Ausgeliefert - Roman der numerischen Welt (eBook) - Elmar Tannert - E-Book

Ausgeliefert - Roman der numerischen Welt (eBook) E-Book

Elmar Tannert

4,9

Beschreibung

Der Fürst von St. Leonhard und Schweinau kommt kaum zu Atem auf der täglichen Hatz durch sein Fürstentum, dessen Straßen und Häuser sich in seinen Kopf brennen wie die Namen und Eigenheiten seiner Untertanen: der Bleistein, der mit dem Papagai auf der Schulter an der Ottilienstraße steht, die Geißler in der Narzissenstraße 15, bei der der Fürst Sturm klingeln muss, weil sie bis in die Morgenstunden fernsieht und sich betrinkt,. Der erste Paketpost-Roman - überraschend, intelligent, unterhaltsam und witzig.

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Elmar Tannert

 

Ausgeliefert

 

Roman der numerierten Welt

 

 

 

 

ars vivendi

 

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (Erste Auflage 2005)

 

© 2005 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Bauhof 1, 90556 Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

 

Lektorat: Sabine Cramer

Einbandgestaltung: Silke Klemt

 

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

eISBN 978-3-86913-581-6

 

Inhalt

Kennst du Washington D. C.?

Der technische Fortschritt ist nicht aufzuhalten

Wer wird Millionär

Aus dem Leben der Unterhaltspflichtigen

Von Adel und Kunst der Fürsten

Der Bischof von Kasachstan trägt fürstliche Hosen

Der Fürst von Wendelstein ist nicht krank gewesen

Blacha, Vasall, Wollenschläger

Adressen sind Urteile

Schweinau ist nicht Erlenstegen

Schiller, Goethe, Bahnhof

Sex ist gesund

Musik liegt in der Luft

Noch ein Alptraum des Fürsten

Die Fürsten überliefern die Gegenwart

Drei Schritte voraus

Der Roman der numerierten Welt

Die Verschwörung der Bestellerinnen

Alle Postwagen sind gelb

Die Stimme des Fürsten

Die Rückkehr des Fürsten

Der Autor

 

Kennst du Washington D. C.?

Der Fürst von St. Leonhard und Schweinau sagt mir, er kann in die Frachthalle nur hineingehen, weil er weiß, daß er eine Stunde später so frei sein wird, wie nur ein Fürst es sein kann, und hinausfahren wird in die frühmorgens hitzeflimmernde Julistadt, die sturmzerfledderte Novemberstadt, die schlaftrunkene, halbdunkle Januarstadt. Wer in der numerierten Welt einmal Fürst geworden ist, kann nichts anderes mehr sein als Fürst.

