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"Hallo, Teetje! Du oder ich. Einer von uns beiden muss sterben!" Die Erde schüttelte sich. Einmal. Milliarden Menschen starben. Der Text begleitet eine Reihe von Überlebenden durch die erste Woche nach der Katastrophe. Unter ihnen sind: - eine Schülerin - vier Personen in einem Lift - die Bundestagspräsidentin - ein Arzt - eine Mutter und ihre drei Kinder - ein Prepper - eine Polizistin Die Stärke des Buches liegt in den Fragen, die es stellt und nicht beantwortet.
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Seitenzahl: 244
Veröffentlichungsjahr: 2019
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Donnerstag, 1. Juli
Freitag, 2. Juli
Samstag, 3. Juli
Sonntag, 4. Juli
Montag, 5. Juli
Dienstag, 6. Juli
Mittwoch, 7. Juli
14.00 h, Hamburg
Das dumpfe Geräusch.
Alle hatten es gehört. Jeder erinnerte sich anders daran.
Gritt Habber, 14: »Es rumpelte, als würden alle Stahltore einer Fabrikhalle geschlossen. Mit großem Krachen rasteten sie ein.«
Thorben Dengmann, 59: »Ich meinte, in einem Gebirgstal zu stehen und zu hören, wie eine alles niederwalzende Lawine auf mich zukam.
Lisa Sandhoff, 3: »Wenn Opa Lustig im Bett einen Brummer ablässt. Dann hüpft die Bettdecke. Und es stinkt. So war auch das Geräusch.«
Timo Stulz, 36: »Stellen Sie sich vor, Sie tauchen im Meer. Plötzlich fallen von oben zehn, elf, zwölf gewaltige Felsen ins Wasser, rauschen hart an Ihnen vorbei und schlagen nur Sekunden später auf felsigen Meeresgrund.«
Das dumpfe Geräusch. Alle hörten es.
Es polterte. Unten in 35 Kilometer Tiefe, bald darauf in 15 Kilometer Tiefe.
Gläser und Scheiben klirrten, als es fünf Kilometer unter der Oberfläche rumorte.
Das dumpfe Geräusch. In Endlosschleife.
Entfessete Urgewalt hob die ganze Stadt nach oben.
In einem Ruck. Um zwei Meter. Von jetzt auf gleich.
Hamburg wurde wie ein Pfannkuchen in die Luft geworfen.
Gleich darauf stürzte alles drei Meter in die Tiefe.
Krachend schlug Hamburg auf. Ungebremst.
Stein und Beton dröhnten, Stahl und Aluminum kreischten.
Das dumpfe Geräusch.
Erneut wurde die Stadt nach oben geschleudert. Diesmal um zwei Stockwerke.
Alle Menschen schrien. Ein einziger klagender Laut füllte die Luft.
Zum zweiten Mal stürzte Hamburg in die Tiefe. Das Fallen stoppte jäh. Wände taumelten, nickten in Ekstase, brachen auseinander. Rohre platzten, barsten, rissen. Brücken brachen nach wildem Tanz erschöpft zusammen.
Die Erde nickte wild. Schwang sich auf und ab.
Hin und her. Kreuz und quer.
Von einem Satelliten aus hätten Beobachter den Eindruck gehabt, Abfall würde in einem gigantischen Rüttelsieb sortiert.
Aus der Nähe teilte sich Hamburg in ganz neue Schichten.
Ganz oben bewegten sich Staub, Flyer, Coffee to go Becher, Baseballkappen, Smartphones, Brillen.
Darunter Blumen, vereinzelte Schuhe, Mäuse, Plastikflaschen, Äpfel.
Sodann Rollatoren, Brote, Katzen, Schulrucksäcke, Hände, Füße, Welpen, Kleinkinder.
Ziemlich unten Pflastersteine, Doggen, Fahrräder, Erwachsene, Papierkörbe, Verkehrszeichen.
Unten Mülltonnen, Autos, Verkaufsstände, Türen.
Eine Handbreit über dem Boden des Siebs schwebten Container, Lkws, Busse und Barkassen.
Hoch über allem kreischten verzweifelte Möwen.
Ihr Instinkt hatte versagt.
Das dumpfe Geräusch. Es verschwand so plötzlich wie eine Seifenblase.
Ruckartig endete der Tanz.
Alles sank, von Schwerkraft bestimmt, nach unten.
Es gab keine Gebäude mehr. Keine Mauern. Keine Bäume. Keine Straßen. Keinen Hafen.
Keine Elbphilharmonie. Keinen Michel. Die Hansestadt Hamburg lag unter
einem Leichentuch. Der Staub versteckte die Wolken.
Ähnliche Bilder boten Cuxhaven und Lüneburg,
Moskau, Nairobi, Tokyo, …
14.14 h, Louise-Schroeder-Straße, Hamburg
Der Aufzugkorb federte nach unten und oben, schwankte nach rechts und links. Seine vier Insassen wurden wie Billardkugeln durch den Korb gestoßen, hatten keine Chance, sich irgendwo festzuhalten.
