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Gerwine Ogbuagu

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Beschreibung

Mara hat ein absolutes Lieblingsbuch. Als sie sich auf die Reise in die Niederlande begibt, ahnt sie nicht, dass sie schon bald Teil der im Buch beschriebenen Welt sein wird. Plötzlich befindet sie sich im Jahr 1633 und geht bei Familie Rembrandt ein und aus. Doch wie kommt sie zurück - und möchte sie das überhaupt, wo sie doch dort ihre große Liebe gefunden hat? Es beginnt eine spannende Reise zwischen den Jahrhunderten im damaligen und heutigen Amsterdam.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Edition Paashaas Verlag

Autor: Gerwine Ogbuagu Originalausgabe: September 2020

Covermotiv: Pixabay.com

Coverdesign: Michael Frädrich

Lektorat: Renate Habets, Manuela Klumpjan

© Edition Paashaas Verlag

www.verlag-epv.de

Printausgabe: ISBN: 978-3-96174-073-4

Die Handlung ist frei erfunden, Ähnlichkeiten mit noch lebenden Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.

Ausgesperrt

Gewidmet allen, die versuchen,

den Lauf der Welt zu verstehen

Nur das jeweils andere führt uns zu uns selbst zurück.

Sri Yogananda (1893-1952)

„Dem Aufrichtigen geht die Ehre vor dem Reichtum“

Rembrandt Harmenszoon van Rijn

(1606-1669)

Vorgeschichte

Diese Geschichte ist die von Mara Reiser. Sie zeigt, wie sehr der Roman „Aminas Welt“ Mara bewegt hat. Mara hat ihn gelesen, bevor sie nach Amsterdam gereist ist, um über Rembrandts Malerei zu recherchieren. Dieser Roman passt genau zu ihren eigenen Plänen, wenn diese auch völlig anders aussehen, als die von Amina und Marco. Diese beiden sind 1632 am Ende der Geschichte zu Fuß nach Amsterdam gewandert, um dort ihr Glück zu suchen.

Auch Mara will in die Welt Rembrandts eintauchen und versuchen nachzuvollziehen, wie er lebte und wie seine Werke entstanden sein könnten. Sie will eine lebendige Hausarbeit schreiben, eine die lebt und ihrem Professor in Frankfurt am Main etwas noch nie Gelesenes Bietet.

So hat Mara gelesen, dass Amina und Marco im Herbst 1632 als Eheleute Seligenstadt am Main. Marco war auf dem Weg, seinen Traum zu verwirklichen, bei Rembrandt in Amsterdam Lehrling in dessen Studio zu werden. Sie machten sich auf in ein fremdes Land – in Zeiten des Dreißigjährigen Krieges eine gefährliche Reise in unsicheren Zeiten.

Denn auch die Niederlande hatten jahrelang Krieg mit Spanien geführt. 1632, als Amina und Marco Seligenstadt verlassen hatten, begannen die Niederlande Verhandlungen mit Spanien, um den Krieg bald zu beenden. Dennoch zog er sich weitere 16 Jahre hin. Eine Einigung mit Spanien würde dieses Vorhaben festigen, so hofften sie. Die Bevölkerung lebte also in einem Krieg, der sie nicht ganz so berührte wie die Kriegshandlungen die Menschen im damaligen Deutschland, das sich aus unzähligen kleinsten Fürstentümern und Grafschaften zusammensetzte. In ihnen wurde die Bevölkerung aufs Schlimmste drangsaliert, litt Hunger, Frauen wurden als Hexen verfolgt und die Spaltungen zwischen Katholiken und Calvinisten sowie die Diskussion über den Waffenstillstand bewegten die Menschen überall. In den Niederlanden wurden diese Probleme an den Universitäten des Landes kontrovers diskutiert.

Nach der kahlen und kalten Winterlandschaft, die sie auf abenteuerliche Weise durchquert hatten, und der unsäglichen Armut in Seligenstadt erleben Amina und Marco Amsterdam als eine Stadt voller Leben, eine Stadt im Frühling. Viele Menschen tragen saubere, farbenprächtige Kleider aus glänzenden Stoffen, die oft sogar auf der Straße schleppten. Es ist zwar hauptsächlich die arbeitende Bevölkerung, die sie sehen – Mägde, die zum Markt eilen, Hausfrauen, die eine Besorgung zu machen hatten, die keine Magd erledigen konnte oder sollte – aber trotz der Arbeit schwingen die Röcke weit, die weißen und gerüschten Kragen breiten sich ausladend wie Flügel über Schultern von Frauen und Männern.

