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Katja Gloger

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Beschreibung

Die Geschichte eines politischen Ausnahmezustands Eine Pandemie erschüttert die Welt. Von Anfang an verfolgten die Investigativjournalisten Katja Gloger und Georg Mascolo wie ein Virus namens Sars-CoV-2 das Leben, wie wir es kannten, auf dramatische Weise veränderte. Sie erlangten exklusiven Zugang hinter die Kulissen der Politik, die trotz früher Warnungen so gut wie unvorbereitet getroffen wurde. Ihr SPIEGEL-Bestseller "Ausbruch. Innenansichten einer Pandemie" deckt bisher unbeschriebene Zusammenhänge auf, anhand von Augenzeugenberichten und vertraulichen Dokumenten schildert es die Entscheidungen, Unsicher­heiten und Zweifel. Deutschland im Ausnahmezustand: von der kollektiven Verdrängung des Risikos bis zu Lockdowns und umstrittenen Lockerungen. Und sie wagen einen Blick in die Zukunft: Was lässt sich aus der Krise lernen? - Hinter den Kulissen von Lockerungen und Lockdown: Die deutsche Corona-Strategie auf dem Prüfstand - Hintergründe und Insider-Wissen aus Entscheidungsgremien und Krisenstäben erstmals aufgedeckt - spannend wie ein Krimi - Brandaktuell und brillant analysiert: Der SPIEGEL-Bestseller mit Zündstoff-Potenzial  - "Ausbruch. Innenansichten einer Pandemie" beschreibt gleichzeitig Zeitgeschichte und Gegenwart, wirft Fragen an die Zukunft auf und gibt den Schlagzeilen einen dringend notwendigen Kontext, in dem Fakten mehr zählen als Panik, Politik und Pandemie-Rhetorik. Dieses Buch ist ein Königsbeispiel für integren Journalismus, der zum Lesen und Nachdenken animiert.

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Mehr über unsere Autorinnen, Autoren und Bücher:www.piper.deFür unsere beiden wunderbaren Töchter. Wir sind dankbar für ihr Strahlen. Und ihre Liebe.© Piper Verlag GmbH, München 2021Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, MünchenCovermotiv: picture alliance/dpa | Bernd von JutrczenkaSämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.Inhalte fremder Webseiten, auf die in diesem Buch (etwa durch Links) hingewiesen wird, macht sich der Verlag nicht zu eigen. Eine Haftung dafür übernimmt der Verlag nicht.

Inhalt

Cover & Impressum

Ein deutscher Lockdown

Erwachen

Vertuschung

Blaupause

Pandemisches Potenzial

Fataler Zeitverlust

Trügerische Sicherheit

»Eine krasse Naivität«

Vom Sterben in Wuhan

»Wie ein Katastrophenfilm, nur ohne Popcorn«

Die Iden des März

Ein Land macht dicht

Das Prinzip Angst

»Es ist zum Heulen«

Die Wahrscheinlichkeit der Unwahrscheinlichkeit

»Anycountry«

»Panik und Vergessen«

Das Dilemma der Prävention

Kollektive Risikoverdrängung

Aus Schaden etwas klüger werden

Im Zeitalter der Pandemien

Die großen Plagen

Cordon sanitaire

Im Schatten der Erinnerung

Eine Pandemie, die keine wurde

Im Universum der Viren

Flügelhände

Schadensvermessung

»Highway to Hell«

Im Ausnahmezustand

Leerstandsprämien

Die Widersprüche eines Virus

Risiken und Nebenwirkungen eines Lockdowns

Auf Halbmast

»Wir müssen beginnen, das Undenkbare zu denken«

Von der Bazooka und anderen Waffen

Virologen als Medienstars

Die Maske als Symbol

Die Frauen aus Jena

Haarrisse

Das frühe Ende der Einigkeit

»Wir müssen auch irgendwann mal zu Potte kommen«

»Jeder bekommt eine Perspektive, aber nicht alle auf einmal«

»Wir leben ja jetzt sozusagen in der Unzufriedenheit«

Im Unterholz

»Die Menschen sind zu ungeduldig«

Eine Organisation für die Gesundheit der Welt

Die WHO: Die Geschichte eines Widerspruchs

Das Menetekel: Das Eboladesaster

Im geopolitischen Zangengriff

Der Stoff, aus dem die Hoffnung wächst

»Wir kämpfen den Kampf unseres Lebens«

Effizienz und Macht: Die Rolle der Weltgesundheitsstiftungen

Der »Impfstoffmoment«: Die Gerechtigkeitsfrage

Keine Verbündeten

Wenn Europa verhandelt …

Außer Kontrolle

»Man möchte, dass das Ganze verschwindet«

»Dann nimmt das Schicksal seinen Lauf«

Zumutungen

Risikogebiete

Desillusioniert und ausgebrannt

Wetterleuchten

Perspektiven

An den Abgrund

Am Abgrund

Wellenbrecher

»Wir haben business as usual gemacht«

Hoffnung am Ende des Tunnels

»Und irgendwann werden wir kein Geld mehr haben«

»Lebenstatbestände«

»Wir müssen auch dafür einstehen, was wir nicht schaffen«

Mutationen

Und jetzt?

Nachwort

Ein deutscher Lockdown

Erwachen

Am Rosenmontag des Jahres 2020, es ist der 24. Februar, bittet Jens Spahns Staatssekretär Thomas Steffen um einen eiligen Termin im Bundesinnenministerium. Steffen ist Jurist, im Gesundheitsressort arbeitet er weniger als ein Jahr. Ein Experte für Märkte und Währungen war er lange im Finanzministerium und davor in einer Behörde für Finanzaufsicht. Das Thema Gesundheit ist neu für ihn. Aber Jens Spahn kennt ihn aus gemeinsamen Zeiten im Finanzministerium, er vertraut ihm. So holte er Steffen nach, als er Gesundheitsminister im vierten Kabinett Merkel wurde.

Am Nachmittag lässt sich Steffen die wenigen Kilometer von der Berliner Friedrichstraße zum Innenministerium hinüberfahren. Heiko Rottmann-Großner begleitet ihn, Leiter der Unterabteilung 61: »Gesundheitssicherheit«.

Drei Staatssekretäre von Minister Horst Seehofer warten bereits auf die beiden, dazu weitere Beamte. Kaffee und Wasser stehen auf dem Tisch, als um 17 Uhr die Besprechung im Raum 6.470 beginnt. Spannung liegt in der Luft, eine gewisse Nervosität.

Über das Wochenende waren beunruhigende Nachrichten eingegangen. Dieses neue Virus, das man »Corona-« oder »Wuhan-Grippevirus« nennt, breitet sich immer weiter aus. Aus China kommend hat es Europa weitflächig befallen; von Europa aus gelangte es auch an die Ostküste der USA. Betroffen ist vor allem der Norden Italiens, die Lombardei und Venetien: Offenbar konnte sich das Virus dort über Wochen unbemerkt verbreiten. Jetzt sind bereits 130 Infizierte und zwei Todesfälle bestätigt, die Zahlen steigen und steigen. In der Lagunenstadt Venedig wurde der traditionelle Karneval abgebrochen. Während der Mailänder Fashion Week musste Giorgio Armani seine Kollektion ohne Publikum präsentieren, so etwas gab es noch nie. In der Bundesregierung kursiert ein Bericht der deutschen Botschaft in Rom: In manchen Stadtteilen Mailands komme es bereits zu »Hamsterkäufen«, immer mehr Menschen mit Mundschutzmasken seien zu sehen. »Vereinzelt liegen die Nerven so blank, dass es zu fremdenfeindlichen Übergriffen gegenüber Chinesen kommt«, heißt es in der Depesche.

Die österreichischen Bundesbahnen haben den Zugverkehr nach Italien eingestellt. Der italienische Ministerpräsident Giuseppe Conte hat die Abriegelung von elf Städten mit insgesamt 53 000 Einwohnern angekündigt. Notfalls werde er die Armee einsetzen, erklärt Conte.

Droht dies nun auch in Deutschland?

Staatssekretär Steffen wirkt angespannt. Er glaube nicht, dass sich Corona noch eindämmen lasse, bekennt er. Auch die Wissenschaftler des Robert Koch-Instituts seien der Überzeugung, dass die Stufe 1 jetzt an ihr Ende komme. »Stufe 1« bedeutet Eindämmung, die Eingrenzung des Virus: jeden einzelnen Infizierten zu finden, zu identifizieren und gegebenenfalls zu isolieren, dazu alle Kontaktpersonen. Damit für alle anderen das Leben so weitergehen kann wie bisher.

Doch jetzt, erklärt Steffen, gehe es in die nächste Phase, die Mitigation, Schadenminderung. Als die Beamten aus dem Innenministerium wissen wollen, was »Mitigation« genau bedeute, übernimmt Rottmann-Großner. Man müsse die Vorkehrungen dafür treffen, dass es zu Ausgangssperren von unbestimmter Dauer komme. Man müsse auch, wie es später in einem Vermerk über das Gespräch heißen wird, »die Wirtschaft lahmlegen sowie die Bevölkerung auffordern, sich Lebensmittelvorräte und Arzneimittelvorräte anzulegen«. »Lockdown« wird so etwas bald genannt werden, aber an diesem Rosenmontag wird noch ein anderes Wort verwendet: Es lautet »Abschaltung«.

