Sauber - Marco Toccato - E-Book

Sauber E-Book

Marco Toccato

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Beschreibung

Im Dortmunder Kreuzviertel geht ein wahnsinniger Serienmörder um. Junge Frauen werden mit heißem Wasser, Dampf und mit Stahlbürsten zu Tode gequält. Die Leichen legt der Mörder an einem Bahndamm ab, immer an dieselbe Stelle. Die Kriminalhauptkommissarin Karin Kwiatkowski ist Leiterin der Mordkommission. Sie versucht mit ihren Mitarbeitern Alex Bender und Karla Schaller die Morde aufzuklären. Alles deutet auf einen jungen Unternehmer aus dem Technologiezentrum hin, dessen Ehe mit seiner bildschönen Frau Nora nicht mehr zu funktionieren scheint. Nora wurde als Kind von ihrem Vater missbraucht! Außerdem kommt ein Ex-Freund von Karla Schaller als Mörder in Frage. Er hat Karla geprügelt und vergewaltigt. Es sind schon zwei Leichen gefunden worden, da verschwindet Karla. Genau wie die zwei toten Frauen ist sie groß, schön und hat vor allem eine wunderbare Ausstrahlung. Solche Frauen sucht der Mörder. Alles spielt im Kreuzviertel, in Dortmund-Schönau und den umgebenden Plätzen in Dortmund.

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Seitenzahl: 315

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Im Kreuzviertel, dem hippen Wohn- und Kneipenviertel in Dortmund geht ein Serienmörder um. Zwei Frauen wurden nackt und tot an exakt derselben Stelle neben Bahngleisen gefunden. Beide wurden im wahrsten Sinne des Wortes bis aufs Blut gequält, so sehr, dass sie an den Schmerzen gestorben sein müssen.

Eine junge Kriminalbeamtin ist so traumatisiert, dass sie nicht mehr arbeiten kann und ausgerechnet sie scheint ebenfalls in die Hände des Mörders gefallen zu sein. Karin Kwiatkowski, Leiterin der Mordkommission Dortmund sucht sie und den Mörder unter Hochdruck.

-:-

Marco Toccato, Jahrgang 1951 ist in Italien geboren und in Deutschland aufgewachsen. Seine Familie kam mit einer der ersten Gastarbeiterwellen ins boomende Westdeutschland, wo es Arbeit gab, aber wenig Verständnis für die neuen Bürger. „Amor Amaro und die tote Nachbarin“ hieß sein erstes Buch. Dies hier ist sein siebtes.

© 2019/20 Marco Toccato

Umschlag: Marco Toccato

Verlag: epubli, Berlin

Auflage – 3. August 2019

Korrigierte Auflage – 15. August 2019

Korrigierte Auflage – 28. Januar 2020

ISBN: 978-3-748581-51-2 SoftcoverISBN: 978-3-7494-7932-0 HardcoverISBN: 978-3-7549-4856-9 eBook

ASIN: B09X6B5Q6R Kindle

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Alle Namen, alle Personen und die Handlung sind frei erfunden. Sollten Menschen ähnlich heißen oder Ähnliches erlebt haben, so ist das rein zufällig und unbeabsichtigt.

Marco Toccato

1 Tag für Tag

N

ora Grohmann sprüht gerade die blitzsaubere Badewanne erneut mit extra dafür bestimmtem Badewannenspray ein! Eigentlich geht es weder sauberer noch glänzender, doch Nora will die perfekte Sauberkeit. Nora weiß, dass ihr Mann Thomas es so will und seit sie nicht mehr arbeitet, hat sie auch genügend Zeit dazu.

Thomas wird sicher zufrieden sein, denn nicht nur die Wanne, sondern alles im Hause Grohmann wird täglich aufs umfangreichste gesäubert, geputzt, poliert und auf Hochglanz gebracht. Sie erinnert sich noch an den Tag kurz nach ihrer Hochzeit, als sie deutlich gespürt hat, dass ihre Art das Haus zu putzen ihm nicht ausreicht. Anfangs wusste sie nicht, wie sie das besser, gut genug für ihn machen konnte. Sie arbeitete als Grundschullehrerin und die OGS1 betreute sie auch am Nachmittag. Da blieb kaum noch Zeit vor seiner Rückkehr, alles auf Vordermann zu bringen.

Dann kam ihr Sohn Sebastian auf die Welt und sie ließ sich beurlauben. Mit dem Baby und dem Kleinkind reichte die Zeit auch kaum, aber nun, da Sebastian aus dem Haus ist und sie und Thomas beschlossen hatten, dass sie nicht mehr arbeiten gehen sollte, ist alles gut.

Sie haben früh geheiratet, Nora war gerade zwanzig Jahre alt und ihr Sohn kam ebenfalls früh. Jetzt ist er selbst einundzwanzig und Nora zweiundvierzig. Leider ist er nur selten zu Besuch. Nora vermisst ihn sehr. Er vermeidet es, seinen Vater zu treffen. Nur wenn Thomas weg ist, kommt Sebastian in sein Elternhaus.

Aussehen tut sie wie Mitte dreißig, ist fast 1,80 m groß und sportlich. Trotz der Größe und ihrer Sportlichkeit wirkt sie zart und zierlich. Sie bewegt sich wie eine Balletttänzerin. Kein Wunder, denn bevor sie Kickboxen begonnen hat, war sie viele Jahre von Kind an in der Ballettschule und tanzte im Ballett am Theater Dortmund, zwar lange nur in der dritten Reihe, aber es machte ihr Spaß. Sie war gut und ständig strengte sie sich an, weiter nach „vorn“ zu kommen.

Einmal hatte sie ein Solo. Sie tanzte im Nussknacker2 die „Zuckerfee“. Damit hatte sie es fast geschafft. Es war nicht nur ihr Können, sie hatte schon immer eine wunderbare Ausstrahlung. Ihr Gesicht und wie sie sich bewegte, das hatte etwas Besonderes, sie wirkte damals so rein, klar und fast transparent. Alle anderen hatte sie ausgestochen. Doch sie brach sich ein Bein, das nur langsam heilte. Es gab Komplikationen. Die Heilung dauerte und dauerte. Bevor sie wieder hätte tanzen können, hatte sie schon Thomas kennengelernt. Dem gefiel es nicht, sie nur leicht bekleidet auf einer Bühne vor Hunderten von Frauen und vor allem Männern tanzen zu sehen. Sie hatte das sofort gemerkt, er brauchte gar nichts zu sagen.