An den freien Tagen wird der Fürst überfallen vom Gefühl, die Welt zu versäumen. Gewohnt, in einem Schloß zu leben, sitzt er wie ein Häftling in seiner Wohnung, trinkt den Morgenkaffee und fragt sich, warum er darauf angewiesen ist, die Welt zu sehen, ob er im Kopf keinen Gedanken mehr hat, ob er die Gedanken, die er nicht mehr hat, durch Welt ersetzen muß, wie andere sie durch Bücher ersetzen. Was versäumt er, fragt sich der Fürst, wenn er sein Fürstentum nicht sieht, nicht die Herbertstraße im Schnee, nicht die Teslastraße im Licht der Mittagssonne, nicht die Schweinauer Hauptstraße im Gewitterregen; wenn er nicht den Hirtreiter von der Heinrichstraße 16 mit dem bierdosengefüllten Einkaufswagen über den Parkplatz vom CometEinkaufsmarkt gehen sieht, nicht die Bleistein mit dem Papagei auf der Schulter an der Ecke von der Ottilien- zur Heinrichstraße stehen sieht, nicht das blaugeschlagene Gesicht vom täglich besoffenen Förrenbach sieht. Am freien Tag sieht der Fürst viertelstündlich auf die Uhr, anstatt den Roman der numerierten Welt zu beginnen: Jetzt würde er vom Ölbaumweg in den Feigenweg ­einbiegen, jetzt stünde er an der Warenannahme von Bosch in der Dieselstraße 10, jetzt stünde er an der Ecke von der Schwabacher Straße zur Narzissenstraße, sähe den Förrenbach durch die numerierte Welt taumeln und hörte ihn jeden Entgegenkommenden fragen: »Kennst du Washington D. C.?« Den hinkenden Zumtobel, der auf dem Weg zur Krankengymnastik ist: »Kennst du Washington D. C.?« Den Hirtreiter, der Zigaretten kaufen geht, die Maurer auf dem Heimweg vom Comet-Einkaufsmarkt: »Kennst du Washington D. C.?« Der Roman der numerierten Welt bleibt ungeschrieben, der Fürst sieht auf die Uhr. Kurz vor elf: Jetzt stünde er mit Nachnahmepaketen aus Venlo vor der Werkstatt vom Wollenschläger und klopfte mit drei Faustschlägen an das eiserne Tor. Der Zweite Weltkrieg ist seit über fünfzig Jahren zu Ende, und immer noch rächen sich die Holländer an den Deutschen mit Nachnahmepaketen aus Venlo, von Bellaflor und Charité. Bei der täglichen Lektüre der Todesanzeigen, nachmittags, im fürstlichen Aufenthaltsraum, in dem ein Radio steht, das zu selten leiser gedreht und von niemandem, außer vom Fürsten von St. Leonhard und Schweinau, jemals ausgeschaltet wird, kommentiert der Fürst von Großreuth und Gaismannshof jede zweite Anzeige mit den Worten, der oder die Verstorbene habe sich zu Tode bestellt. Wer auch nur ein einziges Mal bei Bellaflor oder Charité bestellt, hat sein eigenes Todesurteil unterzeichnet, wer bei Bellaflor und Charité bestellt, verwandelt seine Wohnung in die letzte Adresse vor dem Tod. Gäbe es jenseitige Adressen, brächten es die Niederländer fertig, ihre Nachnahmepakete den Verstorbenen noch in den Himmel oder in die Hölle nachzusenden. Die einzige Rettung vor Nachnahmepaketen aus Venlo ist der Tod, in den sie jeden Besteller treiben, die Flucht in die unnumerierte Welt.

Im Aufenthaltsraum der Fürsten werden Fälle besprochen wie unter Medizinern, Kriminologen und Staatsanwälten; ungeschützte Daten von Bestellern und Bestellerinnen schwirren durch den Raum und durchkreuzen Hits und Moderatorenstimmen. Die Wanner von der Rehberger Straße 65, sagt der Fürst von Großreuth und Gaismannshof, ist erstickt in Nachnahmepaketen aus Venlo. Jahrelang hat er ihre Pakete werktags gelagert und ist samstags mit über einem Dutzend Nachnahmen aus Venlo bei ihr vorgefahren, vielmehr, ist rückwärts in den Zufahrtsweg manövriert, an dessen Ende ihr Haus lag. Die Wanner hat ihn jeden Samstag eine halbe Stunde gekostet: bis sie sich auf sein mehrmaliges Klingeln gemeldet hat. Bis sie aus dem Haus gekommen ist. Bis alle Nachnahmebeträge zusammengerechnet waren. Bis von jedem Paket der Zahlschein entfernt war. Bis die Wanner erst jedes Paket einzeln in die Garage getragen hat, dann ins Haus zurückgegangen ist, um das Geld zu holen. Wie er, der Fürst von Großreuth und Gaismannshof, ihr jeden Samstag ins Gewissen geredet hat: Sie müsse aufhören zu bestellen und ab sofort alle Pakete als Annahme verweigert zurückgehen lassen, bevor sie finanziell ruinierter sei als ein Unterhaltspflichtiger und sich zu Tode bestellt haben werde. Die Wanner, erzählt der Fürst von Großreuth und Gaismannshof, sei mit dem Auspacken nicht mehr nachgekommen und ihre Garage habe man am Schluß, als sie wegen Bestellsucht entmündigt und ins Krankenhaus eingeliefert worden sei, nicht mehr betreten können, denn die unausgepackten Venlopakete hätten sich darinnen bis zur Decke gestapelt. Nach einem halben Jahr in der Klinik ist die Wanner wieder in ihr Haus zurückgekehrt und ist innerhalb einer Woche an der vollen Garage gestorben, und so ist es schon Hunderten von Bestellerinnen ergangen. Ganze Vermögen sind schon auf niederländische Konten geflos­sen, ungezählte Erben sind mit vollen Garagen und leeren Sparkonten konfrontiert worden und haben erst den Verstorbenen und dann die Niederländer verflucht.