Mitigation bedeutet Kapitulation. Es ist das Eingeständnis, dass selbst im 21. Jahrhundert nur noch »nicht pharmazeutische Interventionen« helfen. Radikale Maßnahmen also, die man schon vor Hunderten von Jahren gegen Seuchen wie die Pest ergriffen hatte. Sich zurückziehen, Tür zu, Kontakt vermeiden, Abstand halten. Oder wie es der Virologe Alexander Kekulé später sagen wird: »Wir haben es vergeigt, jetzt müssen wir es halt ausbaden.«

Es wird still in Raum 6.470.

Dann ergreifen Hans-Georg Engelke und Markus Kerber aus dem Innenministerium das Wort. Engelke ist der sogenannte »Sicherheitsstaatssekretär«, der Hesse war einmal Staatsanwalt, leitete dann die Abteilung Terrorismusbekämpfung im Bundesamt für Verfassungsschutz. Kerber kommt aus Baden-Württemberg und ist ein politischer Kopf, ein Ziehsohn Wolfgang Schäubles. Der machte ihn während seiner Zeit als Innenminister zum Leiter der Grundsatzabteilung, Kerber organisierte die ersten Deutschen Islamkonferenzen. Später war der Ökonom Hauptgeschäftsführer beim Bundesverband der Deutschen Industrie. Bis Seehofer ihn 2018 überraschend ins Amt holte.

Kerber und Engelke blicken unterschiedlich auf die Welt. Aber nicht auf diese Lage hier. Mitigation – dies werde für die Bevölkerung völlig überraschend kommen. Die sei auf so etwas nicht vorbereitet. Mitigation könne »polizeiliche Lagen« auslösen. Zumindest im Innenministerium weiß jeder, wofür diese beiden Wörter stehen. Im schlimmsten Fall für: Chaos. Mögliche Szenarien machen die Runde. Könnte es zum Sturm auf Tankstellen und Supermärkte kommen?

Die Vertreter des Innenministeriums fordern eine rasche Entscheidung. Ein Krisenstab soll einberufen werden, besetzt aus Vertretern des Innen- und des Gesundheitsministeriums. So sieht es eine detaillierte sogenannte »Hausanordnung« mit Stand Juni 2018 vor. Das Papier »zur Bewältigung einer großflächigen und national bedeutsamen biologischen Gefahren- und Schadenslage« beschreibt zwei unterschiedliche Szenarien: Bioterrorismus – also einen Anschlag mit Biowaffen – oder eine Pandemie. Auf den ersten Blick scheinen dies zwei völlig unterschiedliche Ereignisse. Aber wie reagiert werden muss, ist in vielen Bereichen gleich: Vor allem das Gesundheitssystem muss in höchste Alarmbereitschaft versetzt werden. In den Registraturen der Abteilungen für Öffentliche Sicherheit sowie für Krisenmanagement und Bevölkerungsschutz, kurz KM, liegen Dutzende Ordner, Pläne für den Pandemiefall. Viele von ihnen sind als Verschlusssachen eingestuft. Niemand hat daran geglaubt, dass sie einmal in Kraft gesetzt werden müssten. Und niemand erwartet an diesem Tag, dass nun, wo der Ernstfall tatsächlich eintritt, einige der dort vorgesehenen Regelungen sehr schnell ignoriert werden.

Ein Krisenstab also. Seine Einberufung wäre das endgültige Eingeständnis, dass man es mit einer wirklich ernsthaften Lage zu tun hat. Selbst im Sommer der Geflüchteten 2015 verzichtete die Bundesregierung auf dieses Instrument, die Krise sollte keinesfalls als Krise wahrgenommen werden. Jetzt wäre mit seiner Einberufung das Ende aller Beschwichtigungen verbunden, den Beschwichtigungen, dass dieses Virus im Grunde doch nicht gefährlicher sei als eine Grippe. Und dass die von Gesundheitsminister Jens Spahn ausgegebene Devise der »wachsamen Gelassenheit« nicht ausreicht. Ganz und gar nicht ausreicht.

Steffen und Rottmann-Großner, so empfinden es die Vertreter des Innenministeriums, reagieren zunächst ausweichend. Dabei ist ihre Prognose völlig zutreffend.

Bereits einen Tag später wird bei einem jungen Mann aus Baden-Württemberg das Virus diagnostiziert, er war aus Mailand gekommen. Und im Hermann-Josef-Krankenhaus im nordrhein-westfälischen Erkelenz ist ein Mann aus dem Landkreis Heinsberg mit Symptomen einer schweren Lungenentzündung eingeliefert worden. Er ist Immobilienmakler, seine Frau arbeitet in einem Kindergarten. Beide haben an einer örtlichen Karnevalssitzung in Gangelt teilgenommen, inmitten Hunderter anderer Feiernder tanzte der Mann im Männerballett. Vorher war das Paar in Holland, der Mann auch noch zu einer medizinischen Behandlung in der Kölner Uniklinik. Ein Bekannter der beiden, ein Soldat, war mit seiner Familie tagelang in Europas größtem Spaßbad »Tropical Island« nahe Berlin. Es sind Hunderte, womöglich Tausende Kontakte. Das sperrige Wort »Infektionsketten«, es wird auf bedrohliche Art begreifbar.

Am Aschermittwoch, es ist der 26. Februar, tagt der Krisenstab zum ersten Mal. Deutschland ist jetzt offiziell im Krisenmodus.

So endet die Hoffnung, dass dieses Land glimpflich davonkommen könnte, verschont bliebe von diesem kaum erforschten bedrohlichen Virus. Mit dem Rosenmontag des Jahres 2020 beginnt eine Zeit, die eine so gar nicht zum Pathos neigende Kanzlerin die größte »Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg« nennen wird. Und in der in Berlin und in den Landeshauptstädten bislang Undenkbares nicht nur gedacht, sondern auch getan wird.

Tag für Tag, Bereich für Bereich wird das Land nach diesem 24. Februar heruntergefahren. Der pandemische Ausnahmezustand trifft jeden. Wie nie zuvor, seit in Deutschland das Grundgesetz gilt, werden Freiheitsrechte eingeschränkt. Zeitweilig wird das Demonstrationsrecht so stark beschnitten, dass nicht einmal mehr zwei Personen mit sicherem Abstand zueinander ein Plakat in die Höhe halten dürfen. Gebetet wird zu Hause, warmes Essen gibt es in Restaurants nur noch außer Haus. Schulen und Kindergärten werden geschlossen, Kinos und Theater und Clubs. Flugzeuge bleiben am Boden, ein bislang nicht gekannter Einbruch der Wirtschaftsleistung beginnt. Es ist, als bremste jemand in voller Fahrt ein Auto ab. »Dieses Land blutet aus hundert Wunden«, wird diesen Zustand später ein Spitzenbeamter aus dem Wirtschaftsministerium beschreiben.

Bald werden Kinder ihre Eltern noch nicht einmal mehr dann besuchen dürfen, wenn diese im Sterben liegen. Diese Krise wird manche Familien zusammenschweißen und andere trennen. Sie wird zur De-facto-Schließung von Grenzen führen, Existenzen bedrohen, gar vernichten; andere werden aus ihr Profit schlagen.

Bald werden Demonstranten auf Straßen und Plätzen stehen, »Coronaleugner« wird man sie nennen, denn unter ihnen sind viele, die die Gefahr des Virus abstreiten. Selbst dann noch, als im späten Herbst alle zweieinhalb Minuten ein Mensch in Deutschland an der Krankheit stirbt, die man »COVID-19« nennt.

Diejenigen, die jetzt buchstäblich über das Schicksal eines Landes zu entscheiden haben, über Leben und Tod, wird es an die Grenzen von Physis und Psyche führen. Die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer hat nächtelang »schwere Träume«. Ihr niedersächsischer Kollege Stephan Weil sagt: »Ich habe noch nie in meinem Leben Verantwortung so körperlich gespürt.«

Manche Spitzenpolitiker müssen – wie so viele andere auch – um das Leben ihrer Nächsten fürchten. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier etwa: Nachdem er ihr 2010 eine Niere gespendet hat, lebt seine Ehefrau Elke Büdenbender mit einem reduzierten Immunsystem. Sie gehört damit zu einer Risikogruppe. Er muss am Anfang üben, Menschen nicht mehr automatisch die Hand zu geben oder Vertraute zu umarmen.

Stephan Weil wiederum hört jeden Tag, wie lebensgefährlich dieses Virus sein kann. Der Bruder seiner Sprecherin, ein eigentlich topfitter Sportler, kämpft nach der Rückkehr aus dem österreichischen Skiort Ischgl mit dem Virus. Es geht ihm zwischenzeitlich sehr schlecht.

In der Staatskanzlei in Mecklenburg-Vorpommern hat Ministerpräsidentin Manuela Schwesig bereits vor Monaten ein »Knuddelverbot« erlassen. Abstand halten und häufiges Händewaschen sind für die an Brustkrebs erkrankte SPD-Politikerin und ihre Mitarbeiter unbedingte Pflicht. In Schwerin, so könnte man sagen, gilt Sozialdistanz schon länger als neues Normal.