Als der Spuk endete, kauerten alle benommen auf dem Boden. Die drei Älteren tasteten sich ab, bewegten ihre Arme, Füße, Hälse, sortierten sich innerlich, sahen sich gegenseitig an, nickten sich bestätigend zu. Der Jüngste aber, gerade zwanzig Jahre alt, blieb zusammengekrümmt in der Ecke sitzen, flüstete immer wieder: »Mami, Mami, ich will nicht sterben!« Der Mann mit den korrekt geschnittenen Haaren sah zur Frau: »Ich würde gerne zu ihm gehen. Aber unsere Kabine könnte dann abstürzen.« Die Angesprochene schwang ihren Oberkörper nach links und rechts und erhob sich vorsichtig. Sie lächelte den exakt Frisierten an: »Ich denke, dass ich etwas mehr wiege als Sie. Während meiner Bewegungen rührte der Korb sich keinen Millimeter. Dann wird er sich auch nicht von der Stelle bewegen, wenn Sie zu der Heulboje gehen. Wie hoch sind wir eigentlich?«
Jetzt griff der Mann mit dem dunkelblauen Mantel ins Gespräch ein: »Die Lampe zeigt den 4. Stock an. Das muss aber nicht stimmen. Denn wir waren genau in Höhe des 4. Stocks, als der Blindgänger hochging. Ich gehe mal vorsichtig zum Notfallknopf und drücke ihn, weil unser Aufzug feststeckt.«
»Bewegen Sie sich sachte!«, bestimmte der korrekt Frisierte. Er selbst näherte sich Zentimeter um Zentimeter dem jungen Mann und sprach ihn an: »Winand, Sie haben einen Schock. Legen Sie sich flach auf den Boden. Ich werde Ihre Füße hochnehmen und gegen die Wand lehnen.« Der Angesprochene unterbrach sein »Mami, ich will nicht sterben!« Gebrabbel nicht. Aber er legte sich auf den Boden, hielt dabei verkrampft die Hände vors Gesicht. »Gut, Winand! Nun setze ich Ihre Füße hoch an die Wand! Atmen Sie danach ruhig aus und ein. Ganz tief, ganz langsam!« Der Mann hob die Füße des Jüngeren hoch und trat dabei auf ein hellgelbes Feld des Bodenbelags. Im gleichen Moment kippte sanft, fast unmerklich der Kabinenboden nach links. Alle verharrten in ihren Bewegungen, wagten nicht einmal zu atmen. Mit einem leisen Pochen berührte die Kabine die Wand. Vier Augenpaare weiteten sich vor Panik. Würde ihr Aufzug jetzt in die Tiefe stürzen und vier Stockwerke nach unten rasen? Keiner von ihnen würde das überleben. »Der Boden! Er zittert!«, flüsterte der gut Frisierte aschfahl. Die Wände der Kabine schwankten sanft. Die vier Eingeschlossenen warteten. Minuten wurden zu Ewigkeiten. Schließlich bewegte sich der Fahrstuhlkorb nicht mehr.
Der Mann im blauen Mantel drückte erleichtert den Notfallknopf. Ein-, zwei-, dreimal. Niemand meldete sich. Jetzt griff er zu seinem Handy: »Ich heiße Peer Friedrich. Nennt mich ruhig Peer. Wir vier müssen vielleicht einige Stunden gemeinsam in dieser kleinen Kabine verbringen, weil der Aufzug festsitzt. Ich rufe sofort den Hausmeister an. Seine Nummer steht hier auf dem Schildchen mit den Anweisungen für den Notfall.«
»Ich bin Ilona. Ilona von Beckfolt«, stellte sich die Dame vor und fragte: Wie meintest du das mit dem Blindgänger, Peer?« – »Weisst du, wie viele Blindgänger aus dem Zweiten Weltkrieg hier in Hafennähe noch rumliegen?«, fragte Peer Friedrich zurück. Er lauschte in sein Handy, sah auf die Anzeige. »Es gibt kein Netz hier.« Ilona von Beckfolt griff zu ihrem Smartphone. »Vielleicht habe ich ein anderes Netz, und das könnte funktionieren. Peer, meinst du wirklich, dass die hier ein zehnstöckiges Haus hinsetzten, ohne den Boden auf Blindgänger zu untersuchen?« – »Der Blindgänger könnte dreißig Zentimeter unter dem Fundament gelegen haben oder einen Meter daneben.«
Ilona von Beckfolt bekam auch kein Netz. »Komisch, sonst konnte ich immer im Fahrstuhl telefonieren. Sollen wir mal rufen, damit die draußen uns hören?« – »Erst, wenn Winand Mann wieder einen klaren Kopf hat«, warf der bestens Frisierte ein. »Ich bin übrigens Hanjo Dunwaldt, und Winand hat tatsächlich den Nachnamen Mann, Winand Mann.« – »Woher weißt du, wie er heißt, Hanjo?« – »Ich bilde ihn aus, als Speditionskaufmann. Bei der Spedition im neunten Stock. Hat einer von euch etwas zu trinken mit? Etwas Flüssigkeit täte Winand gut.«
Ilona von Beckfolt hatte eine Literflasche Mineralwasser dabei. Sie reichte sie an Hanjo Dunwaldt. Der ließ Winand Manns Beine zu Boden und bewegte sich langsam auf dessen Kopf zu: »Winand ist unser Azubi im zweiten Lehrjahr. Tüchtig, aber augenblicklich unter Kontrollverlust.« Im nächsten Moment hörten alle hinter der Kabinenwand ein leichtes Kratzen. Sank der Aufzug nach unten?. Wieder verharrten sie zwei Minuten wie Salzsäulen. Zu ihrer Erleichterung hörten sie kein Kratzen mehr. Aber ihre Herzen pochten immer noch wild.
