ausgeklammert - Henriette Hufgard - E-Book

ausgeklammert E-Book

Henriette Hufgard

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Beschreibung

»Es ist Zeit für ein neues Kapitel in der Geschichte der Philosophie: die weibliche Frankfurter Schule.«

Philosophinnen unterliegen fast traditionsgemäß einem doppelten Ausschluss: Die denkende weibliche Person wurde über Jahrhunderte marginalisiert, oft abgewertet, von der Philosophiegeschichte schließlich regelrecht verdrängt. Selbst die wirkmächtige philosophische Schule der Kritischen Theorie, die beginnend im 20. Jahrhundert über die Verstrickung von Gesellschaft, Wirtschaft und Mensch nachdenkt und sich überall da einbringt, wo es um Freiheit, Liebe, Gerechtigkeit und Selbstbestimmung geht, hat ihre Philosophinnen außen vor gelassen. Schlägt man in gängigen Lexika nach, folgt eine lange Liste von Namen der wichtigsten Protagonisten: Adorno, Horkheimer, Habermas, Benjamin und Co. Alle bekannt, alles Männer. »Einfach unerhört!«, finden die Philosophinnen Kristina Steimer und Henriette Hufgard. In ihrem Debüt begeben sie sich auf die Suche nach den Frauen der Frankfurter Schule und sprechen mit einigen persönlich: Gertrud Nunner-Winkler, Frigga Haug, Eva von Redecker und Karin Stögner. Sie stellen ihre Viten und Forschungen in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen, erforschen, woher die frauenfeindliche Haltung der Philosophie rührt und wie sie mit unserer Gesellschaft zusammenhängt. Sie zeigen auf, welche Hindernisse die Wissenschaftlerinnen überwinden mussten, und wenden deren Thesen auf den heutigen Diskurs um Gleichberechtigung an. Eine längst überfällige Sprengarbeit in Philosophie und Gesellschaft!

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Seitenzahl: 342

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Die Autorinnen

Henriette Hufgard ist Philosophin, Autorin und Künstlerin. Sie studierte an der Akademie der Bildenden Künste und der Hochschule für Philosophie in München. Derzeit schreibt sie an der Freien Universität Berlin ihre Doktorarbeit und untersucht, wie der Rationalismus mit dem Erstarken des europäischen Kolonialismus zeitlich zusammenfällt und welche Bedeutung dabei Bilder haben, die Europäer*innen in den Kolonien malten. Hufgard widmet sich diesen Fragen auch in literarischen Essays und ist seit 2021 Redaktionsmitglied des Literatur- und Kulturmagazins [kon]-paper.

Kristina Steimer arbeitet nach ihrem Studium der Philosophie als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule für Philosophie München und am Zentrum für Ethik der Medien und der digitalen Gesellschaft. In ihrer Doktorarbeit erforscht sie ›Selfies‹ und ihre Bedeutung für eine feministische Selbstermächtigung. Fächerübergreifend Zusammenhänge herzustellen motivierte Steimer auch, ein interdisziplinäres Selfie-Forschungsnetzwerk zu gründen.

Henriette Hufgard & Kristina Steimer

[ausgeklammert]

Die Philosophinnen der Frankfurter Schule – eine unerhörte Geschichte

Mit Illustrationen von Henriette Hufgard

In diesem Buch werden die Selbstbezeichnungen Person of Color (PoC), Black, Indigenous Person of Color (BIPoC) und Juden:Jüdinnen verwendet. Gegendert wird mit dem Doppelpunkt.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

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Originalausgabe September 2023

Copyright © 2023: Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Illustrationen: Henriette Hufgard

Umschlag: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: Henriette Hufgard

Redaktion: Regina Carstensen

Satz: Mediengestaltung Vornehm GmbH, München

SB ∙ CF

ISBN 978-3-641-30359-4V001

www.goldmann-verlag.de

Inhalt

Einleitung – Eine Spurensuche

Die Guten und die Gerechten – Vom Geschlechter-Zwiespalt der MoralProf. Dr. Gertrud Nunner-WinklerVon Henriette Hufgard & Kristina Steimer

Moral und Geschlecht: It’s a match! Not

Die Schule der Moral?

Das Kohlberg-Gilligan-Problem

Der Peak

Moralische Defizite weiblicher Urteilskompetenz und ein Gegenentwurf dazu

Kritik an der Kritik: Die Reaktion auf Gilligans Gegenentwurf

Zwei Moralen?

Die Naturalisierung der Moral

Rollenmoral – Eine richtige (!) Frau sein

Kritik von allen Seiten – Eine Moralkeule für die Moral

Unerhört?

»Bin ich eine richtige Frau?« Von politischen und wissenschaftlichen Kämpfen ums Ich in der Moral

Geisterstunde in der Kritischen Theorie

Leaky Pipelines in der Philosophie

Verantwortung – Eine Frage der Moral oder bloße Atomspalterei?

Die Kritische Theorie und die Erziehung zur Kritik

Die Selbst-Befreiung der Frau: Eine skandalöse Utopie?Prof. Dr. Frigga HaugVon Henriette Hufgard & Kristina Steimer

Weiblichkeit als Superheilkraft?

Herrschaftskritik bei Haug, Horkheimer & Adorno als Kritik am Patriarchat

Sind Frauen nur Opfer oder auch Täter?

Täter und Opfer

Erinnerungsarbeit: Aktivismus und Schreiben

Gründung einer gemeinschaftlichen Frauenredaktion

Von toten Autoren und dem Gespenst des Feminismus

Kitchen Aid anders gedacht: durch die Küche und dann links

Alternativen

Gegen die Zeit

Alles anders. Von Utopie, Revolution und Daseinsgründen linker Politik

Unterdrückte Natur. Von Zivilisation, Hass und Selbstzerstörung (und einem Weg raus) Prof. Dr. Karin StögnerVon Kristina Steimer

Das unverbunden Verbundene etablieren: Kritische Theorie und Feminismus

Von Frauen, Schiffen und Tieren

Aufklärung – Den Regen beschwören im Rokoko-Kragen

Natur als Ideologie

Herrschaft intersektional oder: Fifty Shades sind nicht genug

Unbeherrschte Natur oder: Gibt es starke Frauen ohne eine Komplizenschaft mit dem Patriarchat?

Im »Unbewussten«

Die lange Geschichte des Hasses und die Rolle der Vernunft dabei

Herrschaft ohne Subjekt?

Was, wenn Greta Thunberg Adorno heißen würde?

Ein Marmeladenbrot für die Kritische Theorie

Am Anfang war das DuDr. Eva von RedeckerVon Henriette Hufgard

Eine Philosophie der Revolution? Eine Revolution für das Leben!

Revolution für das Leben?

Eine kleine Handreichung des Umsturzes – Praxis und Revolution

Vor der Revolution

Vom Hundischen, Pferdischen und dem Fremden in uns

Nach der Revolution

Ist Revolution feministisch?

»So – und jetzt für Dumme!«

Das Leben und der Schlachthof

Revolution in der Philosophie!