»Oder der Fall Wollenschläger«, sagt der Fürst von St. Leonhard und Schweinau. Der Wollenschläger hatte in seiner Werkstatt denselben Mercedes stehen, in dem Adolf Hitler auf der Weltausstellung 1938 in Berlin fotografiert worden war, und auch der Mercedes hat sich in Nachnahmepakete aus Venlo verwandelt. Die Briefkastenfirmen Bellaflor und Charité haben sich gegen naive, senile Deutsche verschworen wie der Staat und die Alleinerziehenden gegen die Unterhaltspflichtigen, wie Alleinerben gegen Erblasser und Pflichtteilsberechtigte; Verschwörungen, sagt der Fürst, von denen die Maurer in der Herbertstraße, die regelmäßig Büchersendungen verschiedener Versandantiquariate erhält, noch niemals gelesen hat. Die Maurer hat von Mikrochips gelesen, die alle Menschen eingepflanzt bekommen werden, von schwarzweißen Strichcodes auf Händen und Stirnen, die alle Menschen eingraviert bekommen werden; mit den täglichen Nachrichten über Geldfälschungen, sagt sie, soll die Abschaffung des Bargelds vorbereitet werden, und sie ist überzeugt, daß die meisten Kindesentführungen vom Staat inszeniert werden, um Eltern aus Angst vor Entführungen dazu zu bringen, ihren Kindern Mikrochips implantieren zu lassen. Regelmäßig zeigt sie dem Fürsten von St. Leonhard und Schweinau eine Zeitung des vergangenen oder vorvergangenen Tages, in der sie eine unscheinbare Meldung mit Rotstift umrandet hat: »Die größten Ungeheuerlichkeiten, Durchlaucht, stehen niemals in den Schlagzeilen, sie stehen in den Spalten mit den kleinen, belanglosen Nachrichten aus aller Welt: ›Kindersuche per Mikrochip. Nie wieder Angst um den verschollenen Nachwuchs: Mit einem implantierten Mikrochip sollen Kinder in England zukünftig überall zu orten sein. Mobilfunkantennen geben ihre Position an. Wenn sie nur nicht im Funkloch Versteck spielen …‹«

Die an sie adressierten Büchersendungen enthielten ausschließlich Bücher über die Weltverschwörung, wie sie dem Fürsten gestanden hat; an anderen Büchern habe sie kein Interesse mehr. »Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, Fürst, wo die schönen Menschen herkommen, die in den Versandhauskatalogen abgebildet sind?« Tatsächlich sei ihm erst in jenem Augenblick aufgefallen, sagte der Fürst von St. Leonhard und Schweinau im Aufenthaltsraum, wie oft ihm von Siechen, Verkrüppelten, Häßlichen, Unförmigen, Verwachsenen die Tür geöffnet wird, wie selten von schönen, gesunden, ebenmäßigen Menschen. »Die schönen Menschen in den Versandhauskatalogen«, sagt die Maurer, »werden gezüchtet in Labors unter der Erde.«

Nachts, wenn der Fürst aus einem weltverschwörerischen Alptraum erwacht, glaubt er zu spüren, wie im Frachtzentrum an der Peripherie der Stadt die Pakete des kommenden Tages über die Sortieranlage laufen, die Rutschen hinabgleiten, vom Nachtschichtpersonal in Rollbehälter geschlichtet und an die Ladetore geschoben werden. Die rotweißen Pakete von Neckermann, die graugrünen Pakete von Yves Rocher, die blaugrauen Pakete von Quelle, die Pakete von Home Shopping Europe mit dem rotgelben Klebstreifen, die tödlichen Nachnahmepakete aus Venlo mit dem Zahlschein in der Plastikhülle. Bis in den Schlaf hört der Fürst den Förrenbach schreien: »Kennst du Washington D. C.?« Die Fürstentümer verfolgen ihre Fürsten bis in die Wohnung, bis in den Schlaf, vielleicht bis in das Grab.