Das war der Zeitpunkt, als sie begann, Kickboxen zu lernen und einmal die Woche ins Studio zu gehen, um Kraft zu trainieren.

Ihr Körper ist immer noch perfekt. Sie ist sehr ausdauernd und stark für eine Frau. Ihre Bewegungen sind harmonisch, katzengleich, raubkatzengleich!

Man sieht es ihr nicht an, aber ihr Ehrgeiz, auch hier alles perfekt zu machen, hatte dazu geführt, dass sie einige, genau genommen die meisten Männer in ihrem Alter bei den Kraftübungen übertraf. Aber davon merkt man im Alltag nichts. Sie ist zurückhaltend und liest ihrem Thomas alle Wünsche von den Augen ab.

Sie hat eine Freundin, ihre Kollegin Gudrun die noch an derselben Schule als Lehrerin arbeitet.

Doch mittlerweile mault und klagt Gudrun immer. Deren Lieblingslied ist „The Ballad of Lucy Jordan“, ein Lied, das Marianne Faithful in den Achtzigern gecovert hatte. Darin geht es um eine Frau, die jeden Morgen überlegt, wie sie den Tag rumkriegen soll. Lucy hat alles, einen gutaussehenden, gutverdienenden Mann. Ein schönes, großes Haus. Ihr Kind ist in der Schule. Doch Lucy ist bisher noch nie im Cabrio durch Paris auf den Champs Élysée gefahren, hatte nur einen einzigen Liebhaber in ihrem Leben, ihren Mann und sie meint, viel verpasst zu haben.

So geht es Gudrun auch. Immer wieder spricht sie Nora darauf an und fragt sie, ob sie denn zufrieden sei und Nora war es und ist es heute noch. Sie weiß ihre Situation so zu schätzen, wie sie ist. Ihr fehlen keine tausend Liebhaber oder romantische Cabriofahrten. Sie weiß, dass sie gut ist, bei Allem ganz weit vorne sein kann, wenn sie will und bei allen Dingen, die sie anpackt, Erfolg hat. Sie ist ehrgeizig, aber das fällt den Menschen in ihrer Umgebung nicht auf.

Andererseits stört es sie schon, dass sie so wenig Lob bekommt. Sie meint, dass keiner bemerkt, wie gut sie ist und noch nie hatte jemand Verständnis oder gar Mitleid für sie. Das wäre sehr wichtig für sie.

Nicht mal Thomas bemerkt das. Immer wenn sie ihn vorsichtig darauf anspricht, lacht er und sagt nur, sie wisse doch selbst, wie gut sie ist und das immer wieder zu betonen oder gar Mitleid über ihre einsame Situation zu äußern, müsse ihr doch lächerlich und peinlich sein. Er wisse genau, was er an ihr hat und das müsse man ja nicht immer wieder sagen.

Aber genug mit dem Selbstmitleid. Sie hat noch viel zu tun, denn heute Abend kommt Gudrun mit ihrem Mann Max zum Essen. Sie muss noch einkaufen, das Wohnzimmer sicherheitshalber nochmal putzen und das Essen für den Abend vorbereiten. Das macht sie alles selbst und allein. Thomas hat ihr schon oft nahegelegt, dass sie doch einen Cateringservice beauftragen und wenigstens ein, zwei Mal die Woche eine Putzfrau holen solle. Der hat gut reden. Sie ist sicher, weder Essen vom Catering noch das Putzen einer Fremden würden ihm gut genug sein. Nein, das muss sie schon selbst machen.

Manchmal hat sie eine Mordswut auf ihn, dass sie ihm am liebsten Schmerzen zufügen würde. Doch das Gefühl hat sie gut im Griff und schiebt es schnell beiseite, wenn es mal wieder hochkommt.

Sie hat alles, sie ist glücklich, sie kann alles und sie wird’s den anderen schon zeigen. Und wenn sie jetzt aufhörte zu träumen, hätte sie vielleicht noch Zeit für eine Stunde im Studio.

2 Ein perfekter Abend

D

ie Eheleute Gudrun Singer-Kolb und Max Singer sind Mitte vierzig. Früher, als Gudrun und Nora noch Kolleginnen waren, hatten sie sich angefreundet. Man traf sich mal bei den Einen und danach bei den Anderen.

Mittlerweile war es so, dass die Männer gut befreundet sind, obwohl auch Max Studienrat am Gymnasium ist und Thomas eigentlich abschätzig auf die „Pädagogen“ herab schaut. Nora und Gudrun treffen sich nur noch selten. Gudrun nervt Nora mit ihrer Unzufriedenheit.

Thomas ist hochintelligent, hat Betriebswirtschaft studiert und führt mittlerweile sein eigenes Beratungsunternehmen mit fünf festangestellten und drei freiberuflichen Beratern.

Das typische Gestöhne der meisten „Pädagogen“ und „Pädagoginnen“ amüsiert ihn. Er sieht seinen Zwölfstundentag und hört zum Beispiel das Gejammer von Gudrun, die noch an der Grundschule unterrichtet und seiner Meinung nach, nach höchstens sechs Stunden dort ihre Freizeit genießen kann. Max und Gudrun sind kinderlos und wohnen – natürlich – in einer Altbauwohnung mit hohen Räumen im Kreuzviertel. Woanders kann man ja gar nicht wohnen, meint Gudrun. Dass Thomas und Nora ein Haus im nahe gelegenen Schönau haben, geht gerade noch so, das ist Uni-Umfeld und auch dort ist die Pädagogendichte hoch.

