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Anton Kortner hat noch nicht "ausgeträumt". Die Ukrainer sind wieder aktiv und schlimmer als zuvor. Er hat es aufgegeben Sissi zu finden. Er liebt nun Anna, die genauso wie Sissi aussieht. Anna hat sich in sich selbst zurückgezogen und spricht nicht. Erst als Anton beginnt ihr aus "Der kleine Prinz" vorzulesen, zeigt sie freudige Reaktionen. Anton und die Ärzte haben neue Hoffnung, sie wieder in die Welt zurückzuholen. Doch es kommt zu einem weiteren Entführungsversuch, den Anton vereitelt. Er erschießt einen der Entführer. Dieses Ereignis wirft Anna zurück und alle Fortschritte sind dahin. Chefarzt Prof. Dr. Sebastian Forstleitner hat keine Hoffnung mehr. Anton will unbedingt die Ukrainer stoppen. Dann trifft er Margret wieder, die Frau seines früheren Geschäftspartners Fred Baldow. Sie hat sich von ihrem Mann getrennt. Sie gesteht Anton, dass sie ihn schon seit Langem liebt und will ihn ausschließlich für sich. Eine Adamitensitzung eskaliert. Es brennt. Anton lässt sich in ein heikles Geschäft für die Ukrainer ein. Ein zweiter Erzählstrang beginnt im Jahr 1942 in Berlin. Zwei Frauen meistern klug ihre Schwierigkeiten. Der Krieg reißt sie auseinander, aber sie treffen sich in den 60er Jahren wieder und für Anton, der damals ein Junge ist, ist ein schwerwiegendes Ereignis prägend. Buch 3 der Serie "Wiener Träume" klärt alle losen Fäden aus den Büchern "Nur ein Traum im Traum?" und "Ausgeträumt?" auf. Die Serie ist beendet.
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Seitenzahl: 315
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Anton Kortner hat schlimme Träume und gerät in reale Gefahren. „I sogs amal so, aasdraamt ham S‘, Herr Inscheniör!“, sagte Grit Perlgruber zu ihm, weil sie dachte, dass alle Probleme die er hatte, geklärt wären.
Nein, er hat wirklich noch nicht „ausgeträumt“! Die Qualen gehen weiter. Wieder kommt es zu einer Entführung. Eine Gruppe reicher, einflussreicher Leute steckt dahinter. Die finden nur noch durch extreme Reize Spaß und Befriedigung. Sie feiern weiter ihre Orgien. Dafür und für die Entführungen sorgt eine Bande krimineller Ukrainer.
Antons größtes Ziel, die Frau, die er liebt, aus ihrer psychischen Abkapselung zu retten, wird zu einem Ziel wie eines in einem Traum, dass man nie erreichen kann. Weitere Schicksalsschläge zermürben ihn. Er hat Selbstmordgedanken. Doch bevor er sie umsetzt …
Den Tod kann er genauso gut finden, wenn er seine realen und geträumten Gespenster bis aufs Blut bekämpft.
„Wiener Träume“ ist eine Serie aus drei Büchern „Nur ein Traum im Traum?“, „Ausgeträumt?“, und „Ausgeschämt!“
Marco Toccato ist eine fiktive Person, etwa Jahrgang 1951, in Italien geboren und in Deutschland aufgewachsen. Er schreibt in deutscher Sprache.
„Denn so ein Leben, steht da, ist mehr, als man glauben will, von dem bestimmt, was fehlt. Von den Lebenswegen, die nicht gegangen wurden. Immer aber wird man seine Vorstellungen von einem besseren Leben an einem besseren Ort mit einem noch besseren Menschen hegen. Das ist nichts Schlimmes, solange wir uns ein Zuhause bauen, das gut genug ist, und dieses ungelebte Leben nicht zu viel Macht über uns gewinnt. Außerdem ist man viel häufiger, als man glaubt, schon da, wo man sein muss ...“
Schrieb Judith Kuckart in „Kein Sturm, nur Wetter“
Und ich ergänze „… aber meistens weiß man es nicht und bemerkt es erst, wenn es zu spät ist!“
1 Nimmt das nie ein Ende?
2 Anna und der „Igel“
3 Grit und Leon
4 Pohrer redet!
5 Leon ist verliebt
6 Vor vielen Jahren
7 Angst und Scham!
8 Auf dem Weg zur Polizei
9 Vatersuche
10 Abends bei Anna
11 Dienst in Athen
12 Stammersdorf bei Nacht
13 Baumgartner Höhe
14 Ein Unfall?
15 Cleanmoney Ltd.
16 Es passiert wieder
17 Was denn noch?
18 Anton, Reiner und Margret
19 Nach dem Krieg
20 Sissi und Anna
21 Traum und Trauma
22 Der Kowaljow-Clan
23 Ein Inferno
24 Anna retten!
25 Entscheidung im Otto-Wagner-Spital
26 Hochzeit
Epilog
Nachwort
Anton Kortner hat zusammen mit Grit Perlgruber zu Mittag gegessen. Grit ist Einkäuferin bei Pohrer und Anton arbeitet dort als freier Berater und Interimsgeschäftsführer. Sie sind guter Dinge, denn alles wird gut, meinen sie jedenfalls. Grits Sohn Leon ist zurück bei seiner Mutter. Er hat von der Adamitensitzung, die von der Polizei gesprengt wurde, nichts mitbekommen, denn er war mit KO-Tropfen betäubt wie alle anderen Kinder auch, die den sexuell unersättlichen Adamiten zugeführt werden sollten.
Die Polizei hat früh genug eingegriffen und die Kinder vor Schlimmem bewahrt. Nur Leon wurde von einer geheimnisvollen Frau missbraucht. Gott sei Dank fehlt ihm die Erinnerung daran.
Am schlimmsten ist Anna Milisçek betroffen. Sie war in langer Geiselhaft und ist daran zerbrochen. Sie hat sich vollständig in sich selbst zurückgezogen. Ihre Psyche hat sie vor allem Bösen in ihrer Gefangenschaft bewahrt, indem sie sie von der Außenwelt isoliert und sich in ihr Inneres zurückziehen und verkapseln lassen hat. Doch nun, wo sie frei ist und wieder ins Leben und zu Anton zurückkehren könnte, öffnet sich diese psychische Kapsel nicht.