Und da ist Innenminister Horst Seehofer, der 2002 monatelang unter einer viralen Entzündung des Herzmuskels litt und immer »furchtbare Angst vor den Ultraschallbildern« hatte, wie er einmal dem Spiegel anvertraute. Oft wiederholt er diese Sätze: »Der gesunde Mensch hat viele Wünsche. Der Kranke hat nur einen.« Auch aufgrund seiner persönlichen Erfahrungen mit einem Virus, diesem Ausgeliefertsein, wird Seehofer eine harte Linie vertreten und radikale Entscheidungen einfordern: »Ein bisschen weiße Salbe, Trösten und Zuversicht helfen nicht.«

Andere in Berlin und zumindest einigen Landeshauptstädten lässt diese größte denkbare Krise allerdings auch auf den Aufstieg zum Krisenmanager vom Schlage eines Helmut Schmidt hoffen, auf eine steile politische Karriere, vielleicht gar auf eine Kanzlerkandidatur. Die Entscheidung für den Krisenstab ist gerade erst getroffen, da schreiben die ersten Spindoktoren schon E-Mails und SMS an ihre Minister: Nicht vergessen, Krisen sind immer auch eine Stunde der Exekutive!

Wenn Politiker und ihre Spitzenbeamten jetzt neben ständigen Krisensitzungen und einer endlosen Flut von Telefon- und Videokonferenzen noch Zeit zum Joggen finden, hören sie dabei den Podcast eines bis dahin nur der Fachöffentlichkeit bekannten Virologen namens Christian Drosten. Als junger Arzt im Hamburger Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin hatte Drosten im März 2003 mit seinem Kollegen Stephan Günther ein bis dahin unbekanntes Virus aus der Gruppe der Coronaviren identifiziert, Ursache für eine sich rasch ausbreitende Atemwegserkrankung mit erschreckend hohen Todeszahlen, einer Letalitätsrate von knapp 10 Prozent: das SARS-Virus, heute SARS-CoV-1 genannt. Das von ihnen entwickelte Testverfahren trug maßgeblich dazu bei, die Ausbreitung des Virus zu stoppen.

Für »beispielhafte innovative Leistungen bei der Bekämpfung bisher unbekannter Krankheitserreger« hatte die damalige Gesundheitsministerin Ulla Schmidt den beiden Virologen am 19. Dezember 2005 das Verdienstkreuz am Bande der Bundesrepublik Deutschland verliehen. Schon damals war Drosten eine Art Medienstar, wenn auch nur kurz: »Herr Drosten kann heute keine Interviews mehr geben«, fertigte damals der Direktor des Bernhard-Nocht-Instituts die wartenden Journalisten ab, »er muss SARS bekämpfen.«

Für Professor Dr. Christian Drosten, den Mann, der aus hygienischen Gründen das Bier am liebsten nur aus der Flasche trinkt, begann im März 2003 ein steiler wissenschaftlicher Aufstieg, um Coronaviren kreisend, der im Januar 2020 mit der raschen Entwicklung eines Verfahrens zur SARS-CoV-2-Diagnostik in seinem Labor der Berliner Charité seinen vorläufigen Höhepunkt erreichen würde. Nur wenige in der Welt wissen so viel über Coronaviren wie er und sein Team. Auch dafür wird er erneut ausgezeichnet, diesmal mit dem Bundesverdienstkreuz 1. Klasse. Ein Foto zeigt ihn im Schloss Bellevue. Er trägt Maske.

Wie kaum ein anderer wird Christian Drosten in diesem Frühjahr Gesicht und Stimme dieser Pandemie werden, Gitarre spielender »Star-Virologe« und »Corona-Zar« für die einen; Vertreter einer vermeintlichen »Virologen-Diktatur« für die anderen. Auf Anti-Corona-Demonstrationen wird sein Porträt in gestreifter Gefängniskleidung in die Höhe gehalten werden, darauf nur ein Wort: »schuldig«.

»Aber der Drosten sagt« – diese vier Wörter werden in den kommenden Monaten in vielen entscheidenden Diskussionen eine besondere Rolle spielen. Und vor allem Christian Drosten eine politische Verantwortung aufbürden, die er als Wissenschaftler gar nicht tragen kann. Und nicht tragen darf.

Am 30. Dezember 2019 checkt die New Yorker Epidemiologin Marjorie Pollack nach dem Abendessen ihre E-Mails, sie macht Dienst für ProMED. Über diese Internetplattform der Internationalen Gesellschaft für Infektionskrankheiten tauschen Wissenschaftler, Ärzte und Interessierte weltweit Informationen und Anfragen über Infektionskrankheiten bei Mensch, Tier und Pflanze aus; seit 25 Jahren funktioniert das Netzwerk wie ein informelles globales Frühwarnsystem. Die ersten Meldungen über den Ausbruch der SARS-Pandemie in China 2003 kamen über ProMED; schon damals war von »Lungenentzündungen« die Rede, von geschlossenen Krankenhäusern – und von Toten.

Jetzt liest Pollack von Tweets und Einträgen in den chinesischen Kurznachrichtendiensten, Meldungen aus dem Süden Chinas über gehäuft auftretende »atypische Lungenentzündungen«; über »Cluster«, die mit einem Meeresfrüchtemarkt in der Millionenstadt Wuhan in Verbindung stünden, auf dem auch Wildtiere verkauft würden. All das scheint ihr wie ein Déjà-vu. Als ob sich die Ereignisse von 2003 wiederholten. Um 23:59 Uhr Ortszeit drückt sie auf »Send«: »RFI« steht in der Überschrift unter der ProMED-Archivnummer 20191230.6864153, »Request For Information«. Eine Bitte um weitere Informationen über die Lage in Wuhan. Am frühen Morgen des 31. Dezember ist die ProMED-Mitteilung in Deutschland zu lesen. Auch dpa verbreitet an diesem letzten Tag des Jahres eine knappe Meldung, die aber kaum Beachtung findet. Es gebe da eine »mysteriöse Lungenkrankheit« in China. Staatliche Stellen hätten dementiert, dass es sich um einen neuen Ausbruch des gefürchteten SARS-Virus von 2003 handle.

So spricht man an diesem Silvestertag 2019 auch im Berliner Robert Koch-Institut (RKI) über die Gerüchte aus China. Für die Wissenschaftler des RKI ist es Routine und Pflicht, solche Meldungen zu prüfen. Die frühe Erkennung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten gehört zu den Kernaufgaben des traditionsreichen Instituts, das bis heute seinen Hauptsitz im Gebäude des ehemaligen »Königlich Preußischen Instituts für Infektionskrankheiten« am Nordufer 20 im Berliner Wedding hat. Samt Mausoleum für Robert Koch, den weltberühmten Mikrobiologen und Entdecker des Tuberkuloseerregers, seine Asche wird in kupferner Urne hinter einer weißen Marmorplatte aufbewahrt. Tradition verbindet sich hier mit Moderne: Im RKI ist eines der nur vier deutschen Hochsicherheitslabors der Stufe 4 untergebracht; hier wird an hochvirulenten Krankheitserregern wie Ebola- oder Lassaviren geforscht. Merkel selbst hatte das Labor mit autonomer Strom-, Wasser- und Luftversorgung 2015 eingeweiht. Und in all die freundlichen Worte über das »Fort Knox des RKI« gepackt, was Kanzlerin und Regierung von den Wissenschaftlern erwarten: »Aber wenn etwas vorfällt, dann will man schnell und unverzüglich absolut präzise Antworten haben.«

So ist es: Die Obere Bundesbehörde hat den gesetzlichen Auftrag, wissenschaftliche Erkenntnisse zu erarbeiten, die als Basis für politische Entscheidungen dienen.

Schnell. Unverzüglich. Absolut präzise Antworten. Das RKI ist so etwas wie ein pandemisches Frühwarnsystem der Politik.

An diesem 31. Dezember 2019 aber bleibt die Lage unklar; nur Gerüchte schwirren; auch aus Genf kommen keine Informationen, dem Hauptquartier der Weltgesundheitsorganisation WHO. Im RKI geht man auseinander, es ist Silvester.

Was sie nicht wissen, ist, dass man in China schon viel mehr weiß: Einen Tag zuvor, am 30. Dezember gegen 16 Uhr nachmittags, erhält Dr. Ai Fen, Mutter von zwei Kindern und seit neun Jahren leitende Ärztin der Notaufnahme im Zentralkrankenhaus von Wuhan, die Untersuchungsergebnisse eines Patienten, der mit Symptomen einer Lungenentzündung eingeliefert worden war. Tief beunruhigt liest sie den Befund: »SARS-Coronavirus. Die Übertragung findet hauptsächlich über Tröpfcheninfektion statt.« »Mir brach der kalte Schweiß aus, es war sehr beängstigend«, erinnerte sie sich später in einem viel zitierten Interview. Ai Fen – und nicht die chinesische Staats- und Parteiführung – würde entscheidend dazu beitragen, dass die Wahrheit über eine beginnende Pandemie öffentlich wird.