Das Kreatürliche und die instrumentelle Vernunft

Nachwort – Ein Zwiegespräch

Anmerkungen

Glossar

Danksagungen

Register

Einleitung – Eine Spurensuche

»Gibt es eigentlich auch Frauen in der Kritischen Theorie? Irgendwie kennt man ja nur Adorno und Horkheimer, Habermas und Benjamin. Und das sind eben … alles Männer.« Diese fast schon lapidar anmutende Feststellung war der Ausgangspunkt für unser Buch. Denn: Ja, es gab und gibt sie – auch im deutschsprachigen Raum. Aber ihre Namen und Werke sind in der breiten Öffentlichkeit und auch in philosophischen Fachdiskursen häufig so unbekannt, dass man fast annehmen könnte, Frauen hätten um die Kritische Theorie einen großen Bogen gemacht. Wie kommt das?

Wer jenseits von Feuilleton und Radiobeiträgen anfängt, in gängigen Lexika und Nachschlagewerken über die Kritische Theorie nach weiblichen Denkerinnen zu suchen, kann ihre Existenz nach einigem Suchen in den Fußnoten meist erahnen. Mit eigenen Beiträgen – wie ihre allseits bekannten Kollegen – werden sie jedoch selten bedacht. Und diejenigen, die es doch in manche Standardwerke schaffen – etwa Nancy Fraser, Seyla Benhabib, Else Frenkel-Brunswik oder Audre Lorde – , waren und sind fast ausschließlich im englischsprachigen Raum zu Hause. Aber gibt es im deutschsprachigen Raum wirklich keine nennenswerten kritischen Theoretikerinnen? Die deutschsprachige, bekannte Rahel Jaeggi ist hier eine seltene Ausnahme. Wir waren zwischenzeitlich selbst kurz verunsichert, denn auch wir konnten spontan kaum mehr Namen nennen: Was maßen wir uns hier eigentlich an – wenn es da noch eine wichtige Person gäbe, hätten die klugen Autor:innen der vielen Bücher über die Kritische Theorie sie doch bestimmt erwähnt? Konnte eine Lücke so groß sein und trotzdem nahezu nicht erkennbar?

Fündig wurden wir erst, als wir Querverbindungen zu den Gender-Studies und zur Feministischen Theorie schlugen: Viele der Forscherinnen, denen wir nun begegnen, arbeiten an Themen, in denen sich Kritische Theorie und Gender-Studies überschneiden: Moral und Geschlecht, Patriarchat und Gesellschaft, Frauenfeindlichkeit und Antisemitismus. Schon tat sich die nächste Frage auf: Wieso werden Personen, die solche entscheidenden gesellschaftspolitischen Themen behandeln, auf Nebensätze reduziert und in Fußnoten ausgeklammert? Das irritierte und verärgerte uns. Augenblicklich wollten wir dieser Tatsache etwas entgegensetzen. Etwas entgegenschreiben.

Doch was ist eigentlich die Kritische Theorie, wie wir sie bisher kannten? Wir verbinden Verschiedenes mit ihr: zum einen die Stadt Frankfurt am Main, wo sie 1937 aus dem Institut für Sozialforschung an der Goethe-Universität entsteht. Frankfurt ist das erste und langjährigste Schaffenszentrum der Kritischen Theorie, weswegen sie auch oft »Frankfurter Schule« genannt wird. Zum anderen kennen wir bereits Werke vieler ihrer Autoren – sie tummeln sich in unseren Bücherregalen: Die Dialektik der Aufklärung von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer – ein Grundlagenwerk der Kritischen Theorie – , das Passagen-Werk von Walter Benjamin und sein berühmter Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, aber auch Texte von Siegfried Kracauer, Erich Fromm oder Herbert Marcuse.

Die genannten Theoretiker gelten als erste Generation der Kritischen Theorie, weil sie es sind, die mit ihrem Denken seit den Dreißigerjahren das prägten, was diese Theorie so besonders macht: die Verbindung von Philosophie und Soziologie, um so grundlegend und schonungslos Gesellschaft und Ideologie zu kritisieren. Genauer gesagt: westliche Gesellschaften und die ihnen innewohnenden kapitalistischen, patriarchalen und kolonialen Machtstrukturen. Dabei bezieht sich die Kritische Theorie insbesondere auf vier Vordenker. Zuerst ist da der Philosoph Immanuel Kant und seine Methode der Kritik, wie er sie in der Kritik der reinen Vernunft oder dem Aufsatz Kritik der Aufklärung formuliert. In Auseinandersetzung mit der Dialektik von Georg Friedrich Wilhelm Hegel wiederum entwickelte Adorno die Negative Dialektik – ein weiteres Grundlagenwerk der Frankfurter Schule. Des Weiteren orientiert sich die Gesellschaftskritik der Kritischen Theorie an der Kapitalismus-Kritik des Ökonomen und Revolutionstheoretikers Karl Marx. Und unter Bezug auf Sigmund Freud, den Begründer der Psychoanalyse, analysiert sie Machtstrukturen auch mit Blick auf das Unbewusste der Einzelnen, wie zum Beispiel in Marcuses Triebstruktur und Gesellschaft.

Max Horkheimer leitete seit 1930 mit dieser Zielsetzung das Institut für Sozialforschung in Frankfurt, bis es nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten geschlossen wurde und es erst nach Genf umzog, bis es 1934 ins Exil nach New York übersiedelte. Thematisch widmet sich die Kritische Theorie seit dem Zweiten Weltkrieg besonders dem Faschismus, dem Antisemitismus und dem Holocaust. Sie versuchten in Studien zum autoritären Charakter zu erfassen, weshalb sich Menschenverachtung so umfassend und brutal in einer Gesellschaft ausbreiten konnte – und was zu tun war, damit es sich nie wiederholen kann.

Während Adorno, Gretel Karplus-Adorno, seine Ehefrau und Mitarbeiterin, und Max Horkheimer in die USA ins Exil flüchten konnten, suizidierte sich ihr Freund und Kollege, Walter Benjamin, bei seiner Flucht über die Pyrenäen aus Verzweiflung. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurde der Mittelpunkt der Kritischen Theorie wieder nach Frankfurt verlegt: Dort unterstand das Institut für Sozialforschung der Goethe-Universität bis 1964 der Leitung von Horkheimer und Adorno. Es sollte ein Ort der interdisziplinären Forschung werden: philosophisches Denken und empirische Sozialforschung gehen hier seither Hand in Hand. Die kritischen Theoretiker erhofften sich so eine neue, grundlegendere Form von Sozialphilosophie.

Auf die erste Generation folgten eine zweite, eine dritte, eine vierte – und vielleicht ist im Moment gar eine fünfte Generation im Entstehen begriffen. Zu den prominentesten Vertretern der zweiten Generation gehört unter anderem Jürgen Habermas, der Begründer der Diskurstheorie. Mit der dritten Generation verbindet man vor allem Axel Honneth – und eine Frau, die namentlich in den Lexika Erwähnung findet: die in New York an der New School for Social Research forschende US-Amerikanerin Nancy Fraser. Zur vierten Generation zählen Christoph Menke und Rahel Jaeggi, die derzeit eine Professur an der Humboldt-Universität in Berlin innehat.