Die Ärzte im Otto-Wagner-Spital sind am Ende ihrer Weisheit. Sie können nur noch abwarten. Es ist nicht das erste Mal, dass sie einen derartigen Fall haben, aber es ist das erste Mal, dass alle ihre Bemühungen, Behandlungen und Medikamente so völlig und dauerhaft ins Leere gehen.
Anton ist voller Schuldgefühle. Er schämt sich, denn er hat Anna in die Gefahr gebracht und versagt, als er sie hätte schützen sollen. Er schämt sich nur sich selbst gegenüber, andere machen ihm keine Vorwürfe. Immer noch quälen ihn Träume und er hat Schwierigkeiten, sie von der Realität zu unterscheiden. Erst vor über einem Jahr war er schuld, dass Sissi Kolesariç verschwunden ist. Wahrscheinlich ist sie tot, von den Adamiten, einem Geheimbund beseitigt worden. Nur Sissi konnte die Frau gewesen sein, die Anton bei einer Adamitensitzung gerettet hatte und an seiner Stelle die Strafe auf sich nahm. Sie hatten sich kurz davor kennengelernt, als Fred Baldow, ein ehemaliger Geschäftspartner von Anton, ihn in einen zweifelhaften Nachtclub geschleppt hatte. Sissi war eine Prostituierte, die in dem Club Tabledance in Perfektion gezeigt hatte.
Anton hatte sich in sie verliebt, nachdem sie ihn aus dem Nachtclub herausgebracht hatte. Diese neue Liebe hatte ihn verwirrt und erregt. Sein Erlebnishunger und seine sexuelle Erregung wurden noch in derselben Nacht durch das Treffen eines alten Bekannten zusätzlich angefeuert. Jerzy Baranowski verdiente seinen Lebensunterhalt mit Geigenspiel zusammen mit seiner Frau Jana. Sie spielten auf der Straße, in Lokalen und auf Festen.
Anton erzählte er, dass er mit seiner Frau Jana auf einem Fest, auf dem es sexuell sehr freizügig zuginge, spielen sollte und deshalb abgeholt würde. Trotz Jerzys dringendem Abraten schlich sich Anton in die Veranstaltung ein und wurde entdeckt. Viele der Adamiten waren sehr einflussreiche Leute in Wien und Österreich. Wenn durch sie ein Mensch verschwand, krähte kein Hahn danach. Wenn sie ausgefallene Orte für ihre Treffen suchten, wie zum Beispiel den Narrenturm, dann wurde der kurzfristig wegen angeblicher Renovierung geschlossen und stand ihnen zur Verfügung.
Auf dem Treffen, in das sich Anton reingeschmuggelt hatte, sah er zum ersten Mal, dass sich etwa dreißig maskierte, festlich gekleidete Männer, aus dreißig schönen Frauen beliebig und auch wechselnd Partnerinnen suchten. Die Damen trugen Highheels und Masken, sonst nichts!
Anton wurde enttarnt. In solchen Fällen gingen die Herrschaften sicher: Spione und Unberechtigte wurden gefoltert, wobei ihr eventueller Tod in Kauf genommen wurde. Die Leichen wurden in der Donau entsorgt. Eine der schönen, maskierten Frauen verhinderte, dass Anton beseitigt wurde, wahrscheinlich auf Kosten ihres eigenen Lebens. Alles deutete darauf hin, dass es die Prostituierte Sissi war.
Anton wollte – ein Jahr später wieder in Wien – alles tun, um sie entweder lebendig zu finden, um seine Schuld abzutragen oder um ein für alle Mal festzustellen, dass sie tot ist. Als ihm klar war, dass Sissi wahrscheinlich nicht mehr lebte und er weiter seine Schuld tragen müsste, traf er Anna. Sie war eine der maßgeblichen Angestellten bei Antons Kunden, der Pohrer AG, wo Anton einen Beratungsauftrag bearbeitete. Anna war Sissis Ebenbild.
Sie trafen sich erstmals privat nach der Arbeit in einem Heurigen, aber Anton war besorgt. Der Chef der Pohrer AG, Dr. Felix Pohrer fühlte sich bedroht. Deshalb überredete er Anna an diesem späten Abend noch mit ihm zusammen zum Firmenstandort in Hafennähe zu fahren. Im Gebäude von Pohrer fand Anton einen Erhängten und Dr. Pohrer, der fast erschlagen worden war.
Als Anton zurück zum Auto ging, in dem Anna hätte warten sollen, stellte er fest, dass sie wahrscheinlich entführt worden war. Parallel dazu wurde an einem anderen Ende von Wien auch Leon Perlgruber, der Sohn von Grit aus der Wohnung entführt.
Hinter dem Mord und den Entführungen steckte eine organisierte Bande von Ukrainern, die nach und nach viele Vergnügungsbetriebe, Bordelle und Hotels in Wien und Umgebung in ihren Besitz gebracht hatten. Diese Organisation richtete mittlerweile die Adamitensitzungen aus. Das heißt, sie fanden Lokalitäten, die den anspruchsvollen Mitgliedern dieses Geheimbundes passend erschienen und bauten sie für die Treffen um. Sie engagierten die schönen Frauen, die wesentlicher Bestandteil dieser Feste waren und zuletzt schafften sie auch Kinder heran.
Diese letzte Sitzung wurde von der Wiener Polizei gesprengt und die Verantwortlichen der ukrainischen Bande wurden festgenommen, soweit sie nicht fliehen konnten.
Alles schien gut zu werden. Nur Anna war noch im Otto-Wagner-Spital.
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Beim Essen hatten Anton und Grit befreit zusammen gesessen, denn der Spuk schien vorbei zu sein, abgesehen von seiner Scham und seinen verstörenden Träumen. Anton wollte schnell in sein Büro. Er würde die Pohrer AG übergangsweise leiten, solange Dr. Pohrer nicht arbeitsfähig war. Aber als Allererstes wollte er im Otto-Wagner-Spital anrufen, um zu erfahren, wann er Anna sehen könnte.