Als erster bewegte sich Hanjo Dunwaldt, so langsam wie möglich. Er flößte seinem Auszubildenden etwas zu trinken ein. Der verschluckte sich, spuckte, hustete und murmelte endlich: »Entschuldigung. Entschuldigen Sie bitte.« Ilona von Beckfolt half ihm, seine Verlegenheit zu überspielen: »Winand, du darfst uns ruhig duzen. Ich wäre dafür, dass wir endlich Krach schlagen und uns melden. Ich muss hier raus, die Enge löst langsam Panik bei mir aus.«
Winand Mann bekrabbelte sich und versuchte aufzustehen. »Langsam! Die Kabine darf nicht abstürzen!«, mahnte ihn Hanjo Dunwaldt. Als Winand Mann endlich stand, nickte er den anderen zu. »Hilfe! HILFE! HILFE«, riefen sie gemeinsam. Nach längerem Rufen warteten sie auf Antworten. Vergeblich. Sie hämmerten – mit aller Vorsicht – SOS … kurz-kurz-kurz-lang-lang-lang-kurz-kurz-kurz … gegen die Wände des Fahrstuhls. Über eine Stunde lang versuchten die vier, sich bemerkbar zu machen. Anfangs warteten sie 15 Sekunden auf Antworten, dann 30 Sekunden, zum Schluss je eine Minute.
Von draußen war nichts zu hören, überhaupt nichts. Das Ausbleiben von Reaktionen begründeten sie zuerst damit, dass die Helfer sich um die Verletzten bemühen mussten, die im Haus oder seiner Umgebung herumlagen. Aber ihre Ungeduld und ihr Unbehagen wuchsen. »Ist der Fahrstuhl schallisoliert?« – »Warum bekommen wir kein Netz?« – »Der Hausmeister müsste doch auf das Drücken des Notknopfes reagieren. Herr Förster ist absolut zuverlässig.« – »Warum hören wir keine Sirenen, keine Sägen, keine Hammerschläge?« – »Da draußen ist es so still wie auf einem Friedhof.« – »Könnte es sein, dass die Bombe hier im Hochaus alle tötete, nur uns nicht? Vielleicht geht die Feuerwehr davon aus, dass es überhaupt keine Überlebenden gibt.« – »Also, meine Frau sucht garantiert schon nach mir. Da draußen gibt es bestimmt auch Menschen, die euch vermissen. Oder etwa nicht?«
14.21 h, Sophienallee, Hamburg
Gritt Habber zwängte sich zwischen beiden Betonplatten ins Freie. Sie war viel zu benommen, um auf ihre Umgebung zu achten. Nur der eklige Gestank fiel ihr sofort auf. Es roch nach Hanne. Noch in dieser Minute musste Gritt Habber der fetten Kuh eine Nachricht schicken. Hanne hatte sich in den Ablauf der Sportstunde eingemischt. Dabei gelang es dieser wabbelnden Fettrolle beim Hochsprung nicht einmal, über einen Strumpf zu springen, der auf dem Boden lag. Inhalt der Nachricht an Hanne: »Bitch, morgen bist du tot!«
Gritt Habber würde ihr den Kopf umdrehen, mindestens die Augen auskratzen. Heute Vormittag hatte Frau Brendt die Klasse in Volleyball-Mannschaften eingeteilt. Und trennte dabei die siamesischen Zwillinge der Klasse, Marga Larsen und Gritt Habber. Die schleimige Viper Hanne Breilmann hatte dafür gesorgt. »Frau Brendt, wenn Gritt und Marga in einer Mannschaft sind, haben die anderen keine Chance. Bitte lassen sie die beiden nicht zusammen spielen!«, flüsterte sie der Lehrerin ein.
Die Brendt nickte zustimmend, teilte Marga und Gritt verschiedenen Mannschaften zu. Seit diesem Moment war die Sportstunde für Gritt Habber vergiftet. Marga in der gegnerischen Mannschaft und nicht bei ihr? Das ging nicht! Das ging gar nicht! Drei Minuten später meldete sie sich wegen einer Zerrung vom Sport ab. Als sie der Brendt ihre Verletzung vortäuschte, konnte sie voller Wut sogar Tränen fließen lasssen.
Den ganzen Vormittag hatte sie sich auf das Volleyballspiel gefreut! Und dann der Querschuss von Hanne Breilmann! Aber morgen! Morgen war der Tag der Gerechtigkeit. »Ich verwandle sie in die hässlichste Kröte des Universums, und wenn ich von der Schule fliege!« – Nanu? Die Nachricht an die fette Qualle wurde nicht weitergleitet. Gritt Habber gab sie noch einmal ein. Wieder »Kein Netz«! Was war denn los?