Sie sind kaum angekommen, da schiebt Nora sie schon in Richtung Esstisch. Auf dem Tisch, der peinlichst sauber und aufgeräumt ist, stehen Geschirr und Gläser für mehrere Gänge. Auf dem obersten, kleinen Tellerchen sind Amuse Gueule3 angerichtet. Als alle sitzen ruft Nora laut:

„Granat auf Guacamole! Einen Guten Appetit wünsche ich und Thomas, kannst du bitte den Haut Sauternes einschenken?“

„Guacamole? Was ist das denn?“ Max schaut seinen Teller mit der Baguettescheibe an, auf der wunderschön die grüne Paste für einen Kontrast zu einem tiefrosafarbenen Garnelenschwanz sorgt.

Nora will es ihm gerade erklären, da meckert Gudrun ihn schon an: „Das ist Avocadocreme, du Banause!“ Zack! Hat er wieder seinen Rüffel weg.

„Im Prinzip ja“, Nora kann das nicht so stehen lassen: „Aber ich füge dem Ganzen noch meinen Pfiff hinzu, der meine Guacamole einzigartig macht! Aber ich verrate nichts!“ Sie lacht verschmitzt.

„Ja ist klar, es ist immer was Besonderes, was du aufbietest.“ Eigentlich hatte Gudrun das als Kompliment sagen wollen, aber wie immer lag ihre nörgelige Grundhaltung darunter und es klang wie ein Vorwurf.

„Also ich find’s richtig lecker. Kann ich noch so’n Ding kriegen?“ nuschelt Max jetzt mit vollem Mund.

„Nora, darauf kannst du dir was einbilden. Mich lobt Max nie! Aber du hast ja auch den ganzen Tag Zeit“, giftet Gudrun erneut rum.

Thomas zieht die Augenbrauen zusammen. Er merkt, dass der Abend aus dem Ruder läuft. Er kann sich aber trotzdem eine Spitze nicht unterdrücken:

„Wie steht’s mit deinem Burnout, Gudrun? Gedeiht oder stagniert er? Es sind ja auch alles kleine Deubelchen diese Viertklässler, nicht wahr?“

„Also Burnout ist zu viel gesagt, aber nach den sechs Stunden morgens und dem Korrigieren der Arbeiten am Nachmittag, weiß ich schon, was ich getan habe. Außenstehende können sich gar nicht vorstellen, wie hart das Leben von Pädagogen ist. Ich spiele oft mit dem Gedanken, das alles hinzuschmeißen. Hoffentlich verpasse ich nicht den Absprung, bevor es wirklich zum Burnout kommt.“

Gudrun hat die Spitze nicht bemerkt. Sie hält Thomas‘ Nachfrage für ernste Besorgnis um sie und auch Nora schaut kurz kritisch zu ihrem Mann rüber. Nur Max grinst zufrieden. Er hat die Spitze entdeckt und sich blitzschnell Gudruns Amuse Gueule in den Mund gesteckt.

„Ej, Max, spinnst du?“

„Warte Gudrun, ich hol dir schnell ein Neues!“

„Nee, nee, lass mal. Ich mache mir sowieso nichts aus Garnelen.“

Max kneift Thomas verdeckt ein Auge zu. Die beiden warten nur darauf, dass das Essen zu Ende geht und sie sich gegenseitig über ihre neuen Spielzeuge unterhalten können.

Nora ist aufgestanden und kommt nun mit einem Tablett zurück, auf dem vier tiefe Teller mit Spaghetti in einer bunten Soße stehen. Nachdem sie sie verteilt hat, ruft sie wie eine professionelle Köchin „Spaghetti alla puttanesca variazione Nora“.

„Nuttennudeln?“ Max kann keinen vermeintlichen Gag auslassen. Nora weiß das und nimmt es ihm mittlerweile nicht mehr übel. Er haut gewöhnlich rein und sagt ihr auch, dass es ihm schmeckt. „Aber was meinst du mit ‚… variazione Nora‘?“

„Ich mache noch Stückchen von Culatello rein und würze mit Chiliflocken. Also aufgepasst, könnte etwas scharf sein!“

„Na ja, schmecken wirklich gut, deine Spaghetti. Aber was hast du da am Handgelenk? Das ist ja ganz blau am Knöchel.“ Gudrun verbindet auch ein Lob mit kritischen oder nicht ganz höflichen Fragen.

Nora hebt ihr Handgelenk so an, dass es unter der tiefhängenden Esstischlampe gut zu sehen ist.

„Ach das ist mir heute beim Kickboxen passiert. Ich krieg immer so schnell blaue Flecken, brauche nur irgendwo leicht anzustoßen und schon ist es passiert!“

„Und das unter dem rechten Auge …?“

„Sieht man das? Ich dachte, ich hätte es gut überschminkt. Da habe ich die Boxbirne vorgekriegt, als ich mal einen Moment unaufmerksam war. Unaufmerksamkeit beim Kickboxen rächt sich sofort.“ Sagt sie ganz leicht dahin. Nora lächelt Thomas an, der die Stirn in Falten gezogen hat. Er wirkt fast zornig, hat sich aber schnell wieder im Griff.

Der nächste Gang kommt und anschließend der Nachtisch. Es geht so weiter, Gudrun nörgelt, Nora preist die eigenen Kochkünste an, Max isst wie ein Scheunendrescher und Thomas versucht aufkommende Wogen von Ärger zu glätten. Er fragt sich schon lange, was diese gemeinsamen Essen sollen.

Später tauschen sich die Männer über ihre technischen Gimmicks aus, die sie sich neu beschafft haben, Mähroboter, neues Notebook, Handy-Apps und ihre Autos. Die Frauen reden wie immer aneinander vorbei, Gudrun erzählt von der Schule und ihrem Stress und Nora preist das eine oder andere Reinigungsmittel, das ihr den Tag erleichtert.

Gegen halb eins beschließen sie den Abend. Gudrun und Max verabschieden sich herzlichst mit Küsschen rechts und links. „Schön war’s!“ „Müssen wir bald wieder machen!“ „Aber dann kommt ihr zu uns, abgemacht?“ „So perfekt wie du kriege ich das natürlich nicht hin, Nora! Du weißt ja, die Arbeit …!“

-:-

„Schatz, ich hau mich hin. Ich bin ziemlich müde. Lass uns morgen aufräumen!“ Thomas gähnt ostentativ.