 

Der technische Fortschritt ist nicht aufzuhalten

Wissenschaftler haben herausgefunden, daß Nach­nahme­pakete aus Venlo völlig unbedenklich sind und daß es unmöglich ist, sich zu Tode zu bestellen. Wissenschaftler haben herausgefunden, daß es dem Fürsten von Feucht keinen Zeitgewinn bringt, den Weg vom Postwagen zur Friedrich-Stör-Straße 5 rennend zurückzulegen, weil die Vitzthum eine halbe Minute braucht, bis sie an die Tür kommt, eine weitere halbe Minute, bis sie ihren Schlüsselbund gefunden und alle drei Türschlösser aufgesperrt hat, eine weitere halbe Minute, bis sie ihre Brille gefunden hat, und eine weitere halbe Minute, bis sie ihr Geld gefunden hat, um die Nachnahme aus Venlo zu bezahlen. Wissenschaftler haben herausgefunden, daß es weder den Himmel noch die Hölle gibt.

Der Fürst von St. Leonhard und Schweinau hat die Angewohnheit, nach dem Sortieren und Einladen der Post und vor der Abfahrt in sein Fürstentum in den Aufenthaltsraum zu gehen und sich einen Becher Nesquik aus dem Automaten zu münzen. Während das mit Wasser angerührte Getränk in den Plastikbecher summt, denkt er den Satz: Der technische Fortschritt ist aufzuhalten. Anders als durch den gedachten Satz wird der technische Fortschritt nicht aufzuhalten sein. Während der gegenteilige Satz täglich millionenfach geschrieben, gedruckt und gelesen wird, denkt der Fürst von St. Leonhard und Schweinau täglich ein Mal: Der technische Fortschritt ist aufzuhalten.

Schuld ist sein Onkel aus dem böhmischen Schloß, der dreimal wöchentlich nach Mitternacht die Diener und Reitknechte zu rufen pflegte, sich von ihnen den hölzernen Schimmel satteln ließ und durch die Salons ritt, den Blauen, den Roten, den Goldenen; durch den Musiksalon und durch den Spiegelsaal; er ritt die Marmortreppe hinauf und hinab und rief im hallenden Treppenhaus: »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit!« oder: »Der technische Fortschritt ist nicht aufzuhalten!«Die Illuminaten hatten ihm im wahrsten Sinn des Wortes den Kopf gewaschen und verdreht.

Der technische Fortschritt preßt heiliges Wasser durch die Leitungen eines Getränkeautomaten und läßt es in Plastikbecher rinnen, er holt Bilder vom Himmel und unterzeichnet auf den Empfangsgeräten mit dem Namen Satan, worüber niemand erschrickt.

Es war in einem Fürstentum auf dem Land, bevor er vom Dienstregler zum Fürsten von St. Leonhard und Schweinau ernannt worden war, wo ihn zum ersten Mal Entsetzen erfaßte über die Aufschrift SatAn auf einer Antenne, sagte mir der Fürst, als ich sein Beifahrer war. Seit der technische Fortschritt den Himmel okkupiert hat, ist der Himmel kein Himmel mehr und das Böse kann mit seinem Namen unterzeichnen, weil niemand mehr glaubt, daß es existiert.

Der Fürst war ebenso verwirrt wie ich eines Morgens in der Frachthalle gestanden, man mußte dem Fürsten ebenso wie mir mehr als nur die numerierte Welt erklären, der Fürst war durch ein Zeitfenster gekommen und ich aus der Nacht. Ich hatte in sieben Jahren Nachtschicht die Welt des Tages vergessen; der Fürst hatte die numerierte Welt noch nie gesehen, nur ihre Pläne in der verschlossenen Kammer seines Vaters, die erst nach seinem Tode geöffnet werden durfte, Pläne, die von den Illuminaten geraubt wurden, bevor man daran dachte, sie zu vernichten. Der Fürst war unangemeldet aufgetaucht und wurde von niemandem als wahrer Fürst erkannt, denn das Frachtzentrum wurde täglich von unangemeldeten Unterhaltspflichtigen aufgesucht, die Fürst werden wollten oder mußten, und niemanden hatte gewundert, daß der Fürst sich als Fürst bezeichnete, denn man findet den Namen Fürst auf vielen Klingeltafeln.