Sie sah sich um. Und staunte. »Hab ich einen Kevin im Gehirn?« Wo um alles in der Welt war sie nur? Das war doch nicht die Sophienallee! Vorhin, vor dem Sturm mit seinem Gruseldonner, ging sie durch die Sophienallee. Wo aber steckte sie jetzt? In einem Industriegebiet? Sie stand in Staub. Alles um sie herum war staubig, der Boden, die Luft, der Himmel. »Dass es so viel Staub gibt«, wunderte sie sich. »Man sieht ja keine 40 Meter weit.« Und es roch eklig. So richtig nach Hanne. Diese Schlampine war auch verantwortlich für das Verschwinden der Häuser und das wummernde Krachen des Sturms. Hanne Breilmann hatte sogar die Mobilfunkmasten verschwinden lassen! »Mitten in Hamburg stecke ich in einem Funkloch. Du bekommst die Nachricht trotzdem, Hannehexe! Ich gehe los, bis ich wieder Netz habe.«
In welche Richtung sollte Gritt Habber gehen? Eigentlich wollte sie zu Marga, die in der Eduardstraße wohnte. Ihre Freundin hatte die Englischarbeit kopiert. Auf Frau Eickborn war Verlass. Sie ließ Jahr für Jahr die gleichen Arbeiten schreiben, wechselte immer nur einen Absatz aus. So war bei jeder Klassenarbeit mindestens eine Drei sicher. Aber dafür musste Gritt Habber jetzt die Eduardstraße finden. Wo versteckte die sich in dem Staubgewusel? Gritt schaltete ihr Smartphone aufs GPS-System. Keine Angabe. Ach, ja. das Funkloch! Also, Mund auf und fragen! Sie erblickte aber keinen Menschen. Keinen einzigen Menschen.
Warum fiel ihr das erst jetzt auf? Staub, Staubnebel und Staubwolken minderten die Sichtweite hier im Industriegebiet. Komisch, warum fuhren keine Lkw oder Transporter? Kräne waren auch nicht zu sehen. Zur linken Seite meinte sie einen Lkw zu erkennen. Einen kaputten Lkw. Es sah so aus, als hätte die Zugmaschine kein Dach. Egal, wo ein Lkw war, mussten auch Arbeiter sein. Die konnten ihr dann sagen, wo sie eigentlich war. Erst als sie losgehen wollte, fiel ihr auf, dass der Bürgersteig fehlte. Überhaupt, wo war die Straße? Um Gritt dehnte sich eine glatte Fläche aus, bestehend aus tausenden durcheinander geworfener Brocken und Platten. Über diese hatte sich mit mathematischer Gleichmäßigkeit Müll verteilt. Sie machte Zeitungsblätter aus, hunderte Strohhalme, Reste von Flaschen, Flyer, einen halben, leeren Bilderrahmen, Lotionampullen, die ihren Inhalt gutmütig an Steine und Rohre verteilt hatten und Pizzateile. Etwas weiter weg lag eine Halloween-Maske. Ein platt geklopftes Gesicht ohne Augen. Dafür aber mit Zähnen, die durch Lippen und Wangen gestanzt waren. Die ekelige Maske wirkte täuschend echt. »Ich könnte vor Angst einen Pudding jodeln!« Gritt schüttelte sich, guckte gar nicht weiter hin und versuchte, den Lkw zu erreichen.
Da kam Wind auf und mit ihm ein nächste Wolke stinkenden Hannestaubs. Gritt Habber musste husten. Der Staub kitzelte ihre Nase, geriet auch in ihr Auge. Es brannte etwas. Sie klappte die Augenlider auf und zu. Das Brennen hörte auf. Aber der Staub saß noch in der Nase. Gritt wollte ein Taschentuch aus ihrer Jacke holen und bemerkte, dass ihre Jacke und die Hände sich stumpf anfühlten. Sie sah an sich herunter.
»Das kann doch nicht wahr sein! Wie sehe ich denn aus?« Schuhe, Hose, Jacke, selbst ihre Hände waren von einer feinen Staubschicht überzogen. Sie klopfte Hose und Jacke ab. Aber nur die Häfte des Staubs, der sie sofort in eine kleine Wolke hüllte, ging ab. Sie stolperte drei Schritte weiter, um die Staubwolke zu verlassen. Der Staub musste weg! Gritt Habber schlug ihre Hände gegeneinander. Es war zwecklos. Weggewischter Staub flog kurz hoch, verbündete sich mit dem Staub in der Luft und kehrte zu ihr zurück. Hannestaub.
Gritt überlegte, ob sie sich kurz hinsetzen sollte. Die Luft, die sie einatmen musste, stank. Und die Öde um sie herum! Alles lag platt auf dem Boden. Als hätte eine gigantische Planierraupe die Stadt eingeebnet. Dazu herrschte eine gespenstische Stille. Nicht einmal der Wind war zu hören. Sie schnippste mit den Fingern. Das Geräusch verhallte im Nichts. »Ich werde einen Pudding jodeln!«, sage Gritt so laut wie möglich.