„Ja, geh du nur schlafen. Ich stell alles nur provisorisch zusammen und dann komme ich nach.“ Nora stapelt schmutziges Geschirr auf dem Esstisch und fegt Krümel vom Tischtuch.

Sie möchte noch nicht zu Bett gehen. Irgendwie ist sie noch nicht bereit dafür. Ihr geht zu viel im Kopf herum. Sie könnte noch laufen. Danach schläft Thomas sicherlich und dann kann sie auch schlafen.

Nora läuft oft nachts durch die leeren Straßen. Vom Haus ist es nicht weit zu den Feldern, die die Universität umgeben und sie hat sich eine schöne Laufstrecke zusammengestellt. Nachts eine knappe Stunde zu laufen und dabei acht, neun Kilometer zurückzulegen, tut ihr gut. Ja und Thomas schläft sicher, wenn sie zurück ist!

-:-

Gudrun und Max haben es nicht weit zurück ins Kreuzviertel. Sie wohnen in der Essener Straße und sind zu Fuß unterwegs.

„Tut gut, jetzt noch zu gehen! Irgendwie war es zum Schluss gefühlt stickig bei Nora und Thomas, woll?“

„Jau! Hömma, seit wann sachst ausgerechnet du ‚woll‘? Du bist doch sonst so etepetete.“ wundert sich Max.

„Hör bloß auf! Mir ist danach, so richtig prollig zu sein. Die geht mir auf den Zeiger mit ihrem Perfektionismus. Stundenlang hat sie mir von den Vor- und Nachteilen einzelner Kloreiniger erzählt. Als ihr auf der Terrasse wart, hat sie mich im ganzen Haus rumgeführt, nur damit ich sehe, dass nirgends ein Stäubchen liegt. Kunststück, den ganzen Tag ist sie zu Hause und kriegt wahrscheinlich die Zeit nicht rum, so wie Lucy Jordan in dem Lied.

“And there are, oh, so many ways

for her to spend the day.

She could clean the house for hours

or rearrange the flowers”

singt sie kurz die Strophe an. Mensch! Früher, als sie auch unterrichtete, konnte man mit ihr reden, aber jetzt, wo sie nur noch Hausfrau ist, kriege ich keinen Draht mehr zu ihr.“

„Na, so schlimm ist es doch wohl auch nicht und bedenke, sie hat eine harte Zeit hinter sich.“

„Ja, nimm du sie immer in Schutz, aber mal ganz was anderes, hast du die blauen Flecken von Nora gesehen. Das kommt mir reichlich komisch vor.“

„Was willst du damit sagen? Denkst du an häusliche Gewalt?“ sagt Max und lacht laut los.

„Ich weiß nicht, es ist nicht das erste Mal, dass ich sowas an ihr sehe und jedes Mal redet sie sich mit dem Kickboxen raus.“

„Kann ich mir nicht vorstellen. Thomas ist wirklich in Ordnung. Er ist zwar äußerst pingelig, aber Genauigkeit gehört bei ihm zum Job. Hast du übrigens gesehen, wie er kurz vorm Essen nochmal um den Tisch gegangen ist und alle Bestecke exakt ausgerichtet hat? Mal ehrlich, ist doch Quatsch! Wieso sollte er Nora verhauen? Sie sieht klasse aus und macht alles, was ihm gefallen könnte. Die hat doch ihr ganzes Leben und Streben ihrem Thomas gewidmet. Da haben sich Topf und Deckel gefunden.

Hör mal, tu mir einen Gefallen und sprich in der Schule oder sonst wo nicht darüber! Behalte das für dich. Es geht schnell, dass jemand ohne jeden Grund seinen guten Ruf verliert.“

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Nora war doch länger weg. Es ist fast drei, als sie ins Haus zurückkehrt. Warum auch nicht, obwohl morgen Montag ist, treibt sie nichts und niemand. Aber jetzt wird sie tief und fest schlafen, durchgelüftet und mit freiem Kopf.

Sie geht leise die Treppe hoch ins Badezimmer neben dem Schlafzimmer. Zieht ihre verschwitzte Laufkleidung aus und wäscht sich den nackten Körper leise mit einem Waschlappen. Auch an den Rippen, da wo die Leber ist, hat sie einen Bluterguss, aber den sieht ja keiner.

Nackt geht sie auf Zehenspitzen rüber ins Schlafzimmer. Sie ist sehr leise und braucht kein Licht. Nun einfach ruhig hinlegen und schnell schlafen, das will sie mehr als alles andere.

Die kühle Bettdecke tut gut auf dem Körper. Nora schläft schon seit langem nackt. Sie ist sehr zufrieden mit ihrem Körper und liebt es, ihn zu fühlen und alles was ihn umgibt. Für ihr Alter ist er fast perfekt auch in ihren Augen. Andere Frauen versteht sie nicht, die ständig mit ihren ‚Problemzonen kämpfen‘ und an sich herumnörgeln. Entweder sollten die was tun so wie sie oder sich mit dem Status quo abfinden. Sie hat Stunden mit Krafttraining, Laufen und Sport in ihn investiert und das Ergebnis ist wirklich sehr ansehlich.

Irgendwie ist ihr, als wäre sie allein im Raum. Vorsichtig schiebt sie ihre Hand rüber zu Thomas‘ Bett Nur nicht wach machen! Sie braucht einige Zeit, denn sie rückt nur millimeterweise rüber.

Sie schreckt auf und sitzt mit einem Ruck senkrecht im Bett. Thomas‘ Laken und Decke sind kalt. Er ist nicht da. Was ist, wenn er zurückkommt und sie noch nicht schläft?

3 Die Tote unter der Brücke

K

arin Kwiatkowski ist siebenunddreißig Jahre alt, schlank, sportlich und immer äußerst aufmerksam. Ihr entgeht nichts, was sich um sie herum tut.