Grit wusste von seinen Träumen und Problemen und sie sagte nach dem gemeinsamen Essen „Aasdraamt ham S’, Herr Inscheniör!“, und meinte, dass Anton nun endlich alle seine Probleme losgeworden wäre und damit ausgeträumt hätte. Sie ahnte nicht, wie falsch sie damit lag!
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Während sie auf den Betriebshof fahren, fällt Anton ein schwarzer Maserati SUV auf dem Parkplatz des Chefs auf. Der SUV hat ein ukrainisches Kennzeichen!
Er eilt in das Gebäude und Peter Meinl kommt ihm aufgeregt entgegen. Peter ist der IT-Leiter und hatte mitgeholfen, die Ukrainerbande auszuforschen.
„Anton, du wirst schon erwartet. Im Büro vom Chef sitzt ein Ausländer, der so tut, als gehörte ihm die Firma. Ich soll dich sofort zu ihm führen.“
„Ausgeträumt? Wirklich ausgeträumt?“, fragt Grit und wird blass. Anton bricht der Schweiß aus. Ist das der angekündigte Besuch, der nun doch stattfindet, obwohl die Organisation in Wien gesprengt worden ist?
„Anton, sei mir nicht böse, aber ich muss weg. Ich muss sehen, ob es Leon gut geht!“ Grit befürchtet, dass ihr Sohn wieder entführt worden ist. Er und Anna waren die Druckmittel, mit denen die Ukrainer geschäftliche Zusagen von Dr. Pohrer und Grit erpressen wollten.
„Klar! Nimm den Firmenwagen und rufe mich an, wenn du Klarheit hast!“ Anton springt die Treppe ins erste Geschoss hoch, immer zwei Stufen auf einmal. Auf halber Höhe hält er inne. Es ist nicht gut, wenn er schwitzend und außer Atem in das unvermeidliche Gespräch geht. Er muss ruhig und souverän wirken, auch wenn ihm anders zumute ist. Er geht schnell auf die Toilette im ersten Stock und kühlt sich mit kaltem Wasser ab. Den Schweiß in seinen Achselhöhlen trocknet er mit Papierhandtüchern.
Als sein Atem ruhig geht und er wieder präsentabel wirkt, atmet er tief ein und aus und geht mit großer Geste und laut schallenden Absätzen über den Flur bis zu dessen Ende, wo das Büro von Pohrer, also im Moment seines ist. Er will Selbstsicherheit ausstrahlen.
Er stößt die Tür schwungvoll auf und verharrt mit ärgerlicher Miene unter dem Türrahmen, als er sieht, dass der Chefsessel von einem sonnengebräunten, schwarzhaarigen Mann mit Stalinschnäuzer in Beschlag genommen worden ist, der die Füße auf den Schreibtisch gelegt hat.
„Nehmen Sie augenblicklich die Füße vom Tisch und geben Sie den Stuhl frei! Was tun Sie hier? Sie haben Zeit für drei Sätze zu Ihrer Person und was Sie hier wollen, bevor ich die Polizei hole.“
„Setzen Sie sich Herr Kortner!“, zischt der Fremde so leise, dass Anton mehr ahnt als hört, was er sagt.
„Also gleich die Polizei? In Ordnung!“, bellt Anton zurück. „Ich gehe jetzt ins Sekretariat und lasse die Polizei verständigen. Ich weiß nicht, ob Ihre Vorgängerin noch in Wien einsitzt oder schon in ein anderes Gefängnis gebracht wurde, aber Sie werden sie sicher treffen wollen.“
„Plustern Sie sich nicht so auf!“, sagt der Fremde. Man bemerkt einen slawischen Akzent. „Setzen Sie sich und hören Sie mir zu. Es scheint so, als hätte Ihnen Pohrer nicht erzählt, wie es um dieses Unternehmen steht.“
Anton kommt ins Grübeln. War das der Grund, warum Pohrer während ihrer Klausurtagung am Semmering plötzlich so besorgt war? Er setzt sich.
„Na, dann legen Sie mal los, aber vorher nehmen Sie die Füße vom Tisch. So wie Sie sich hier aufführen, werde ich nicht mit Ihnen reden.“
Der Fremde grinst böse, dabei wird der Schnauzbart breit und die Oberlippe verschwindet endgültig darunter. Die Augen sind genauso schwarz wie sein dichtes Haar. Anton schätzt ihn auf zirka fünfundvierzig, fünfzig Jahre.
Er nimmt tatsächlich die Füße vom Schreibtisch und steht auf, um Anton die Hand entgegenzustrecken. Die teure Anzugjacke spannt über der Brust und da wo seine Bizepse sind. Seine Figur ähnelt der des Kiewer Bürgermeisters Vitali Klitschko. Er ist noch größer als Anton und wirkt wie ein Schwergewichtsboxer.
Anton gibt ihm nicht die Hand. Er sieht keinen Grund dazu, außerdem befürchtet er, dass er damit Knochenbrüchen riskieren würde. Wieder grinst der Eindringling böse, aber er setzt sich zurück auf den Chefsessel.