Sie sah sich genau um. Es gab keine Bank und kein Stück Wiese, auf das sie sich setzen konnte. Da drüben lag mitten im Gewusel eine große Platte. Auf dem Weg dorthin musste sie sich sehr konzentrieren, um nicht erneut auf die Nase zu fallen. »Meine Slipper sind für dieses Gelände nicht geeignet. Hätte ich doch meine Sneaker an! Hoffentlich ist die nächste Straße nicht weit.« Sie blickte sich um. »Wo ist eigentlich der Turm der Kirche in der Eimsbütteler Chaussee? Den sieht man doch sonst von hier aus? Hat mich Hanne irgendwo hingehext? Dieser Sturm, das war doch kein normaler Sturm. Das war Hexerei! – Also gut, … da drüben ist wenigstens der Lkw. Dann gehe ich dorthin. Aber zuerst befreie ich wenigstens meine Hände und mein Gesicht vom Staub.«
Gritt leckte ihre linke Hand. Das war ein Fehler. Jetzt klebte Staub an ihrer Zunge und in ihrem Mund. Bitterer Hannegeschmack ließ Gritt Habber schaudern. Sie versuchte, Spucke im Mund zu entwickeln. Damit leckte sie wieder und wieder Gaumen und Zähne ab. Den dünnen, bitteren Brei spuckte sie mehrfach aus. Gritt erinnerte sich an ihren Lippgloss, kramte ihn heraus. Mit ihm ließen sich wenigstens die Lippen befeuchten. Der bittere Geschmack im Mund blieb. Er steckte in den Hannestaubkörnern. Die ließen sich einfach nicht beseitigen. Und in den Mund kam keine Spucke mehr. Gritt Habber war kurz vor einem Heulkrampf. Sie sah sich in dieser ganz fremden Gegend um. »Wo Marga wohl jetzt steckt? Und Mami und Papi?« Einige Tränen flossen. Sie wischte keine ab. Hass, Hexerei und Hanne Breilmann rotierten in ihrem Kopf.
Irgendwann raffte sie sich auf, rauchte eine Zigarette. Ihr Ziel war der Schrott-Lkw. Da musste doch der Fahrer sein. Und die Feuerwehr würde bestimmt auch dahin kommen. Der Albtraum musste ein Ende finden. Bald würde alles wieder normal werden. Die Eltern warteten auf sie, ihr Zimmer und das Fläschen Schnaps hinter den Schulbüchern.
14.24 h, Schomburgstraße, Hamburg
In Gina Adlers Jacke steckte ein Umschlag mit 6.500 Euro. Gleich würde sie beim Autohändler 6.000 Euro für Klabauter zahlen. Klabauter, ihr Viersitzer und ungewollt sogar Viertürer, dessen Enden übersichtlich waren. Zusätzlich meldete er sogar, wenn er einem anderen Wagen oder einer Laterne zu nahe kam. Sonst waren die Amaturen auf wenige Funktionen beschränkt. Blinker, Licht, Heizung, Lüftung, eine Intervallschaltung für die Scheibenwischer, das reichte aus. Mehr Instumente war ihrer Meinung nach überflüssig, ja sogar eine Gefahrenquelle. Magda, die Arbeitskollegin vom Büro nebenan, hatte sich auf ihr Navi konzentriert und fuhr über eine rote Ampel. Crash und Totalschaden. Frau Groot, ihre Chefin, verunglückte, weil sie mit den fünf verschiedenen Einstellungen ihres Scheiben-wischers kämpfte. »Weniger ist immer besser, besonders im Straßenverkehr.« Das war ihre Meinung, das hatte schon ihr Vater gesagt.
Klabauters Nachteil war der unüberhörbare Motor. »Dafür weiß ich immer, wie er sich fühlt.« Nun also trennten sie nur noch 20 Minuten von der Übergabe des Fahrzeugs. Sie trat auf die Straße. Aber da war keine Straße. Nur stinkender Dunst und Schweigen. Ein unnatürliches Schweigen. Der Lärm des Verkehrs fehlte, das Bremsen und Anfahren von Autos. Keine Kinderschreie waren zu hören, kein Hundegebell. Kein Vogel piepste. Sie griff zum Handy, stellte ihren Lieblingssender ein. Nichts war zu hören. Auch die anderen gespeicherten Sender schwiegen. Alle Sender schwiegen. Der Suchlauf brachte kein einziges Ergebnis. Das war geradezu unteriridisch!
Was war hier nur los? Sie musste sich in einer anderen Welt befinden. Das hier war nicht die Schomburgstraße! Das hier war eine Steinwüste, umhüllt von nach Essig riechendem Staub. Wo war die vertraute Umgebung? Wegen des dichten Staubs war nichts zu erkennen. Je nach Richtung reichte der Blick nur 20 oder 30 Meter weit. Alles lag flach zu ihren Füßen. Sie sah keine Menschen, Bäume, Busse. Wo war die Sparkasse? Als das komische laute Poltern begann, war sie doch in der Sparkasse gewesen. Sie hatte 6.500 Euro abgehoben. Gina Adler griff in ihre Jackentasche und überprüfte den Inhalt des Umschlags. Sie atmete auf. Das Geld war noch da!
