der Hamburger Universität im Sommersemester 1933. Einige Monate davor, gleich nach dem Beginn von Hitlers Diktatur, war der engagierte Direktor des Hamburger Museums für Kunst und Gewerbe entlassen worden. Das Buch mit den Vorlesungen wurde von der Gestapo umgehend beschlagnahmt, aber nach der Währungsreform neu verlegt, dank eines ehemaligen Schülers von Erwin Panofsky, des bescheidenen und kenntnisreichen Kurt Sternelle. Ich konnte nicht ahnen, dass ich 1960, elf Jahre später, den Versuch machen würde, die von Sauerlandt gesammelten, als »entartet« beschlagnahmten Werke der deutschen Moderne zu restituieren, dass ich einundzwanzig Jahre später seine Reiseberichte und Aufsätze und 2013, also vierundsechzig Jahre später, einen Teil seiner Korrespondenz edieren würde.

Sauerlandts Vorlesungen faszinierten mich als Schüler, der gerade die Moderne kennengelernt hatte, nicht wegen ihrer Systematik oder intellektuellen Analyse: Ich begegnete einem von Urteilsvermögen getragenen Charakter, der seine Überzeugung ohne Wenn und Aber vertrat. Sauerlandt hatte bereits 1913 /14 als junger Direktor des Städtischen Museums Halle mit dem Ankauf von Emil Noldes »Abendmahl« den Zorn des allgewaltigen Berliner Generaldirektors Wilhelm von Bode herausgefordert, er hatte seit 1919 das Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe geleitet und es mit unkonventionellem Kunstverstand auf die Zukunft hin ausgerichtet, etwa mit Erwerbungen von sumerischer Kunst bis zum ersten Museumsankauf von Werken Henry Moores. Er hätte, international hoch geschätzt, 1933 sein Amt zurückerhalten können, wenn er bereit gewesen wäre, sich nicht mehr für die Kunst der Gegenwart einzusetzen. Er verschmähte diese Offerte und hielt stattdessen seine Vorlesungen, die ihn in den Augen des Regimes endgültig desavouierten. Einige Monate später starb er an einem Magenkarzinom.

Rolf Nesch: Max Sauerlandt (neben einer Figur von Ernst Ludwig Kirchner). Farbradierung 1931

1949 konnte ich nicht wissen, dass mich dieses Buch ein Jahrzehnt nach seinem Kauf dazu bewegen sollte, meine noch offene Berufsentscheidung zu treffen und auf eine Tätigkeit in den von mir studierten Fächern – Architektur, Universitäts-Kunstgeschichte, Philosophie – zugunsten der Kunstgeschichte als Museumsarbeit zu verzichten. Die mir gebotene Chance, der Moderne in dem Haus, das Max Sauerlandt hatte verlassen müssen, wieder einen Platz zu geben, vom Fin de Siècle bis heute, bestimmte meine nächsten Jahrzehnte.

Meine Museumstätigkeit erstreckte sich in Hamburg zunächst auf die Zeit vom Jugendstil bis zur Gegenwart, später auch auf Ausstellungen der älteren europäischen Kunst, der antiken und ostasiatischen Hochkulturen; darüber hinaus ließ sie persönlichen Neigungen zur europäischen Volkskunst wie zur Kunst Japans und Afrikas Platz. Kunstgeschichte ohne den ständigen Umgang mit Künstlern galt mir stets als fade. Wenn es Sinn machte, habe ich den unmittelbaren Umgang mit Künstlern in meine Vorlesungen und Seminare an der Universität einbezogen.

Das Verständnis der Geschichte benötigt als Korrektiv die kritische Anteilnahme an der Gegenwart mit der Intention, dem Nachdruck zu geben, was nicht aktuellen, also vergänglichen Trends entspricht, sondern für die Zukunft virulent werden kann.

Das ebenso nonchalant wie intensiv fortgesetzte Gespräch mit Künstlern, das für meine Frau und mich seit der Mitte des vergangenen Jahrhunderts zur ständigen Bereicherung des eigenen Lebens wurde, führt zu Einsichten abseits obligater Meinungen, abseits von gerade angesagten Klischees.

Als Beispiel für das Abweichen von der Einbahnstraße »Urteil als Konvention« möchte ich eine Anekdote anführen. Sie wurde uns 1963 von dem holländischen Architekten Mart Stam in Amsterdam erzählt. Er war um 1930 u. a. durch sein Haus in der Stuttgarter Weißenhofsiedlung bekannt geworden. Was er berichtete, klingt wie ein Spott auf alle Theorien der Stijl-Bewegung. Als Stam seinen Freund Piet Mondrian während des Zweiten Weltkriegs in New York besuchte, habe der Maler, dessen Gemälde aus dem Umfeld seines »Broadway Boogie Woogie« kaum ein Echo fanden, in seiner Malstube melancholisch an einem Gemälde mit einer verwelkenden Sonnenblume gearbeitet. Auf die mitfühlende Bemerkung Stams, dass er die Melancholie seines Freundes gut verstehe, da er gezwungen sei, wegen des Gelderwerbs traurige Sonnenblumen zu malen, habe er geantwortet: »Das ist es nicht, ich bekomme wieder Lust, Sonnenblumen zu malen.«

Wie beiläufig und subjektiv die Anekdote auch erscheinen mag, sie verrät doch, wie unzutreffend und unzureichend sich manche gebetsmühlenartig repetierten Theorien der Kunst des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart erweisen, schaut man genauer hin. Nicht alles daran ist falsch, aber vieles simplifiziert. Der Wunsch etwas von solchen Vereinfachungen zurechtzurücken, gab den Anstoß, eine Reihe meiner Begegnungen mit Künstlern niederzuschreiben.

Die Reihe der hier veröffentlichten Begegnungen nimmt keine Rücksicht auf den Verlauf der Kunstgeschichte, sie entspricht der Chronologie, in der mir die Künstler erstmals begegneten, sie folgt der persönlichen, biographisch geordneten Perspektive mit der Intention, die Subjektivität von Anlass und Augenblick zu objektivieren.

Um 1949 mehr von der Moderne zu erfahren, musste ich mich vor allem in Antiquariaten umschauen. Neue Gesamtdarstellungen von Kunst des 20. Jahrhunderts, Einzelveröffentlichungen und Kataloge waren damals noch rar. Die Wiederentdeckung der kurz zuvor noch als »entartet« Geschmähten glich für jemanden, der durch Eltern oder Schule noch nichts von ihnen gehört hatte, einem Pfadfinderunternehmen. Es gab keinen Zeichenlehrer, der uns etwas von der Kunst der Verfolgten vermittelte, wenngleich das von mir seit 1939 besuchte Gymnasium sich während der Nazizeit weitgehend seine Maßstäbe bewahrt hatte. So erfuhren wir schon 1943, dass der neue katholische Religionslehrer beim Betreten des Kollegiumszimmers mit »Heil Hitler« gegrüßt und vom Musiklehrer über dessen Lesebrille hinweg die Antwort erhalten hatte »In Ewigkeit, Amen«. Ein anderer unserer Lehrer musste sich – erfolgreich – verteidigen, weil er während seines Unterrichts über Wahlfälschungen mit dem Zeigestock allzu offenkundig auf das in jedem Klassenzimmer obligat hängende Hitlerbild gewiesen hatte. Wir spürten, dass gegenüber dem Regime eine von Ironie getragene Distanz herrschte. So gab es im privaten Gespräch der Lehrer mit den Eltern – mutig genug – offene Warnungen, etwa gegenüber der Absicht, uns Kinder zum Schutz vor den zunehmenden Luftangriffen nach Ostdeutschland zu schicken, weil dort bei Kriegsende mit russischer Besatzung zu rechnen sei.

Kunst der Gegenwart lernten wir seit etwa 1949 durch das von der jungen Museumsdirektorin Hertha Hesse-Frielinghaus umsichtig geleitete Hagener Museum kennen. Unser gegenüber der Moderne indolenter Zeichenlehrer sah sich immerhin verpflichtet, uns nachmittags ins Museum zu führen. Das Haus, das zum Andenken an den großen Sammler und Mäzen Karl Ernst Osthaus dessen Namen trägt und seine Arbeiten nach Kriegsende aufgenommen hatte, besaß nach den Eingriffen der Nationalsozialisten zwar noch keine nennenswerte eigene Sammlung, zeigte aber doch bereits bemerkenswerte Ausstellungen. Eine der ersten besuchten wir gemeinsam mit unserem Zeichenlehrer, der uns damit einstimmte, dass er uns mitteilte, es handele sich um einen Maler der kürzlich noch als »entartet« geltenden Kunst. Er selbst hielt es mit der Kunst bis zum Impressionismus, welchen er uns auf seine Weise erklärte: »Wenn Sie mit den Augen knibbern, und es flimmert – das ist Impressionismus.« Was wir vor uns sahen, ließ sich auf diese Weise nicht verstehen. Es handelte sich um Aquarelle von Karl Schmidt-Rottluff aus der Zeit seiner Verfemung, kräftige, damals und nach einer Zeit ihrer Verkennung heute wieder geschätzte Blätter mit strahlenden, durch dunkle, bleirutenartige Konturen gesteigerten Farben. Es dauerte kaum eine Stunde, bis uns ohne erläuternden Kommentar die Augen geöffnet waren – reiner Enthusiasmus, unvorbereitet, bar jeder Vorstellung von der Moderne, einschlagend wie ein Blitz.