„Mein Name ist Josip Kowaljow. Ich bin Vorstand der ‚Intertrans VAT‘ in Kiew, eine VAT ist in der Ukraine so etwas Ähnliches wie eine AG hier. Wie ich gehört habe, vertreten Sie Herrn Dr. Pohrer während seines Krankenhausaufenthalts. Er hat es wohl nicht für nötig gehalten, Sie über die Besitzverhältnisse aufzuklären. 49% der Pohrer AG sind in Händen meines Unternehmens ‚Intertrans Beteiligungen GmbH‘ mit Sitz hier in Wien, einer Tochter der ukrainischen Aktiengesellschaft und ich habe seit Neuestem Zugriff auf weitere 2% der Aktien. An mir geht nichts mehr vorbei. Sie werden sich also an meine Weisungen halten, sonst setze ich einen anderen Interims-Vorstand hier rein und es ist vorbei mit Ihrem Auftrag.“ Nun, als er Antons bestürzten Blick sieht, ist sein fieses Grinsen in ein siegessicheres Lächeln übergegangen. „Ich würde es im Übrigen bedauern, Sie hier ablösen zu müssen. Was ich bisher von Ihrer Arbeit gehört habe, scheinen Sie Ihren Job gut zu machen und bringen den Laden auf Vordermann.“
„Interessant! Aber ich werde das natürlich erst einmal prüfen. Was meinen Sie bitte, wenn Sie ‚seit Neuestem‘ sagen?“
„Während die ‚Krone‘“, er sagt das mit süffisantem Unterton, „des Unternehmens in einer Klausurtagung im Hotel Panhans logierte, wurden mir die 2% der Aktien angeboten, die nun das Zünglein an der Waage sind.“
„Sie sprechen ein ausgezeichnetes Deutsch …“
„Das liegt daran, dass ich mein Studium in Deutschland absolviert habe, ganz in Ihrer Nähe am Lehrstuhl von Professor Jünemann.“
„Da hätten wir uns vor einigen Jahren schon über den Weg laufen können. Wie auch immer, wenn die Verhältnisse so sind, wie Sie sagen, was wären dann Ihre Weisungen?“
„Oh, die sind ganz einfach. Sie beziehen ab sofort alle Materialien, die Sie zur Auftragserfüllung brauchen, von der ukrainischen Muttergesellschaft, der ‚Intertrans VAT‘ in Kiew! Materialien und Dienstleistungen jeglicher Art. Sollten wir die benötigten Waren nicht vorrätig haben, geben Sie uns drei Wochen, damit wir sie für die Pohrer AG beschaffen können. Wir revanchieren uns mit Aufträgen in ansehnlicher Größenordnung.“
„Zu welchen Preisen werden Sie die Waren an uns liefern?“
„Es werden nicht die niedrigsten sein, davon können Sie ausgehen, aber Sie werden damit zurechtkommen.“
„Wenn das alles ist, sehe ich da kein Problem. … Ist das denn alles?“
„Nun ja, es gibt ein paar besondere Konditionen in unserer Zusammenarbeit, die nicht verhandelbar sind, aber darüber reden wir, wenn wir den Rahmenvertrag miteinander schließen. Vorerst beobachte ich gerne, wie Sie aus der Pohrer AG wieder ein produktives Unternehmen machen. Ich gehe davon aus, dass unsere späteren Vereinbarungen Selbstläufer sein werden. Dann wird es ein gutes Geschäft, für Pohrer, für Sie und für die Intertrans. Außerdem wird es allen gut gehen, auch der Frau Milisçek und dem Sohn von Frau Perlgruber.“ Die Drohung wirkt auf Anton, auch wenn er versucht, es zu verbergen.
„Ach, fast hätte ich es vergessen, die Position von Magister Anzgrund ist ja jetzt vakant. Wussten Sie, dass er einen geringen Anteil an Aktien der Pohrer AG hielt? 2 % waren es!“, und er lächelt erneut süffisant. „Für seinen Posten werde ich Ihnen einen Bewerber schicken, den Sie wohlwollend prüfen und als neuen Logistikleiter einstellen werden. Sie werden aber trotzdem kurzfristig Stellenanzeigen schalten und Personalberater ansprechen. Es muss alles wie ein üblicher Vorgang in einem normalen österreichischen Unternehmen vor sich gehen. Haben Sie mich verstanden?“
„Sicher! Ich lasse mir Ihre Worte durch den Kopf gehen und wenn sich die Lage so bestätigt, wie Sie sie schildern, werde ich mein Möglichstes tun, um Sie zufriedenzustellen, soweit es in meiner Macht steht und mit der Compliance vereinbar ist.“
„Das mit der Compliance lassen Sie mal meine Sorge sein. Soweit ich weiß, gibt es die noch nicht bei Pohrer. Mein Mitarbeiter, der Geschäftsführer der Intertrans Beteiligungen in Wien, Dr. Lather wird Sie kontaktieren und Ihnen eine entsprechende Vorlage andienen. Es wäre mir unangenehm, wenn wir uns von Ihnen trennen müssten, Herr Kortner, nicht weil ich Sie besonders schätze – dafür kenne ich Sie zu wenig – sondern weil Sie höheren Ortes eine Person haben, die Sie schützt. Es gibt aber Möglichkeiten, Sie untragbar zu machen und ich kenne sie alle, also …“, die letzten Worte hat er sehr giftig ausgesprochen, giftig und leise, so dass es Anton kalt wird.
„Dann bleibt mir nur noch, uns eine gute Zusammenarbeit zu wünschen.
Ach … muss ich noch mit Frau Perlgruber sprechen oder weisen Sie sie entsprechend ein?“
„Sie meinen?“ Anton ahnt, was nun kommt.
„So dumm sind Sie nicht, wie Sie tun. Wie gesagt laufen ab sofort alle Beschaffungen über oder von Ihrem Hauptlieferanten Intertrans VAT. Das sollte die Einkäuferin wissen und beachten.“
„Schon, aber wir werden nach wie vor Anfragen an mehrere potenzielle Lieferanten stellen. Das beste Preis-/Leistungsverhältnis wird ausschlaggebend sein.“
„Das sollten Sie auch tun und dann immer das insgesamt wirtschaftlichste Angebot, das in allen Fällen das von der Intertrans sein wird, berücksichtigen. Auch das lassen Sie mal unsere Sorge sein. Dafür werden wir sorgen. Auf Wiedersehen, Herr Kortner!“
Kowaljow steht auf und weist mit einer ironischen Geste einladend auf den Chefsessel hin, so als wollte er ihn nun offiziell an Anton übergeben.
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„Grit, kannst du bitte mal kommen?“, ruft Anton in den Flur hinein. Peter Meinl schaut aus seinem Büro raus:
„Grit ist doch nach Hause gefahren, wie du weißt. Gibt es was Dringendes?“
„Ach ja, nein, ist schon gut. Ich werde morgen mit ihr sprechen. Danke Peter!“
Anton geht nachdenklich zurück ins Büro und setzt sich auf den noch warmen Sessel hinter dem Schreibtisch. Er ahnt, worum es geht. Wenn sich seine Ahnung bestätigt, wird er aussteigen müssen.
Doch das Grübeln bringt ihn nicht weiter. Endlich kommt er dazu, sich wegen eines Besuchs bei Anna zu erkundigen. Er googelt Adresse und Telefonnummer des Otto-Wagner-Spitals.