Aber wo war die Sparkasse geblieben? Wo waren die anderen Häuser der Schomburgstraße?
Wie war sie aus der Sparkasse gekommen? Wo war der Ausgang, den sie eben benutzt hatte? Sie ging fünf Schritte zurück. An dieser Stelle hatte sie das Gebäude verlassen. Da war sie sich sicher. Aber der Ausgang hatte gar keine Treppe! Das war ein Loch, ein schräg liegendes Loch. Aus dem war sie vor einer Minute herausgestolpert. Gina Adler geriet jetzt völlig in Verwirrung. Während des dumpfen Getöses hielt sie sich doch gar nicht im Keller der Sparkasse auf! Das Geld hatte sie im Schalterraum bekommen. Wie kam sie in den Keller? Verwirrt sah sie auf zerbrochene Bordsteinkanten, Dachziegel, gelbe und graue Steine. Die große Fläche rechts von ihr war mit Glasscherben und Glassplittern überzuckert. Sie wich einen Schritt nach links zurück. Im Steingewusel ringsumher lagen kleine Bruchstücke weißer Platten. Die hatten zur Fassade der Sparkasse gehört. Gina Adler fand endich ein Faltblatt der Sparkasse. Wünsche werden wahr – Kredite bis 10.000 Euro – sofort!, las sie.
Da lag auch eine Speisenkarte. Gina Adler hob sie auf. Das war die Speisenkarte eines China-Restaurants aus Büttenwerder. Sie wunderte sich: »Büttenwerder? Da liegt doch kilometerweit entfernt. Oder bin ich hier in Büttenwerder?« Wenn sie doch wenigstens weiter sehen könnte. Der dichte, staubige Dunst nahm jede Sicht. War er nicht noch dichter geworden? Gina Adler wollte nur noch weg. Weg von diesem unheimlichen Ort, dessen Anblick und dessen Gestank ihre Sinne betäubten.
Was um alles in der Welt war passiert? Es hatte gerumpelt und gebrodelt. Laut, dunkel, unheimlich. Sie musste sich die Ohren zuhalten und wollte aus dem Gebäude fliehen. Alles wackelte. Sie befand sich in einem knackenden Rührwerk.
War sie in die Dreharbeiten für einen Katastrophenfilm geraten? Oder war die Katastrophe echt? Denn Katastrophenfilme kannten keinen stinkenden Dunst. In Actionfilmen explodierten die Farben und die Ereignisse. Stark aussehende Männer und clevere Frauen an ihrer Seite überwanden alle Probleme, retteten Wittwen und Waisen, manchmal auch die ganze Menschheit. Aber hier, in der Schomburgstraße mitten in Altona-Altstadt gab es nur Schweigen, Steinbrocken, Skunkdüfte, Staub und sie, die 24-jährige Gina Adler.
14.29 Uhr, Hamburg Airport International Helmut Schmidt, HAM
»Achtung! Notlandung Flug E 35 51 22, European First Airline!
Achtung, Hamburg Airport International Helmut Schmidt, HAM.
Wir befinden uns im Anflugsektor der Start- und Landebahn 15/33. Kein Treibstoff.
Landung erfolgt nach Fuel Dumping.
Bitte Flugfeldlöschfahrzeuge und Rettungskräfte bereitstellen.
Tower Hamburg Airport HAM, bitte bestätigen.
Ich wiederhole.
Hier Copilot Daniel Murray.
Notlandung Flug E 35 51 22, European First Airline.
Hamburg Airport Helmut Schmidt, HAM.
Notlandung auf Landebahn 15/33.
Landung erfolgt ohne Treibstoff.
Bitte bestätigen, Tower HAM.«
»Warum schweigt der Tower?«, fragte Copilot Daniel Murray nervös. »Ob es vorhin ihre komplette Sendeanlage erwischt hat?« – »Das kann nicht sein. Die Kommunikationswege des Flughafens sind doppelt und dreifach ausgelegt.« Die Stimme der Pilotin klang ruhig und sachlich wie immer. Maureen Winter, seit vier Jahren Chefpilotin der European First Airline, nahm sich zwei Sekunden Zeit, ihm ins Gesicht zu sehen. Auch jetzt, in dieser Situation auf Leben und Tod, wirkte sie entspannt und gelassen. Daniel Murray saugte diese Gelassenheit gerne in sich auf. Es war nicht ihr erster gemeinsamer Flug. Die Chemie zwischen ihnen stimmte. Die beiden benötigten für Routineabläufe während der Flüge keinerlei Absprache. »Ich vertraue ihr blind«, betonte er in Kollegenkreisen. Umgekehrt bevorzugte sie ihn gegenüber anderen Piloten. Als Chefpilotin hatte sie das Privileg der Auswahl.