Wissenschaftler haben herausgefunden, daß es den Ort Venlo nicht gibt. Wissenschaftler haben herausgefunden, daß Venlo das ist, als was es in der Vorstellung der Fürsten existiert; die angeblichen Abbildungen vom malerischen Städtchen Venlo in Reiseführern zeigen eine ganz andere Stadt.

 

Wer wird Millionär

Die Frau des Fürsten von Großreuth und Gaismannshof sagt vor Gericht aus, daß sie in jenem Moment, in dem ihr Mann vor dem Fernseher sagte, eben falle ihm ein, er habe die Moritz von der Wallensteinstraße 101 versehentlich unbekannt verzogen geschrieben, vor sich sah, wie sie mit ihm seine Ruhestandsjahre verbringen würde: »Er wird«, sagt sie, »als gewesener Fürst schon vor dem Frühstück den blauen Arbeitsmantel anziehen, den er täglich beim Sortieren und Einladen der Post getragen hat, und wird sich nach dem Frühstück eine Virginier anzünden.« Sie wird am unabgeräumten Frühstückstisch nicht nur das städtische Telefonbuch, sondern auch die Telefonbücher der Stadtperipherie zur Hand nehmen müssen, denn bevor ihr Mann Fürst von Großreuth und Gaismannshof wurde, sei er nicht nur Stellvertreter der Fürsten von Gostenhof, Sündersbühl und Leyh gewesen, sondern auch der Fürsten von Feucht, Burgthann und Schwarzenbruck. Sie wird Familiennamen nennen müssen, und ihr Mann, der gewesene Fürst, wird zu jedem Namen die Adresse nennen, gegebenenfalls nach dem Vornamen fragen. Er wird sagen: zu Schliep oder Vitzthum, Schilfarth oder Abraham fielen ihm Dutzende von Adressen ein, denn dort heiße jeder zweite Schliep, jeder dritte Vitzthum und von denen, die übrigblieben, jeder zweite entweder Schilfarth oder Abraham. Er wird über Namen dozieren, er wird sagen: »Ellenschläger, Trumheller, Geiger, Staufert sind immer Rußlanddeutsche«; und an den Abenden, während Quizkandidaten im Fernsehen mit der Frage ringen werden, ob der Fuchs, der Wolf oder der Bär die Gans gestohlen hat, wird der gewesene Fürst darüber räsonieren, was für Schreibfehler auf Adreßaufklebern ihm im Laufe der Zeit untergekommen sind. Er wird sagen: Tag für Tag hat er an Elserbrennt-Strömstraße für Elsa-Brändström-Straße, an Witsch-Emil-Ludwig-Straße für Witschelstraße, an Guntikastraße für Gundekarstraße abgelesen, daß immer mehr Menschen die Welt schief im Kopf haben, als ob er selbst nicht auch die Welt schief im Kopf hätte, so schief, daß er den Choke am Automobil Joker nennt, und er wird bedauern, daß in keiner Fernsehsendung ein Fürst über sein Fürstentum befragt wird, über Namen auf Klingeltafeln und Briefkastenreihen von links oben bis rechts unten; er würde sofort die Gelegenheit nutzen, wenigstens nach seinem Dasein als Fürst zum Millionär zu werden.

In jenem Augenblick abends vor dem Fernseher, in dem ihr vom Fürstentum verfolgter Mann sagte, er habe die Moritz von der Wallensteinstraße 101 irrtümlich unbekannt verzogen geschrieben, hat die Frau des Fürsten von Großreuth und Gaismannshof beschlossen, Recherchen anzustellen über die fürstlichen Gründer der Post. Es hat sich herausgestellt, sagt sie vor Gericht, daß die Post von Debilen, von Schwachsinnigen, mithin Unzurechnungsfähigen einerseits, von europaweit verschwägerten und verschwisterten Verschwörern andererseits gegründet wurde; daß von den sogenannten Fürsten in Wahrheit die wenigsten wirkliche Fürsten waren, da die meisten Fürstensöhne der Liaison einer Fürstin mit einem Reitknecht oder einem Stallburschen entsprungen waren, woher ihr Schwachsinn und Irrsinn rührt, der jeden, der im Dienst der fürstlichen Familie steht, infiziert. Die schlimmsten Schäden sind nicht die Bandscheibenschäden, die einem bleiben, wenn man den Bestellerinnen vierzig Jahre lang Hantelscheiben und Lattenroste, Veloursteppiche und Schubkastenkommoden in den dritten oder vierten Stock getragen hat, sondern die Gehirnschäden vom Leben in der haus- und bestellnumerierten Welt.