Unsere Kenntnisse von moderner Kunst bestanden allerdings weitgehend aus Lücken, die sich nur allmählich schlossen. Die Begeisterung besaß kein Äquivalent in ausreichendem Wissen. Ausstellungen halfen uns weiter, wie eine in Hagen gezeigte Auswahl aus der Sammlung des Kölner Rechtsanwalts Haubrich, der seiner Vaterstadt mit seiner generösen Schenkung eine führende Position unter westdeutschen Häusern mit Kunst der Moderne verschaffte. Unseren Blick weiteten die Themenausstellungen der Ruhrfestspiele Recklinghausen und andere wiedereröffnete Museen. Antiquarisch erworbene Publikationen wie Hans Hildebrandts »Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts« im »Handbuch der Kunstwissenschaft« oder eben die Vorlesungen Max Sauerlandts stellten für uns die Verbindung an die Zeit vor 1933 her. Den Anschluss an die Gegenwart aber brachte, weitaus lebendiger, die erste Begegnung mit einem Künstler.

Emil Schumacher

Der tägliche Weg vom Hagener Hauptbahnhof zu unserem Gymnasium durch die von Trümmern noch nicht völlig freigeräumten Straßen bot uns jungen Leuten Gelegenheit zu lebhaften Gesprächen über dies und das. Die Moderne, die wir 1949 entdeckten, wurde zu einem unserer Hauptthemen.

Einer meiner Weggenossen wusste, dass es in unserer Stadt einen bemerkenswerten Maler gäbe. Er werde seit Längerem von Dr. Fritz Breuer, einem angesehenen Chirurgen, geschätzt und gefördert. Meine Neugier auf einen Künstler von Rang ließ sich leicht befriedigen, bald war ich mit Fritz (Werner) Breuer, dem Sohn des Sammlers, bestens befreundet; wir besuchten, um zwei Jahrgänge getrennt, dieselbe Schule mit ihren kleinen Klassen, in denen Latein und Griechisch vor Englisch und Französisch unterrichtet wurde; alle Schüler der Oberklassen kannten sich mithin gut.

Die erste Begegnung mit einem Künstler war ein Besuch in dem Atelier von Emil Schumacher. Der Maler, der von der Mitte der fünfziger Jahre an einen stetig wachsenden internationalen Zuspruch erfahren und in vielen europäischen Ländern, in Südamerika wie auch in Japan mit zahlreichen Preisen geehrt werden sollte, war zu jener Zeit nur wenigen Kennern in Hagen und einigen Eingeweihten im Ruhrgebiet bekannt. Schumacher hatte als junger Künstler von vierundzwanzig Jahren noch den 87-jährigen Christian Rohlfs kennengelernt, der sich vor der Nazi-Barbarei in sein Atelier des ehemaligen Hagener Folkwang-Museums zurückgezogen hatte; heute steht in seiner unmittelbaren Nachbarschaft das Emil Schumacher Museum.

Eine Beeinträchtigung des Hörvermögens hatte Schumacher vor dem Einzug zum Militär bewahrt. Jetzt wohnte und malte er in einem von seinem Vater geerbten kleinen Haus eines tristen Hagener Vororts. Hier blieb er sein Leben lang, den Raum nur bescheiden um ein Schwimmbad in einem schöner gewordenen Garten erweiternd. Damals befanden sich in diesem Hinterhof ein Küchengarten und kleine Taubenställe, wie in vielen Arbeiterhäusern des Ruhrgebiets.

Hier hatte Schumacher, von der Entwicklung der Kunst in der Welt zwölf Jahre lang isoliert, seine dem Gegenstand verpflichteten Bilder gemalt, für die es allenfalls bei den Holz- und Linolschnitten gewisse Vorstufen in der Graphik des Expressionismus gab. Der Maler führte seinen eigenen Dialog mit dieser einfachen Welt. Aus seinen frühen Bildern sprechen eine herbe Poesie, abseits alles Literarischen, eine unbekümmerte Freiheit des Darstellungsmodus mit lebendigen Lineaturen und verhaltenen Farbklängen. Die Poesie als Flucht in die Freiheit aus der Einengung durch die Realität, die Poesie als Rettung des Ich – sie bestimmt das Selbstverständnis Ostasiens, wo Emil Schumacher Jahrzehnte später auf besonderes Verständnis treffen sollte. Doch den fernen Wahlverwandten war der junge Maler nicht begegnet, er hatte nur den alten Rohlfs kennengelernt. In dessen Zeichnungen der letzten Lebensjahre finden sich erstaunliche Vorgriffe über den Expressionismus hinaus, zukünftige Darstellungsmodalitäten vorwegnehmend. Mit heutigen Augen erkennt man manche Gemeinsamkeiten zwischen dem alten Rohlfs und dem jungen Schumacher. Die Kunstgeschichte behauptet ihre Kontinuität gelegentlich nur durch eine einzige Begegnung abseits des Mainstream, so auch im Fall von Rohlfs und Schumacher.

Ein alter Küchenherd, einige bunte Konservendosen, eine im Herbst verlassene Gartenbank, vor sich hin rostende Ackermaschinen wie ein Roder, solche einfachen Gegenstände aus dem Alltag genügten Emil Schumacher für Bilder, die außer seiner Frau Ulla und einer Handvoll Hagener Sammler sowie der spröden, ungemein verdienstvollen Hagener Museumsdirektorin Hertha Hesse-Frielinghaus kaum jemand sah. Schumacher malte sie wie ein Kalligraph, mit Farben, die den Koloristen mit Sinn für dunkle wie helle und heftige Klänge zu erkennen gaben. Gegenüber einer desolaten Gegenwart galt ihm eine zeitlose Welt als Parameter, die sich wenig verändernde Alltäglichkeit ebenso wie die Beschäftigung mit dem sumerisch-babylonischen Gilgamesch-Epos. Ohne Kenntnis von Baumeisters Zeichnungs-Zyklus zu Gilgamesch, der gegen Kriegsende entstanden und noch unbekannt war, schnitt Schumacher nur wenig später Illustrationen hierzu in Linoleum und Holz. Er malte einen Stausee der Ruhr wie ein Gewässer der Urzeit, verwandelte die nächtlichen Feuerreflexe der Hüttenwerke in Milchstraßenmagie. Als nach 1980 wieder eine an Höhlenmalereien erinnernde Zeichenwelt in Schumachers Bildern und Blättern auftauchte, als kurz vor seinem Tod die in Israel edierten Blätter zur Genesis entstanden, rückten manche der späten Arbeiten auf einer neuen Ebene in eine erkennbare Nähe zum Frühwerk; sie belegen, wie homogen das gesamte Œuvre über sechs Jahrzehnte hinweg blieb.

Als ich 1949 Emil Schumacher kennenlernte, stand dieser Prozess des Aufgebens von Erreichtem, von Neuanfang und Synthese noch bevor. Die Bilder spiegelten zeichenhaft, aber leicht ablesbar, einen Lebensraum, der dem eines Arbeiters glich und in den wenig von außen hereindrang.

Schumacher sprach lebendig und ohne erkennbare Scheu, sich mitzuteilen, aber er machte meist nur einfache Aussagen; so blieb es auch in der Zeit seines Weltruhms. Was ihn bewegte, schrieb er gelegentlich in Aphorismen nieder, auf eine poetische Weise die Quintessenz seines Selbstverständnisses in Worte fassend. Wenn er ein Interview gab, sprach er lieber über Handfestes als über eine simplifizierende Deutung seiner Bilder. Über die Werke anderer Künstler urteilte er zurückhaltend, es sei denn, ihre niedrige Qualität stellte sie außer Diskussion, und dann blieben sie für ihn ohne Interesse.

Zur Erinnerung an meinen Besuch erhielt ich von Emil Schumacher – als mein erstes Kunstwerk – eine Lithographie geschenkt; sie zeigt Tauben in einem Käfig, eine Hommage an jene Brieftauben, die mancher Kumpel und Hüttenarbeiter von seiner Dachluke aus als gefiederte Boten in die Welt schickte. Auf dem Blatt vom Oktober 1949 ist ihnen durch die Käfigstäbe dieser Flug in die Welt noch verwehrt – ein Gleichnis von Schumachers Situation in der Mitte seines Lebens.

Der Maler fand seine ersten Sammler in Hagen. Zu ihnen gehörte an vorderster Stelle der Vater meines Freundes, Dr. Fritz Breuer, Chirurg, ein bemerkenswerter, allseitig gebildeter, bei allem bürgerlichen Habitus völlig unkonventioneller Mann. Seine in ästhetischen, vor allem literarischen Fragen ungemein sichere Frau Maria verband Bestimmtheit mit bezauberndem Charme. Im Haus der Breuers begegnete man stets inspirierenden Zeitgenossen, die als Vortragsgäste nach Hagen kamen. Ich erinnere mich neben vielen anderen an Fedor Stepun, der als Mitglied der Kerensky-Regierung 1922 Lenin entkommen war und an der Münchner Universität russische Geistesgeschichte lehrte. Wie auch seine Frau von respektabler Körperfülle, beobachtete er einen anderen, schlanken Gast, der eine der damals schicken Zigarettenspitzen mit langem Mundstück und scheibenförmigem Halter für den senkrecht darin aufragenden Glimmstängel zwischen seinen Lippen balancierte. Stepun fragte mit seiner gedehnten russischen Intonation: »Herr Dooktor, was haben Sie da für eine Bettpfanne im Mund?« Auf die eloquente Erklärung hin, wie gesund gerade dieses Filtersystem sei, schaute der Fragesteller nachdenklich seine Frau an und sagte: »Natascha, Genuuss mit Soorge – was ist daas?«

Gäste im Breuer’schen Haus sahen meist neue Bilder und Blätter Schumachers, der mit seiner Frau Ulla regelmäßig zu Besuch kam. Nicht wenige davon wurden an die Gastgeber und deren Freunde verkauft, für den Maler eine wirksame Hilfe. Sobald es die Umstände erlaubten, bauten Fritz und Maria Breuer wieder eine private Sammlung auf; die erste war mitsamt dem Haus während eines Bombenangriffs verbrannt. Werke Emil Schumachers bildeten zunächst die weitaus wichtigste Gruppe, bald sollten Bilder von Baumeister, Bronzen und Zeichnungen von Moore und Marini, Druckgraphik von Picasso folgen. Der Hagener Maler, gerade vierzig Jahre alt, sah sich bald in bester Gesellschaft.