Dem Stimmungsaufheller ihres intensiven und beruhigenden Blicks folgten Analyse und Anweisung: »Aber einiges ist verwirrend.« Maureen Winter tippte auf die beiden Displays der Sprechfunkanlage. Sie blinkten rot. Es gab keinen Empfang. »Erstens brach vorhin zeitgleich die Verbindung zum Flughafen und zur deutschen Flugsicherung ab. Zweitens wird unser Navigationsgerät nicht mehr mit Flugkoordinaten gefüttert.«
»Wenn Hamburg International nicht senden kann … Hoffentlich haben sie uns wenigstens gehört, Captain Winter!« – »Die müssen uns gehört haben. Sie müssen. Wir haben nur diese eine Chance zu landen. Also, ich konzentriere mich aufs Leitwerk. Sie melden mir, wenn der letzte Tropfen Kerosin verbraucht ist und sorgen mit den Störklappen fürs Abbremsen während der Landung.«
An Bord des Flugs E 35 51 22 der European First Airline befanden sich 237 Fluggäste und neun Besatzungsmitglieder. Vor 25 Minuten hatten sie Hamburg Airport zum ersten Mal angeflogen. Wie üblich wurde ihnen die Start- und Landebahn 15/33 zugewiesen. Als sie neunhundert Fuß über dem Boden waren, schnellte dieser ruckartig in die Höhe und sackte gleich darauf ab. Das Ganze wiederholte sich noch zweimal. Der Turm des Towers wackelte.
Chefpilotin Maureen Winter brach den Anflug ab und startete die Maschine durch. In diesen kritischen Sekunden verloren sie den Sprechkontakt zum Fluglotsen. Alle Versuche, mit dem Flughafen HAM wieder in Verbindung zu kommen, scheiterten. Es gab Ausweichflughäfen, Bremen, Kopenhagen, Hannover. Aber welchen sollten sie anfliegen? Die Flugkontrolle Nordeuropa schwieg. Wie in den Anweisungen für Notfälle vorgesehen, blieben sie in der Nähe des nächsten Flughafens, des Hamburg Airport International Helmut Schmidt HAM. Alle Versuche, Anweisungen durch die Flugkontrolle Nordeuropa zu erhalten, waren erfolglos. Nach 20 Minuten reichte ihr Kerosin nur noch für Hamburg Airport International.
Sie meldeten die Notlandung an und hofften, gehört zu werden. Was war da unten nur los? Unterbrochene Funkverbindungen, ausgefallene Navigationsdienste. Chefpilotin Maureen Winter musste auf Sicht fliegen. Das hatte sie noch nie gemacht. Bei 20 Jahren Flugpraxis.
Der Himmel meinte es gut mit ihnen. Denn Norddeutschland lag zwar unter einer geschlossen grau-braun-gelben Wolkendecke, doch exakt über dem Flughafen Hamburg klaffte eine Lücke in der Bewölkung. Beide Landebahnen waren trotz des merkwürdigen Dunstes zu erkennen und auf beiden befand sich kein einziger Flieger. »Captain, unsere Tanks sind komplett leer!«, meldete Daniel Murray. Das Flugzeug schwebte auf die Landebahn 15/33 zu.
Noch eine Minute bis zu Landung. Der Copilot schwitzte. Ein heftiger Windstoß, ein kleines Luftloch und die Landung würde in einer Katastrophe enden. Im Flugzeug herrschte gespenstische Ruhe. Er sah auf die beiden Innen-Monitore, die über den Fluggastraum informierten. Kein einziger Kopf war zu sehen. Selbst die nach dem Sieg ihres Vereins aufgepushten St.-Pauli-Fußballfans saßen brav ganz tief gebeugt hinter den Sitzen ihrer Vorderleute. Sollte er noch eine Durchsage zur Landung machen?
Plötzlich starrte Daniel Murray durch die Cockpitsscheibe. Sein Atem und sein Herz standen still. Captain Winter steuerte die Maschine gar nicht auf die Landebahn zu! »Was tun Sie da?« Maureen Winters rechter Zeigefinger wies auf die Landebahn 15/33. Daniel Murray begriff sofort. Eine Flugminute entfernt hatte die Landebahn noch normal ganz ausgesehen. Aber jetzt, in 300 Fuß Höhe war das unlösbare Problem zu erkennen! Die Landebahn 15/33 verlief zwar immer noch schnurgerade, aber sie bestand aus einem Ozean von Geröll. Asphaltblöcke hatten sich zu Meereswellen geformt. Murray sah auch zwei mächtige Brandungswellen aus Asphalt, bestimmt drei Meter hoch.
Außerdem fehlte der Löschschaum. Der letzte Teil der Landebahn hätte von einem Löschschaumteppich bedeckt sein müssen. Aber davon war weit und breit nichts zu sehen. Überhaupt, wo steckten die Flugfeldlöschfahrzeuge und Rettungswagen?