Schon am 22. Dezember hatte einer ihrer Kollegen bei einem wenige Tage zuvor eingelieferten und schwer kranken Patienten das Coronavirus vermutet; der Mann hatte auf dem Huanan-Meeresfrüchtemarkt in Wuhan gearbeitet. Am 27. Dezember ein weiterer Patient, seine Lungen in einem »furchtbaren Zustand«, so Ai Fen. Am 30. Dezember dann der Befund: »SARS-Coronavirus«. Die Ärztin informiert die Abteilungsleitung, noch am Nachmittag schickt sie Kolleginnen und Kollegen über den populären Messengerdienst WeChat ein Foto des Befundes. Um das Wort »SARS-Coronavirus« hat sie mit rotem Stift einen Kreis gezogen. Auch der im gleichen Krankenhaus arbeitende junge Augenarzt Li Wenliang erhält die Nachricht und leitet sie an Kollegen weiter; die wiederum verbreiten sie ihrerseits. Es ist eine medizinische Vorsichtsmaßnahme.

Vertuschung

Noch am Abend des 30. Dezember warnt das Gesundheitsamt der Stadt Wuhan. Nicht die Öffentlichkeit – sondern: die Ärzte. Wer durch solche Informationen Panik in der Bevölkerung verursache, werde einer strengen Untersuchung unterzogen. Am 31. Dezember meldet das Gesundheitsamt auf seiner Website 27 Fälle einer »Lungenentzündung unbekannten Ursprungs«. Eine Übertragung von Mensch zu Mensch sei bislang nicht bekannt, heißt es. Dabei wissen es die Ärzte in den betroffenen Krankenhäusern, jeder einzelne ein Frühwarnsystem, längst besser. Auch das Pekinger WHO-Büro registriert diese Nachricht, schickt sie weiter an das zuständige Regionalbüro »West-Pazifik« in Manila, Philippinen. Im Genfer WHO-Hauptquartier wiederum geht eine E-Mail der Infektionsschutzbehörde Taiwans ein. Der demokratische Inselstaat vor der Küste Chinas ist völkerrechtlich nicht anerkannt und nicht Mitglied der Weltgesundheitsorganisation. Auf Drängen und Druck Chinas, das im Rahmen seiner Ein-China-Politik Taiwan als Teil des eigenen Staatsgebietes deklariert, wurde Taiwan 2017 auch der WHO-Beobachterstatus als »Chinesisch Taipeh« entzogen. Für die Behörden Taiwans ist eine einfache E-Mail deshalb eine der wenigen Möglichkeiten, mit der WHO in Kontakt zu treten. Dabei ist man in der Hauptstadt Taipeh über chinesische Realitäten in der Regel gut informiert – Hunderttausende Taiwaner leben und arbeiten auf dem chinesischen Festland, auch in Wuhan.

In der E-Mail vom Silvestertag verweist die Infektionsschutzbehörde Taiwans auf Nachrichten über mehrere Fälle atypischer Lungenentzündung in Wuhan. Von einer möglichen Übertragung von Mensch zu Mensch ist nicht die Rede, wohl aber davon, dass Patienten isoliert worden seien – für jeden Epidemiologen eigentlich ein deutliches Warnsignal für eine Ansteckungsgefahr.

Aus Genf heißt es: Man werde diese Informationen Experten vorlegen. Dabei bleibt es.

Bereits in den ersten Januartagen beginnen auf Taiwan Registrierungen und Fieberkontrollen für Einreisende aus Wuhan. Bald wird auf der Insel der Notfallplan für Seuchenbekämpfung aktiviert. Dazu gehören strenge Quarantäne, Kontaktnachverfolgung und die dringende Empfehlung, Mund-Nasen-Schutz zu tragen. In den meisten Ländern wird dies nicht weiter zur Kenntnis genommen.

Und so scheinen zu Beginn dieses neuen Jahrzehnts auch für die Deutschen die Probleme zunächst die alten zu sein, sozusagen virusfrei. Im Nahen Osten verschärft sich wieder einmal die Lage, in Australien brennen die Wälder. In Bayern denkt man an die Skiferien, im Rheinland freut man sich auf den Karneval. Und in Berlin fragt man sich immer noch und immer wieder, wie lange diese Große Koalition noch halten wird. Die SPD hat neue Vorsitzende, die CDU de facto keine mehr. Die Aktienmärkte erreichen schwindelerregende Hochstände, das Land bleibt auf Erfolg und Zukunft gepolt. »Die 20er-Jahre«, sagt Angela Merkel voller Zuversicht in ihrer Neujahrsansprache, »können gute Jahre werden.«

Es werden nur 78 Tage vergehen, bis sie sich erneut an die Nation wendet. Ton und Botschaft könnten nicht unterschiedlicher sein: »Seit der Deutschen Einheit, nein, seit dem Zweiten Weltkrieg gab es keine Herausforderung an unser Land mehr, bei der es so sehr auf unser gemeinsames solidarisches Handeln ankommt.«

Am 2. Januar beginnt auch im Bundesnachrichtendienst BND wieder der reguläre Dienstbetrieb, am Morgen füllt sich der riesige Neubau an der Chausseestraße am Rande des Regierungsviertels. Hier ist auch die Abteilung Technik und Wissenschaft untergebracht, kurz TW. In ihr arbeiten Physiker, Chemiker, Biologen und Mediziner. TW ist so etwas wie der wissenschaftliche Dienst des deutschen Auslandsgeheimdienstes.

Mancher im BND nennt die Truppe spöttisch die »Eierköpfe«. TW hat im Kalten Krieg sowjetisches Kriegsgerät analysiert, manchmal waren es ganze Panzer, sie wurden Teil um Teil auseinandergenommen. Auch eine der Gas-Ultrazentrifugen, in denen Pakistan das Uran für seine Atombomben anreicherte, fiel der Abteilung einmal in die Hände. Anfang der 90er-Jahre war es dem BND sogar gelungen, mithilfe eines russischen Überläufers eine Probe jenen hochgeheimen chemischen Kampfstoffes zu beschaffen, der Jahrzehnte später in der ganzen Welt bekannt werden sollte: Nowitschok, »Neuling«. Das bis dahin unbekannte Gift kam versteckt in einer Pralinenschachtel in den Westen. Mit dem Gift in einer vermeintlichen Parfumflasche versuchten 2018 mindestens zwei Agenten des russischen Militärgeheimdienstes GRU im britischen Salisbury den ehemaligen KGB-Spion und Überläufer Sergej Skripal mit Nowitschok zu ermorden; eine Frau starb, als sie zufällig mit dem Kampfstoff in Berührung kam. Im Spätsommer 2020 wurde auch der russische Oppositionelle Alexej Nawalny im sibirischen Tomsk mit Nowitschok vergiftet, er überlebte wie durch ein Wunder, ausgeflogen in die Berliner Charité.

In die Verantwortung der Abteilung Technik und Wissenschaft fällt aber auch eines der größten Desaster in der Geschichte des BND: Sie vertraute einem irakischen Überläufer mit Codenamen »Curveball«, der behauptete, dass Diktator Saddam Hussein noch immer biologische Massenvernichtungswaffen besitze. Es war eine Lüge. Aber die US-Regierung nutzte sie als eine der Begründungen für den Irakkrieg 2003.

Vor allem seit den Terroranschlägen des 11. September 2001 arbeitet TW eng mit dem Robert Koch-Institut zusammen. Vorrangig geht es um die Abwehr möglicher Terrorangriffe mit biologischen Waffen. Zum Glück hat die Realität in diesem Bereich die in Hollywoodmovies und Büchern ausgebreitete Fiktion – jedenfalls bisher – nie eingeholt.

Unvergessen ist in Berlin die Geschichte, als Ende 2001 vermeintlich mit Anthraxpulver gefüllte Briefe im Innenministerium eingingen. Beim ersten Brief herrschte noch riesige Aufregung. Fehlalarm. Den Inhalt eines zweiten Briefes kippte Minister Otto Schily kurzerhand in die Toilette. Später bekannte er, er wäre sofort zurückgetreten, wenn er falschgelegen hätte.

TW hat noch eine andere, kaum bekannte Aufgabe: Informationen über Infektionskrankheiten zu beschaffen, die Mensch oder Tier treffen könnten. Vor allem über Krankheiten mit pandemischen Potenzial: Erreger, die sich ungebremst über Länder und Kontinente ausbreiten und zugleich ungewöhnlich schwere Erkrankungen hervorrufen.

Immer wieder halten Regierungen Informationen über ausbrechende Infektionskrankheiten zurück, sie vertuschen und lügen. Bei Tierseuchen fürchten sie Schwierigkeiten etwa beim Fleischexport. Geht es um Infektionskrankheiten bei Menschen, fürchten sie um Tourismus, Wirtschaftsleistung und nationales Prestige. Merkel beschrieb dieses Problem in einer Rede vor der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina in Halle im März 2017: »Nun gibt es natürlich so etwas wie eine Scham. Soll ich es, wenn ich in meiner Region eine sich anbahnende Pandemie feststelle, melden und damit sozusagen weltweiten Alarm auslösen mit all den Folgen, die das nach sich ziehen könnte? Soll ich den Mut haben, mich bemerkbar zu machen, um größeren Schaden zu verhindern?«

Vertuschung dieser Art hat eine lange Tradition, einst kannte man dies auch in Deutschland: Aus Angst vor einem ökonomischen Desaster für den boomenden Hafen verschwiegen Hamburger Senatoren 1892 den großen Choleraausbruch mit am Ende Tausenden Toten. Aus Angst, dass die aus dem Hamburger Hafen auslaufenden Auswandererschiffe nicht mehr in den USA anlegen dürften, versicherten sie dem US-Vizekonsul damals sogar ausdrücklich, es gebe keine Cholera in der Stadt.