Nach und nach nahmen wir mit verschiedenen Forscherinnen Kontakt auf, die wir recherchiert hatten: Gertrud Nunner-Winkler, Frigga Haug, Karin Stögner und Eva von Redecker – sie werden in diesem Buch vorgestellt. Aber auch Ingeborg Maus, Herta Nagl-Docekal, Regina Becker-Schmidt und Rahel Jaeggi baten wir um ein Gespräch, sie hatten aber aus verschiedenen Gründen keine Zeit dazu. Wir wollten mit diesen Frauen sprechen und nicht nur über sie lesen, wollten versuchen, mithilfe ihrer eigenen Erzählungen den Problemen, die sie wissenschaftlich bewegt haben, etwas näher zu kommen. Was berichten uns diese Frauen aus ihrem persönlichen Werdegang, wie haben sie ihr Umfeld an den Universitäten und in der Forschung wahrgenommen – und haben sie vielleicht selbst Einsichten dazu, warum sie als hoch qualifizierte Forscherinnen nicht in ebenbürtiger Weise wie ihre männlichen Kollegen in die Rezeption und den Kanon der Frankfurter Schule Eingang gefunden haben?

Das interessierte uns auch aus einem persönlicheren Grund: Wir erlebten während des Studiums und bis heute viele Situationen in der Philosophie, in denen Menschen – auch wir – aufgrund ihres Nicht-Mann-Seins weniger akzeptiert wurden. Diese Situationen ließen uns aufgrund ihrer Uneindeutigkeit an uns selbst zweifeln, bis wir Rückhalt im Austausch mit anderen fanden, sodass sie verstehbarer wurden. Was wir am eigenen Leib erlebten, machte uns nicht zum Einzelfall, sondern verwies auf ein bestimmtes System, ebenjenes, das die Kritische Theorie seit ihrer Gründung so ausführlich analysierte. Es ist die Verschränkung von Macht und Ideologie, von Kapitalismus, Antisemitismus, Rassismus und Patriarchat. Seit der Gründung der Kritischen Theorie hat es viele Verbesserungen gegeben, trotzdem sind die Auswirkungen dieser Unterdrückungsmechanismen noch immer deutlich spürbar. Wir fanden bei unserer Recherche keine People of Color in der Kritischen Theorie, die im deutschsprachigen Raum eine Professur innehaben. Es ist eine Lücke, die bis zum Schluss offenbleibt. Jede der vier Frauen, die uns eine Zusage gaben, Nunner-Winkler, Haug, Stögner und von Redecker, ist ein Kapitel gewidmet, das auf unseren Interviews beruht.

Im Verlauf unseres Projekts entdeckten wir mehr als die Theorien und Lebenserfahrungen unserer Gesprächspartnerinnen. Viele Fragen tauchten auf: Welche unausgesprochenen Vorannahmen lenken uns? Was, glauben wir, ist Philosophie? Wie denken wir, dass man sie praktiziert – und woran machen wir selbst fest, ob jemand eine ›echte‹ Philosophin ist?

Weiterhin dachten wir verstärkt über den Ausdruck ›die Frauen‹ nach, der lange Zeit in Abgrenzung zu ›dem Mann‹ zur Analyse patriarchaler Gesellschaftsstrukturen verwendet wurde. Um gewisse Mechanismen zu begreifen, war eine derart klare Zweiteilung einerseits aus rein politischen Gründen sehr wirksam, ungeachtet der Opfer und Diskriminierungen, die dies für gewisse Personengruppen – wie etwa transidente Personen – bis heute verschärft bedeutet.

Zum anderen zeichnet der Ausdruck ›die Frauen‹ nach, wie die Binarität der Geschlechter selbst zum Motor ihrer eigenen Infragestellung wurde. Dass die Kategorisierung aller Menschen in nur zwei Geschlechter heute in den verschiedensten Wissenschaften durch die fluidere Vorstellung eines Geschlechterspektrums ersetzt wurde und als ausgrenzendes Machtinstrument statt als Naturgegebenheit aufgeschlüsselt wird, lässt sich anhand der von uns hier vorgestellten vier Theoretikerinnen nachvollziehen.

Diese theoretische Arbeit am patriarchalen Kapitalismus als Ideologie, die alle Lebensbereiche durchwirkt, wurde für uns auch erstaunlich konkret: Denn insgeheim hatten wir am Anfang unseres Projekts wohl erwartet, Frauen vorzufinden, die unserem Philosophenbild entsprachen – und das war ausgesprochen stark von westlichen Männlichkeitsvorstellungen geprägt: Frauen, die von sich behaupten würden, vollkommen autark nach letzten Wahrheiten zu suchen. Warum? ›Der Denker‹ ist – nicht nur für den Bildhauer Auguste Rodin – in dieser Vorstellung ein einsames Genie. Denken ist für ihn eine Zwiesprache zwischen sich selbst und seiner Vernunft. Das Bild war entstanden, weil uns in unserer Zeit an der Universität immer wieder subtil vermittelt worden war: Wer die geistige Größe des Genies nicht versteht, sollte sich lieber mit Dingen befassen, die näher an seiner:ihrer Wesens-Natur sind. Mit der Küche zum Beispiel.

Dieses implizite Verständnis vom philosophischen Genie macht sich in eleganter Weise Frigga Haug zunutze, indem sie es umkehrt und philosophische Konzepte erst einmal »durch die Küche« schickt, bevor sie sie als tragfähig anerkennt. Ähnlich geht Eva von Redecker vor, wenn sie das historisch gepflegte Vorurteil, dass weiblich gelesene Personen näher an der Natur und ferner vom Geist seien, als Basis ihres gesamten Denkens nimmt: Sie begreift ›die Natur‹ nicht länger als Abgrenzung von ›dem Menschen‹, sondern lässt alle Pflanzen, Tiere und Menschen als Welt zu ihrem denkerischen Fundament werden. Wie dieses Fundament, wenn es fehlt, an seiner Stelle einen Nährboden für Hass-Ideologien zutage befördert, zeigt Karin Stögner. In Auseinandersetzung mit der Suche der frühen Kritischen Theorie nach einer Erklärung dafür, wie sich aus der Tradition der Aufklärung die systematisierten Verbrechen der NS-Diktatur entwickeln konnten, faltet sie die Zusammenhänge zwischen Naturbeherrschung und Antisemitismus, zwischen Selbstzerstörung und Sexismus auf. Gertrud Nunner-Winkler richtet mit ihren Studien über Geschlecht und Moral das Brennglas auf den Graben, den die patriarchale Vergeschlechtlichung aller Dinge in das westliche Menschenbild geschlagen hat: Sie stellt unter Beweis, dass nicht nur die Moral unteilbar ist, sondern auch ›männlich‹ und ›weiblich‹ nur zwei von vielen möglichen Rollen einer tiefer liegenden Einheit sind – der Person.

Der Kritischen Theorie geht es bei der Beschreibung von gesellschaftlichen Machtmechanismen zudem ausdrücklich um einen gesellschaftspolitischen Wandel. Gesellschaftskritik muss immer auch Kapitalismus-Kritik sein. Und Kapitalismus-Kritik ist ohne eine Kritik patriarchaler Strukturen nicht denkbar. Dieses Ringen um Veränderung macht sich in der Vielfalt bemerkbar, mit der sich unsere Gesprächspartnerinnen dieses Themas angenommen haben: Sie schreiben und lehren, sind politisch aktiv, leiten Gruppen und demonstrieren, sie befragen Menschen, setzen sich streitbar mit der Öffentlichkeit auseinander und für sie ein.

Dadurch werfen wir hier eine neue Perspektive auf damals und auf heute: Was macht die Kritische Theorie aus, wenn man ihren Personenkreis um jene bisher ausgeklammerten Personen erweitert? Wie können uns die interviewten Frauen dabei helfen, uns in heutiger Zeit zu orientieren – wie dies eben echte Philosoph:innen tun?