Der Fürst von Schwarzenbruck sagte in der Gerichts­verhandlung über das umadressierte Paket, er habe der Weisert von der St.-Gundekar-Straße 12 den letzten Wunsch erfüllen wollen.

Sie wird sich verbrennen lassen, hat die schielende, bucklige Weisert, der man ansehen konnte, daß sie einmal ein hübsches Mädchen, eine hübsche junge Frau ­gewesen sein mußte, zu ihrem Fürsten gesagt, kurz bevor sie sich zu Tode bestellte, und hat ihn gebeten: »Wenn das Urnenpaket mit meiner Asche vom Städtischen Krematorium kommt, so schicken Sie es nach Venlo, überkleben Sie die Adresse Gemeindefriedhof Schwarzenbruck und adressieren Sie das Paket nach Venlo.« Dann wollte sie dem Fürsten ihren Kellerschlüssel aushändigen: »Räumen Sie mein Kellerabteil leer, Durchlaucht, laden Sie alle Pakete in Ihren Postwagen, bringen Sie alles nach Venlo zurück, lassen Sie die Pakete in Geld zurückverwandeln, das Geld soll Ihnen gehören.«

Noch keinen Wunsch hat er lieber erfüllt als den, dem niederländischen Millionär die Asche eines seiner Opfer zu senden; doch den anderen Wunsch, sagte der Fürst von Schwarzenbruck, habe er ihr nicht erfüllen können. Wissen Sie nicht, habe er damals zur Weisert gesagt, daß für die Fürsten die Welt dort aufhört, wo es keine Adressen mehr gibt? Kein Mensch weiß, was geschieht, wenn man mit dem Postwagen die adressierte Welt verläßt; kein Fürst hat es jemals versucht. Das Spiel, in dem es nichts Namenloses gibt, ist Welt geworden, und das Namenlose wurde aus der Welt verbannt.

Die Weisert hat sich aus der örtlichen Bibliothek immer wieder dieselben beiden Niederlande-Reiseführer ausgeliehen; in jedem von ihnen war eine Ansicht von Venlo. »Ist Venlo nicht eine schöne Stadt, Durchlaucht? Eine Stadt, in die man gerne reisen würde? Würden Sie nicht gern eine Reise nach Venlo unternehmen, Fürst?«

Der Fürst hatte zugeben müssen, daß man tatsächlich Lust bekommen konnte, nach Venlo zu reisen, wenn man die Bilder in den Reiseführern ansah, Venlo sieht sympathisch aus, anheimelnd, gar nicht nach einer todbringenden Stadt und vor allem ganz anders, als er es sich vorgestellt hatte. Als Fürst stellt man sich unter Venlo einen Gewerbepark vor, eine Ansammlung von Lagerhallen und Bürotrakten; nur der Fürst von Gostenhof denkt, wenn er das Wort Venlo von einem Paket abliest, an blonde holländische Mädchen, die rund um die Uhr damit beschäftigt sind, Daten aus deutschen Telefonbüchern in Adreßaufkleber auf Paketen zu verwandeln.