Keine schlechte Eigenschaft für eine Kriminalbeamtin. Und sie hat es auch schon weit gebracht. Immerhin ist sie Hauptkommissarin und leitet die Mordkommission im Polizeipräsidium Dortmund. Ihr unterstehen Hauptkommissar Heinz Grauert, Oberkommissar Alex Bender und das Nesthäkchen Karla Schaller, die mit ihren siebenundzwanzig Jahren auch schon Oberkommissarin ist.

Obwohl es Sonntagmorgen ist, ist Karla da und telefoniert. Man sieht, dass sie blass wird. Ganz hektisch wirft sie das Telefon auf den Tisch, springt auf und läuft zum Schreibtisch von Karin in deren mit Glasscheiben abgeteilten Raum. Beide haben sie Bereitschaft und damit ein versautes Wochenende.

„Soeben wurde eine weibliche Leiche gefunden. Die muss schrecklich aussehen, wenn das stimmt, was man mir am Telefon beschrieben hat. Also die haben sie …“

„Nee, lass mal Karla, wir fahren hin und schauen sie uns ganz unvoreingenommen an. Wo ist der Fundort?“

„Am Krückenweg, da wo die Bahnlinie kreuzt!“

„Das ist ein Klacks! Wir beide schauen uns das an oder soll ich lieber Heinz oder Alex anrufen?“

„Nein, nein, ist schon in Ordnung, aber ich bin nach dem Anruf ziemlich vorgespannt. Gehört halt zum Job oder?“ Karla hört sich an, als würde sie im Keller pfeifen4. Sie ist immer noch käsig um die Nase.

-:-

Die beiden verirren sich in dem Labyrinth, das die Sträßchen in Schönau am Rüpingsbach bilden. Vom Krückenweg aus kommt man nicht direkt mit dem Auto hin und die Emil-Figge-Straße sind sie schon fast bis zur Uni raufgefahren. Karla fährt und ihr bleibt nichts anderes übrig, als in ihrer Heimatstadt das Navi anzustellen. „Nach Möglichkeit wenden!“ kommt die lapidare Anweisung vom Navi.

Ihre Geduld ist fast erschöpft und sie wendet sehr zügig, ohne groß zu schauen. Jemand hupt laut und Reifen quietschen. Am Sonntagmorgen ist eigentlich nichts los, aber sie hat fast ein Auto angefahren, das oben aus der Kurve herunter geschossen kam, als sie rückwärts gesetzt hat.

„Was ist los mit dir, Karla?“ fragt Karin.

„Ach mir geht diese Beschreibung am Telefon durch den Kopf und ich kurve hier ohne Sinn und Verstand durch meine Heimatstadt, in der ich mich eigentlich auskennen sollte.“

Sie rast los und fährt die Straße schnell zurück. Es blitzt!

„Scheiße! Auch das noch. Da steht ‘ne Radarfalle. Warum eigentlich? Heute um diese Zeit sind bestimmt keine Schulkinder unterwegs. Die wollen nur wieder abkassieren und Herrn Stüdemann5 den Säckel füllen.“

Sie haut mit Schmackes (wie man bei uns sagt) aufs Lenkrad und erwischt natürlich den Hupenknopf.

„So, jetzt mal ganz ruhig und nur noch Tempo 30 fahren, liebe Karla. Langsam kriege ich Befürchtungen nicht unfallfrei bis zur Fundstelle zu kommen.“ Karin macht sowas ungern, aber Karlas Verhalten ist ihr unerklärlich und wirkt übertrieben.

Sie fährt nun weiter – mit 20, aber das ist egal. Es kann nicht mehr weit sein. Hinter einer Unterführung geht eine sehr schmale Straße nach links ab und gemäß Navi soll sie die nehmen.

Uferstraße / Zufahrt Diekmüllerbaum steht da. Die Jungs von der Spurensicherung haben Karla GPS-Koordinaten aufs Handy geschickt. Sie weiß nicht, ob eine der beiden Straßen richtig ist, aber sie verlässt sich auf das Navi.

An die zweihundert Meter geht es rechts an einer Hecke entlang. Links hinter der Hecke liegt der Rüpingsbach und auf dem Display sieht das gut aus. Dann geht es entweder links über den Bach oder nach rechts und sofort wieder nach links an einer Schrebergartenanlage entlang. Dahin wird sie geleitet. Nun noch achtzig Meter eine Steigung rauf und dann endet die Straße. Oben stehen schon zwei Autos der Kollegen.

„Geschafft!“ stöhnt Karla mit einer Stimme, die Karin dazu veranlasst, sie nochmals scharf zu mustern. Karla ist käsig weiß. Ihre Hände zittern und sie leckt sich dauernd die Lippen.

„Pass auf, bleib zurück. Ich mache das allein, aber im Präsidium müssen wir uns unterhalten. Hast du gehört?“

„Wie? Ja! … Unterhalten! Ja. Danke!“

Karin schüttelt den Kopf und geht an den SpuSi-Fahrzeugen entlang, bis sie vor der Brücke am Krückenweg ist. Da geht eine Treppe runter zu den Gleisen der Zugtrasse.

Ihr kommen schon einige Kollegen entgegen. Sie muss warten. Es ist schmal. Man kann nur einzeln durch. Es sind der Fotograf und sein Assistent. Die Aufnahmen sind wohl alle im Kasten. Man wartet also auf sie, damit sie endlich die Leiche bewegen und abtransportieren können.

„Ach und da kommt ja auch endlich die Kavallerie!“ Ingo Stahlschmidt, der oberste Spurensicherer ist im Beruf zynisch geworden und solche Sprüche gehören zu seinem Standardrepertoire.

„Ist ja gut Ingo! Wir haben die Scheißstraße nicht gefunden. Liegt ja auch wirklich abartig.“

„Mensch Karin, heute ist Sonntag und mir reicht es schon, dass ich hier vor dem Frühstück aufschlagen muss. Nachher spielt mein Sohn um den Aufstieg und sein Papa ist womöglich nicht dabei. Also mach hinne, damit wir hier wegkommen!“

Karin erzählt ihm nichts von Karlas Zustand. Der hätte das gnadenlos ausgeschlachtet. Bei sowas ist er ein richtiges Arschloch, ohne Rücksicht auf Verluste, aber seine Arbeit macht er wie kein anderer.