Mein Freund Fritz Werner und ich waren durch diese in einem Ort wie Hagen sonst kaum anzutreffende geistige Umgebung angeregt. Wir malten und zeichneten, was uns begeisterte – Blätter, in denen die uns bekannte Moderne sich spiegelte. An unserem Gymnasium wirkten diese Exerzitien wie eine Revolte gegen den obligaten Zeichenunterricht, sie machten Furore und wurden deshalb als Ausstellung an den Pinnwänden des Zeichensaals befestigt, von Schülern und einigen Lehrern bestaunt. Aber es gab auch einen Besucher von draußen. Wir durften uns – nicht ohne heimlichen Stolz – sagen, dass wir zwar außer Lehrern und Mitschülern nur einen Besucher hatten, aber dieser einzige Besucher war Emil Schumacher. Mit freundlichem Gleichmut sah er sich die dicht behängten Wände an. Allerdings war mir die Güte unserer Produktion schnell bewusst; ich verschenkte alle meine Blätter zum Abitur an Lehrer und Schulfreunde.

Schumacher gehörte zu der von ihm mitbegründeten Gruppe »Junger Westen«, die ihren Sitz in Recklinghausen hatte. Dort entstand dank der Ruhrfestspiele und eines rührigen Kunsthallenleiters ein künstlerisches Zentrum. Wer seine Augen nur ein wenig gebrauchen konnte, erkannte sofort, dass Schumacher der mit Abstand wichtigste Künstler der Gruppe war, was mich anregte, dies auch öffentlich kundzutun. Ulla und Emil Schumacher erinnerten mich mehr als vierzig Jahre später daran, dass ich offenbar einen kleinen Aufsatz mit meiner Konfession in einer lokalen Zeitung oder in der Studentenzeitschrift »Aachener Prisma« veröffentlicht hatte.

Schumachers Namen nannte man außerhalb des Ruhrgebiets bis zu den frühen fünfziger Jahren kaum. Als er um 1949 in Ascona war, traf er dort den in jenen Jahren ungleich bekannteren Maler Ernst Schumacher, der in Berlin an der Hochschule der Künste lehrte und ihn weinselig mit den Worten begrüßte: Er habe herausgefunden, dass es noch einen E. Schumacher gäbe, »und das Schwein malt nicht mal schlecht …« Das war ein Kompliment jener großen weiten Welt, als die Berlin sich damals sah, ohne es zu sein.

Der so Gelobte wusste, dass es für ihn in der Bundesrepublik wenig Herausforderndes zu entdecken gab. Eine Reise nach Paris führte ihn auf den Weg, den er suchte, ohne das Ziel zu kennen. Unter denjenigen, die er dort traf, stand ihm Pierre Soulages am nächsten; in einigen wenigen Bildern, die in der Zeit gleich nach der Paris-Reise um 1951/52 entstanden, ist die Wirkung dieser Begegnung zu beobachten. Für nahe Freunde war zunächst keine rechte Verbindung mit seinen zuvor entstandenen Arbeiten erkennbar. Die gegenständliche Darstellung von Schumachers Bildern verlor sich innerhalb kurzer Zeit, aber bald auch die Festigkeit von abstrakten Strukturen, die für einige Jahre an die Stelle der Gegenständlichkeit traten. Er fand die wie aus Farbnebeln und als Analogien zur organischen Natur gebildeten Bildmetaphern in einer Sprache, die den Künstler bald international zu einem festen Begriff machen sollte: ein aus Kolorit und Material gewonnener Bildraum, für mich heute ein Gleichnis kosmischer Urmaterie. Den Weg dahin ermöglichten vom Maler selbst geschaffene Objekte als Katalysator; er nannte sie »Tastobjekte«, frei zusammengefügte, reliefhafte Gebilde aus Spinnfäden und Löchern von unbestimmter Begrenzung und mit einem hellen, Farbklänge modulierenden Kolorit. Sie brauchen keinen Rahmen, schweben schwerelos im Raum.

Möglicherweise waren diese »Tastobjekte« für Schumacher mehr Mittel zum Zweck, jedenfalls beschäftigten sie den Maler nur relativ kurze Zeit. Wohin sie ihn führten, zeigte 1958 eine Hagener Ausstellung. Sie umfasste, neben einigen Tastobjekten, die wichtigsten neuen Bilder, die mir als bedeutsamer Schritt in der Entwicklung des Künstlers und zugleich als eine herausragende Leistung zeitgenössischer deutscher Malerei erschienen. Als ich der damals tonangebenden Zeitschrift »Das Kunstwerk«, die mich kurz davor mit einem Kritikerpreis ermuntert und mehrfach um Beiträge gebeten hatte, einen Aufsatz darüber anbot, lehnte sie ab – das sei doch wohl nichts weiter Bemerkenswertes.

Dies war eine der Demonstrationen von Mangel an Kunsturteil, der sich immer wieder im Verkennen des Bedeutenden und in Elogen auf das jeweils »Aktuelle«, doch künstlerisch wenig Relevante äußert. War es verwunderlich, dass Jahre nach dieser Ausstellung ein Hagener Ratsherr das generöse Geschenk des inzwischen international geehrten Malers an seine Heimatstadt, ein großes Gemälde, damit kommentierte, das Bild könne er sich in den Keller über seine Kartoffelkiste hängen? Es dauerte einige Zeit, bis die politischen Honoratioren erkannten, dass Hagen einen Bürger von internationaler Bedeutung besaß, und ihn zum Ehrenbürger machten. Bis es zum Anbau an das Hagener Museum zur Aufnahme von Schumachers Stiftung seines Lebenswerks kommen konnte, waren noch viele Stolperstufen zu bewältigen.

Als der Maler während der späten fünfziger Jahre einige Semester lang in Hamburg als Gastprofessor unterrichtete, lebte ich in Stuttgart; als er eine Professur in Karlsruhe übernommen hatte, zogen meine Frau und ich nach Hamburg, weshalb wir uns über einen längeren Zeitraum nur gelegentlich sahen. Die Ausrichtung der von mir geleiteten modernen Abteilung des Museums für Kunst und Gewerbe ließ die Aufnahme von Bildern nicht zu, ausgenommen Bücher Schumachers mit Originalgraphik; sie bereicherten bald die Bestände ebenso wie die Malerbücher von Picasso, Braque, Chagall, Ernst, Miró, Moore und Kokoschka.

Ein Zufall gab den Anstoß, die alten Verbindungen zu intensivieren. Die in Chicago und London ansässige St. James Press hatte mich 1980/81 um eine Reihe von Kurzviten für ein Lexikon der Künstler des 20. Jahrhunderts gebeten, u. a. um die Biographien von Oskar Kokoschka und Emil Schumacher. Als ich die Beiträge schrieb, las ich in der Zeitung, dass Emil Schumacher gerade zum Nachfolger meines im Februar 1980 verstorbenen Freundes Oskar Kokoschka in den Orden Pour le Mérite gewählt worden war – Anlass für einen spontanen Gruß und Glückwunsch an Emil Schumacher, dem bald ein weiterer folgen konnte, als auf meinen Vorschlag hin Emil Schumacher den erstmals nach einer längeren Pause vergebenen Jerg-Ratgeb-Preis erhielt. Zwar war er es inzwischen gewohnt, überall auf der Welt geehrt zu werden, aber hier sah er sich in eine deutsche, noch junge Tradition gestellt.

Emil Schumacher: Glückwunsch zum 60. Geburtstag von Heinz Spielmann, Deckfarben und Farbstift, 1990

Wie wenig Schumacher die zahlreichen Ehrungen bei aller Befriedigung über den ihm erwiesenen Respekt tangierten, sah man an seinem Äußeren. Er zeigte sich bei Feiern und Empfängen salopp, oft ohne Krawatte, aber auch ohne jede demonstrative Bohème-Attitude jüngerer »Malerfürsten«, nicht anders, als würde er zu Besuch bei Freunden für einige Stunden das Haus verlassen. So unberührt von der Außenwelt, führte er seinen Dialog mit der Natur und mit Zeugnissen früher und fremder Kulturen. Der Dialog konnte kalligraphisch ausfallen wie auf einem Blatt zu meinem 60. Geburtstag, das um eine blaue Monade herum nur seinen und meinen Namenszug trägt.

Emil Schumacher bei der Verleihung des Jerg-Ratgeb-Preises, Reutlingen 1987 (mit dem Oberbürgermeister der Stadt)

Wie oft werden Gegensätze zum Stimulans künstlerischer Kraft! Das Naturfeindliche einer Industriestadt mit ihrem ständigen Qualm von Hochöfen und Bessemer Birnen, der bis zu den siebziger Jahren für die Täler der damaligen Industriestadt alltägliche Realität war – der denkbar krasseste Gegensatz zur unberührten Natur –, mag die Erlebnisfähigkeit des Malers ihr gegenüber geweckt und so gesteigert haben, dass er sich die Quintessenz ihrer Vielfalt und Dauer in einem langen Leben zu eigen machte. Seine Bilder, die wegen der stofflichen Schönheit ihrer Farbe als »Materialbilder« gelobt, aber auch zu oberflächlich gedeutet wurden, verstand er – mit seinen eigenen Worten »der Erde näher als den Sternen« – als leuchtende Metaphern, das Rot als Feuer und Magma, das Grau und Ocker als Erdformationen und Gestein, das Blau als Wasser und Ozeane. In seinem Grün paraphrasiert er die organische Natur der Pflanzenwelt. Von diesen Elementarformen des Lebens führte ihn ein direkter Weg zu archetypischen Zeichen vorgeschichtlicher Zeiten. Er malte keine gedachte – er paraphrasierte eine gesehene Welt.