Der Fürst von St. Leonhard und Schweinau behauptet, er habe alle Vorstellungen, bis auf die Vorstellung von Venlo, aus seinem Kopf ausradiert. Bevor er Fürst von St. Leonhard und Schweinau wurde, hat er oft genug am frühen Morgen die Frachthalle betreten mit der Vorstellung, durch das Fürstentum Leyh zu fahren, hat den Wagen schon aufgesperrt und mit dem Sortieren und Einladen der Post begonnen, als der Dienstregler kam und ihm sagte, er solle nicht in das Fürstentum Leyh, sondern Feucht, nicht in das Fürstentum Großreuth, sondern Höfen fahren, und er mußte vom einen Augenblick auf den anderen das eine Fürstentum im Kopf gegen das andere austauschen, den Obst- und Gemüsegroßmarkt, die Gebrauchtwagenhändler und die geduckte Siedlung zwischen der Leyher Straße und der Stadtautobahn gegen das ehemalige Munitionsfabrikgelände und die verschlafene Siedlung Moosbach, die Nachkriegssiedlung an der Marconistraße und die Hochhäuser an der Elsa-Brändström-Straße gegen das Gewerbegebiet Höfen, was vor allem dann bitter war, wenn der Vorabend ein Freitagabend war, den man mit dem Fürsten von Feucht verbracht hatte, wenn man sich beim Sirtakitanzen und Ouzotrinken gesagt hatte: am nächsten Tag ist man ja nur in Gebersdorf oder Höfen unterwegs, Fürstentümer, die aus mehr Gewerbe- als Privatstraßen bestehen, in denen also der größte Teil der Samstagspost bis Montag liegenbleibt und das Sortieren, Einladen und Zustellen der Post bis halb elf erledigt sein kann; und wenn, während man sich am frühen Samstagmorgen halbtot an den Paketen festhält, der Dienstregler kommt und sagt, man habe nach Wendelstein oder Reichelsdorf zu fahren, Fürstentümer ohne jeden Gewerbeanteil, in denen der samstägliche Weg des Fürsten nicht vormittags um halb elf, sondern nachmittags um halb drei zu Ende ist.

Man muß sich als Fürst von allen Vorstellungen lösen, sagte der Fürst von St. Leonhard und Schweinau, sonst vorstellt man sich zu Tode, was schlimmer ist, als sich zu Tode zu bestellen, und vor allem darf man sich nicht das Leben vom Blacha, vom Vasall, vom Wollenschläger vorstellen. Die meisten aber, die kommen, um ein Fürst zu werden, kommen mit Vorstellungen vom Leben der Fürsten, die sich sämtlich als falsche Vorstellungen erweisen. Sie haben sich das Fahren des Postwagens vorgestellt, aber nicht die Wohnung von der Papst in der Marconistraße 6 mit den herabhängenden Tapeten, nicht die Wohnung von der Hoffend im Feigenweg 10 mit dem durchlöcherten Fußbodenbelag, nicht die Wohnung vom Grischa in der Drosselstraße 16 mit der bis auf einen Herd, in den die Essensreste von Jahren eingebrannt sind, völlig unmöblierten Küche; nicht die steilen Treppenstufen zur Kroker in der Schwabacher Straße 66a und nicht den Geruch, der einem aus der Wohnung von der Heilberger in der Albertstraße 5 entgegenschlägt. Sie haben sich nicht vorgestellt, der Pindl von der Schweinauer Hauptstraße 142 zwei Matratzen mitsamt Lattenrosten in den vierten Stock zu tragen und drei Tage später wieder abzuholen, weil sie falsch gemessen hat, der Kellerer von der Rosenstraße 12 jeden Tag ein Yves-Rocher-Paket in den vierten Stock zu tragen, täglich die neuen Nachsendemerkkarten in die Kartei einzusortieren, einmal im Monat die abgelaufenen Karten auszusortieren und dabei darüber nachzudenken, wer man alles nicht sein möchte, wo überall man nicht gewohnt haben und wo überall man nicht hinziehen möchte; und am allerwenigsten haben sie sich vorgestellt, daß das Sortieren und Einladen und Zustellen der Post eine Kunst ist. Es ist eine Kunst, zur richtigen Zeit am ­richtigen Ort zu sein, und es ist eine Kunst, bei jedem auf die richtige Weise zu klingeln: bei der Geißler in der Narzissenstraße 15, die bis in die frühen Morgenstunden fernsieht und sich dabei betrinkt, Sturm zu klingeln und bei der Geiger mit dem neugeborenen Baby in der Schweinauer Hauptstraße 122 die Klingel so sacht wie möglich zu betätigen. Niemand weiß von der Kunst der Fürsten, obwohl jeder aus ihrer Hand Post empfängt, aber Post empfangen und Post zustellen hat so wenig miteinander zu tun wie Bücher lesen und Bücher schreiben, und deshalb ist der Subunternehmer gescheitert.