Amina staunt. Sie trägt ihre Hose und eine Spitzenbluse, darüber eine braune, warme, weite Jacke wie Marco. Unterwegs auf ihrer Reise hatten sie sich diese Sachen gebraucht gekauft, so dass sie es bequem hatten. Ihr Haar ringelt sich auf ihren Schultern. Ihr offener und freundlicher Gesichtsausdruck wirkt anziehend. Marco beeindruckt durch seine kräftige Statur. Er trägt seine Malutensilien und einen Reisesack, mitunter noch Aminas dazu. Beide sind sehr müde. Mit Glück hatten sie unterwegs ein Bett gefunden, auch wenn es ein Strohsack gewesen war oder Heu in einer verlassenen Scheune. Die letzte Nacht hatten sie in einem Gasthof in einem Vorort Amsterdams verbracht, wo sie sich hatten frisch machen können, um bei der Suche nach Rembrandt und seinem Haus einen guten Eindruck zu machen.

Sie haben sich durchgefragt und sind in der Sint Antoniesbreestraat angekommen, wo Rembrandt wohnen soll. Die Straße gleicht einem Marktplatz, auf dem die Handelsstadt Amsterdam zeigt, was sie zu bieten hat. Fisch, Fleisch, Gemüse, Stände mit Kleidung und Lederwaren, Schuhen und Taschen. Amina und Marco schauen und werden ganz hungrig. Würzige Gerüche von Essenskarren, Fleisch und Würsten in vielen Sorten wabern in der warmen Luft. Sie haben gerade noch ein paar Münzen, die für drei gebratene Fische reichen. Also stellen sie sich an die Seite und teilen die einfache Mahlzeit.

„Hier gibt es alles, was man braucht, nur das Geld …“ Sehnsüchtig schaut Amina den Schuhstand an, der nicht weit von dort, wo sie stehen, seine Waren ausstellt.

„Wart’s ab, Amina, kommt Zeit, kommt Rat. Bald werden wir dir neue Schuhe kaufen können!“, tröstet Marco sie liebevoll. „Bist du fertig? Dann lass uns gehen und weiter fragen.“

Rembrandt van Rijn wohnt in Amsterdam mit Saskia bei ihrem Onkel, dem Kunsthändlers Hendrik van Uylenburgh. Er hatte damals zwei Gemälde für Friedrich Heinrich, den Statthalter, beendet. Im Haus dieses Kunsthändlers lernte er dann Saskia von Uylenburgh kennen, eine Cousine Hendriks. Bald schon sollte die Verlobung zwischen Rembrandt van Rijn und Saskia von Uylenburgh stattfinden, nämlich am 5. Juli 1633. Rembrandt ist also in einem glücklichen Zustand der Verliebtheit, als Amina und Marco bei ihm vorsprechen, um sich vorzustellen und Marcos Wunsch vorzutragen.

Sie fragen sich zur Familie Rembrandt durch.

„Gleich da vorn!“, zeigt ihnen ein junger Mann das Haus, „im Haus des Kunsthändlers Uylenburgh wohnen Rembrandt und seine Frau.“

„Danke!“, nickt Marco und lächelt.

„Viel Erfolg!“, wünscht der junge Mann.

„Fühl‘ wie mein Herz klopft!“, wendet Amina sich ängstlich an Marco, als sie vor dem Haus stehen.

„Bleib ganz ruhig.“ Marco küsst sie zärtlich, bevor er den Türklopfer bedient, goldfarben auf dem grünen Grund der massiven Tür. Sie hören Schritte, eine Türklappe öffnet sich, ein intensiver Blick aus blauen Augen, die Klappe geht zu, langsam öffnet sich die Tür. Eine junge Frau, deren freundliches Gesicht von einer gestärkten, weißen Haube und zwei blonden Zöpfen eingerahmt wird, schaut wachsam. Eine himmelblaue Schürze bedeckt ihre leuchtend weiße Bluse über einem dunkelblauen in weiten Falten fallenden Rock. Sie blickt fragend auf die beiden.

Marco verbeugt sich höflich. „Guten Tag. Wir bitten untertänigst um Auskunft. Ich bin Marco Lanzetti, und das ist meine Ehefrau Amina. Wir suchen Mijnheer Rembrandt van Rijn! Er soll hier wohnen!“

Sie sind sauber und ihr Benehmen höflich. Also bittet die Magd die beiden: „Bitte wartet hier!“

Sie schließt die Tür. Amina und Marco schauen sich an. Bitte, Gott, steh‘ uns bei, dass alles gut verlaufen möge, fleht Amina innerlich. Sie hält Marcos Hand fest, beruhigend streichelt er ihre mit seinem Daumen. Sie warten eine Weile, dann öffnet sich die Tür wieder, die junge Frau hebt den Arm und winkt sie herein. „Ihr mögt mir folgen!“