Nicht lange vor seinem Lebensende sagte Emil Schumacher im Gespräch vor seinen in der Küche aufgehängten Bildern auf Schieferplatten mit zeichenhaften Vögeln und Fischen beiläufig, wenn er male, habe er immer etwas vor Augen, er ginge immer von etwas aus. Seine Bilder spiegeln, wenn auch meist in metaphorischer Übersetzung, eine erlebte Wirklichkeit. Unbehelligt von intellektualisierender Programmatik und dozierender Theorie verwandelte er Natur zu selbstverständlich hingeschriebenen Zeichen. In der Ambivalenz von Erkennbarkeit und Metapher begründet sich deren Faszination. Auf die stoffliche Schönheit seines Materials zu verweisen, die Freiheit, Lebendigkeit und Vitalität seiner Bilder hervorzuheben ist sicher nicht falsch. Aber es reicht nicht aus. Schumacher hatte bei seiner künstlerischen Arbeit das Glück, in der Begegnung mit der Welt niemand anderen als sich selbst zu benötigen. Er führte eine sehr persönliche Zwiesprache mit dem, was er vor Augen hatte, mit dem alltäglichen Umfeld einer wenig attraktiven Industriestadt genauso wie mit der Kuppel eines Marabu-Grabes, mit Gewölberuinen in Hatra, mit Gestein, Feuer und Wasser, mit Vögeln und Fischen. Die Subjektivität seiner Erlebnisse war die Grundlage seiner Bild-Poesie.

Während der achtziger Jahre fand eine Reihe von Schumacher-Ausstellungen im deutschen Norden statt, u. a. in Hamburg und Flensburg. In ihnen trat eine archetypische Urwelt immer deutlicher in Erscheinung; Figuren wie auf Höhlenwänden, Tiere wie in Versteinerungen; einfache Landwirtschaftsgeräte und Leitern wie auf ungelenk gezeichneten Papyri. Seine Keramik, die zum Besten dieses Genres aus den Händen von Malern zählt, macht diese archetypische Welt haptisch wie optisch erfahrbar. Für das Museum auf Schloss Gottorf konnten wir eine gewisse Zahl seiner bildhaft-großen Serigraphien und Radierungen erwerben, eine als Schumachers Geschenk zu meiner Verabschiedung aus dem Amt.

Auf dem Weg nach Flensburg besuchten der Maler und seine Familie 1998 das Gottorfer Landesmuseum mit seinen neuen, umfangreichen Stiftungen; dies führte ihn dazu, mich wegen seiner eigenen Stiftung um Rat zu fragen. Er wolle, so erklärte er uns bei einem Besuch in Hagen, während er uns im sommerlichen Garten hinter seinem Atelier auf einem seiner schönen, nach seinem Entwurf dekorierten Porzellangeschirre Kaffee und Kuchen servierte, eine für Hagen bestimmte Stiftung gründen. Sie solle einen Querschnitt durch sein Lebenswerk bilden, mit großen, mittleren und kleinen Gemälden, mit Gouachen und Zeichnungen, mit einer Auswahl von Keramik und der gesamten Druckgraphik, dazu ausgestattet mit einem adäquaten Stiftungskapital. Es war seine Intention, seiner Vaterstadt, die er trotz verlockender Angebote nie aufgegeben hatte, eine weitere Ausstrahlung zu geben, eingebunden in ihr recht junges, auf die Zeit um 1900 zurückgehendes Erbe, separat ausgestellt neben dem Karl Ernst Osthaus-Museum. Die Realisierung schien zunächst einfach. 1997, zum 85. Geburtstag Emil Schumachers, verkündete Ministerpräsident Johannes Rau die baldige Realisierung des Projekts zum 90. Geburtstag des Künstlers, doch bedachten offenbar weder er noch der ihm nachfolgende Peer Steinbrück, was an bürokratischen Hindernissen ausgedacht werden kann. Schließlich fand sich nach einem Wettbewerb mit gut 300 Entwürfen ein passables Konzept. Wer weiß, wie lange sich dessen Verwirklichung hingezogen hätte, wenn mein Freund Ulrich Schumacher, der unirritierbar das Vermächtnis seines Vaters Wirklichkeit werden lässt, nicht ernsthaft eine Alternative zur Hagener Lösung gesucht hätte. Bis zur Grundsteinlegung der Museumserweiterung sollte seit der ersten Besprechung mit dem Künstler ein volles Jahrzehnt vergehen.

Die Bürger dankten, unbeschadet der politischen Querelen, dem Künstler auf ihre Weise. Die Grundsteinlegung des Museumstraktes im Sommer 2006 wurde dank ihres Stolzes auf den Sohn der Stadt ein Fest der demonstrativen Zustimmung; an der »Farbe Blau«, mit der sie den Maler ehrten und die alles überstrahlte, hatten die Kleinsten ebenso ihr Vergnügen wie die Älteren.

Emil Schumacher erlebte die Verwirklichung seines generösen Angebots nicht mehr. Er starb, noch voller Vitalität, unerwartet und sanft entschlafend in seinem Haus auf Ibiza im Oktober 1999. Sein 100. Geburtstag konnte in seinem Museum gefeiert werden.

Willi Baumeister

Als ich 1950 erstmals vor einem Bild Baumeisters stand, war ich mir sicher, Malerei von Rang vor mir zu haben. Ich konnte allerdings diese Ahnung kaum artikulieren. Diese Bildwelt war zu neu, entsprach nicht den Modalitäten des Sehens, vor allem nicht der von Abbreviaturen getragenen Vehemenz des Expressionismus, den wir gerade kennengelernt hatten; doch vielleicht erschienen mir gerade deshalb die Ruhe der Malerei, ihre spukhafte, in Klarheit der Form integrierte Rätselhaftigkeit als ungewöhnlich. Das Gemälde, das wir sahen, war die »Stehende Figur mit blauer Fläche« von 1933. Ein ähnliches, etwas früher entstandenes Bild einer schwebend-transparenten Gestalt mit amöbenhaften Umrissen kannte ich aus dem Illustrationsteil von Max Sauerlandts Vorlesungen, doch hatte der eloquente Museumsmann das Bild wenig mehr als behelfsmäßig kommentiert; auch ihm war es offenbar als bedeutsam erschienen, ohne dass er dafür treffende Begriffe gefunden hatte. Die »Stehende Figur mit blauer Fläche« gehörte zu der Sammlung Haubrich. Man konnte einen Teil davon, mangels geeigneter Räume in Köln, auch andernorts sehen, so in Hagen.

Dass meine Mitschüler von dem, was ich ihnen von einem neuen Raum, von einer schwebenden Figur und abstrakter Zeichensprache zu erklären suchte, wenig überzeugt waren, konnte ich ihnen angesichts meiner unzureichenden Worte nicht verdenken. Also versuchte ich es ein zweites Mal in einem Schulaufsatz, dessen Thema uns freigestellt war, und machte mich an die Deutung einiger Werke der Sammlung Haubrich, darunter die leichter zu bewältigende Büste des Kunsthistorikers Heinrich Wölfflin von Edwin Scharff, und an das schwieriger zu deutende Gemälde Baumeisters.

Man sah zu jener Zeit im Ruhrgebiet selten neue Baumeister-Bilder im Original. Am ehesten begegnete man ihnen an Orten, wo man sie nicht erwartete. Das kleine Museum in Witten etwa erwarb eines davon gleich nach seiner Entstehung, die »Turbulenz« von 1950. Die ersten Blätter seiner Serigraphien, einer für Europa damals völlig neuen Technik, stellte ein großes Hagener Textilkaufhaus ins Schaufenster. Langsam begannen wir, gestützt auf solche sporadischen Zeugnisse und Veröffentlichungen in Zeitschriften – es gab sogar einen »Spiegel«-Titel –, nicht nur Form und Ideen seiner Bilder zu begreifen, wir sahen in der Beobachtung des Erreichbaren auch, wie konsequent und in welch schneller Folge die Phantasie den Maler zu immer neuen Resultaten führte.

Wir konnten nach und nach eine Vorstellung von seinem bis dahin entstandenen Werk gewinnen. Es hatte, von Cézanne ausgehend, zunächst mit den Mitteln des Konstruktivismus die Welt von Sport und Maschine gefeiert, hatte, wie sein Freund Oskar Schlemmer, dem Apoll von Belvedere more geometrico gehuldigt und seine Figurationen in einen nicht der klassischen Perspektive entsprechenden, sondern aus Illusionen der Flächenschichtung gebildeten Scheinraum gestellt. Baumeister war zu Beginn der Nazi-Zeit aus dem Lehramt entlassen worden. Er war seitdem seinen sich bereits kurz zuvor ankündigenden kontemplativen Intentionen gefolgt. Ihn inspirierten die Felsbilder Spaniens und Afrikas, die Urformen des Lebens in Blatt und Früchten des Gingko-Baums und in Amöben, die er in seinen »Eidos« genannten Gemälden zum Bildbegriff machte. Ihn faszinierte während der Kriegsjahre, die er in Wuppertal mit einem ihn schützenden Forschungsauftrag der Lack- und Farbwerke Herberts überlebte, das Gilgamesch-Epos. Die vergebliche Suche Gilgameschs nach Unsterblichkeit verstand er als Erfahrung einer Gegenwart, in der das Leben täglich enden konnte. Nach dem Krieg erkannte man bald, dass er unter den in Deutschland gebliebenen Malern mit seinen Bildern so weit wie niemand sonst in unbekanntes Terrain vorgestoßen war; er hatte seine Erfahrung und Erkenntnis 1943 zum Thema seines 1947 erschienenen Buches »Das Unbekannte in der Kunst« gemacht.