Der Subunternehmer muß geglaubt haben, die Post sortiere sich von selbst in den Postwagen und der Wagen halte von selbst an den richtigen Stellen an. Der Subunternehmer ist mit seinem Personal, das sich niemals vorher ein Fürstentum angesehen hatte, am vereinbarten Morgen um sechs in der Halle gestanden und hat versucht, mithilfe des Straßenverzeichnisses die Post zu sortieren und einzuladen; der Subunternehmer und seine Angestellten haben beim Sortieren und Einladen der Post jede Straße, die sie von einem Paket abgelesen haben, im Straßenverzeichnis nachgeschlagen, um festzustellen, in welchem Ort sie liegt, und waren auf diese Weise vier Stunden mit dem Sortieren und Einladen der Post beschäftigt; die Fürsten haben, bevor sie sich auf den Weg in ihre Fürstentümer gemacht haben, eine Stunde lang mit Genugtuung zugesehen. Zum Adel der Fürsten gehört, daß sie wissen, daß nicht jeder geeignet ist, ein Fürst zu sein, und zum Fürstsein, sagte mir der Fürst von St. Leonhard und Schweinau am zweiten Tag beim Sortieren und Einladen der Post, gehört nicht nur eine so genaue Kenntnis der Fürstentümer, daß ein Fürst Straßenkarten zeichnen und darin sämtliche Anwesen mit Hausnummern nebst den Namen ihrer Bewohner eintragen könnte, zum Fürstsein gehört auch das Prognostizieren, und das Prognostizieren ist eine Kunst, wie einem jeder Gastwirt bestätigen kann. Ebenso wie ein Wirt mit Intuition und einem Blick in das Fernsehprogramm das Gästeaufkommen für den Abend prognostiziert, gehört es zur Kunst der Fürsten, aus der Post der vergangenen Tage und aus der Wettervorhersage die aktuelle Post zu prognostizieren, noch bevor sie die Frachthalle betreten. Hat Bosch am Vortag ein Dutzend Pakete bekommen und der Sanitärgroßhandel Schulte drei, kann man für den nächsten Tag fünf für Bosch und zwanzig für Schulte prognostizieren, fiel am Vortag viel Post in die Siedlung am Ölbaumweg und wenig in die Schwabacher Straße, ist es am nächsten Tag mutmaßlich umgekehrt. Ein Fürst muß wissen, daß die Bestellerinnen mit Vorliebe bei schlechtem Wetter bestellen, in Schönwetterperioden hingegen das Postaufkommen sinkt; und wer auch immer in der Schweinauer Hauptstraße 148 in den vierten Stock links einzieht, sagte mir der Fürst am späten Vormittag des zweiten Tages, während er den Postwagen in die Feuerwehrzufahrt zur Schweinauer Hauptstraße 144 bis 148 manövrierte, er wird bestellen, und wenn er vorher niemals bestellt hat, wird er damit anfangen, sobald er eingezogen ist, denn in dieser Wohnung wurde schon immer bestellt; und ein Ehepaar, das im Ölbaumweg 44 die Wohnung in der ersten Etage rechts bezieht, zieht nach drei Jahren geschieden wieder aus, oft genug hat es der Fürst erlebt, er könnte jedem Ehepaar, das die Wohnung bezieht, den Scheidungstermin prognostizieren.

Der Fürst von Großreuth und Gaismannshof prognostiziert das Schicksal der Post. Die Post, sagt der Fürst im Aufenthaltsraum, expandiert wie eine Sonne, die sich, kurz bevor sie erlischt, zu ungeheurer planetenverschlingender Größe aufbläht. Die Post ist aus den Fugen geraten, seit sie keine fürstliche und keine königliche, keine Reichspost und keine Staatspost mehr ist, und hält sich nur durch Expansion am Leben. Der Zusammenbruch der Post ist so unausweichlich, wie ein roter Riese im Weltraum zu einem schwarzen Zwerg wird.