Sie geht voran durch einen langen Flur, Gemälde bedecken die Wände. Vor einem Raum mit offener Tür bleibt die Magd stehen und kündigt die beiden an. In einem großen Sessel sitzt ein junger, kräftiger Mann. Dunkle halblange Locken fallen um sein Gesicht. Er steht auf, schaut ernst auf die beiden und deutet auf zwei Stühle nicht weit vom Sofa entfernt, bittet sie, Platz zu nehmen. Marco ist aufgeregt, aber man merkt es ihm nicht an. Rembrandt fordert ihn auf zu erklären, was ihn hierherführt. Marco stellt Amina vor, erzählt ein wenig über beider Leben und trägt dann Rembrandt ruhig vor, dass es sein Lebenstraum sei, bei ihm Lehrling zu werden. Der hört ruhig und geduldig zu.

Marco hält seine Mappe in der Hand. „Darf ich?“

Als Rembrandt nickt, zeigt er ihm seine Bilder, entrollt Leinwände. Deutsch ist zwar anders als Niederländisch, es gibt aber gewisse Ähnlichkeiten, so dass die Verständigung einigermaßen klappt.

Rembrandt wundert sich, er hört zu. Was für eine Geschichte. Ein Paar, das kilometerweit und monatelang gelaufen ist. Jetzt hier, in Amsterdam angekommen, ihn gesucht hat, um dann bei ihm, Rembrandt, vorzusprechen. Er sieht zwei, die auf einen Strohhalm hoffen, die sich so sehr wünschen, Ruhe zu finden und zu arbeiten. In diesen schweren Zeiten.

„Eure Bilder gefallen mir!“, befindet er und lächelt Marco an. „Euer Strich ist gut …Wisst Ihr, es ist erstaunlich, dass Ihr gerade jetzt hierher kommt. Ihr müsst Beschützer im Himmel haben. Es dauert nicht mehr allzu lange und ich werde meine Verlobung feiern. Wir sind schon in den Vorbereitungen. Da habe ich nicht so viel Zeit, um zu malen. Ich habe gerade zwei Lehrlinge, die helfen mir, Bilder fertigzustellen, meine Farben zu besorgen und zu mischen. Sie sind für alles da und ich kann mich auf sie verlassen. Ich kann aber gut noch ein Paar Hände gebrauchen. Mit ihnen könntet Ihr arbeiten, Marco, und kennenlernen, wie es bei mir zugeht im Atelier. Wenn es Euch zusagt, auch solche Arbeiten zu verrichten, die kein Malen sind, könnte ich einen Versuch mit Euch machen. Zum Beispiel könntet Ihr über Land fahren und Farben besorgen. Meine zukünftige Frau Saskia kann ihre Dienerin aus Leeuwarden nicht mitnehmen. Diese ist gerade niedergekommen und will die Heimat nicht verlassen. Sie hat Angst, in einer großen Stadt wie Amsterdam zu leben. Wir suchen eine Dienerin für Saskia.“ Er blickt Amina an. Sie lächelt und nickt. Dann erklärt er ihnen, dass er nichts bieten könne außer einem kleinen Raum neben seinem Atelier, wo sie schlafen können und Verpflegung bekommen, falls ihnen das genüge.

Marco verbeugt sich und bedankt sich höflich. Er versichert Rembrandt, dass dies viel mehr ist, als er es jemals erwartet hätte. Dieser entschuldigt sich und fragt Amina, ob sie schwanger sei. Sie verneint errötend.

„Ihr könntet meiner Frau helfen und beistehen mit den Kleinigkeiten und größeren Aufgaben, die jeder Tag hier bringt. Könnt Ihr das und wollt Ihr das? Nach dem, was ich von Euch gehört habe, könntet Ihr es wohl schaffen?“

„Ja, mein Herr, gern, das werde ich so gern tun!“, erwidert Amina und betet wieder danke, lieber Gott, danke, dass du einen Weg für uns öffnest. „Ihr seid zu gütig. Ein Wunder ist geschehen“, flüstert Amina dankbar, kniet nieder und will Rembrandt die Hand küssen. Er entzieht sie ihr und hilft ihr auf.

„Das müsst Ihr nicht“, sagt er. „Geertje wird Euch jetzt die kleine Kammer zeigen, wo Ihr erst mal schlafen und Euer Gepäck ablegen könnt. Dann wird sie Euch mitnehmen und vorstellen! Morgen könnt Ihr anfangen, Marco, dann sehen wir, wie Ihr Euch einlebt. Einen Vertrag für Euch können wir später aufsetzen, wenn Ihr bleiben mögt und es mir und Euch gefällt.“

Er reicht Marco seine Hand – überglücklich schlägt dieser ein.