Zum vehementen Verteidiger der Moderne wurde Baumeister 1950 auf dem legendären Darmstädter Gespräch mit dem Thema »Das Menschenbild in unserer Zeit«. Er bezog Position gegen den der Zeit vor 1945 verpflichteten Kunsthistoriker Hans Sedlmayr und dessen von scharfsinnigem Unverstand getragene Schrift »Verlust der Mitte«. Er galt seitdem als führender Sprecher der Moderne und der abstrakten Malerei. Deshalb – und in Erwartung weiterer Deutungen seiner Bilder – warteten wir 1953 an einem Sonntagvormittag im Osthaus-Museum gespannt auf den Maler und seinen Vortrag.

Mittelgroß, durchaus stattlich, aber ohne viel Aufhebens zu machen, begann er sein mit Lichtbildern veranschaulichtes Referat. Es ging ihm, mit einem Wort gesagt, darin um ein unverstelltes Sehen, um ein im Schiller’schen Sinn naives Verständnis der Natur und ihrer Formen, um die Entdeckung des zuvor Unbekannten als Prinzip der Entwicklung und Entfaltung von Kunst. Bei allem Ernst blitzte zwischen den Sätzen der Humor durch, der für Baumeister ein Lebenselixier war und der ihm geholfen hatte, die Zeit der Verfolgung zu überstehen. In seinem Vortrag zeigte er u. a. Diapositive mit Wellen am Strand oder einen Bachlauf eines in Überlingen am Bodensee lebenden Photographen: »Er heißt Lauterwasser und photographiert lauter Wasser.« Die Aufnahme des Rinnsals zeigte Baumeister zwei Mal, zunächst den Abzug Lauterwassers, dann mit einem darübergeklebten Stückchen Papier. Im richtigen Moment musste der Vorführer dieses Papier vom Diapositiv abreißen, und es erschien, von Baumeister durch eine in die Wellen gezeichnete Skizze hervorgehoben, die Grimasse eines Männergesichts. »Weil er so grimmig schaut, erinnert er mich an Schopenhauer«, kommentierte Baumeister die Demonstration seiner These, dass man auch in abstrakte Strukturen das Bild eines Gegenstandes hineinsehen könne.

Willi Baumeister an der Staffelei, Karikatur eines Studenten?, roter Farbstift, um 1960

Etwa anderthalb Jahre später, als mein Kontakt mit dem Künstler während des Studiums enger geworden war, fragte ich ihn, ob er für das »Studium Generale« einen Vortrag halten könnte. Die Organisation und der Ablauf dieser Abende war an der Technischen Hochschule Stuttgart Studenten übertragen worden – ich war für den Bereich »Moderne Kunst« zuständig. Nach dem Architektur-Vordiplom hatte ich die Stuttgarter Hochschule gewählt, weil sie eine kleine, aber vorzügliche geisteswissenschaftliche Abteilung besaß. Baumeister bejahte meine Bitte gleich, fragte jedoch vorsichtshalber: »Kennen Sie meinen Vortrag?« Die positive Antwort schien eine gute Voraussetzung für die Zusage zu sein, führte aber zu einem kleinen Malheur. Da ich die Dias zu projizieren hatte, wusste ich, wann Schopenhauer in lauter Wasser erscheinen sollte, riss den Zettel jedoch zu früh ab, sodass Baumeisters Überraschung, an der er sein Vergnügen hatte, nicht ganz aufging. Er nahm dies jedoch nicht übel. Bald durften wir nicht nur als Gäste bei seinen Korrekturen an der Stuttgarter Kunstakademie zuhören, sondern auch an seinem Jour fixe bei ihm zu Hause teilnehmen.

Es handelte sich dabei um halbwegs regelmäßige Treffen am Sonntagvormittag zwischen etwa 11 und 13 Uhr mit unterschiedlichen Teilnehmern; unter ihnen befand sich häufiger der Stuttgarter Kunstkritiker Kurt Leonhard. Natürlich musste man sich anmelden, sah sich dann an der Haustür in der Regel von einer der attraktiven Töchter Christa und Felicitas empfangen und mit einem Glas Campari und Gloria-Zigaretten bewirtet. Mit diesen Zigaretten hatte es eine besondere Bewandtnis. In Illustrierten erschienen um 1953/54 wöchentlich Anzeigen mit Prominenten, die sich aus der vornehmen, im Diagonalmuster weiß-gelb bedruckten Schachtel bedienten. In einer dieser Annoncen sah man Willi Baumeister, die Zigarette in der Hand (obwohl er lieber Zigarren rauchte). Darauf angesprochen, kommentierte er sein Engagement für die feine Filterzigarette. Man habe ihn angerufen und gefragt: »Herr Professor, rauchen Sie nur die gute Gloria?« Er habe geantwortet: »Was bekomme ich dafür?« Mit dem Angebot sei er einverstanden gewesen, immerhin 200 Mark. »Die habe ich meinen Studenten gegeben, damit die sich einen Rotwein leisten können.«

In der Regel holte Willi Baumeister während seiner privaten Matineen neue Gemälde hervor, oft solche, die in der zurückliegenden Woche entstanden waren. Er liebte es, mit seinen Gästen darüber zu reden, über deren unperspektivischen Raum, über das Schweben der Zeichen und Gestalten, über Metamorphosen der Formen. Während der Entstehung der Montaru-Bilder mit ihren großen schwarzen Flächen verwies er häufig auf die Genesis schwarzer Flächen in seinem Œuvre über drei Jahrzehnte hinweg, die in den neuesten Gemälden kulminierten. Es lag ihm daran, uns Jüngeren, durch die er sich verstanden fühlte, die Sicht seiner selbst zu vermitteln. Er verlor während dieser Unterhaltungen jedoch so gut wie nie ein Wort über Gehalte, die ihn beschäftigten. Erläuterungen hierzu las ich später in den Briefen, die er in den vierziger und frühen fünfziger Jahren an den Architekten Heinz Rasch gerichtet hatte, einen Freund, den er bei der modernen »Bauausstellung Stuttgart 1924« kennengelernt hatte; er hatte als Bauführer Mies van der Rohes beim Bau der Stuttgarter Weißenhofsiedlung mitgewirkt und war während der Zeit der Verfolgung einer von Baumeisters wichtigsten Gesprächspartnern geworden.

Heinz Rasch gab uns eine Erklärung dafür, warum Baumeister sich nicht zu Gehalten und Motiven seiner Bilder äußere, was er im Gedankenaustausch mit ihm doch so freimütig getan hatte. Eines Tages, so berichtete er, hätten einige der jüngeren »abstrakten« Maler wie Georg Meistermann, Fritz Winter, Heinz Trökes dem von ihnen verehrten Kollegen eine in weinseliger Laune geschriebene Karte geschickt, mit den Zeilen, sie hätten ihn gerade zum Führer der deutschen Abstrakten gewählt. Diese Karte gibt es tatsächlich, aber dass Baumeister sich durch sie hätte abhalten lassen, seine Bildideen in Worte zu fassen, darf als wenig wahrscheinlich gelten. Er befürchtete offenbar, eine zwangsläufig vereinfachende Erklärung würde der Vielschichtigkeit seiner Bildideen nicht gerecht – den Entsprechungen zu Wachstumsmorphologien, den Einsichten in Mikro- und Makrokosmos, dem Entdecken früher Epen und Bildwelten für die Gegenwart. Er befürchtete vor allem Simplifikationen als Folge verständlicher Aussagen zu Bildgehalten. Er wollte ihre Vieldeutigkeit bewahren.

Nicht ohne inneres Vergnügen ließ er es deshalb geschehen, dass andere zu seinen individuellen, ambivalenten Erfindungen etwas sagten, selbst Seltsames oder Ungereimtes. Eines Tages dozierte der als Kunsthistoriker verdienstvolle, als Kritikerpapst einflussreiche Will Grohmann, der die erste Baumeister-Monographie schrieb, vor einem privaten Zirkel in Anwesenheit des Künstlers über solch eine für die meisten Zeitgenossen schwer verständliche Bildwelt. Heinz Rasch, der sich unter den Zuhörern befand, meinte leise gegenüber seinem Freund: »Aber Willi, du kannst doch nicht zulassen, dass er solchen Quatsch redet.« Die Antwort war entwaffnend: »Lass ihn, lass ihn, so wird es doch noch geheimnisvoller.«

Willi Baumeister: Montaru. Serigraphie, 1953

Baumeister war ein Figurenmaler. Figur war für ihn jede Lebensform, von der Amöbe bis zum Menschen. Er wusste, dass Herkunft und Ziel des Lebens rätselhaft blieben, dass es ihnen gegenüber keine einfachen Antworten gab, auch nicht in seinen Bildern, die ihm als Spiegel des Lebens galten. Vehement verwahrte er sich in seiner Entgegnung auf Hans Sedlmayr beim Darmstädter Gespräch dagegen, dass die sogenannte abstrakte Malerei keinen humanen Impetus besäße. Aus dieser Überzeugung heraus forderte er von seinen Bildern, es müsse darin »spuken«, sie müssten geisterhaft erscheinen oder Rätsel aufgeben, die ein Betrachter selbst zu lösen und zu beantworten habe. Deshalb verweigerte er vereinfachende Erklärungen, in der Überzeugung, dass jedes Kunstwerk von einiger Bedeutung zu verschiedenen Zeiten und von verschiedenen Zeitgenossen unterschiedlich gesehen werde.