Copilot Daniel Murray sah zur Chefpilotin Maureen Winter hinüber. Sie konzentrierte sich voll auf den Tanz um Leben und Tod, steuerte mit Tunnelblick den Flieger auf die Wiese parallel zur Landbahn. Die Räder hatte sie wieder eingefahren. Der Boden, egal ob gewellt oder glatt, würde das Flugzeug von unten her wegradieren. Mit ihm 246 Schicksale. »Mr. Murray, alles ok?«, fragte Chefpilotin Maureen Winter aus einer anderen Welt. Automatisch blickte Daniel Murray auf die entscheidenden Anzeigen. Automatisch antwortete er: »Höhe null Fuß. Die Längsachse liegt perfekt, Captain!«
»Yeah, die Airline und die Passagiere erwarten, dass wir unsere Pflicht …« TSCHIIEEHH … Ein helles Pfeifen übertönte den Rest ihres Satzes. Ein derart durchdringendes Geräusch hatte Daniel Murray noch nie gehört. Der Flugzeugboden berührte die Spitzen des hohen Grases. Schnell tauchte E 35 51 22 in die Wiese ein. Helles Schleifen wandelte sich in dumpfes Dröhnen. Die Geschwindigkeit sank rasend schnell. Beide Piloten wurden in ihre Sitzgurte gepresst. Passagiere schrien um ihr Leben. Daniel Murrays Haut riss gleichzeitig an beiden Schultern auf. Er konnte weder Hände noch Füße bewegen. Die Maschine musste den Erdboden berührt haben. Unter ihnen schnarrte und ratschte es. Plötzlich veränderte sich das dumpfe Geräusch.
»Wasser. Die Wiese steht unter Wasser!«, schrie Maureen Winter. Auch sie blutete im Bereich der Schultern. »Der Umkehrschub fehlt! Die Landefläche reicht nie und nimmer!«, brüllte Daniel Murray. »Ich ziehe nach rechts!«, schrie Maureen Winter zurück und bewegte das Steuer leicht nach rechts. Die weiteren Bewegungen konnte sie nicht mehr kontrollieren. Gewaltige Kräfte rissen die beiden Piloten nach links, nach rechts, wieder nach links. Mit jedem Wimpernschlag sahen sie einen anderen Horizont. Das Flugzeug schlitterte, federte und drehte sich über Teich, Wiese und Boden. Es schüttelte sich, schrammte, nickte, zitterte. Die Stromversorung fiel aus. Eine halbe Sekunde später hatten die Notstromaggregate übernommen. Zwei Stunden lang würden sie sie alle wichtigen Funktionen mit Engergie versorgen.
Die Radiergeräusche unten verstummten. Das Flugzeug bewegte sich nicht mehr nach vorn. Aber es kippte langsam, Fuß um Fuß, auf die rechte Seite. Die Flügelspitze berührte den Boden, sank etwas ein. Ein Augenblick Stille. Vor ihnen türmte sich ein Wolkenrund, endlos hoch, grell gelbbraun.
Der Flieger stand! Er stand und sie lebten!
Schreie aus dem Passagierraum holten sie ins Hier und Jetzt zurück. Daniel Murray sah auf die Innen-Monitore. Die Gesichter der Passagiere tauchten auf. »Meine Damen und Herren. Hier spricht Copilot Murray. Die Notlandung ist abgeschlossen. Die Evakuierung des Fliegers wird gleich eingeleitet. Bleiben Sie bitte auf Ihren Plätzen sitzen. Schnallen Sie sich ab. Wenn Sie verletzt sind oder Passagiere neben Ihnen, melden Sie das bitte den Crewmitgliedern. Die Rettungskräfte sind schon zu uns unterwegs und werden uns gleich helfen.«
Chefpilotin Maureen Winter drückte den Knopf zur Öffnung aller Passagiertüren und löste auch die Notruschten aus. Sie wies die Crew an, alle Passagiere sitzen zu lassen und zu beruhigen. Dann öffnete sie die Sicherheitsschleuse zum Passagierbereich. »Gott sein Dank«, lächelte sie, »Gott sein Dank.« Daniel Murray strahlte: »Heute werden wir auf You Tube eine Milliarde Klicks erreichen. Und dadurch zu Helden! Bestimmt nahmen zwanzig Leute unsere Landung mit ihren Handys auf. Unsere Karrieren sind gesichert.«
»Warum ist noch nichts von der Feuerwehr zu sehen und zu hören?«, fragte Maureen Winter in seinen Rausch hinein, »Hier steht kein einziges Fahrzeug. Ich sah auch kein Gebäude mehr auf dem Flughafen. Kein einziges. Was ist, wenn unsere Landung nicht das Ende, sondern der Anfang aller Probleme ist?« Maureen Winter sah ihm kurz in die Augen, verließ das Cockpit und eilte nach hinten. Der Copilot sah ihr perplex nach. Wie konnte sie nach ihrer sensationellen Leistung so pessimistisch sein?
»Vielleicht behindert der Rauch unsere Sicht in Richtung Flughafen!«, rief Daniel Murray ihr nach. Rauch? Wieso redete er von Rauch? Er hatte nichts gesehen, aber etwas gerochen. Ein intensiver Duft, der an Grillen und die Pfadfinder-Lagerfeuer der Kindheit erinnerte. Ein gefährlicher Duft? Der Copilot sah auf die Innen-Monitore und konnte es nicht fassen. Dichter Qualm. Einzelne Flammen wurden zu vielen Flammen, zu einem Flammenmeer.