Dieses Buch soll einen ersten Einblick gewähren. Es zielt nicht auf eine vollständige Darstellung ab – weder, was die Werke und Leben der einzelnen Wissenschaftlerinnen betrifft, noch was die Inhalte ihrer Theorien angeht – , sondern will zum kritischen Denken anregen. Es ist ein Blick in ein Forschungsgebiet, in dem es noch unendlich viel zu tun gibt. Und das heißt notgedrungen auch, dass wir auswählen und den Fokus auf gewisse Dinge legen mussten, während andere in den Hintergrund rücken. Das Buch ist ein Experiment und eine Perspektive unter vielen – es soll Fragen aufwerfen und dazu ermutigen, selbst Fragen zu stellen.

Die Guten und die Gerechten – Vom Geschlechter-Zwiespalt der Moral

Prof. Dr. Gertrud Nunner-Winkler

Von Henriette Hufgard & Kristina Steimer

»16,50 Euro, bitte«, sagt der Taxifahrer und hält vor einer Hofeinfahrt. Das Haus, in dem Gertrud Nunner-Winkler lebt, steht in der kleinen Gemeinde Pullach bei München. Zwei der Orte, an denen Nunner-Winkler lange gearbeitet hat, befinden sich ganz in der Nähe: Über fünfunddreißig Jahre war sie an Max-Planck-Instituten in Starnberg und in München tätig – davon ein Jahrzehnt, von 1971 bis 1981, als wissenschaftliche Mitarbeiterin von Jürgen Habermas. Dieser ist Teil der zweiten Generation der Kritischen Theorie und gilt bis heute als bedeutende Figur innerhalb dieser philosophischen Richtung. Im Jahr 2001 erhält Nunner-Winkler, damals sechzigjährig, einen Professorinnentitel und eine Lehrerlaubnis von der Ludwig-Maximilians-Universität München, der LMU, während sie zugleich weiterhin am Max-Planck-Institut tätig war.

Was uns vor ihre Tür in Pullach im Isartal brachte, war jedoch nicht diese beeindruckende Karriere – die schon für sich genommen herausragend ist. Besonders, wenn man bedenkt, dass eine akademische Laufbahn für Frauen ihrer Generation – Nunner-Winkler ist 1941 geboren – in Deutschland fast noch unvorstellbar war. Es sind die Inhalte, mit denen sie sich auf ihrem langen Schaffensweg befasste: wie entwickelt sich bei Menschen die Motivation dafür, moralisch zu handeln – und wie wandeln sich die Moralvorstellungen selbst? Sie traf damit den Nerv der Zeit, denn sie verknüpfte das philosophische Thema Moral in ihrer soziologischen Forschung mit gesellschaftspolitischen und kulturellen Fragen nach Geschlechterrollen und Gender in einer Weise, die bis heute kaum an Virulenz verloren hat.

Wir klingeln. Gertrud Nunner-Winkler bittet uns sogleich an den Esstisch ihrer Wohnung. Dort liegt ein Stapel bleistiftbeschriebener DIN-A4-Blätter, daneben zwei Flaschen Wasser, drei Gläser und eine Vase mit rot-gelben Tulpen.

»Ich habe mal alles vom Tisch geräumt, damit wir Platz haben, aber dachte mir – Wasser brauchen wir schon!«, sagt sie und lächelt auffordernd. Das folgende dreistündige Gespräch beweist – nicht nur auf dem Tisch brauchten wir Platz: Die Themen, in die wir eintauchen, verlangen in ihrer Aktualität und Komplexität einen ebenso wachen wie weiten Geist.

Moral und Geschlecht: It’s a match! Not

Wir befinden uns im Jahr 1982. Es ist das Jahr, in dem das erste in vitro gezeugte Baby geboren wird, Helmut Schmidt von der SPD wird durch ein konstruktives Misstrauensvotum als Bundeskanzler gestürzt und Helmut Kohl von der CDU zu seinem Nachfolger gewählt. In den Radios ersingt sich Nicole mit dem Lied Ein bißchen Frieden den Grand Prix Eurovision de la Chanson und E. T. – Der Außerirdische kommt mit durchschlagendem Erfolg in die Kinos. Vor allem aber ist es das Jahr, in dem sich eine hitzige feministische Debatte um die Moral entzündet. Eröffnet wurde diese von der US-amerikanischen Psychologin Carol Gilligan und ihrem Vorgesetzten Lawrence Kohlberg, Professor für Erziehungswissenschaften an der Harvard University School of Education. Und innerhalb kürzester Zeit knüpfte die Soziologin, Psychologin und kritische Theoretikerin Gertrud Nunner-Winkler daran an, ähnlich wie auch andere namhafte US-amerikanische Protagonist:innen wie die kritische Philosophin Seyla Benhabib. Auf dem Spiel stand nichts Geringeres als das Moralvermögen der halben Welt: die Moral der Frauen – eine ›weibliche Moral‹?

Alles nahm seinen Anfang darin, dass Kohlberg ein Modell entworfen hatte, das die Entwicklung des moralischen Empfindens von Kindern und jungen Erwachsenen in sechs Stufen rekonstruieren und darstellen konnte. Was Kohlbergs Kollegin Carol Gilligan an diesem Stufenmodell störte, war recht einfach ersichtlich: In den Erhebungen schienen Frauen in großer Zahl auf der dritten Stufe ihre Entwicklung zu beenden, während Männer es wie von Zauberhand fast immer auf Stufe vier schafften. Auch auf Stufe fünf und sechs, die nur sehr wenige Befragte erreichten, waren mit 78 Prozent vor allem Männer vertreten.1

Gilligan veröffentlichte daraufhin 1982 einen Gegenentwurf zu Kohlberg: Die andere Stimme. Lebenskonflikte und Moral der Frau.2 Darin vertrat sie die These, dass Kohlberg die Besonderheiten weiblichen Moralempfindens außer Acht lasse. Er werte bei seinen Erhebungen die Antworten so aus, dass die Bezugnahme auf, von Gilligan als ›männlich‹ identifizierte, Aspekte der Moral – besser bewertet werden als die Berücksichtigung von interpersonellen – ›weiblichen‹ – Aspekten der Moral, wie Bindung und Fürsorge. Letztere sei aber schlicht das weibliche Pendant der Moral und nicht minderwertig gegenüber der männlichen Variante.

Die Kritik, die Gilligan an Kohlbergs Forschung übte, schlug in Windeseile erst in den USA und sehr bald auch im Rest der Welt große Wellen. So stieß sie, kaum ein Jahr nach ihrer Veröffentlichung, auch im Wirkens- und Schaffenskreis um Jürgen Habermas auf großes Interesse. Zu diesem Kreis gehörte auch Gertrud Nunner-Winkler.

Gemeinsam mit ihrem Kollegen, dem Soziologen Rainer Döbert, entwickelte sie, auf den philosophischen Thesen von Habermas aufbauend, einen ganz eigenen Zugriff auf die Frage nach dem Geschlecht (und) der Moral. Motivierend war für beide die Irritation darüber, dass die Moral auf einmal zwiegespalten sein sollte. »Warum«, erinnert sich Nunner-Winkler im Gespräch mit uns, »sollte es eine weibliche Moral der Fürsorge geben – aber keine Moral der Unbestechlichkeit für Finanzbeamte oder eine Sorgfaltsmoral der Brückenbauer?« Die Differenzen, die Gilligan in den Erhebungen zur Moral aufgedeckt hatte, führte sie auf Geschlechterrollen in der Gesellschaft zurück – nicht auf eine Art des ›Frau-Seins‹, in dem eine ganz eigene Form der Moral verborgen läge.