Während er telefoniert, kommt eine etwas mollige, sehr seriös wirkende Frau von Mitte Fünfzig in sein Büro. Er weist auf den Stuhl vor dem Schreibtisch und sie setzt sich.
Schon heute am späteren Nachmittag ist ein Besuch im Spital möglich. Nachdem er das erfahren hat, wendet er sich der Dame zu.
„Was gibt es?“
„Herr Diplomingenieur Kortner, mein Name ist Rosa Linzer. Ich bin die Sekretärin von Dr. Pohrer und jetzt auch Ihre. Wir sind uns noch nicht begegnet, ich hatte bis gestern Urlaub. Wenn irgendwas ist, wählen Sie bitte die Kurzwahl 10. Ich sitze gleich links von hier im ersten Büro auf dem Flur.
„Das trifft sich gut Frau Linzer. Bitte besorgen Sie doch etwas, das ich Frau Milisçek mit ins Krankenhaus nehmen kann. Mag sie Süßes oder doch besser Blumen? Und fragen Sie bitte auch die Kolleginnen und Kollegen, ob ich was ausrichten soll. Um 16.00 Uhr werde ich mich auf den Weg machen. Ach ja, können Sie mir eines der Poolfahrzeuge bereitmachen lassen. Ich habe kein Fahrzeug.“
„Wird erledigt, aber ein Wagen aus dem Pool wäre nicht angemessen. Der Dienstwagen von Herrn Dr. Pohrer steht zu Ihrer Verfügung. Wollen Sie sich chauffieren lassen? Sie kennen sich in Wien sicher nicht aus.“
„Oh Gott, das wirkt etwas übertrieben. Das ist eigentlich nicht mein Stil.“
„Sollte es aber werden, der Franz Fohrer ist der Chauffeur vom Chef und wenn Sie seine Dienste nicht in Anspruch nehmen, hat er nichts zu tun.“
„Mir war nicht klar, dass Dr. Pohrer einen Chauffeur hat. Zu unserer Klausurtagung auf dem Semmering ist er selbst gefahren.“
„Natürlich, er wollte nicht unbedingt den Franz mit ins Hotel nehmen. Bei solchen Gelegenheiten fährt der Chef selbst. Aber sonst …“
„In Ordnung. Ich bin zwar ein neuer Besen, aber ich will nicht alles rauskehren. Ich freue mich darauf, mit Ihnen zusammenzuarbeiten. Nehmen Sie mich bitte dann und wann, wenn Sie es für sinnvoll halten, ans Händchen. Und diese umständliche Anrede ‚Diplomingenieur‘ lassen Sie bitte. Ich bin Herr Kortner, okay?“
Sie fühlt sich geborgen in ihrer Kapsel. Seitdem Anna von dem ukrainischen Bewacher geschlagen worden war, hat sie sich in sich selbst zurückgezogen. Es hat sich angefühlt, als wäre sie eine Aufblaspuppe von der sich alle herausragenden Glieder nach innen gezogen hätten und der verbliebene Rest hätte sich eingerollt und bot nach außen nur einen kleinen Teil ihres Rückens.
So kann sie nicht mehr verletzt werden. Nichts kommt an sie heran. Ihre Träume sind schön, weil sie immer wieder in das Mädchenzimmer ihrer Jugend tritt. Es ist wunderbar in strahlendem Rosa tapeziert und auch ihr Himmelbett ist rosa und hat Rüschen und Volants, so wie ihre Mutter meinte, dass ein Mädchenzimmer aussehen sollte.
Sie und Ihre Eltern waren aus Kroatien nach Wien gekommen, ein Umzug, der seit Maria Theresias Zeiten völlig normal war. Kroatien gehört gewissermaßen immer noch zu Österreich. Deshalb war es schnell klar, dass ihre neue Heimat Wien sein würde.
1980 war Tito gestorben und es schien so, als läge plötzlich das Land, das damals Jugoslawien hieß, auf einer riesigen Töpferscheibe, die sich immer schneller drehte. Die einzelnen Provinzen und Ethnien strebten auseinander, wie Tonbrocken auf der sich drehenden Scheibe, weil kein Töpfer sie mehr zusammenhielt.
Als Slobodan Miloseviç Serbien anführte, befürchteten alle anderen Ethnien, dass er sie unterjochen würde. Schließlich kam es dann Anfang der 1990er Jahre zum Jugoslawienkrieg mit all seinen schlimmen Geschehnissen, die noch dreißig Jahre danach nicht aufgearbeitet sind. Unsägliches Leid geschah den Menschen in diesem Potpourri der Nationalitäten.
Annas Vater drohte die Einberufung und kurz bevor sie kam, hatten er und seine Frau Jelena-Ana alles, was sie bewegen konnten, zusammengepackt und waren mit der kleinen Anna nach Wien geflüchtet. Gerade noch rechtzeitig!
Es begann eine harte Zeit. Annas Vater hatte studiert und war Lehrer. Er konnte die Sprache der neuen Heimat nicht und seine Abschlüsse wurden nicht anerkannt. In Wien musste er deshalb die Familie mit Gelegenheitsarbeiten durchbringen. Auch Annas Mutter ging Putzen, obwohl sie eigentlich Musik studiert und eine Karriere als Solopianistin angestrebt hatte. Erst spät, als Anna schon ein schönes, junges Mädchen war, hatten die Milisçeks genug Geld beisammen, um ein gebrauchtes Klavier zu kaufen, so dass die Mutter Klavierunterricht geben konnte.
Von dem ganzen Elend hat Anna nie etwas bemerkt. Sie war eine verwöhnte, kleine Prinzessin, für die alles getan wurde, besonders der Vater schirmte sie von der Welt ab, tat alles für sie. Wäre sie nicht zur Schule gegangen, hätte sie nicht gewusst, dass es außer ihrer kleinen Familie eine Außenwelt gab.
In diese wohlbehütete Umgebung, die schon damals gegen die fremde, vermeintlich feindliche Umwelt abgeschottet war, ist Anna nun als erwachsene Frau zurückgekehrt. Es war so schön, sie war wieder Kind und sie ahnt nicht einmal, dass die Welt eigentlich eine ganz andere ist.