Vertuscht, verschwiegen, gelogen wird bis heute – und damit ist die Aufgabe von TW umrissen: gesicherte Informationen auch für das RKI zu beschaffen, bevor es womöglich zu spät ist. Allerdings weiß kaum einer im BND, dass es noch eine ganz andere Verbindung zwischen BND und RKI gibt: RKI-Präsident Lothar Wieler und BND-Chef Bruno Kahl sind alte Freunde. Der Tiermediziner und der Jurist kennen sich seit Studienzeiten, bis heute rudern sie gemeinsam auf dem Wannsee. Achter mit Steuermann. In diesen milden Wintertagen gehen sie mal wieder aufs Wasser. Wieler nutzt die Gelegenheit, um Kahl anzusprechen: »Bitte behalte die Sache in China im Blick.«

Blaupause

An diesem 2. Januar 2020 beginnen die Mitarbeiter der Abteilung Technik und Wissenschaft, den Gerüchten aus China nachzugehen. Man hat hier böse Erinnerungen an die SARS-Pandemie, die um die Jahreswende 2002/2003 in der südchinesischen Provinz Guangdong ausgebrochen war. Bereits im späten Februar 2003 hatten Wissenschaftler in Peking das bis dahin unbekannte Virus als Ursache identifiziert. Doch weder Öffentlichkeit noch WHO wurden informiert; vielmehr über Monate aktiv Informationen unterdrückt, Zahlen manipuliert. Schon damals hatten sich die chinesischen Behörden vor Ort sowie hohe Parteikader und Minister in Peking über entscheidende Wochen in einer Disziplin geübt, die sie auch 2020 ziemlich perfekt beherrschen: die Kontrolle des Narrativs durch Leugnen, Vertuschen und Unterdrückung jeder Kritik. Damals hatten die WHO-Vertreter in Peking über Wochen keine verlässlichen Informationen erhalten. Telefonate wurden abgewimmelt, Briefe nicht beantwortet, Gesprächsanfragen verschoben, das Gesuch einer WHO-Inspektionsreise in die betroffene Provinz Guangdong zwei Monate lang hinausgezögert. Die Regierung weigerte sich sogar, die persönlichen Anrufe der damaligen WHO-Generaldirektorin Gro Harlem Brundtland entgegenzunehmen. »China versäumte es zu warnen, als sich das Virus bereits im In- und Ausland verbreitete«, hieß es später in einem mehr als 300 Seiten langen WHO-Bericht, der sich wie der Countdown einer angekündigten Katastrophe liest.

Zur Wahrheit über die erste Pandemie des 21. Jahrhunderts verhalf am Ende auch ein mutiger Arzt mit Zivilcourage, ein Mann, der eigentlich alles zu verlieren hatte und doch – wie 17 Jahre später die Wuhaner Ärztin Ai Fen – zum Whistleblower wurde. Im Rang eines Generalmajors der Volksbefreiungsarmee gehörte der ehemalige Direktor des Pekinger Militärkrankenhauses 301 Dr. Jiang Yanyong zu den renommiertesten Chirurgen des Landes, mehr als 60 Jahre im Dienst auch der Partei; ein Mann, der vieles gesehen und erlebt hatte. Er gehörte zu den Ärzten, die in der Nacht der brutalen Niederschlagung der Tiananmen-Proteste durch die Armee 1989 schwer verwundete Demonstranten behandelt hatten, er wollte nicht mehr schweigen. Am 4. April 2003 schickte Jiang eine kurze E-Mail an zwei chinesische Staatsmedien: 60 Infizierte und bereits sechs Tote zählten die Ärzte allein in einem einzigen Militärkrankenhaus in Peking; doch sei es ihnen unter Verweis auf politische Stabilität verboten worden, über SARS zu sprechen. Jiangs Nachricht fand ihren Weg zu amerikanischen Medien, dann war die Wahrheit nicht mehr zu vertuschen.

Und WHO-Generaldirektorin Brundtland, ausgebildete Ärztin und ehemals Ministerpräsidentin Norwegens, eine Frau mit klarer Sprache, setzte sich über alle diplomatischen Gepflogenheiten hinweg und machte ihre Kritik öffentlich: »Es wäre sehr viel hilfreicher gewesen, wenn die chinesische Regierung zu Beginn transparenter gehandelt hätte.« Sie erließ eine Reisewarnung für Hongkong und die chinesische Provinz Guangdong, eine nie da gewesene Maßnahme in der Geschichte der stets um Konsens bemühten WHO.

Ende April 2003 dann, als nichts mehr zu leugnen war, erklärte die Kommunistische Partei den »Krieg des Volkes« gegen das SARS-Virus. Es kam wie eine Flutwelle über die verängstigten Menschen, die nun in Massen mobilisiert wurden. Plakate überall, Lautsprecherdurchsagen im ganzen Land, kampfesmutige Lieder. Wer Verdachtsfälle nicht melde, hieß es nun, werde bestraft. Sanitätspunkte gab es jetzt an jedem Bahnhof, vor jeder Busstation. In den Dörfern ließen Parteikader Straßensperren errichten, kleine Große Mauern. Überall im Land begann die »Überwachung durch das Volk«. Dörfer wurden abgesperrt, Versammlungen verboten. Dienstälteste der Nachbarschaftskomitees patrouillierten, ein Freiwilliger war für zehn Haushalte verantwortlich, jeder Zugereiste wurde isoliert, dreimal am Tag seine Temperatur gemessen. Jeder überwachte jeden.

Und für kurze Zeit feierte man den Militärarzt Dr. Jiang als nationalen »SARS-Helden«. Nur ein Jahr später verhaftete man ihn. 2020 stand der schwer kranke 89-Jährige faktisch unter Hausarrest. Seine Familie konnte ihn nicht besuchen.

In einem seiner letzten publizierten Interviews, es war 2013, sagte Dr. Jiang: »Ich bin tief davon überzeugt, dass es einfach ist zu lügen. Deshalb bestehe ich darauf, niemals zu lügen.«

Im Frühjahr 2003 konnte der BND das RKI frühzeitig darauf hinweisen, dass die chinesische Führung den SARS-Ausbruch geheim hielt. Die BND-Hinweise kamen aus abgehörten Telefonaten, die CIA hatte ähnliche Informationen. Und jetzt, im Januar 2020, scheint sich die Geschichte zu wiederholen. Allerdings gilt China mittlerweile als »hard target« auch für den BND, als schwer zu knackendes Ziel. Die staatlichen Kommunikationssysteme sind raffiniert verschlüsselt.

Immerhin kennt man im BND die Stadt Wuhan gut – die ist mit dem »Wuhan Institute of Virology« (WIV) sowie dem »Zentrum für Kontrolle und Prävention von Infektionskrankheiten« schon seit Mitte der 50er-Jahre Zentrum der chinesischen Virenforschung. Seit 2017 wird im WIV im bislang einzigen chinesischen Hochsicherheitslabor der Stufe BSL-4, Bio-Safety-Level-4, geforscht. Die Franzosen haben es als Teil internationaler wissenschaftlicher Kooperation gebaut; später saßen Vertreter des BND mit am Tisch, als US-Geheimdienstler die französischen Kollegen drängten, doch mehr Informationen über die dortigen Experimente beizubringen. Am WIV wird seit vielen Jahren auch an Coronaviren aller Art geforscht, die Virologin Shi Zheng-Li gilt als weltweit führende Expertin auch für SARS-ähnliche Coronaviren. Forschungseinrichtungen wie die in Wuhan gehören weltweit zu den Zielen der Geheimdienste. Denn was zur Abwehr erforscht wird, kann auch zu einem Angriff taugen. Virenforschung kann medizinischen Zwecken oder der Entwicklung von biologischen Waffen dienen. So, wie man aus Stahl ein Krankenhaus oder ein Geschoss bauen kann. Oder die Kernspaltung zur Energieerzeugung, aber auch zum Bau von Atombomben nutzt.

Jahrzehntelang forschten vor allem die Sowjetunion und die USA an Biowaffen; trotz Verhandlungen über ein effektives Verbot existiert so gut wie keine Transparenz zwischen den Staaten. Das Übereinkommen zum Verbot biologischer Waffen stammt aus den 70er-Jahren, aber es erlaubt keine harten Überprüfungen oder umfassenden Inspektionen. Weder in den USA noch in Russland. Und auch nicht in China. Es ist ein Abkommen ohne Unterbau.