Nunner-Winkler suchte nach einer Antwort auf folgende Fragen: Unterscheiden sich Frauen in ihrem Moralempfinden von Männern? Sind sie gar, statistisch gesehen, weniger zu moralischen Urteilen fähig als ›der Mann‹? Oder ist doch anzunehmen, dass es eine Essenz des Weiblichen gibt, die in das universell, also allgemeingültig gedachte Konzept der Moral einen Graben schlug? Der Ausgangspunkt, gegen den sich ihre Bestimmung von Moral richtete, ist Gilligans Annahme von zwei Moralen – einer fürsorglichkeitsorientierten flexiblen, also anpassungsfähigen, »weiblichen Moral« und einer gerechtigkeitsorientierten rigiden »männlichen Moral«. Flexibilität bedeutet übersetzt so etwas wie Biegsamkeit oder Dehnbarkeit. Bezogen auf moralische Urteile heißt Flexibilität, dass Gesetze der Auslegung bedürfen und Ausnahmen unter gewissen Umständen erlaubt sind – besonders, wenn abzusehen ist, dass aus dem Tun der gebotenen, also richtigen Handlungen schädliche Folgen für andere Menschen entstehen. Rigidität oder Starre hingegen bedeuten, dass Prinzipien uneingeschränkt Folge zu leisten ist.

Nunner-Winkler kritisierte an Gilligans Ansatz nicht nur die vergeschlechtlichte Zuteilung von Fürsorglichkeit und Prinzipientreue auf das binäre Geschlechtersystem von Mann und Frau. Sie wendete sich ebenfalls gegen die von Gilligan behauptete Annahme, dass ›die Frauen‹ aus ihrem innersten Wesen heraus eine flexible Moralität haben, während ›die Männer‹ generell und aufgrund ihres Mannseins eine rigide Moralvorstellung vertreten würden.

Die Schule der Moral?

Aber warum sollte dieses ganze Brimborium irgendjemanden außerhalb der Philosophie interessieren? Und warum ist es so wichtig, in diesem Kontext Gertrud Nunner-Winkler und ihre Forschung in den Blick zu nehmen? Gut, da haben sich in den Siebzigerjahren einige Soziolog:innen, Feminist:innen und Philosoph:innen in einem Fachdiskurs darüber aufgeregt, ob die Moral nun weiblich oder männlich ist. Sie haben dafür oder dagegen argumentiert, dass das Geschlecht, sei es nun biologisch oder sozial determiniert, ein wichtiger Faktor dafür ist, zu verstehen, wie wir Menschen zu moralischem Handeln in der Lage sind – und was eigentlich der mysteriöse Inhalt von Moral ist. Welche Rolle sollte das heute für Menschen spielen, die sich nicht zu der ausgesprochen kleinen Gruppe nerdiger Philosophie-Historiker:innen zählen? Wo sollte dieser Diskurs, der irgendwo in Zeitungen von damals sein Maximum an Öffentlichkeitswirksamkeit erreicht hatte, heute überhaupt noch eine Rolle spielen? Vergilbt dieser Streit nicht jenseits unserer heutigen Gesellschaft auf Dachböden und in Archiven?

Tun wir einen Moment so, als beschäftigten sich nicht nur alle Soziolog:innen und Philosoph:innen am liebsten mit feministischen Diskursen der Siebziger- und Achtzigerjahre. Über Moral. Innerhalb der Kritischen Theorie. Sagen wir gar – der statistischen Einfachheit halber –, alle Geisteswissenschaftler:innen Deutschlands kennen kein Thema, das sie mehr erfüllt: Wir kommen auf knapp 400 000 erwerbstätige Hochinteressierte.

Anders sieht es da an der Institution Schule aus: Mit rund 800 000 beschäftigten Lehrkräften und jährlich – ausgehend vom Schuljahr 2020/2021 – fast elf Millionen Schüler:innen bilden Lehrende und Beschulte einen doch recht beachtlichen Interessent:innenkreis. Aus eigener Erfahrung wissen wir, dass die Lehrpläne im Lehramtsstudium einen zentralen Baustein beinhalten, an dem es kein Vorbeikommen gibt: Neben dem Schweizer Entwicklungspsychologen Jean Piaget und Burrhus Frederic Skinner, einem US-amerikanischen Behavioristen, der für seine Experimente mit Ratten bekannt ist, steht Kohlberg auf dem Lehrplan.

Moral entwickelt sich an deutschen Universitäten demnach immer noch wie in den Siebzigern in Stufen, die fast nur Männer bis zur obersten Spitze besteigen können – so, als hätte es weder die Kritik Gilligans gegeben noch Nunner-Winklers jahrzehntelange Forschung zur ›weiblichen‹ Moral als Rollenmoral: In westlichen Industrienationen wird Fürsorge vor allem Frauen zugeschrieben. Wenn sie dieser Fürsorge nachkommen, erfüllen sie laut Nunner-Winkler damit eine universelle moralische Pflicht – aber eben nicht die vermeintlich weiblich-moralische Pflicht der Fürsorge, sondern folgen dem moralischen Gebot, die Pflichten innerhalb einer übernommenen Rolle zu erfüllen. Und dieses Gebot, den moralischen Pflichten einer übernommenen Rolle unbedingt nachzukommen, ist es, das in allen Kulturen gültig ist – es ist darin also universell. An den Universitäten jedoch scheint es, als wäre der gewichtige Beitrag, der aus den Reihen der Kritischen Theorie zu diesem fundamentalen Thema geleistet worden war, einfach aus der Lehre – und damit aus dem öffentlichen Gedächtnis – gestrichen worden.

Wer oder was in der Lehrer:innenausbildung bis zum heutigen Tag fehlt, sind die international laut gewordenen kritischen Stimmen von Denkerinnen wie Carol Gilligan, Frigga Haug. Gudrun-Axeli Knapp oder Gertrud Nunner-Winkler. Die angehenden Lehrer:innen hören nichts oder nur sehr wenig von ihnen, ihre Schüler:innen auch nicht. Und wenn sie Pech haben, erklärt ihnen ihr:e Dozent:in, dass Frauen meistens nur bis Stufe drei kommen – einfach, weil sie zu wenig in Büros unterwegs sind und stattdessen Streits zwischen Kindern schlichten.

Die Pädagogik-Studierenden werden durch ihr Studium zu Erziehenden, die Moral als etwas eindeutig Gegebenes im Sinne Kohlbergs verinnerlichen: Gerechtigkeit lässt sich intellektuell herstellen und erfasst alles, was für den Menschen wichtig ist, um moralisch zu sein. Dem könnte man besonders mit den Forschungsergebnissen von Nunner-Winkler vehement etwas entgegensetzen: Besonders bei Kindern, die in Kohlbergs Stufenmodell noch weit entfernt von moralischer Urteilsfähigkeit zu sein scheinen, sind ihr zufolge moralisch bereits kompetente Akteur:innen. Sie verfügen nicht nur schon sehr früh – als Kleinkinder von ein bis zwei Jahren – über ein sehr sensibles Empathievermögen und zeigen altruistisches, selbstloses Verhalten. Als Vier- bis Fünfjährige kennen sie einfache moralische Regeln und wissen, dass diese unabhängig von Autoritäten und Strafen gelten. Mit sieben bis acht Jahren beginnen die meisten moralische Motivation aufzubauen: Allmählich setzen sie ihr moralisches Wissen in Wollen um: Nun wollen sie das Richtige tun – jenseits von Mitgefühl oder der Angst vor Strafe.3 Denn moralische Motivation ist die Bereitschaft, das Richtige zu tun – jenseits von Mitgefühl oder der Angst vor Strafe.