Ursprünglich hätte sie Michaela heißen sollen. Ihr Vater war ein Fan des Schlagersängers Bata Illic und der hatte mit einem gleichnamigen Lied einen Nummer 1-Hit in Deutschland. Doch Annas Mutter bestand darauf, ihr den Vornamen ihrer Großmutter zu geben. Jedenfalls wurde Anna die Familiengeschichte so erzählt. Bis zum frühen Tod von Annas Vater erschallte im Hause Milisçek dauernd Musik, gesungen von Bata Illic und meistens lief „Michaela“.
Als ihr Vater starb, fiel Anna aus ihrem Paradies. Der Vater hatte alles für sie und ihre Mutter gemacht. Auch die Mutter lebte in einer idealen Blase, weil ihr Mann alles von ihr ferngehalten hatte. Sie war dem realen Leben nicht gewachsen. So musste Anna mit fünfzehn Jahren den Sprung ins kalte Wasser tun und sich um alles, außer Klavierunterricht und –spielen, kümmern. Es war ein Schock für den Teenager, aber trotz ihrer behüteten Kindheit, stellte sie sich als stark und intelligent heraus. Sie war genau genommen der Haushaltsvorstand und sorgte ab dann für ihre weltentrückte Mutter und ihr eigenes Wohl.
Der unvorhersehbare Schmerz, der ihr in der Gefangenschaft im Reiche der Dobroshinskaja durch den ukrainischen Gefangenenwärter zugefügt worden war, zerstörte die dünne Schicht der Selbstständigkeit und stieß sie zurück in ihr Puppenhaus.
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Eine der Schwestern im Spital, mit Namen Liesel Schwarmberger hat Anna ins Herz geschlossen. Immer wenn sie Dienst hat, zwackt sie jede Minute für Anna ab und setzt sich zu ihr, liest ihr vor oder erzählt ihr einfach nur, was sie in letzter Zeit erlebt hat, dass der Preis für die Semmeln gestiegen ist, sie am Wochenende zur Verlobung ihrer Freundin eingeladen war oder dass es draußen bitterkalt ist.
Liesel meint, dass sie irgendwann zu ihr durchdringen würde und dann durch den kleinen Spalt, den sie damit geschaffen hätte, Anna Stück für Stück wieder hinausbekäme aus ihrer Kapsel.
Heute bereitet sie Anna auf Besuch vor. Sie hat gemeint, dass Anna allein auf der Welt sei und niemand sie jemals besuchen kommen würde, aber heute hat sich ein Anton Kortner gemeldet. Endlich hat Liesel eine kleine Brechstange, die ins Persönliche von Anna geht und mit der sie vielleicht einen Ansatzpunkt findet, ihre Barriere zu knacken oder wenigstens ein klein wenig anzulüften.
„Heut um vier kommt der Anton zu dir, Anna! Weißt‘ der Anton Kortner aus Deutschland. Er sagte mir, ihr hättet euch im Heurigen getroffen! Habt ihr euch da kennengelernt? Ist er ein schöner Mann, was meinst‘? Ich freu mich so für dich. Gleich werde ich dich hübsch machen, damit du dem Anton gefällst. Komm mit, ich begleite dich in die Dusche. Dann föhn‘ ich dir die Haare und werd‘ dich schminken, dass er sich gleich in dich verliebt oder ist er schon verliebt in dich? Du musst mir alles von ihm erzählen, hast g’hört?“
Und so redet sie dauernd auf Anna ein, auch wenn die kein bisschen darauf reagiert. Steter Tropfen höhlt den Stein, denkt sich die Liesel. Sie hat schon einige Rüffel von ihrer Vorgesetzten, der Oberschwester auf der Station bekommen, weil sie sich mehr um die anderen Patienten kümmern soll und nicht nur um Anna. Sie muss sich vorsehen, bevor sie deshalb Ärger bekommt.
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„Guten Tag, Herr Fohrer, Sie sind doch Herr Fohrer oder?“, spricht Anton den untersetzten Grauhaarigen an, der den Mercedes von Dr. Pohrer gerade mit so einem Wedel mit gewachsten Stofffäden von allerletzten Stäubchen befreit. Wo er das Gerät nur her hat, fragt sich Anton. Er hat sowas zuletzt in den siebziger Jahren in der Hand seines Schwagers, der Taxifahrer war, gesehen.
„Grüß Gott, der Herr. Ja, der Fohrer Franz bin i. I nehm‘ an, Sie san im Moment der Cheef?“, er zieht das ‚e‘ in ‚Chef‘ lang, wie man es hier manchmal tut.
„Ja, so kann man sagen. Ich bin Anton Kortner und vertrete Dr. Pohrer während seiner Krankheit. Die Frau Linzer hat darauf bestanden, dass ich Ihre Dienste in Anspruch nehmen sollte.“
„Selbstverständlich, Herr Diplomingenieur. Wissens, wenn i niemand farn kann, da bin i arbeitslos. Das is nix für mich. I brauch a anständ‘ge Arbeit. Seit i vierzehn war, hab i g’arbeit‘.“
„So habe ich das noch nie gesehen, aber nun sind wir zusammen, Herr Fohrer,“, sagt der Anton. „Fahren Sie mich bitte zum Otto-Wagner-Spital? Ich denke, Sie wissen, wie man da hinkommt?“
„Na klaa, passt scho! Steigen S’ bitte ein, Herr Diplomingenieur!“, und er hält Anton die hintere Tür auf der Beifahrerseite auf. „Aber sag‘n S’ bitte Franz zu mir. Bei ‚Herr Fohrer‘ fühl i mi ned ang’sproch‘n.“
„In Ordnung, aber nur, wenn Sie mit dem dauernden ‚Diplomingenieur‘ aufhören und ‚Herr Kortner‘ zu mir sagen. Ich setz mich vorne neben Sie.“
„Na, Herr Diplo …, äh i moan Herr Kortner, das geht ga ned. Bitte setz‘n S’ Eana hinten rein. Das g’hört sich so. I bin scho lange Chauffeur und i kan mi ned umg’wehne.“
Seufzend steigt Anton hinten ein. Es hat auch sein Gutes. Er hat sich einige der schmalen Hängeordner aus dem Schreibtisch von Dr. Pohrer mitgenommen. In die kann er jetzt während der Fahrt einen ersten Blick werfen. Die Ordner sind mit ‚InterTrans‘ beschriftet und das interessiert Anton sehr. Kurz drauf pfeift er erstaunt. Er hat ein sehr drastisches Schreiben von Kowaljow darin gefunden, in dem er Pohrer mehr oder weniger die Pistole auf die Brust setzt. Er solle an die Intertrans GmbH in Wien 2 % seiner Anteile verkaufen, sonst würden einige Kredite kurzfristig fällig gestellt. Das Schreiben datiert auf die Woche vor der Klausurtagung im Panhans.