So bleibt das Risiko, dass Viren im Labor genetisch manipuliert, mit neuen Funktionen versehen und damit noch gefährlicher werden können. »Gain of function« werden diese umstrittenen Experimente genannt. Sie sollen sozusagen die Zukunft eines Virus in der Natur vorwegnehmen, seine spontanen Mutationen. Damit können sie der Prävention von Infektionskrankheiten und der Entwicklung von Impfstoffen dienen, aber auch für militärische Zwecke oder gar Terroranschläge genutzt werden. Und immer bleibt das Risiko eines Ausbruchs durch einen Unfall, Diebstahl, Verschmutzung oder unbeabsichtigte Infektionen. So wurde vermutet – aber nie bewiesen –, dass der Ausbruch der »Russischen Grippe« 1977/1978 auf einen Laborunfall in China oder der damaligen Sowjetunion zurückzuführen sein könnte. Die Virenforschung im US-Militärlabor Fort Detrick bei Washington, D. C., wurde 2009 ausgesetzt, weil man hochpathogene Viren ohne Genehmigung lagerte. Der amerikanische Virologe Jeffery Taubenberger forschte mit dem von ihm sequenzierten Virus der »Spanischen Grippe« von 1918, niederländische und amerikanische Forscher mit dem auch für den Menschen hochgefährlichen Vogelgrippevirus H5N1; sie züchteten es in Frettchen.

Nach heftigen Debatten wurde ein Moratorium samt Publikationseinschränkung verhängt: Es soll der Grundsatz »No Dual Use« gelten: Veröffentlichungen dürfen nicht zugleich der Wissenschaft und einem potenziellen Missbrauch dienen.

In einem Pekinger Labor steckten sich zwei Doktoranden 2004 mit dem SARS-Virus an; sie infizierten sieben weitere Menschen. Und in Wuhan forschten chinesische und amerikanische Virologen gemeinsam an Coronaviren. 2015 schufen sie eine »Chimäre«, ein hybrides Virus aus zwei Coronaviren, eines davon das SARS-Virus von 2003. Dann testeten sie die mögliche Infektiösität für den Menschen an Mäusen.

Monatelang wird US-Präsident Trump Gerüchte nähren, das neue Virus SARS-CoV-2 stamme tatsächlich aus einem Labor in Wuhan, womöglich künstlich erzeugt oder versehentlich entwichen. Bis heute gibt es dafür keinerlei Beweis. In einem Vermerk des Bundesverteidigungsministeriums heißt es: Trump versuche, »von seinen eigenen Fehlern abzulenken und die Wut der Amerikaner auf China zu lenken«. Die USA und China – diese beiden Staaten werden sich während der Pandemie einen regelrechten Wettlauf darüber liefern, wer sich unverantwortlicher verhält.

Pandemisches Potenzial

Im Berliner Robert Koch-Institut verschickt Lothar Wielers Vize Lars Schaade am 6. Januar um 8:34 Uhr eine der ersten E-Mails des Tages. Tags zuvor hatte die WHO die 194 Mitgliedsstaaten erstmals offiziell über ein »Cluster von Lungenentzündungen unbekannter Ursache« in Wuhan informiert, 44 Patienten, darunter 11 Schwerkranke. »Kein Nachweis einer signifikanten Übertragung von Mensch zu Mensch«, steht unter Bezug auf die chinesischen Behörden in der Meldung, keine Infektionen bei Krankenhauspersonal; der Meeresfrüchtemarkt in Wuhan sei »zur Desinfektion« geschlossen. Ein merkwürdiges Wort in diesem Zusammenhang: »signifikant«.

Schaade ist Professor für Mikrobiologie und Infektionsepidemiologie. Bevor er ans RKI kam, leitete er im Gesundheitsministerium das Referat »Übertragbare Krankheiten, AIDS und Seuchenhygiene«. »Bitte um kurze Besprechung in meinem Büro«, schreibt Schaade an seine Kollegen. Aber auch diese Besprechung bringt keine größere Klarheit. Die Informationen sind beunruhigend, aber lückenhaft.

Das »pandemische Potenzial« des Virus sei ungeklärt, wird RKI-Präsident Wieler in diesen Tagen wieder und wieder sagen. Doch die Fernsehbilder, die jetzt aus Wuhan kommen, zum Teil von Bewohnern der Stadt auf ihren Handys gefilmt, beunruhigen ihn sehr: vermummte Ärzte in Schutzkleidung; Menschenschlangen vor den Krankenhäusern, verzweifelte Gesichter. Die Bilder gleichen denen aus Katastrophenfilmen. So etwas hat Wieler noch nie gesehen. In seinem Institut ist eine aus China stammende Mitarbeiterin inzwischen abgestellt, die chinesischen sozialen Medien nach nützlichen Informationen zu durchforsten.

Was Wieler zu diesem Zeitpunkt nicht weiß, nicht wissen kann: Aufgeschreckt von den Meldungen aus Wuhan reist schon am 31. Dezember eine Expertengruppe der staatlichen chinesischen Gesundheitskommission in die Stadt. Offenbar will man sich auf die Versicherungen der lokalen Behörden nicht verlassen. Der Meeresfrüchtemarkt ist gesperrt und desinfiziert. Am 2. Januar um acht Uhr morgens, sie hat gerade ihre Nachtschicht in der Notaufnahme des Wuhaner Zentralkrankenhauses beendet, muss die Ärztin Ai Fen vor dem Komitee für Disziplin der Klinik erscheinen. Sie habe das Krankenhaus und seine Leitung beschämt, wird ihr vorgeworfen, »wir können uns nirgendwo mehr sehen lassen«. Wegen Verbreitung falscher Gerüchte und mangelnder organisatorischer Disziplin erhält Ai Fen einen sehr strengen Verweis. Ihr wird verboten, per E-Mail, Messengerdienst oder SMS über die Krankheit zu schreiben. »Sie dürfen es noch nicht einmal Ihrem Ehemann sagen«, habe man ihr befohlen.

Verzweifelt und tief beschämt fragt sich die Ärztin: Was habe ich falsch gemacht? Ai Fen bittet ihre Familie, einen Mundschutz zu tragen und viel besuchte Plätze zu meiden. Aber sie darf nicht erklären, warum. Sie ermahnt die 200 Mitarbeiter der Notaufnahme, stets eine Maske zu tragen. Weist sie an, Schutzkleidung unter einem weißen Stoffkittel zu verstecken. Sie darf nicht erklären, warum. Mehr und mehr Patienten werden eingeliefert, ganze Familien. Als die erste Krankenschwester der Notaufnahme infiziert wird, müssen die Ärzte den Befund verharmlosen. Auf den Totenscheinen in der Notaufnahme Verstorbener wird keine Todesursache angegeben. Offensichtlich Infizierte müssen sie wieder nach Hause entlassen. Es gibt keinen Platz mehr für sie.

In den kommenden zwölf Tagen werden die Behörden in Wuhan offiziell keinen weiteren Infektionsfall mehr melden.

Am 21. Januar 2020 wird die hoffnungslos überfüllte Notaufnahme des Zentralkrankenhauses Wuhan 1523 Patienten zählen, dreimal so viele wie an normalen Tagen, 655 von ihnen haben Fieber. Die Menschen stehen bis zu fünf Stunden in der Warteschlange, einige kollabieren. Dann liegen sie auf der Straße. Und niemand traut sich zu helfen.

Am 21. Januar unterrichtet der BND erstmals das Kanzleramt. Kanzleramtsminister Helge Braun ist nicht nur für den BND zuständig; der Zufall will es, dass er sich für diese Sache in China sehr interessiert. Braun, 47, ist Arzt, Anästhesist. Mit 30 Jahren kam er als Abgeordneter in den Bundestag, flog wieder raus und kehrte ans Uniklinikum Gießen zurück. 2009 wurde er Parlamentarischer Staatssekretär im Forschungsministerium; 2013 ernannte ihn Angela Merkel überraschend zum Staatssekretär für die Bund-Länder-Beziehungen und später zum Kanzleramtsminister. Mit seiner Vorgesetzten, der promovierten Physikerin, spricht er immer wieder auch über naturwissenschaftliche Themen. Zum Beispiel über vorbeifliegende Kometen – oder Infektionskrankheiten aller Art. Seinen politischen Stil hat Braun einmal so beschrieben: In Krisen helfe ihm seine Erfahrung als Intensivmediziner. Denn die erste Regel bei Eintreffen an einem Unfallort laute: »Ruhe bewahren«.

Seit der Ebolaepidemie in Westafrika 2014/2015 liest Braun regelmäßig auch die Meldungen der WHO. Dort erfährt er in den ersten Januartagen zum ersten Mal von dem »Cluster von Lungenentzündungen« in Wuhan. »Keine Todesfälle«, hat China der WHO gemeldet.