In der Schule hingegen lernt man vereinfacht gesagt unter Einsatz von Strafen, dass man Probleme nur alleine lösen darf – und bekommt bei jedem einzelnen Fehler Angst, dafür bestraft zu werden. Im späteren Leben aber geht es vor allem darum, Probleme gemeinsam mit anderen zu lösen und dabei auf dem Weg zur Lösung keine Angst vor Fehlern zu haben.

Denn jenseits der Frage, auf wen nun welche Form von Moral zutreffend ist, wird deutlich, dass Moral, verstanden als individualistisch angewendete Regelerfindung, ein exzellentes Machtinstrument ist: Sie vereinzelt und macht die Fähigkeit, nach festen Regeln zu urteilen, zum einzigen Wertmaßstab dessen, wer ein ›richtiger‹ Mensch ist und auf der höchsten Stufe der Moral angelangt. Das heißt nicht, dass Kohlberg gegen Gilligan oder Nunner-Winkler im Lehrplan der Uni ausgetauscht werden sollte. Aber es macht deutlich, wie mächtig gewisse Vorstellungen von Moral immer noch sind.

Die Schule ist für die Kritische Theorie eine der zentralsten Institutionen, denn sie verfügt über das disziplinierende Instrument der Bildung. Eine Erkenntnis, die zahlreiche soziologische Studien bestätigen: Die Schule ist in einer Demokratie so schützenswert, weil sie einer der bestgeeigneten Orte ist, um junge Menschen und damit die Entwicklung der gesamten Gesellschaft zu beeinflussen.

Das Kohlberg-Gilligan-Problem

Um zu verstehen, wie die diffizile Diskussion um dieses Thema sich über Jahrzehnte entfaltete, ist ein genauerer Blick auf den eigentlichen Streitpunkt nützlich: Kohlbergs Stufenmodell. Es gliedert das moralische Urteilen von Menschen in drei Ebenen. Diese sind wiederum in je zwei Stufen unterteilt, woraus sich insgesamt die sechs Stufen der Moralentwicklung ergeben: »präkonventionelles Urteilen« (Stufe eins & zwei), »konventionelles Urteilen« (Stufe drei & vier) und »postkonventionelles«, »autonomes« oder auch »prinzipiengeleitetes Urteilen« (Stufe fünf & sechs).

Kohlberg entwickelte seine Theorie anhand einer Längsschnittstudie, bei der Proband:innen von sechs Jahren bis ins junge Erwachsenenalter von etwa zwanzig Jahren, fiktive Geschichten über problematische moralische Situationen – sogenannte Dilemmata – vorgelegt bekamen, die sie beurteilen sollten. Anschließend wurden die Antworten nach folgenden Kriterien ausgewertet: Welchen Regeln folgten die moralischen Urteile der Proband:innen? Waren diese eher konkret oder sehr abstrakt? Kohlberg nannte dies die »Begründungsstruktur« eines Arguments.4 Was er also nicht bewerten wollte, war, ob die Proband:innen eine moralisch richtige oder falsche Antwort gaben. Ihn interessierte die formale Struktur ihrer Antworten.

Eines der Dilemmata, vor die Kohlberg seine Proband:innen stellte, handelt von Heinz, dessen Ehefrau sehr krank ist. Es fehlt beiden das Geld, um ihr die lebensrettende Medizin zu kaufen. Was soll Heinz nun tun? Soll er die Medizin aus der Apotheke stehlen oder nicht – und warum?

Kinder im Alter von sechs bis neun Jahren beachteten, so Kohlbergs Fazit, bei ihrer Entscheidung zumeist Regeln, die an Autorität und Gehorsam orientiert sind, und daran, wie sich Strafe vermeiden lässt: Sie argumentierten entweder dafür, das Medikament zu stehlen, weil man sich ja nicht erwischen lassen müsse, oder dagegen, weil beispielsweise ihre Eltern gesagt hatten, dass Dieb:innen ins Gefängnis kommen. Kohlberg klassifizierte diese Antworten als Stufe eins. Auf Stufe zwei zogen die Kinder, meist im Alter von neun bis vierzehn Jahren, bereits individuelle Interessen mit in die Entscheidungsfindung ein. Es wurde anerkannt, dass andere Menschen auch Bedürfnisse haben. Sie überlegten, ob sie selbst für eine andere Person ins Gefängnis gehen würden, oder wer für Heinz kochen könnte, wenn seine Frau tot ist.

Nunner-Winkler interpretierte die Befunde Kohlbergs, basierend auf ihren eigenen Ergebnissen zur Moralentwicklung von Kindern und Jugendlichen anders: Bevor Kinder moralische Motivation aufgebaut haben, verstehen sie Kohlbergs Frage nach einer Handlungsempfehlung (Was soll Heinz tun?) als Klugheitsfrage und raten das zu tun, was am meisten nützt. Das Dilemma kann ihre bereits vorhandenen Vorstufen moralischer Fähigkeiten nicht abbilden, weil es sie nicht angemessen adressiert.

Im Alter von fünfzehn bis zwanzig Jahren, also auf Stufe drei, kamen Fragen der sozialen Anerkennung und der Erwartungen anderer mit ins Spiel: Es wurde angeführt, dass niemand Diebe möge, oder aber, dass Heinz’ Frau von seinem Verhalten enttäuscht sein könnte, wenn er sich dagegen entscheidet, sich das Medikament für sie widerrechtlich anzueignen. Im Erwachsenenalter, auf Stufe vier, wurde das Konzept der Pflicht relevant: »Pro Stehlen« bedeutete hier beispielsweise, dass Heinz seiner Frau ein Versprechen gegeben habe, stets für ihr Wohl zu sorgen, welches er nicht brechen dürfe.

Die beiden letzten Stufen werden dem Modell zufolge nicht immer zwingend von allen Menschen erreicht. Sie sind auch nicht mehr an Altersstufen gebunden. Auf Stufe fünf steht die Bedeutung des Gesetzes »Es ist verboten zu stehlen« als solche im Zentrum, auch deren Relativierung von übergeordneten Prinzipien: Wer für Heinz’ Diebstahl argumentierte, erläuterte beispielsweise, dass die Umstände, unter denen Heinz handele, seine Bestrafung mildern würden. Und wer gegen den Diebstahl war, sah in einer Ausnahme vom Gesetz die Zerstörung seiner Allgemeingültigkeit. Auf Stufe sechs schließlich gab es für Kohlberg nur noch eine Antwort: Der Wert eines Menschenlebens ist höher als der von Eigentum.