Man muss nah rangehen. Überall stehen diese großblättrigen, bambusartigen Bahndammpflanzen rum. Nur an einer Stelle ist ein Kreis mit zwei Metern Durchmessern weggemäht und da liegt sie. Jetzt sieht sie erstmals die Leiche. Was sie erblickt, ist eine junge, nackte, tote Frau mit auffallend guter Figur und langen blonden Haaren und dann ist sie auch schon am Ende ihrer Schlussfolgerungen. Der Gerichtsmediziner Dr. Friedhelm Bürger kniet neben dem Körper und schaut ihn sich aus kurzer Entfernung an. Er hat eine Lupe in der Hand und fährt damit rauf und runter über die Haut der Toten. Er versucht den Grund für die Beschaffenheit der Haut zu finden.

Am ganzen Körper sieht es so aus, als wäre von oben bis unten die Haut heruntergeschliffen oder –gekratzt worden. Zwischen schmalen Streifen sehr heller Haut sind breite, blutrote Flächen zu sehen, wo keine Haut mehr zu sein scheint. Vorne vom Hals bis ganz unten zu den Füßen ist in der Mitte ein weißer Streifen und von dem gehen in regelmäßigen Abständen weiße Streifen nach rechts und nach links ab. Auch im Gesicht, im Nacken und am Hals ist die Haut wundgescheuert.

Eine ehemals sehr schöne, junge Frau ist in einen blutroten Fleischhaufen verwandelt worden. Der Anblick hätte Karla die letzte Fassung genommen. Gut, dass sie zurück geblieben ist … denkt Karin, als sie auch schon hinter sich einen Aufschrei hört.

Karla hat gemeint, dass es zu ihren Pflichten gehört, sich Tatort und Opfer anzusehen. Jetzt dreht sie sich entsetzt um, rennt weg und übergibt sich laut würgend unter der Brücke.

Kurz überlegt Karin zu ihr zu gehen, aber sie lässt es. Damit kann sie sich jetzt nicht aufhalten. Alle Anwesenden sind sowieso schon sauer auf sie beide.

„Herr Dr. Bürger, sind Sie soweit fertig?“

„Guten Morgen Frau Kwiatkowski. Ja, soweit bin ich durch. Den Rest mache ich im Institut. Schlimme Sache, was?“, Dr. Bürger ist groß und kräftig, etwa Anfang sechzig und ein ganz alter Hase. Er hat eine dicke, rotunterlaufene Nase, große Tränensäcke und einen Kranz weißer Haare um seinen Kopf. Trotz der schlimmen Dinge, die er fast täglich seit vielen Jahren zu sehen bekommt, hat er immer ein freundliches, zufriedenes Lächeln im Gesicht. Noch ein weißer Bart dazu und er ist die Idealbesetzung für einen ganz lieben Nikolaus, denkt sich Karin.

„Und was meinen Sie, woran ist sie gestorben?“

„Im Moment kann ich nur spekulieren, aber es sieht sehr nach systemischem Organversagen aus, das der Nieren wahrscheinlich.“

„Was sind das für Verletzungen? Wurde sie mit einer Stahlbürste behandelt? Es sieht aus, als hätte man ihr die Haut streifenweise heruntergeschrubbt.“

„Stimmt, so ähnlich sieht es aus. Kann auch so gewesen sein, bevor oder nachdem man sie flächendeckend verbrüht hat! Das müssen unausdenkliche Schmerzen gewesen sein.“

„Verbrüht! Womit? Warum?“ Karin steht mit offenem Mund am Bahndamm. Sie hat überall eine Gänsehaut bekommen, weil es sie graust.

„In der Reihenfolge Ihrer Fragen: 1. Ja, verbrüht, 2. Vielleicht mit Wasserdampf, 3. Weiß ich nicht! Aber das ist absolut grausam. Das muss ein Psychopath gewesen sein. Eine andere Erklärung finde ich nicht.“ Es ist einer der seltenen Momente, wo Bürgers Lächeln ausbleibt. Den alten Profi erschüttert der Fund fast genauso wie KHK Kwiatkowski.

„Wann ist das passiert? Was meinen Sie?“

„Ich nehme an, dass das Mädchen nicht hier getötet wurde, sondern hier nur abgelegt wurde. Gestorben ist sie irgendwann zwischen zwei und vier Uhr morgens. Ob sie schon tot war, als sie hierhin gelegt wurde, weiß ich nicht, aber ich hoffe es für sie. Nach der genaueren Untersuchung werde ich Ihnen mehr sagen können, so ab Montagmittag. In Ordnung?“

„Lieber Herr Doktor Bürger, können Sie nicht bitte sofort mit der Obduktion beginnen? Sie wissen doch, was man nicht in den ersten achtundvierzig Stunden aufgeklärt hat und so weiter und so weiter.“

„Anfangen kann ich, weil Sie es sind, aber spätestens um 11:30 Uhr bin ich weg. Meine Enkelin hat Geburtstag und ich muss dahin. Dem Kind kann ich nicht erklären, warum ich zu spät oder gar nicht komme. Bevor ich gehe, rufe ich Sie an und sage Ihnen, was ich weiß. So und jetzt sollten wir uns beeilen, die achtundvierzig Stunden laufen schon!“ Sein Lächeln ist wieder da und er steigt mit seiner Tasche den Bahndamm rauf.

4 Jutta ist weg!

E

rna Schulte schläft schlecht. Es ist Sonntag und sie macht sich Sorgen um ihre Tochter. Seit der ganzen letzten Woche hat sie versucht, sie zu erreichen, ohne Erfolg.

Jutta ist fünfundzwanzig, also erwachsen, verdient ihr eigenes Geld als Kellnerin und hat ihre eigene Wohnung im Kreuzviertel. Sie muss sich nicht bei Mama abmelden, aber sie ist ein gutes Mädchen. In der Regel telefonieren Mutter und Tochter zwei bis dreimal in der Woche miteinander, falls sie sich nicht sogar treffen, um irgendwas zusammen zu unternehmen.