Er verfocht die Freiheit jedes Künstlers, voll Anerkennung auch für solche, die anderen Intentionen folgten als er selbst, und konzidierte zugleich, dass nur die schwächeren unter ihnen objektiv sein könnten; ein Künstler von einigem Rang könne nicht objektiv sein, da er seinen eigenen Weg verfolgen müsse. In der Praxis brachte er viel Verständnis für andere auf, wie in der ersten Jurysitzung des Deutschen Künstlerbunds nach dem Krieg, die HAP Grieshaber stets in Erinnerung blieb. Es sei, so erzählte er später, ein abstraktes Bild hereingebracht worden, für das Hans Purrmann die Hand gehoben habe. Auf die erstaunte Frage, warum er dafür stimme, habe er mit seiner hohen Stimme geantwortet, das sei doch modern. Kurz darauf habe Baumeister in sonorem Ton für ein Bild mit einer Windmühle plädiert, mit der Begründung: »Windmühle haben wir noch nicht gehabt, die Windmühle muss rein.«

Warum geriet ein Maler von so liberaler Gesinnung zwischen die Fronten der heftigsten Diskussion verschiedener Richtungen? Den Anstoß dazu gaben andere. Die Diskussionen um Sedlmayrs »Verlust der Mitte« hatte bereits die Atmosphäre belastet. Diese Belastung verschärfte sich, als Will Grohmann, der an der Berliner Hochschule der Künste als Lehrer das nach seiner Meinung einzig richtige zeitgenössische Kunstverständnis propagierte, seinen Rektor Carl Hofer wegen seiner Berufungspolitik angriff. Hofer hatte fast ausschließlich Vertreter der gegenständlichen Malerei berufen und unter ihnen kaum einen von überragender Bedeutung; er wurde deshalb von Grohmann wiederholt heftig angegriffen, der die Abstraktion besser vertreten sehen wollte. Ein Pamphlet gab das andere, bis Hofer sich in der Frauenzeitschrift »Konstanze« zu der polemischen Bemerkung hinreißen ließ, er sehe jetzt, wie leicht es sei, ein abstraktes Bild zu malen. Als Präsident des deutschen Künstlerbundes gab er dadurch die gebotene Neutralität auf, deshalb kündigte Willi Baumeister seine Mitgliedschaft in dieser noch jungen Vereinigung. Deren eben gewonnene Freiheit endete in einem neuen Grabenkrieg, dem zu viel Beachtung geschenkt wurde und der bis heute ein klischeehaftes Verständnis der deutschen Kunstszene nach dem Zweiten Weltkrieg zementiert.

Einer der häufigeren Gäste der Sonntagsmatineen, der Stuttgarter Kunstkritiker Kurt Leonhard, hatte 1948 ein Bändchen publiziert, das den reichlich pathetischen Titel »Die heilige Fläche« trug. Es enthält fiktive Gespräche mit einem Maler, der offenbar teils mit Willi Baumeister, teils mit dessen Kollegen Max Ackermann identisch ist; die darin beschriebenen Dialoge dürfen jedoch nicht als Gesprächsprotokolle gelten, wenngleich es sich bei ihnen um angeblich wörtliche Zitate eines Malers oder seiner Gesprächspartner handeln soll. Zu diesen Gesprächspartnern gehörte der Kunsthistoriker Hans Hildebrandt, der vor 1933 einer der ersten die Moderne systematisch behandelnden Kunsthistoriker gewesen war, zwei Jahrzehnte später aber nur noch als Emeritus gelegentlich ein Kolleg hielt. Wenn es sich auch um eigene Texte Leonhards handelt, so findet sich doch manches darin, was dem Sinn nach wahrscheinlich so gesagt wurde.

Baumeister sprach durchaus ernst, nicht nur über Kunst und seine Wahlverwandten der Vergangenheit, sondern auch über moderne Physik und Philosophie oder über die moderne Gesellschaftsstruktur des demokratischen Nebeneinanders. Seine Diktion war nie pathetisch. Lieber nahm er, wenn ein Gespräch eine Wendung zum allzu Emotionalen zu nehmen drohte, Zuflucht zu Scherz, Humor, Satire. Er liebte Wilhelm Busch, dessen Humor ebenso wie die filmartigen Bewegungsabläufe seiner Zeichnungen. Wie dieser konnte er seine tieferen Einsichten, Kritik und Zuneigung in Komik und Wortspielen verbergen, holte dabei auch weit aus, mit ernstestem Gesicht, wenn ihm kindliche oder dümmliche oder auch nur von ihm ungern beantwortete Fragen gestellt wurden. Dies geschah wiederholt, wenn er Gruppen durch die große Retrospektive seines Lebenswerks führte, die zu seinem 65. Geburtstag Anfang 1955 im Stuttgarter Kunstverein zu sehen war. In der seriösen Erscheinung im gut geschnittenen Kamelhaarmantel mit dazu passender Schirmmütze, in der von allen respektierten Persönlichkeit hätte niemand den Schelm vermutet, gewiss nicht eine Gruppe von Damen der guten Stuttgarter Gesellschaft, die ihn vor den Montaru-Bildern in bestem Schwäbisch fragten: »Ha, Herr Professor, was isch denn des?« Sie erhielten in ähnlichem Schwäbisch etwa folgende Antwort: Das ist eine Kuh, die hat einen Ofen im Leib, sie hat schon ein Landeseil ausgeworfen und will landen. Das Echo der so Belehrten lautete: »Ha, so isch des, Herr Professor.« Hätte Baumeister vor diesen Zuhörerinnen sagen können, was ihn inspirierte – Vorstellungen vom makro- und mikrokosmischen Entstehen des Lebens, von der ehemaligen und künftigen Bildung neuer Weltkörper, der Evolution der Lebenskeime zu vielfältigen Gestalten, vom Urgrund weiblicher Lebenskraft in der großen, schwarzen Form und männlicher Fruchtbarkeit in dem ihr gegenüber kleinen Phallus in einer roten Höhle? Hätten sie es verstanden? Was wären die Folgen solcher Erklärungen gewesen? Was wäre aus rationalen Angaben in den Köpfen der Zuhörer, was daraus im Wortschwall der Interpreten geworden? Also verbarg Baumeister Ernst in Heiterkeit, seine Bildideen in camouflierendem Humor.

Ein halbes Jahrhundert danach, in meiner Hamburger Ausstellung zum 50. Todestag des Malers, habe ich durch eine ehemalige Schülerin Baumeisters von einer der Anregungen erfahren, die Baumeister in seinen Montaru-Bildern zitierte, indem er sie verwandelte. Er habe sie als junge Studentin während der Nachkriegszeit verschiedentlich besucht und dabei ihren Ofen beobachtet, aus dessen gebogenem Rohr rote Funken gestoben seien. Diese zu einem immer wiederkehrenden Element seiner »Montarus« gewordene Anregung kam ihm mit dem Wortspiel vom »Ofen im Leib« wohl in Erinnerung, als er den Stuttgarter Damen eine skurrile Deutung der erkennbaren Phallusform lieferte; aber mit diesem Alltagsobjekt steht das Element der Montaru-Bilder in keinem semantischen Bezug. Die gesehenen Anregungen und ihre Funktion für den Gehalt sind nicht identisch, noch weniger als bei Baumeisters ganz der Moderne zugehörenden Bildern, in denen er prähistorische Artefakte und frühgeschichtlich-archaische Kunstwerke übersetzte.

Baumeister wusste genau, wem er sich verpflichtet sah. Als ich ihm bekannte, dass mir seine dunkeltonigen Gemälde noch wichtiger seien als seine farbigen, stimmte er mir zu: »Ich bin näher bei Leonardo.« Solche Anmerkungen blitzten auf, nie ohne leichtes Lächeln und Schmunzeln, blieben dem Zuhörer aber umso nachdrücklicher in Erinnerung.

Noch weniger sagte Baumeister zu Bildgehalten während seiner Korrekturen an der Stuttgarter Akademie. An die Wand der Klasse hatte er groß geschrieben: »Wir malen keine Bilder, wir studieren.« Hierin – dass es darum gehe, das Sehen, nicht aber die Kunst zu lehren – traf er sich mit Oskar Kokoschka und dessen Intentionen in seiner Salzburger »Schule des Sehens«. Was ich in den frühen fünfziger Jahren noch nicht wusste, erst bei der Edition von Kokoschkas Briefen drei Jahrzehnte später erfuhr, war eine recht enge Beziehung zwischen den beiden Malern während des Ersten Weltkriegs und danach. Sie hatten sich bei Adolf Loos in Wien getroffen und einander gelegentlich Karten geschrieben. Als rund zehn Jahre später Kokoschka seine Dresdner Professur Knall auf Fall aufgegeben hatte, sich um seine ehemaligen Schüler aber sorgte, empfahl er mehrere von ihnen Willi Baumeister, der an der Städelschule lehrte. Beide, in ihren künstlerischen Intentionen so weit voneinander entfernt, dachten später nicht mehr an diese Kontakte, aber die erhaltene Korrespondenz belegt sie als Beweis dafür, dass der allzu stringente Ordnungsglaube heutiger Kunstgeschichte nicht als verbindlich gelten kann.