Kohlberg nannte dies die Orientierung an universell gültigen Werten, die – im Sinne von Kants kategorischem Imperativ, der für sein Moralkonzept Pate zu stehen schien – keine Ambivalenzen mehr zulassen. Der Peak des »moralischen Niveau(s)«5 ist also dort erreicht, wo universell geltende moralphilosophische Prinzipien wie Gerechtigkeit und Würde des Einzelnen in der Forderung »Leben ist wertvoller als Eigentum« zum Tragen kommen.

Die Auswertungen der Studienergebnisse ergaben, dass die Frauen, die befragt wurden, im Vergleich zu männlichen Probanden deutlich schlechter abschnitten: Von den »in der High School auf Stufe 3 stehenden Jungen (standen) nur 6 Prozent auch im frühen Erwachsenenalter auf Stufe 3«, »während die übrigen auf Stufe 4 wechseln« – hingegen »scheint die Stufe 3 bei Frauen eine stabile Erwachsenenstufe zu sein«.6 Dieses Ergebnis wirft nicht nur aus heutiger Perspektive Fragen auf.

Schon Carol Gilligan fiel jene Differenz mit der markanten Lücke auf Stufe drei auf, deren Regelhaftigkeit sie nur mäßig überzeugte. Doch es ist nicht nur die Hierarchisierung zwischen den Geschlechtern, die Gilligan an Kohlbergs Modell störte. Es war auch der Inhalt dessen, was den Peak darstellen sollte, den sie kritisch infrage stellte.

Der Peak

Kohlberg geht davon aus, dass Menschen, die die sechste Stufe erreichen, in der Lage sind, sich, autonom und unabhängig von den Meinungen anderer Menschen, allgemeingültige Regeln – sogenannte Prinzipien – abzuleiten und diesen zu folgen, als seien sie ein Gesetz. Eine derartige Vorstellung von Moral ist stark von Immanuel Kants Moralphilosophie geprägt. In seinem berühmten kategorischen Imperativ verdichtet, besagt eine solche Moralvorstellung Folgendes: »Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.« Die sechste Stufe von Kohlbergs Stufenmodell beschreibt das, was Kant die Autonomie und die Selbstgesetzgebung des Willens nennt.7

Auf Stufe sechs angekommen, ist für die eigene Treffsicherheit bei der Urteilsfindung in moralischen Dilemma-Situationen allein die selbst gesetzgebende Vernunft der:des Einzelnen ausschlaggebend. Autonom heißt hier, dass die Ratio ihre:n Träger:in – wenn diese:r es nur will – zu einer Moralfähigkeit ermächtigt, die so unhinterfragbar ist, dass man sie für die ganze Welt verallgemeinern kann. Der:die Einzelne kann in einer solchen Vorstellung theoretisch die Gesamtheit an Lebensrichtlinien ›der‹ gesamten Gesellschaft entwerfen. Zumindest ist er:sie in der Lage, bei wirklich jedem Präzedenzfall die einzig ›richtige‹ Entscheidung zu fällen.

Gleichzeitig fällt bei einer Auslegung von Moral, die vorher festgelegte Regeln als Entscheidungskriterium ansieht, nicht ins Gewicht, was aus der jeweiligen Handlung folgt – welche Resultate sich aus ihr ergeben. Moralisch ist eine Handlung in diesem sogenannten deontologischen Ansatz allein dann, wenn sie sich aus dem Gefühl der Achtung für die jeweilige Regel notwendig ergibt, die er:sie dafür empfindet. Eine Regel wird notwendig – und damit zwingendermaßen einzuhalten – , wenn sie dem Menschen nicht mehr wie eine bloße Regel erscheint. Sie wird zu einem Gesetz – oder auch Prinzip – , das man unmöglich brechen könnte. Das Prinzip muss so klar sein, dass an seiner Richtigkeit kein Zweifel bleibt – es muss zur Gewissheit werden.

Eine so formulierte Moral, welcher auch Kohlberg folgt, gibt dem schwankenden Fundament, auf dem die moralische Urteilsfähigkeit von Menschen erfahrungsgemäß steht, neue Stabilität. Gewissheit meint hier nicht unbedingt Wissensinhalte. Die Gewissheit ist vielmehr eine Selbstgewissheit der urteilenden Person: Die Person weiß, dass sie im Besitz dessen ist, was es für ein moralisches Urteilen, für Unterscheidungen in Richtig und Falsch braucht.

Laut Kohlbergs statistischen Erhebungen scheint es nun leider so, dass einem Großteil der Frauen auf dieser Welt sowohl die Gewissheit über die eigene Urteilsfähigkeit fehlt, als auch die Gabe, sich selbst und anderen unumstößliche Gesetze zu geben. Ihr Weg nach oben endet auf Stufe drei – gerade einmal auf der Hälfte des Weges von insgesamt sechs Stufen. Wieso ist das so? Stimmt vielleicht etwas mit ihrem moralischen Gefühl nicht? Oder fehlt ihnen gar ein wichtiges ›Moral‹-Organ?

Kohlberg wäre nicht der Erste, der universelle menschliche Fähigkeiten wie die Moral mit einem Organ in Verbindung brächte. Bereits im 17. Jahrhundert ging der französische Philosoph und Mathematiker René Descartes davon aus, dass man das rätselhafte Merkmal des Menschen, vernünftig und moralisch urteilen zu können, anatomisch erklären könne. Er war der Begründer des Rationalismus, also der Philosophie, die sich ganz und gar auf die Vernunftfähigkeit des Menschen fokussiert, und vermutete den Ort hierfür im Gehirn der Menschen, genauer gesagt in der Zirbeldrüse. Diese Vermutung erwies sich jedoch als falsch. Kohlberg selbst vermutete den Unterschied jedoch nicht in einer anatomischen Ausprägung menschlicher Körper. Bis heute ist nicht klar, ob – und wenn ja, wo – die Vernunft oder auch das Moralempfinden im Körper zu lokalisieren wäre. Oder wie es dort hingekommen wäre. Was bleibt, ist also die Tatsache, dass Frauen in Kohlbergs Studie nicht erreichen können, was den Männern offenzustehen scheint.

Was geschieht mit dem kohlbergschen Moralkonstrukt, wenn man versuchsweise einschließt, was zuvor ausgeschlossen war. Zum Beispiel vorausschauende Umsicht, die mögliche Konsequenzen von Handlungen miteinbezieht. Sie lässt sich zwar – da sie auf die Zukunft blickt – nicht als Regel aus dem Gegebenen formulieren, ist jedoch ebenso von einem Willen zum richtigen und gerechten Handeln gelenkt und darin moralisch. Genau das zu tun – anzutesten, wie unumstößlich der Moraluniversalismus in dieser Form wirklich ist –, war Ziel der Kritik Gilligans.

Moralische Defizite weiblicher Urteilskompetenz und ein Gegenentwurf dazu

Nicht nur Mädchen und Frauen blieben häufig auf niedrigen Stufen zurück, auch Kinder und Erwachsene aus sozioökonomisch schwachen Schichten erreichten die fünfte und sechste Stufe deutlich seltener als Proband:innen aus ›gutem Hause‹. Kohlberg, der davon ausging, dass in allen Menschen gleichermaßen das Potenzial zur Moral angelegt sei, erklärte die Differenz damit, dass diesen Personengruppen etwas in ihrem Sozialisationsprozess fehle – er legte es als einen Mangel, als ein Defizit der Proband:innen und ihrem Umfeld aus, wenn diese auf seinen Stufen weit vor der letzten Stufe zurückblieben.