Erna ist gerade mal fünfundvierzig, Jutta kam früh und viele halten die zwei für Schwestern, wenn sie „auf die Rolle gehen“, wie Erna es ausdrückt.

Sie hat beschlossen, zu Juttas Wohnung zu gehen. Anders weiß sie sich nicht zu helfen, nachdem sie Jutta den Anrufbeantworter vollgesprochen hat.

Nun steht sie in dem alten Haus an der Schillingstraße und klingelt. Niemand öffnet. Erna schließt die Haustür auf. Der Briefkasten läuft über und alles deutet darauf hin, dass Jutta schon einige Tage nicht zu Hause war.

Für alle Fälle hat Erna einen Schlüssel, so wie Jutta umgekehrt auch. Obwohl es ihr widerstrebt, öffnet sie nun die Wohnungstür und bemerkt sofort die abgestandene Luft. Hier war seit Tagen kein Fenster mehr auf. Die schönen Topfblumen, die Juttas Stolz sind, lassen größtenteils die Blätter hängen. Ein großer Ficus ist schon fast vollständig entlaubt.

Nein, da ist etwas passiert. Erna wird zur Polizei gehen.

-:-

Am Freitag davor ruft Max Thomas in dessen Büro an. „Hast du heute Zeit für eine Runde Squash?“ Sie verabreden sich oft ganz spontan, entweder es klappt oder auch nicht.

„Puh, du erwischt mich gerade in einer dringenden Arbeit, aber Squash wäre wirklich mal wieder gut. Ich sehe zu, dass es klappt. Am besten rufe ich dich an, sobald ich absehen kann, wann ich heute Feierabend mache. Ist das okay?“

„Klar, du weißt doch, wir Pädagogen haben ab fünfzehn Uhr in der Woche nichts mehr zu tun. Falls Gudrun nichts für heute Abend geplant hat, können wir auch ziemlich spät gehen, also bis nachher.“ Max legt auf.

‚Mist, jetzt hat er mich aus dem Konzept gebracht, aber er hat Recht, wir müssen mal wieder was miteinander und vor allem ohne die Frauen machen. Beim letzten Mal war zu viel „Zwietracht“ in der Luft‘

Thomas kniet sich in seine Projektunterlagen und es dauert nicht lange, bis er wieder seine volle Konzentration für die Arbeit aufbringt. Es läuft ausgesprochen gut bei ihm. Erst kürzlich haben sie einen sehr großen, bekannten Kunden gewonnen. Für den macht er gerade eine Kurzanalyse gewissermaßen als Probearbeit. Wenn die ankommt, dann hat er für die nächsten Jahre genug Arbeit.

-:-

Es hat geklappt, Thomas und Max stehen auf dem Squash-Court und es gab gerade einen heftigen Schlagabtausch, den Thomas – wie meistens – für sich entschieden hat. Es lohnt nicht mehr einen neuen Satz zu beginnen, in fünf Minuten ist ihre Zeit in der Kabine abgelaufen und ihre Nachfolger sitzen schon auf den mit Teppichboden bespannten Stufen vor der Glastür.

„Glückwunsch! Du hast mal wieder gewonnen, aber irgendwann schaffe ich es noch, dich zu besiegen.“ Von Max‘ Nase tropfen einige Schweißperlen auf den Holzboden, als er die Glastür öffnet, um den Court zu verlassen.

„Danke! Ja, vielleicht wird es dir mal gelingen. Wir sind nur wenig auseinander, aber wenn mir nichts dazwischenkommt, werde ich den Abstand halten. Du weißt doch, ich gewinne gerne.“ Das klingt sehr selbstbewusst, eigentlich so, als wäre es eine unumstößliche Tatsache.

Max kennt das und es ärgert ihn, aber insgesamt haben die beiden eine gute Zeit miteinander. Er freut sich auf die Dusche und vor allem auf das Bier danach.

„Sag mal, hast du mit einem Gorilla gekämpft!“ Sie stehen unter den Duschen und Max zeigt auf Thomas Oberkörper und Beine, die voller blauer Flecken sind, seine Arme sind zerkratzt.

„Ich bin kürzlich im Gelände gestürzt, als ich mit meinem Cross-Bike im Schwerter Wald gefahren bin. Wenn ich den Helm nicht gehabt hätte, hätte ich wohl ins Krankenhaus gemusst. Aber tags drauf bin ich wieder aufgestiegen und es lief wieder wie davor. Fallen darf man, aber man muss immer wieder aufstehen. Kennst du doch!“

Max bemerkt anfangs eine kleine Unsicherheit bei Thomas, aber er kann sich auch täuschen.

„Nora und du ihr seid absolute Sportfanatiker, sie mit ihrem Krafttraining und Kickboxen und du mit dem Rad. Macht ihr eigentlich auch was zusammen?“

„Klar machen wir was zusammen und das ist auch ziemlich anstrengend …!“ lacht Thomas und fährt sich mit den Fingern durch seine nassen Haare. „Du, ich geh schon mal und zieh mich an. Ich brauch jetzt unbedingt ein Bier. Soll ich dir eins mitbestellen?“

„Nee, nee, lass man. Ich lasse noch das schöne, warme Wasser auf mich wirken, sonst habe ich morgen Muskelkater. Aber in längstens zehn Minuten komme ich auch und treffe dich an der Theke.“ Max aalt sich unter dem dampfenden Strahl und prustet dabei genüsslich.

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Die nächste Polizeidienststelle ist am Präsidium, aber die liegt so weit ab, dass Erna in die Stadtmitte zur Wache hinter dem Konzerthaus, am ‚Platz von Pieks‘ geht, wie man den Platz von Leeds scherzhaft nennt, weil da früher Spritzen rumlagen.

„Ich möchte meine Tochter Jutta als vermisst melden!“

„Wie lange ist sie denn schon weg?“ fragt Polizeihauptmeister Gerd Müller – er heißt wirklich so und langsam werden die Leute weniger, die den Fußballer Gerd Müller noch kennen.