In München berichtet Ministerpräsident Markus Söder seinen Mitarbeitern von einer TV-Reportage über die mysteriöse Krankheit im scheinbar so fernen China. »Corona«, fragt da einer, »ist das nicht ein Bier?«

Im Robert Koch-Institut hat inzwischen die Projektgruppe »P4« ihre Arbeit aufgenommen. P4 ist zuständig für computergestützte »epidemiologische Modellierung von Infektionskrankheiten«. Mit Rechenmodellen zur Dynamik von Infektionskrankheiten hat sich Projektleiter Dirk Brockmann einen Namen gemacht, er ist Physiker und Komplexitätsforscher. Insgesamt zwölf Mathematikerinnen, Epidemiologen, Physiker und Informatikerinnen analysieren Big Data, Massendaten. Mit hochkomplexen Modellen über wellenartig verlaufende Ausbreitungsgeschwindigkeiten versuchen sie, die Frage zu beantworten: Wo genau nimmt eine Epidemie, gar Pandemie ihren Anfang? Und wann trifft ein Virus einen beliebigen Ort der Welt – etwa Deutschland? Die Modellierer nutzen dabei vor allem Daten über Flugverbindungen und Passagieraufkommen, mehr als vier Milliarden Passagiere pro Jahr, das fein gesponnene Netz menschlicher Mobilität in Zeiten der Globalisierung. Jetzt berechnet die Gruppe P4 die Wahrscheinlichkeit, dass ein Infizierter aus Wuhan in einem Flugzeug nach Deutschland sitzen wird. P4 lässt keinen Zweifel: Das Virus wird kommen. Bald.

Fataler Zeitverlust

Schon zwischen dem 27. Dezember und den ersten Januartagen haben Wissenschaftler in mehreren chinesischen Labors das Genom des neuen Virus sequenziert; es ähnelt erschreckend dem SARS-Coronavirus von 2003. Mit ihrer schnellen und präzisen Arbeit könnten die auch international gut vernetzten chinesischen Virologen einen wichtigen Beitrag zur frühen Bekämpfung des Virus leisten. Nach Recherchen des chinesischen Wirtschafts- und Finanzmagazins Caixin und der Nachrichtenagentur AP aber wird es den Wissenschaftlern untersagt, ohne offizielle Erlaubnis Informationen über das Virus zu veröffentlichen. Es bedarf einer gewissen Zivilcourage, dass der renommierte Virologe Zhang Yong-Zhen von der Fuhan-Universität Shanghai am 5. Januar ein in seinem Labor sequenziertes Genom zur Veröffentlichung auf der internationalen GenBank einreichen lässt, dort liegt es unter der Zugangsnummer MN908947 und der Bezeichnung »Wuhan-Meeresfrüchtemarkt-Lungenentzündungsvirus«, zunächst auf Prüfung wartend und daher nicht abrufbar. Zugleich soll Zhang die staatliche Nationale Gesundheitskommission informiert und vor einer Mensch-zu-Mensch-Übertragung gewarnt haben. Am frühen Morgen des 11. Januar gibt er auf Bitten eines australischen Kollegen sein Einverständnis, das Genom für Wissenschaftler überall in der Welt zugänglich zu machen, es wird auf der Website virological.org veröffentlicht. Zeitgleich erfolgt eine offizielle Mitteilung der chinesischen Behörden über das Genom an die WHO.

Diese Informationen ermöglichen es Christian Drosten und seinem Team in Berlin, umgehend einen ersten Diagnostiktest für SARS-CoV-2 zu entwickeln, das Protokoll wird am 13. Januar über die WHO publiziert. Weltweit abrufbar ist es ein weiterer wichtiger Schritt im Kampf gegen das Virus, das bereits am 8. Januar mit einer infizierten Reisenden aus Wuhan Thailand erreicht hat, kurz darauf wird es auch in Japan diagnostiziert.

Während sich in Thailand auf den Flughäfen bereits alle aus Wuhan eintreffenden Passagiere einer Fiebermessung unterziehen müssen, twittert die WHO noch am 14. Januar unter Verweis auf chinesische Quellen, es gebe keine »klare Evidenz« für eine Übertragung von Mensch zu Mensch. Intern aber ist man besorgt und empört. Nicht nur darüber, dass die WHO jetzt »dumm dastehe«, wie es heißt – vor allem darüber, dass durch das offensichtliche Hinhalten, gar mögliche Vertuschung, kostbare Zeit verloren geht. Der Ire Mike Ryan, lang gedienter und erfahrener WHO-Exekutivdirektor für Gesundheitsnotfälle, klagt: »Fakt ist, dass wir zwei bis drei Wochen nach Beginn eines Ereignisses keine Labordiagnose haben, keine Alters- oder geografische Verteilung und auch keine epidemiologische Kurve.«

Am 20. Januar melden staatliche chinesische Medien den Ausbruch einer übertragbaren Infektionskrankheit durch ein neues Virus. Es beginne eine nationale Offensive zur Eindämmung der Krankheit, heißt es.

Doch in Genf, im Hauptquartier der WHO, kann sich das per Videokonferenz einberufene Notfallkomitee auch nach zwei Sitzungen und knapp neunstündiger Debatte am 22. und 23. Januar nicht darauf einigen, eine »gesundheitliche Notlage internationaler Tragweite« auszurufen. Dies könnte Maßnahmen wie etwa Quarantäne zur Folge haben, Einreisesperren, eventuell sogar Reisewarnungen. Die 15 Mitglieder unter Leitung des Franzosen Didier Houssin blieben »gespalten«, heißt es. Nach Erkenntnissen der New York Times soll der chinesische Botschafter in Genf Druck ausgeübt haben: Die Erklärung einer Notlage entspreche einem Misstrauensvotum. Außerdem sei die Lage im Prinzip unter Kontrolle. »Im Moment gibt es keine Beweise für eine Übertragung von Mensch zu Mensch außerhalb Chinas«, versucht WHO-Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus eine eher hilflose Erklärung. »Auch wenn dies natürlich nicht heißt, dass es nicht passiert.«

Da ist die 11-Millionen-Stadt Wuhan bereits abgesperrt.

Erst am 30. Januar stimmt das WHO-Notfallkomitee in dritter Sitzung mehrheitlich für die »gesundheitliche Notlage internationaler Tragweite«, die Tedros noch am gleichen Tag offiziell ausrufen wird. Während sich die chinesische Staatsführung und Staatspräsident Xi Jinping als ebenso entschlossene wie opferbereite Kämpfer gegen das Virus präsentieren, erleidet die Glaubwürdigkeit der WHO in dieser frühen Phase weiteren Schaden. Die politische Dimension der Pandemie wird früh sichtbar.

Man kann es als Fortschritt betrachten: In dieser Pandemie hat die chinesische Regierung die Weltgemeinschaft früher informiert als in der Vergangenheit. Und doch wahrscheinlich zwei bis drei entscheidende Wochen zu spät. Hätte die chinesische Staatsführung rascher reagiert, wären die WHO und mit ihr die Welt früher über die drohende Gefahr informiert gewesen, die Zahl der Infizierten wäre deutlich niedriger geblieben.

In einer beginnenden Pandemie aber ist Zeit die wichtigste Währung. Es zählt jeder Tag.

In Mainz liest der Mediziner Uğur Şahin Ende Januar in der britischen Fachzeitschrift Lancet einen Artikel über den Ausbruch des Coronavirus in China. Şahin und seine Frau, die Medizinerin Özlem Türeci, haben 2008 das Life-Science-Unternehmen BioNTech gegründet; es wird vor allem von privaten Investoren finanziert. Eigentlich haben sich die beiden Wissenschaftler auf die Forschung zu Krebstherapien spezialisiert, die experimentellen Onkologen wurden dabei früh auch von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziell unterstützt. Sie arbeiten an der Entwicklung einer neuen Plattform; an Verfahren zur Verbesserung der Immunmechanismen, die auf genetischem Material basieren, der Messenger-RNA, kurz mRNA. Bei Erfolg kann diese Technologie für vieles eingesetzt werden – von individualisierten Therapien gegen Krebserkrankungen bis zu Impfstoffen gegen Infektionskrankheiten.

Die beiden Wissenschaftler, die sich als »Immuningenieure« bezeichnen, gelten eher als typische Nerds. Vor wenigen Monaten, im September 2019, hat auch Bill Gates über die Bill-&-Melinda-Gates-Stiftung 55 Millionen Dollar in das Unternehmen investiert. Damit soll an Impfstoffen gegen HIV und Tuberkulose geforscht werden. Doch jetzt, im Januar 2020, liest Uğur Şahin über das neuartige Coronavirus. Zu diesem Zeitpunkt sind so gut wie keine Infizierten außerhalb Chinas gemeldet. Doch Şahin befürchtet, dieses Pathogen habe Pandemiepotenzial.

Gerade einmal zwei Wochen nach Veröffentlichung des SARS-CoV-2-Genoms beginnt man bei BioNTech mit ersten Experimenten für einen Impfstoff auf Basis der mRNA-Technologie – die Entscheidung hat das Ehepaar am Frühstückstisch getroffen. Ein Erfolg könnte Impfstoffentwicklung und -produktion revolutionieren. Ein kleines Virus wird ein großes Wettrennen auslösen. Auch andere Biotechfirmen, etwa Moderna in den USA, werden es auf diesem Weg versuchen. Und in Kooperation mit dem allerdings sehr geschäftstüchtigen US-Pharmariesen Pfizer wird BioNTech im November nach nur zehn Monaten als erstes Unternehmen einen entscheidenden Durchbruch melden, einen Sieg auch für den Innovationsstandort Deutschland: Der Impfstoff mit dem Kürzel BNT162b2 ist zu mehr als 90 Prozent wirksam. Umgehend wird die Mainzer Firmenadresse Gegenstand verschwörerischer Tweets aus der Szene der Coronaleugner: An der Goldgrube 12.