Das ist insofern interessant, als Entscheidungen auf der dritten Stufe, auf der diese Personengruppe laut Kohlbergs Erhebungen häufig verblieb, sich ausdrücklich noch an »personengebundener Zustimmung« orientiert: Als »richtiges Verhalten« sollte auf dieser Stufe das angesehen werden, »was anderen gefällt«.8 Diese Orientierung widerspricht dem höchsten Ziel der Kohlbergschen Moral: ihrer Universalisierbarkeit. Urteile, die sich an den Erwartungen anderer orientieren, unterliegen zeitlichen Veränderungen. Sie sind von Bedingungen abhängig, die eine Person allein nie unter Kontrolle haben kann. Dieses Verhalten ist dafür jedoch erstaunlich kongruent mit dem, was gesellschaftlich häufig von Mädchen und Frauen erwartet wird: nicht durch eigene Meinungen störend auffallen und allen Anwesenden ein möglichst einvernehmliches Klima garantieren.

Kohlberg fand in seinen Daten also etwas vor, das sich nicht mit einer seiner Hauptthesen vereinbaren ließ: Wenn Moral in allen Menschen gleichermaßen angelegt ist, warum gibt es dann statistisch relevante geschlechtsspezifische Unterschiede im Ergebnis seiner Erhebung? Normalerweise würde man in der Wissenschaft neue Daten, die nicht in das Konzept einer vorliegenden Theorie integriert werden können, zum Anlass dafür nehmen, die Theorie zu überarbeiten und zu korrigieren. Anstatt jedoch ihre eigene Theorie zu hinterfragen, haben Kohlberg und seine Kollegen die Diskrepanz zwischen den Proband:innen mit dem durchschnittlich deutlich niedrigeren Bildungsniveau und der geringeren Berufstätigkeit von Frauen erklärt. Diese Faktoren benennen also keine personen- oder geschlechtsbezogenen Defizite, sondern können als gesellschaftliche Versäumnisse dargestellt werden. Offen bleibt dabei jedoch die Frage, wie Moral universell und zugleich von einer Teilhabe an der freien Marktwirtschaft abhängig sein soll – es impliziert hingegen, dass bezahlte Berufstätigkeit anspruchsvoller sei als unbezahlte Fürsorgearbeit. Indem Kohlbergs Erklärungsansatz die Diskrepanz nur durch Mangel in der weiblichen Entwicklung und Bildung erklärt, bewahrt er das Weltbild, das Lohnarbeit für höherwertig hält als Fürsorgearbeit, vor tiefgreifenderen Zweifeln an patriarchalen und kapitalistischen Gesellschaftsstrukturen.

Anders als Kohlberg interpretierte Gilligan den statistisch auffällig häufigen Verbleib von Frauen auf der Stufe drei nicht als Zeichen der moralischen Unterentwicklung von Mädchen und Frauen: Ihrer Vermutung nach wies das Ergebnis vielmehr auf bezweifelbare Vorannahmen im theoretischen Ansatz hin. Und so drehte sie den Spieß um: Statt den Fehler als geschlechtsspezifisches Defizit bei den Proband:innen zu suchen, legte sie nahe, dass Kohlbergs Entwicklungsmodell gar nicht so universell und allgemeingültig sei, wie dieser es darstellte. Stattdessen, so Gilligan, erfasse sein Stufenmodell primär einen männlichen Blick auf Moral. Damit steht er – wie so viele Forschende in diesem zu dieser Zeit überwältigend männlich dominierten Feld – in einer Denklinie mit den Moralbegriffen Sigmund Freuds und Jean Piagets, die ebenfalls aufgrund ihrer androzentrischen Forschungsansätze und -aufbauten kritisiert wurden.9 Androzentrisch heißt, dass Vorannahmen über die Welt von einem sehr spezifischen Blickpunkt aus getroffen werden: von der Position eines Mannes, der in einem Patriarchat lebt und daher sehr viele Privilegien innehat. Alle anderen Blickwinkel und Perspektiven – aber auch alle Fragestellungen, die außerhalb dieses Erfahrungsbereichs liegen – werden in einem androzentrischen Weltbild weitestgehend ausgeblendet. Und ausgehend von einem so stark beschnittenen Sichtfeld konnte laut Gilligan auch die Studie nur verzerrte Ergebnisse produzieren.

Ist die Wegscheide vor den obersten Stufen der Moral also Ausdruck von einem sexistischen Weltbild? Dass Wissenschaft selbst die angestrebte Objektivität nicht immer erzielt, sondern – auch im Einklang mit ihrem Selbstverständnis – stets neue Korrektive braucht, um die Vorurteile der Forschenden immerfort auszugleichen, ist nichts Skandalöses. Es ist der Tatsache geschuldet, dass sie von Menschen gemacht wird – und nicht von einem außerweltlichen Wesen. Wäre Kohlberg eine Frau gewesen, wären es vielleicht auffällig viele Männer gewesen, die sich statistisch nur bis zur Hälfte des Moralbewusstseins entwickelt hätten. Doch Spekulationen dieser Art sind nur bis zu einem gewissen Grad hilfreich.

Mit Die andere Stimme legte Gilligan jedenfalls einen Entwurf vor, der in dieser Hinsicht ein Gegenentwurf zu Kohlberg war: In ihm hatte beim Blick auf die Moral eine Frau das Wort. Ihre Studie sorgte für viel Aufsehen, denn sie verschob den Fokus vom Ergebnis der Begründungsstrukturen hin zu den Vorannahmen. Gilligan postulierte mit dieser Verschiebung all jene Forschenden, die sich selbstsicher auf diese Vorannahmen stützten, als Anhänger eines androzentrischen Menschenbilds enttarnt zu haben, das eigentlich nur Jungen und Männer im Kontext einer patriarchal strukturierten Gesellschaft wahrnimmt und widerspiegelt.

Ihr Vorwurf lautete konkret: Dinge, die eigentlich sehr spezifisch für Jungen und Männer in einer westlich-patriarchalen Gesellschaft sind – wie das große Streben nach Autonomie und Unabhängigkeit – , werden als etwas für den moralisch fähigen Menschen Allgemeines hingestellt. Für Mädchen und Frauen spezifische Fähigkeiten hingegen – wie Fürsorge, Verantwortung und Anteilnahme – würden als Fehleranzeigen gedeutet, als Zeichen einer mangelhaft entwickelten Moral.

So zeichne Kohlberg mit seiner Studie ein Bild von Moral, das gewisse Aspekte moralischen Handelns ausschließe und sie als Abweichungen vom »idealen Menschen« darstelle: weibliche Aspekte eben.10

Gilligan argumentierte weiter, dass zum Überwinden dieser Asymmetrie des männlich-zentrierten Blicks nicht nur kühle Individual-Vernunft, sondern auch Fürsorglichkeit als Ausdruck von Moral erfasst werden sollte. So würden auch Frauen bei einer Wiederholung der Studie besser abschneiden. Konkret schlug sie vor, zwischen einer gerechtigkeitsorientierten Moral und einer fürsorglichkeitsorientierten Moral zu unterscheiden. Es sollte einen zweiten Weg geben, alle sechs Stufen der Moral zu erklimmen – gleichberechtigt neben dem vom kohlbergschen Stufenmodell.

Kritik an der Kritik: Die Reaktion auf Gilligans Gegenentwurf