‚Eigenartig! Anfangs war Pohrer doch guter Dinge und er hatte ihm nichts anmerken können. Was ist da passiert, das ihm die Sorgen bereitet und seine Stimmung schlagartig verschlechtert hat? Hatte er erfahren, dass Anzgrund verkaufen wollte?‘ Anton erinnert sich an die angespannte Atmosphäre als Anzgrund an den Frühstückstisch kam und sich ans äußerste Ende gesetzt hatte, weit weg von Pohrer. Pohrer war am Abend vorher und danach ständig fahrig und missgestimmt, sobald Anzgrund in der Nähe war. ‚Waren sie unterschiedlicher Meinung, was die Zusammenarbeit mit Kowaljow anging? Der deutete ja an, dass Anzgrunds Anteile ungefähr zu diesem Zeitpunkt an ihn gefallen wären. Hat er die bekommen, weil Anzgrund es selbst wollte oder hat Kowaljow ihn dazu gezwungen?‘
Er muss unbedingt kurzfristig mit Dr. Pohrer darüber sprechen. Anton ist ganz in Gedanken, als das Auto hält. Vor sich sieht er durch die Windschutzscheibe eine Ansammlung von Gebäuden, die um die Jahrhundertwende 1899/1900 so schön wie damals üblich gebaut worden sein müssen. Sogar der Zaun ringsherum ist schön und links in der Einfahrt sieht man eine Art Käfig aus Stahlstreben, die grünspangrün lackiert sind, die Pförtnerloge, die aber nun leer ist. Die Zufahrt wird jetzt mit einer Schranke geregelt. An der Gegensprechanlage meldet Fohrer sich, das Auto und Anton an.
Er hat als Antwort Anweisungen bekommen, wo er das Auto abstellen soll und wie Anton das richtige Gebäude findet, um Anna zu besuchen. Er fährt noch ein großes Stück auf dem eingezäunten Grundstück, bis sie auf einem Parkplatz zum Stehen kommen.
„So, bitt’schön Herr Dipl … Kortner. I lern ’s scho no. Mir san da. Sie müss‘n drüben ins rechte Gebäude geh‘n. Das Fräulein Anna liegt dort im zweiten Stock auf der offenen Station. Bitte bestell‘n S’ ihr viele Grüße auch von mia, bitt’schön.“
„Danke Franz! Das mache ich. Alle im Haus Pohrer haben mich gebeten, der Frau Milisçek Grüße auszurichten. Sie ist sehr beliebt, so scheint es mir?“
„Oh, die Anna is an Engel aaf Erd‘n. Des können S’ glaubn. I kannt ja no ihr‘n Papa und als der dann g’sturb‘n is, hat s’ Annerl die Mama und sich duachg‘bracht. Da war ’s no ganz jung.“
„Dann kommen Sie doch mit, Franz! Da wird sich die Anna freuen.“
„Na, des ned, Herr Kortner. B’stelln S‘ nur Grüße, bitt’schön! Dann is scho gut!“, und er läuft ums Auto herum, um Anton die Tür aufzuhalten. Und der steigt seufzend und kopfschüttelnd aus. Er kann sich nur schwer an diese alten Konventionen gewöhnen, aber der Franz Fohrer braucht sie wohl und so lässt er ihn.
Er geht in das Gebäude, das Franz ihm genannt hat und steigt die breite, etwas ausgetretene Treppe in den zweiten Stock hoch. Wer die schon alles beschritten haben mag? Diese Gebäude strahlen eine natürliche Würde und Ruhe aus, für deren Erringung sie über hundert Jahre Zeit gehabt haben.
Anton hatte schon einmal vor einem Jahr eine ähnliche Vision, als er mit seiner Frau Dorothee und seinem damaligen Partner Fred Baldow und dessen Frau Margret auf dem Grundstück Am Steinhof war. Wieder sieht er im Geiste emsig strebende Herren in weißen, taillierten Kitteln mit Stethoskopen und Hemden mit Vatermörderkragen. Fast alle tragen an den Seiten militärisch kurze Haare und würdige Bärte.
Er ist im zweiten Stock und geht durch eine zweiflügelige Glastür. Innen sieht alles aus wie seit über hundert Jahren, aber peinlich sauber und instandgehalten. Ihm kommt eine Schwester entgegen, die ihn schon von weitem anlächelt. Er wird erwartet?
„Sie saan b’stimmt der Anton! … Oh!“ Die junge Frau nimmt erschrocken die Hand vor den Mund und wird rot. „Entschuld’gen S‘, Herr Kortner. I hoab der Anna sovüül von ihr‘m B’such azählt, dass Sie schon der Anton füa mi saan. I bin die Schwester Liesel und hab mi a bisserl um ’s Annerl g‘kümmert.“
„Das kann man wohl sagen. Sie haben die anderen Patienten vernachlässigt und sich nur um die Frau Milisçek gekümmert.
Grüß Gott, Herr Diplomingenieur. Ich bin Schwester Karoline, die Oberschwester hier auf der Station. Aber ehrlich gesagt, ist es ganz gut, was Schwester Liesel für Frau Milisçek getan hat. Nur sollte sie damit aufhören. Es hat bisher nichts genutzt und wird wahrscheinlich auch in Zukunft nichts nutzen. Bitte gehen Sie dort hinten in das zweite Zimmer auf der linken Seite Raum 214. Dort finden Sie Frau Milisçek.“
‚Woher wissen die alle, dass ich komme und dass ich Diplomingenieur bin? Die Linzer muss mich wohl nochmal extra groß angekündigt haben.‘
Anton geht zur angewiesenen Tür, klopft, wartet ein paar Sekunden und geht rein, obwohl niemand geantwortet hat.