Zu den Korrekturen hatten Baumeisters Studenten die Arbeiten mitzubringen, mit denen sie gerade beschäftigt waren; gemeinsam wurden sie besprochen, freundlich kritisiert, belobigt, wenn etwas gelungen war. Er hatte eine Art methodischer Ordnung der Elemente und Faktoren geschaffen, die ihm für ein Bild wichtig erschienen: Flächenstrukturen, das Prinzip der »Dekomposition«, des seitlich unbegrenzten Bildraums von unbestimmter Tiefe. Er stellte der ebenmäßigen Struktur den »Solisten« gegenüber, eine akzentuierende Kontrastfigur. Er sprach aber immer nur von den kontrollierbaren Elementen, nie über den Anlass für ein Bild, weil er wusste, dass man Berufung zur Kunst nicht lehren kann, sondern nur die Beherrschung der Mittel des Handwerks in Kenntnis der formalen Bildordnung. Er trennte das Lernbare in aller Eindeutigkeit vom nicht Lehrbaren, aber er legte ebenso Wert darauf, dass seine Schüler ein Handwerk lernten, um mit dessen Hilfe ihr Leben bewältigen zu können. Er war in dieser Hinsicht ein Antipode des heute gängigen Akademiebetriebs. Er selbst hatte vor dem Malereistudium bei Adolf Hölzel eine Lehre bei einem Dekorationsmaler absolviert, und während der Jahre der Verfolgung hatte er längere Zeit davon gelebt, dass er gebrauchsgraphische Aufträge übernahm, ein »Doppelleben« wie sein Zeitgenosse Gottfried Benn führend. Etwas von dieser Lebenstüchtigkeit wollte er seinen Studenten mit auf den Weg geben.

Wenn nur wenige Gäste zu einer der sonntäglichen Matineen kamen, nahm Baumeister sie gelegentlich mit in sein Atelier. Es befand sich in der im Krieg weitgehend zerstörten, nur notdürftig benutzbar gemachten Nachbarsvilla an der Stuttgarter Gerokstraße mit einem Nebeneingang zur Gänsheidestraße. Man nannte diese Villa kurz »die Ruine«. Ihre Travertin-Verkleidung hatte durch die SS einen Tarnanstrich erhalten, der in den fünfziger Jahren allmählich zu verbleichen begann. Hier hatten sich mehrere Einrichtungen etabliert, u. a. eine Ballettschule, die Baumeister eine intensive Beobachtung von Körpern in Bewegung erlaubte.

Man betrat das provisorisch hergerichtete Haus durch einen alten Nebeneingang und gelangte über ein repariertes Treppenhaus mit kahlen Betonstufen und einem Handlauf aus rohem Holz in den ersten Stock, wo sich Baumeisters Atelier befand. An der Brettertür klebte neben anderen Papierchen ein Billett mit dem Aufdruck: »Eintritt zum Hochaltar 50 Pfennig«.

In dieses Allerheiligste ging Baumeister jeden Morgen gegen neun Uhr und begann zu malen, wie ein Handwerker seine Arbeit angeht. Er war sich seiner Phantasie, seines Erfindungsreichtums, seiner handwerklichen Fähigkeiten zur Übersetzung seiner Ideen ins Bild so sicher, dass er nicht auf den kairos, den inspirierten Augenblick, warten musste. Die Entdeckung des Unbekannten, das er in seinem unter größter Einengung geschriebenen Buch belegt, gedeutet und anschaulich gemacht hatte, war für ihn eine tägliche, sich wie selbstverständlich ergebende Erfahrung.

Der größere Teil von Baumeisters druckgraphischem Werk stammt ebenfalls aus den wenigen Jahren zwischen 1947 und 1955. Je mehr man von diesem ungemein reichen Œuvre kennenlernt, umso größer wird der Respekt vor einer Leistung, deren Grundlage nie ein erkennbar schnelles Agieren war. In dem auf individuelle peinture verzichtenden Duktus spürt man die Kontemplation und Ruhe des Malers.

Der Verzicht auf jede sichtbare Spur der Hand musste Baumeisters Begeisterung für die neue Technik der Druckgraphik, die Serigraphie, wecken. Sie gestattete es ihm nicht nur, Farben deckend zu drucken, sondern ermöglichte ihm auch, reine Flächen ohne jede Struktur zu erzeugen. In seinen Lithographien der zwanziger und dreißiger Jahre hatte er ein ähnliches Ergebnis fast nur mit dem Verzicht auf Vielfarbigkeit erreichen können. Es traf sich günstig, dass Baumeister in der »Ruine« unter seinem Atelier eine dort neu eingezogene Siebdruck-Werkstatt fand. Sie wurde von dem deutschen Pionier des Verfahrens, Luitpold (Poldi) Domberger, geführt. Und mit Erich Mönch von der Stuttgarter Akademie kannte Baumeister einen versierten Lithographen. In der Werkstatt in der Gerokstraße wurden zwischen 1950 und 1955 Baumeisters heute hochgeschätzte Serigraphien gedruckt; die meisten von ihnen tragen auf der Rückseite den Klebezettel »Atelier Poldi Domberger« mit der Adresse Gänsheide 26; während der Nachkriegszeit eine glückliche Voraussetzung für seine Produktivität in beiden Disziplinen der Druckgraphik.

Zur Begegnung mit Poldi Domberger kam es, wie dieser berichtete, weil Baumeister, wie immer neugierig, auf dem Weg ins Atelier einen Blick in dessen Werkstatt warf und fragte: »Was machen Sie denn da?« Er ließ sich die Technik erklären und versuchte sich umgehend damit. Kurz zuvor hatte er in einer Wanderausstellung der Amerika-Häuser die ersten Serigraphien gesehen. Nun konnte er selbst damit experimentieren, musste jedoch zunächst Erfahrungen sammeln. In den ersten Abzügen der ersten Serigraphie, der »Kosmischen Geste« von 1950, entdeckt man bei genauem Hinsehen, dass einige kleine Farbflecken nicht gedruckt, sondern mit dem Pinsel aufgetragen sind. Dies blieb die Ausnahme, bald wurden alle Partien von den Sieben gedruckt. Die wirtschaftlichen Voraussetzungen waren zunächst schwierig, denn der junge Drucker musste seine Materialien selbst bezahlen, und auch Baumeister musste mit seinen Möglichkeiten haushalten. Domberger erzählte später, er habe entsetzt zugesehen, wie Baumeister ein bestimmtes Blau anrührte, um die letzte Nuance zu treffen. Die teure Farbmenge wuchs dabei immer mehr an, weit über die benötigte Menge hinaus.

Der Verkauf der Blätter konnte gerade den Aufwand decken. Es ging Baumeister jedoch nicht um wirtschaftlichen Gewinn. Sein Hauptziel war, seine Kunst für einen größeren Kreis erschwinglich zu machen. Generös überließ er uns Studenten seine Serigraphien für Beträge zwischen 5 und 25 DM, nicht mehr als damals die reinen Druckkosten. Für ihre Motive wählte er zunächst überwiegend bereits realisierte ältere oder neuere Gemälde. Erst nach drei bis vier Jahren inspirierte ihn die Arbeit an Serigraphien zu eigenen Formen und Sujets. Dazu zählt die wegen seines plötzlichen Tods unvollendete farbige Folge zum Gilgamesch-Epos, vor allem auch sein letztes Zeichen, das »Han-I«. Er fuhr bei dessen Erfindung mit der Druckwalze über eine Folie, sagte: »Der Zufall macht die schönsten Sachen«, präzisierte die Kontur mit der Schere und fand so das rätselhafte Zeichen, das oft als Memento mori gedeutet wird. Als Felicitas Baumeister und ich zum 50. Todestag des Malers eine gründlich bearbeitete Edition seiner Druckgraphik herausgaben und Felicitas Baumeister den alten Luitpold Domberger kurz vor seinem Tod besuchte, erwähnte er nochmals diese Episode und schenkte seiner Besucherin die ein halbes Jahrhundert lang unbeachtete, fast unversehrt erhaltene Folie für das Baumeister-Archiv – eine noble Geste, mit der die Entstehung einer Inkunabel der Serigraphie dokumentiert bleibt.

Da die meisten Kenner der Druckgraphik damals jedoch keine ausreichende Vorstellung von der neuen Technik und ihrer manuellen Handhabung durch Baumeister besaßen, verbreiteten sie die Meinung, es handele sich bei diesen Blättern um rein mechanische Reproduktionen. Mein Ankauf einer geschlossenen Suite für das Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe, die darauf gestützte erste Edition eines Werkkatalogs und die danach spürbar steigende Nachfrage nach den Blättern eliminierten nach und nach diesen Irrtum. Heute erzielen die meist nur in kleiner Auflage gedruckten Blätter auf Auktionen und im Handel stetig steigende Preise.

Baumeister hatte, seitdem er sein zum Glück nur wenig beschädigtes Stuttgarter Haus nach Kriegsende wieder beziehen konnte, sich eine eigene Welt eingerichtet. Nach außen bürgerliche Solidität wahrend, lebte er mit und zwischen rund 250 Werken früher und fremder Kulturen. Ihre Anordnung blieb bis heute erhalten. Gipsabgüsse von Steinzeit-Artefakten, die Baumeister selbst patinierte, stehen neben den Originalen, neben Kykladen-Idolen, afrikanischen Statuetten, mexikanischen Tonfiguren, steinzeitlichen Beilen oder mesopotamischen Rollsiegeln und ägyptischen Uscheptis – ein Kompendium von Zeugnissen jener Kulturen, die für Baumeister die gleiche Bedeutung besaßen wie die europäische Kunst der Vergangenheit. Seine Bilder, die heute noch über dieser sehr persönlich geprägten Sammlung hängen, paraphrasieren sie, gelegentlich erkennbar, vorwiegend jedoch auf eine sehr freie, die ursprüngliche Anregung vergessen machende Weise. Einer der Beweise dafür, dass die Revolutionäre der Moderne sich ihrer Traditionen bewusst und sicher sind.