Trügerische Sicherheit

Am 24. Januar meldet Frankreich drei Infizierte, Reiserückkehrer aus Wuhan. Sie gelten als erste offiziell bestätigte Fälle in Europa. Aber das Virus ist bereits an anderen Orten angekommen. Etwa in Stockdorf, Landkreis Starnberg, Oberbayern.

Es kommt über den Münchener Franz-Josef-Strauß-Flughafen, ein Trittbrettfahrer der Globalisierung; es reist ganz bequem mit einem Langstreckenjet aus Shanghai. Am frühen Morgen des 19. Januar trifft eine chinesische Mitarbeiterin des Autozulieferers Webasto in München ein, um in den kommenden drei Tagen in Stockdorf an Workshops und Meetings teilzunehmen. Am Abend ihres ersten Tages in München fühlt sie sich müde und abgeschlagen, Muskelschmerzen, auch Schmerzen in Rücken und Brust. Sie geht von einem Jetlag aus, nimmt ein Schmerzmittel, sie will fit für den kommenden Tag sein. Es ist ein gängiges, frei verkäufliches chinesisches Präparat, bekannt unter der Bezeichnung »999«. Sie weiß nicht, dass sie infiziert ist. Drei Tage zuvor hatte sie Besuch von ihren Eltern. Sie zeigten Symptome einer Erkältung. Die Eltern leben in Wuhan.

Das sich nun rasch entwickelnde erste deutsche Cluster trifft einen Traditionsbetrieb. Schon in den 30er-Jahren baute man hier Faltdächer für Daimler, später die ersten Schiebedächer. Dächer sind bis heute Webastos Kerngeschäft – sie machen 84 Prozent des Umsatzes von 3,7 Milliarden Euro aus. Was für große Teile der deutschen Industrie gilt, gilt für Webasto im besonderen Maße – die Beziehungen zu China sind sehr eng. Seit 2001 lässt Webasto dort produzieren. Zur Eröffnung des neuesten Werks in, ja, Wuhan reiste im September 2019 ein Ehrengast an: Bundeskanzlerin Angela Merkel.

Wuhan hatte 1982 die erste chinesisch-deutsche Städtepartnerschaft geschlossen, mit der Stahlstadt Duisburg. Die Kontakte entstanden, als ein Konsortium der Duisburger Firmen Mannesmann-Demag, Krupp-Industrie-Technik und Thyssen Consulting ein Kaltwalzwerk in Wuhan errichtete. Damals lebten mehr als 300 deutsche Ingenieure mit ihren Familien in der Stadt.

Es war Merkels zwölfter Staatsbesuch in China, der zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt. Auf der Brücke über den riesigen Fluss Jangtse ließ sie die Wagenkolonne stoppen. Sie wollte den Ort sehen, an dem Mao Zedong den Strom durchschwamm, nach offizieller Lesart natürlich in weltmeisterlicher Zeit. Die Heldenepisode kennt in China jedes Schulkind. Dann stand sie da und schaute hinunter auf den Fluss, neben ihr die CEOs großer deutscher Konzerne wie Allianz, Daimler und Deutsche Bank, die in der stechenden Sonne ihre Sakkos auszogen.

Der leitende Webasto-Mitarbeiter Christoph N., der deutsche »Patient 1«, steckt sich an, weil er während einer Besprechung am 20. Januar in der Stockdorfer Zentrale in einem kleineren Raum ungefähr eine Stunde lang direkt neben der chinesischen Kollegin sitzt. Innerhalb weniger Tage werden sich insgesamt 16 Mitarbeiter des Betriebes und Familienangehörige anstecken. Einen trifft es, als ihm ein Infizierter in der Kantine einen Salzstreuer reicht. Aber das weiß zu diesem Zeitpunkt keiner von ihnen. Die Kollegin aus Shanghai fühlt sich ja gesund.

Am Montag, dem 27. Januar, sie liegt jetzt schon im Krankenhaus, informiert die chinesische Webasto-Mitarbeiterin ihren Arbeitgeber über ihr positives Testergebnis. Sie hatte nach ihrem Rückflug Fieber bekommen, später kam Husten dazu. Auch Christoph N. wird von seinen Vorgesetzten benachrichtigt. Sein erster Gedanke ist: »Ich muss mich testen lassen.« Denn er hatte am Wochenende zuvor Fieber und Schüttelfrost entwickelt, Muskelschmerzen, Atemnot. Seine Frau ist schwanger, seine erste Tochter erst knapp drei Jahre alt.

Er fährt in die Uniklinik München, Tropeninstitut, dort untersucht ihn die Infektiologin Camilla Rothe, nimmt einen Abstrich. Das Testergebnis ist positiv. Noch am gleichen Abend muss er sich auf der Infektionsstation in der München Klinik Schwabing melden, bei Clemens Wendtner, Chefarzt für Infektiologie und Tropenmedizin. Er habe sich »wie ferngesteuert« gefühlt, sagt Christoph N. später in Interviews, surreal die Situation. Ihm, ausgerechnet ihm, widerfährt das Unvorstellbare.

Täglich werden neue Webasto-Infizierte eingeliefert und von Wendtner behandelt. Aber was heißt schon »behandeln« bei einer Krankheit, deren Verlauf und Ausmaß man nicht kennt; einer Krankheit, die man im Grunde gar nicht behandeln kann. Einer Krankheit, die noch nicht mal einen offiziellen Namen trägt. In Schwabing heißt sie zunächst »Wuhan-Grippe«. Und den allermeisten isolierten Patienten geht es: gut. Die Stimmung gleicht anfangs der in einer munteren WG, die Patienten kommunizieren über WhatsApp; die Firma schickt Päckchen mit Süßigkeiten und Puzzles. Allerdings warten auf den Fluren jetzt Reporter, die Kranke aufspüren wollen. Der Sicherheitsdienst wird eingeschaltet. Christoph N. erhält einen Decknamen: Müller.

Bei Webasto laufen Reihentests an. Kontakte werden identifiziert, Abläufe mithilfe elektronischer Kalender minutiös rekonstruiert, die Stockdorfer Zentrale für zwei Wochen geschlossen und komplett desinfiziert, die gesamte Belegschaft ins Homeoffice geschickt. Im Zusammenspiel mit den bayerischen Gesundheitsbehörden reagiert das Unternehmen mit seinen weltweit 14 000 Mitarbeitern nahezu mustergültig. Seit Ende Januar tagt regelmäßig eine Corona-Taskforce; in der Zentrale ist ein Raum für Abstriche eingerichtet. Ein detailliertes Handbuch wird auch anderen Unternehmen zur Verfügung gestellt.

Wendtner muss nun häufiger vor die Mikrofone, fast immer hat er gute Nachrichten. Die meisten seiner Patienten zeigen kaum Krankheitssymptome, eher grippeähnlich. Man könne sie als »pumperlgesund« bezeichnen, meint Wendtner. Einige verzichten auf die eigens angebotene Wunschkost; sie schmecken nichts mehr – offenbar hat das Virus den Geschmacksnerv beeinträchtigt. Zwei entwickeln eine Lungenentzündung. Allerdings beobachtet Wendtner bei einigen Patienten, dass deren Sauerstoffsättigung im Blut unerklärlich überraschend schnell abfällt. Ein beunruhigender Befund.

Und trotz der meist harmlosen Verläufe liefert das Webasto-Cluster auch einen ersten Beweis, wie groß das pandemische Potenzial des Virus tatsächlich ist, seine Gefährlichkeit. Für die Auswertung der Patientendaten zieht Wendtner seinen Kollegen Christian Drosten hinzu; auch das Institut für Mikrobiologie der Bundeswehr wird eingeschaltet. Ende Januar liegen erste belastbare Ergebnisse vor. Wendtner und Drosten sind schockiert: Das neue Coronavirus ist in tausendfach höherer Konzentration im Rachenraum nachweisbar als das erste SARS-Virus von 2003. Und anders als das »alte« SARS-Virus repliziert es sich nicht nur in der Lunge, sondern aktiv bereits in den oberen Atemwegen, in den Zellen des Rachens. Damit aber ist es viel ansteckender.

Eine weitere besorgniserregende Nachricht folgt. Für den 6. Februar hat die Nationale Akademie der Wissenschaften eine Telefonkonferenz mit ihrem chinesischen Pendant verabredet. Aus Deutschland zugeschaltet sind neben dem designierten Leopoldina-Präsidenten Gerald Haug auch Wendtner, Drosten und Wieler, sie wollen sich einen Überblick über die Lage verschaffen. Eine der Fragen gilt der »secondary attack rate«, der »zweiten Befallsrate«. Mit diesem wichtigen Parameter kann das Ansteckungsrisiko abgeschätzt werden. Die erschreckende Antwort aus Peking lautet: »37 Prozent«. Drosten, so erinnert sich Haug, sei »ganz blass geworden«. Stimme dies, werde eine Pandemie in zwei Wellen über die Welt kommen, der man wenig entgegenzusetzen habe.

»Eine krasse Naivität«

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