„Das weiß ich nicht, aber so wie es in ihrer Wohnung aussieht, muss sie schon wenigstens eine Woche weg sein.“

„Wie alt ist denn Ihre Tochter?“

„Fünfundzwanzig und bevor Sie weiter fragen, ja, sie wohnt in ihrer eigenen Wohnung, verdient ihren Lebensunterhalt selbst, aber sie ruft mich sonst wenigstens zweimal in der Woche an. Ich habe seit acht Tagen kein Lebenszeichen von ihr. Schauen Sie Herr Wachtmeister …“

„Polizeihauptmeister oder einfach nur Herr Müller für Sie!“ korrigiert er sie.

„Ja, Entschuldigung, also schauen Sie Herr Müller, hier ist ein Foto von ihr.“

„Na dann geben Sie mir zuerst Ihre Personalien an und dann die von Ihrer Tochter.“ Polizeihauptmeister Müller kommt um den leidigen Schreibkram nicht rum, das hat er eingesehen.

Üblicherweise werden die Vermisstenmeldungen sehr viel früher aufgegeben, dann kann man die Leute vertrösten, aber nach über einer Woche ist es wohl Zeit, sie aufzunehmen.

In dem Fall findet er auch keine Worte, um die besorgte Erna zu beruhigen. Es tut ihm leid, denn die Frau gefällt ihm ausgenommen gut. Polizeihauptmeister Gerd Müller ist immer noch Junggeselle.

„Stimmt das denn wirklich? Sie haben eine fünfundzwanzigjährige Tochter? Sie sehen aus wie Ende dreißig, Frau Schulte.“

„Danke, Herr Müller. Wenn Sie das in einer anderen Situation gesagt hätten, hätte es mich gefreut. Ich mache mir wahnsinnige Sorgen um Jutta. Sie ist so verlässlich und lieb. Da muss was passiert sein!“

„Nun machen Sie sich mal nicht verrückt. Vielleicht musste sie sehr kurzfristig weg und kann sich aus irgendeinem ganz lapidaren Grund nicht bei Ihnen melden, Handy kaputt oder so. Das klärt sich sicher bald zum Guten auf, Sie werden sehen.“

„Darf ich denn ab und zu nachfragen, ob Sie schon was wissen?“

Wenn ihm die Frau nicht so gut gefallen würde, hätte er das jetzt routinemäßig abgeblockt, aber so könnte er in Kontakt mit ihr bleiben, wer weiß …? „Hier ist eine Karte, auf der Sie die Nummern dieser Wache haben und ich schreibe Ihnen mal meine Handynummer dazu. Sie dürfen mich gerne anrufen.“

Erna nimmt die Karte und geht langsam mit hängendem Kopf aus der Wache. Eigentlich wollte sie in der Stadt Schaufenster gucken, aber so allein, wie sie es jetzt ist, macht ihr das keinen Spaß.

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Es ist Sonntagmittag und in KHK Kwiatkowskis Büro sitzen sich Karla und Karin gegenüber.

„Was ist eigentlich los mit dir? Erst die Nummer mit der verrissenen Anfahrt und dann deine Übelkeit. Du siehst doch nicht zum ersten Mal eine Leiche. Muss ich da was wissen? Kennst du die Frau?“

„Nein! Ich kenne sie nicht, jedenfalls habe ich in diesem Blut- und Hautgemisch nichts und niemanden erkennen können.

Ich weiß gar nicht, wie ich dir das sagen soll. Bei Gewalt gegen Frauen kippt bei mir ein Schalter um und ich bin nicht mehr ganz bei mir. Schon als ich die Meldung am Telefon annahm, ging es mir dreckig.“

„So leid es mir tut, aber da musst du drüber wegkommen. Nicht auszudenken, wenn du direkt am Fundort hingekotzt hättest. Ich kann da leider keine Rücksicht drauf nehmen. Wir sind schon so wenige und gerade bei der Bereitschaft muss man alles erledigen, wie es kommt.“

„Ja, ich weiß und ich finde es auch blöd … ach was soll’s … ich hatte mal einen Freund und der hat mich mal angegriffen. Das war in einem Schrebergarten, den der hatte und als wir Richtung Bahndamm gefahren sind, habe ich erkannt, dass das die Anlage ist, wo es passiert ist. Wir sind damals vom Krückenweg aus runtergegangen. Als du und ich da lang gefahren sind, habe ich Panik bekommen. Daran habe ich überhaupt keine guten Erinnerungen. Seitdem geht es mir in dem Zusammenhang nicht gut und ich kriege Zustände, wenn sowas passiert.“

„Hast du den wenigstens angezeigt?“

„Nein, der wäre auch immer wieder gekommen und du weißt doch, wie mit einem umgegangen wird, wenn man mit sowas kommt!“

„Ja, leider, jedenfalls je nachdem, wer die Anzeige aufnimmt. Und wie hast du da Ruhe bekommen?“

„Ich hatte noch einen guten Freund, den ich von der Schule kannte. Wir treffen uns auch heute noch ab und zu. Dem habe ich das erzählt und da der kein Kind von Traurigkeit ist, hat der diesem Arsch wohl sehr deutlich klar gemacht, dass er sich von mir fernhalten soll. Ich glaub, der hat den richtig verprügelt. Seitdem habe ich Ruhe.“

„Offiziell muss ich jetzt den Kopf schütteln, aber als Frau und Kollegin gratuliere ich dir zu dem Schulfreund!“

„Danke! Und Karin, sag bitte den anderen nichts davon. Ich kriege das schon in den Griff, das verspreche ich dir.“

„Klar, aber jetzt an die Arbeit. Bitte durchsuche alle Vermisstenmeldungen der letzten Wochen nach einer jungen Frau von zirka 25 Jahren, 1,75 m groß, schlank und blond. Ich rufe Dr. Bürger an, ob er schon ein wenig mehr weiß.“

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„Hallo Herr Dr. Bürger, tut mir leid, dass ich Sie störe, aber …“

„Schon gut Frau Kwiatkowski. Ich hatte es Ihnen versprochen. Nun bin ich zwar trotzdem zu spät zur Geburtstagsfeier gekommen, aber ich kann Ihnen sagen, dass sich mein Anfangsverdacht bestätigt hat.