Baumeisters Vitalität, sein schöpferisches Vermögen und seine künstlerische Phantasie erschienen als so virulent, dass niemand damit rechnete, es könnte damit plötzlich ein Ende haben. Unbekümmert tat er seine Arbeit. Wir konnten ihn mit einigen Freunden an einem heißen sonntäglichen Sommermorgen des Juni 1955 dabei beobachten. Er saß vor der Staffelei und meinte, als wir durch die Tür mit dem Hochaltar-Billett eintraten, beiläufig, wir könnten uns mit kaltem Wasser erfrischen; ein Schlauch läge auf dem Balkon. Unsere Sorge, dass der Balkon zum Schutz vor Blicken von außen durch vorbereitete Malgründe auf Spanplatten und große Montaru-Bilder verstellt sei, wischte er nonchalant zur Seite – die Bilder seien noch nicht fertig. So zogen wir uns aus, bespritzten uns mit dem Schlauch, hüllten uns in Decken, als meine Freundin und spätere Frau Angelika hinzukam, und hatten einige Tage darauf die Photographien in Händen, die Baumeister von diesem nicht alltäglichen Sommervergnügen gemacht hatte. Niemand dachte daran, dass dieser Besuch einer der letzten gewesen sein konnte.

Am 31. August 1955 hörte ich in Hagen die Abendnachrichten und stockte, als der Sprecher sagte, der Maler und Bühnenbildner Willi Baumeister sei verstorben. Wenig später erfuhren wir, dass er nach dem Mittagessen in sein Atelier gegangen war, um an einem Bild noch etwas zu tun. Als seine Schülerin Luisa Richter ihn kurz darauf besuchen wollte, fand sie den Künstler tot vor der Staffelei.

Gleich nach der Radiomeldung ging ich zu der nicht weit entfernt wohnenden Familie Breuer, die hervorragende Baumeister-Bilder erworben hatte, um ihnen die unerwartete Botschaft zu bringen. Eine Flasche Champagner, die wir auf Baumeister tranken, brachte uns für den Augenblick über den Schock hinweg. Aber die durch seinen Tod entstandene Leere konnte lange nicht gefüllt werden.

Henry Moore

Im Sommer 1952 reisten mein Freund Fritz Breuer und ich mit seiner Mutter nach England, um London und die englischen Kathedralen kennenzulernen. Maria Breuer wollte ihrem Mann als Überraschung eine Zeichnung Henry Moores mitbringen. Der Bildhauer war zwar schon berühmt, aber selbst in der Londoner Tate Gallery nur mit wenigen Werken vertreten. In öffentlichen oder privaten Sammlungen Deutschlands sah man ihn kaum. Dass Max Sauerlandt bereits 1931 – als erster Museumsleiter überhaupt – eine kleine Steinskulptur und einige Zeichnungen Moores für sein Museum gekauft hatte, wusste niemand mehr.

In der Bundesrepublik galten nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst andere Bildhauer, die nach der Befreiung rehabilitiert und als Lehrer an Kunstschulen berufen wurden, als Repräsentanten der Zeit; sie fanden zu Recht überall bald ein Echo. Zu ihnen zählte Gerhard Marcks. Seitdem er von Hamburg nach Köln in die ihm dort generös bereitgestellte Villa gezogen war, galt es in der rheinischen Gesellschaft als angebracht, etwas von ihm zu erwerben. Auch der Besitzer des Kölner Kiepenheuer-Verlags Josef Caspar Witsch besaß einige seiner Bronzen. Als wir um 1954 darüber sprachen, nannte ich Marcks zwar einen guten Bildhauer, wagte jedoch anzumerken, dass Henry Moore wohl ungleich bedeutender sei. Wütend sprang Witsch auf, er lasse sich nicht beleidigen, und rannte aus dem Zimmer. Doch bereits 1956, also nur zwei Jahre nach diesem Ausbruch, brachte er die erste deutsche, von Josef P. Hodin geschriebene Moore-Monographie heraus.

Ein zutreffendes, wenn auch satirisch verkleidetes Urteil über Moores Skulptur besaß Oskar Kokoschka, der seinem Hamburger Sammler Edgar Horstmann schrieb: »Moore ist wie Schweizer Käse. Das Beste daran sind die Löcher.«

Nicht ohne Zagen, Scheu und Respekt rief ich 1952 von London aus den Bildhauer mit der Frage an, ob es möglich sei, von ihm für einen deutschen Sammler eine Zeichnung zu erwerben. Nach der wie selbstverständlich gegebenen Zusage beschrieb er unkompliziert und sachlich, wie man von Liverpool Street Station mit Zug und Taxi nach dem in Somerset abseits gelegenen Much Hadham komme. Er bewohnte bereits dasselbe bescheidene Cottage, das er später vergrößerte und um weitläufigere Werkstätten erweiterte, dessen Kern aber bis zum Tod des Künstlers seinen Charakter nicht veränderte.

Bei der Ankunft trat uns jemand gegenüber, der mehr dem Leiter einer angesehenen englischen Bankfiliale als einem Bildhauer glich; er trug eine Wollkrawatte und ein elegantes englisches Jackett, begrüßte uns freundlich und sachlich, ähnlich wie ein Bankier einen ihm noch nicht bekannten Kunden. Allmählich – eigentlich erst nach mehreren Besuchen – entdeckte man hinter dem korrekten Äußeren und der sachlichen Diktion die im Schiller’schen Sinn naive, sich unmittelbar äußernde Emotionalität des Künstlers.

Henry Moore vor seinem Werkplatz, Much Hadham, 1955

Nachdem Maria Breuer Henry Moore wegen des Kaufs einer Zeichnung angesprochen hatte, nahm er uns mit in einen eigenen Raum, in dem sich, bereits ordentlich gerahmt, die verkäuflichen Zeichnungen befanden. Beiläufig erzählte er, dass er jeweils eine besonders schöne Zeichnung aus einer Folge seiner Frau Irina schenke, die mithin im Laufe der Jahre eine ausgewählte Kollektion besaß. Vermutlich befindet sie sich heute in der von Moore gegründeten Stiftung. Meinen Künstlerfreunden habe ich immer wieder empfohlen, es mit ihren Blättern wie Moore zu halten und eines der besten in gewissen Abständen der Lebensgefährtin zu übereignen.

Auf dem Weg zum Raum mit den Zeichnungen gingen wir durch den Garten hinter dem Haus und kamen an einer kleinen Gartenlaube vorbei, in der ungerahmte Blätter Moores in buntem Durcheinander zusammen mit Kinderbildern seiner damals vierjährigen Tochter auf dem Boden lagen. Sein nur für ihn bestimmtes Reich blieb der Arbeitsraum, in dem er seine kleinen Figuren modellierte; dieses für andere normalerweise nicht zugängliche Refugium besaß eine Faszination, die sich jedem Eintretenden unmittelbar mitteilte. Es sollte drei Jahrzehnte unverändert so bleiben, wie wir es beim ersten Mal sahen. In seiner Mitte stand ein praktischer runder Tisch von etwa 1,5 Meter Durchmesser mit einem umlaufenden erhöhten Randstreifen, der die in bunter Mischung darauf befindlichen kleinen Objekte, Knochenteile, Fragmente von Bozzetti, vom Wasser ausgewaschene Steine, vor dem Herabfallen bewahrte. In kleinen Regalen an den Wänden standen kleine Terracotten, Gipse und Bronzegüsse, mit leichtem Arbeitsstaub bedeckt. Der Tisch barg Moores Reservoir an Ideen und Inspirationen, er brauchte zur Anregung selten größere Modelle oder Objekte. Die im Mondlicht wie versteinerte Giganten erscheinenden Monolithe, mit denen er, seine Jugenderinnerungen erneuernd, 1971 bis 1973 auf seinen Stonehenge-Lithographien die Stelen als archetypische Kolosse deutete, hatten eine Parallele in den Knochen, Steinen und Artefakten auf seinem Arbeitstisch; ebenso der Elefantenschädel, den ihm 1968 der Biologe Julian Huxley zum 70. Geburtstag schenkte und der danach einen Eckplatz in dem kleinen Studio fand. Nach ihm entstand die wohl eindrucksvollste Radierfolge Henry Moores.

Was an Formen einer elementaren Natur, was Archetypisches und Vorgeschichtliches in Moores Bildwerken steckte, wurde für uns zwei Jahre später anschaulich, als meine künftige Frau und ich auf unserer ersten gemeinsamen Reise in Much Hadham einen Besuch machten – ohne mit unserem schmalen Studentenbudget etwas kaufen zu können. Moore empfing uns sehr freundlich, sicher auch deshalb, weil der ersten Erwerbung für die Breuer’sche Sammlung bald weitere gefolgt waren; der einen oder anderen davon begegnet man heute gelegentlich in deutschen Museen. Moore, der uns wieder durch seine Räume führte und die dort befindlichen Arbeiten zeigte, empfahl uns dringend, in das nahe von Dumfries im Süden Schottlands gelegene Gut Glenkiln zu fahren; dort habe der Sammler William Keswick einige seiner Bronzen in der freien Landschaft, in einem kahlen Hochmoor, aufgestellt.

Es handelt sich um ein stattliches freies Areal, damals nur notdürftig mit einem einfachen Drahtzaun umgeben. Autos hatten vor dem Gatter zu bleiben. Ein Feldweg führte an kahlen Hügeln vorbei zu den in Distanz voneinander aufgestellten Bronzen. Doch bevor man zu Moores Sitzgruppe »König