Das Zimmer ist groß und hat eine sehr hohe Decke. Es sind drei Betten im Raum, nur in einem sieht er einen Körper, der sich durch die Bettdecke abzeichnet. Es ist nur ein ganz kleines Häuflein Mensch, in Embryohaltung zusammengekrümmt.
Anton tritt zum Bett an die Seite, wo das Häufchen Mensch ihn sehen können müsste. Er sieht Anna und ihre geschlossenen Augen. Sie wirken, als würde sie sie zusammenkneifen. Er zieht sich einen Stuhl in die Gasse zwischen den beiden Betten, setzt sich und sucht unter der Bettdecke nach Annas Hand. Die findet er mit der anderen um ihre Knie verschränkt. Er kann sie nicht greifen, solange sie sie krampfhaft um die Knie schlingt. So legt er seine Hand auf die Bettdecke an die Stelle, wo er ihre rechte Schulter vermutet.
Ihm zuckt ein Bild durch den Kopf, eines, das er vor vielen Jahren im beginnenden Winter gesehen hat, als er ein mageres Igelchen auf einer Straße gefunden hatte. Der kleine Kerl hatte sich zu einer fast perfekten Kugel zusammengerollt und seine Stacheln zeigten nach außen.
Anna hat keine sichtbaren Stacheln, aber alles was sie ausstrahlt, ist Angst, Ablehnung und die Suche nach Schutz, was auf ihn emotional schlimmer als Stacheln wirkt. Da liegt die Frau, die er liebt und die durch seine Schuld gefangen und entführt worden ist.
„Anna! Anna, ich bin es Anton, Anton Kortner. Ich tu dir nichts. Ich besuche dich nur und würde so gern mit dir reden.
Ich soll dich von allen grüßen, vom Dr. Pohrer, von der Grit, dem Peter, dem Herrn Sedlasçek und auch vom Franz Fohrer, der im Moment mein Chauffeur ist, solange der Dr. Pohrer noch im Spital sein muss.“ Als er den Namen vom Franz sagt, scheint sich die Anna ein wenig zu entspannen. Den mag sie wohl. Warum reagiert sie nicht auf seinen Namen, der müsste ihr doch auch vertraut wirken?
Anton meint, es wäre am besten, wenn er ihr alles erzählt, ohne zu aufregende oder bestürzende Details.
„Anna, weiß du noch, wir waren beim Heurigen „Schmidt“, und sind von dort losgestürzt, weil ich das Gefühl hatte, es wäre etwas mit Dr. Pohrer. Ach übrigens, wir müssen da nochmal hin, das haben wir der Frau Schmidt versprochen. Du musst da noch deinen Wein bezahlen und ich will endlich mit dir dort essen gehen.“ Hat sie sich bewegt? Entspannt sie sich? Erreicht Anton sie oder ist das Wunschdenken? Egal! Er macht weiter.
„Den Dr. Pohrer hat einer auf den Kopf geschlagen und als ich die Rettung gerufen hatte und zu deinem Auto zurückgeeilt bin, war es leer. Ich wusste sofort, dass du entführt worden warst. Ich schäme mich so, dass ich dich damals allein gelassen hatte. Der Sohn von der Grit, der Leon war auch entführt worden.“ Anton spürt, dass Anna sich zusammenzieht. Er meint zu spüren, dass sie zittert. „Ich weiß, dass ihr wenigstens eine Zeit lang im selben Raum gefangen gehalten wurdet. Ich war dort und habe mit Leon durch die Tür gesprochen. Er meinte da, dass es dir nicht gut ginge.“ Wieder krampft sie sich zusammen. Sie scheint Angst zu haben. Er sollte das Thema wechseln.
„Ja und dann war da wieder so ein Adamitentreffen, wie es sie auch im Hotel Panhans jeden Abend gab. Ich meinte, du wärst da immer hingegangen oder habe ich das nur geträumt? …“ Anna hat sich ein wenig gestreckt, meint Anton feststellen zu können. Wenn er sie früher auf diese Treffen angesprochen hatte, reagierte sie immer sehr widersprüchlich. Mal sagte sie, dass sie die Treffen genießen würde und dann ein andermal wieder, dass sie davon nichts wüsste und schon gar nicht, dass sie daran teilgenommen hätte. Hat er gerade wieder ihren Widerspruch provoziert?
„Na, ist ja auch egal! Jedenfalls kam diesmal die Polizei und hat alle, die dich und Leon gefangen gehalten und dieses Treffen organisiert hatten, festgenommen. Du und Leon wurdet dann befreit und die Schuldigen sind im Gefängnis. Du brauchst keine Angst mehr haben. Dir tut niemand mehr weh.
Ach so, das muss ich dir ja auch noch sagen. Ich bin jetzt an Stelle von Dr. Pohrer der vorübergehende Vorstand, bis er wieder auf den Beinen ist. Alle haben sie mir erzählt, dass du nicht nur die Disposition gemacht hättest sondern, dass du die heimliche Logistikleiterin bist.
Bitte werde schnell gesund! Ich brauche dich und dein Wissen, um bei Pohrer alles richtig zu machen.“
War da wieder eine Bewegung? Die Augen sind immer noch geschlossen, aber er meint, sie wären nicht mehr so krampfhaft zusammengekniffen.
„Mensch! Jetzt hätte ich fast vergessen, dir mein Mitbringsel zu geben. Ich hab dir Manner Schnitten gekauft, nein, nicht ich, die Frau Linzer hat sie für mich besorgt. Von ihr soll ich dich auch grüßen. Pass auf, ich lege sie dir auf deinen Nachttisch und dann gehe ich für heute. Morgen komme ich zur gleichen Zeit wieder. Dann bringe ich ein Buch mit und les dir daraus vor. Kannst du mir sagen, welches Buch ich dir vorlesen soll … bitte?“
Er erhält keine Antwort, aber das war ihm schon vorher klar. Er wird ein Buch für sie aussuchen und morgen schaut er nach, ob sie die Manner Schnitten angebrochen hat. Hoffentlich nehmen sie sie ihr nicht weg. Er muss noch Schwester Liesel darauf hinweisen.