Marco Lanzetti wird Rembrandts Lehrling. Saskia erweist sich als umgängliche Herrin. Sie ist freundlich und nicht allzu launisch. Die ersten Wochen zeigen sich als sehr anstrengend – für Marco und auch für Amina. Beide lernen niederländisch, indem sie die neuen Wörter aufschnappen und in ihrem Gedächtnis bewahren. Spät am Abend schreiben sie sich diese Wörter auf. Sie können ihr Glück kaum fassen und sind jeden Tag dankbar.

Mara hätte sich ihr eigenes Eintauchen heutzutage in die Welt Rembrandts niemals so vorstellen können, wie es vor 388 Jahren geschah.

Teil 1: 2018

Unverhofft kommt oft

(Sprichwort aus dem 17. Jahrhundert)

Dunkle Straßen, Männer die Laternen tragen, flackernde Fackeln an Häusern, das Horn des Nachtwächters, der zur Ruhe bläst … das bin ja ich, mitten auf dieser Straße. Ich kenne mich hier nicht aus und doch – es kommt mir so bekannt vor. Sie dreht sich um. Niemand folgt mir, ich muss keine Angst haben, ich finde den Weg gleich, an den ich mich erinnere. Was für ein schönes Haus steht dort, die rosa Rosen leuchten in der Dunkelheit, so ein großer Busch. Und eine dunkelgrüne Tür, woher kenne ich dieses Haus aus roten Klinkern mit dem Türklopfer? Wo habe ich es schon gesehen? Ich muss schon einmal hier gewesen sein. Sie nimmt den Klopfer und lässt ihn sanft gegen die Tür fallen. Dumpf ist das Klopfen zu hören. Die Tür öffnet sich, ein heller Feuerschein leuchtet von innen …

Mara wacht auf. Wo bin ich? Sie dreht den Kopf hin und her. Seltsamer Traum. Als die Tür sich öffnete, war der Traum zu Ende. Wie spät ist es? Sie nimmt ihr Handy und schaut nach der Uhrzeit und ob sie Nachrichten hat. Schon zehn Uhr.Keine Nachricht von Jopie. Mist. Ob ich ihn anrufen soll? Lieber nicht, er ist vielleicht im Konferenzraum. Er hätte ja auch mal schreiben können. Ich werde duschen gehen, packen und dann auschecken. Vielleicht meldet er sich bis dahin. Irgendwie habe ich ein merkwürdiges Gefühl, so als ob dieser Tag ganz anders verlaufen würde, als es verabredet war. Irgendwie fühle ich es tief innen in meinem Bauch, da, wo ich immer sofort fühle, wenn irgendetwas nicht stimmt. Ich mag es gar nicht, wenn mein Bauch sich auf diese Weise meldet, trotzdem – es ist es immer ein zuverlässiges Zeichen, dass sich etwas ändern wird.

Mara faltet den Stadtplan von Amsterdam sorgfältig zusammen, steckt ihn in die Vortasche ihres dunkelblauen Rucksacks. Ihre Bücher “Aminas Welt“, “Der Maler und das Mädchen“ sowie die Bildbiographie “Rembrandt“ legt sie in die Innentasche, fühlt in ihrer Jacke nach Münzen, blickt sich überall im Zimmer um, ob auch nichts mehr herumliegt, öffnet die Tür und geht die steile Treppe hinunter zur Lobby. Bezahlt hat sie gestern Abend. Weil niemand da ist, legt sie den Schlüssel wie verabredet auf den Tresen. Heute Nacht wird sie woanders schlafen, sicher nicht allein.

Der Traum letzte Nacht lässt mich einfach nicht los. Die Erinnerung daran fühlt sich nicht unangenehm, wenn auch sehr merkwürdig und geheimnisvoll an. Ich rieche sogar noch den Brandgeruch der Fackeln. Alles schien irgendwie so vertraut. Eigenartig. Wer wohl die Tür geöffnet hat? Zu blöd, dass ich gerade dann aufwachen musste. So ist es immer, wenn ich träume, gerade dann, wenn noch etwas passieren soll, wache ich auf. Schon seltsam. Aber jetzt muss ich mich auf das, was kommt, konzentrieren. Ich bin so gespannt darauf.

Sie denkt an ihre Pläne, daran dass sie Jopie gleich wiedertreffen wird und sie sich küssen werden, lange. Was für ein guter Küsser er doch ist. Ihr wird schon warm bei dem Gedanken, wie es sein wird, wenn Jopie sie an die Hand nehmen und sie gemeinsam Amsterdam erkunden werden – als Erstes das Rembrandthaus. Später dann will er sie seiner Mutter vorstellen. Sie wollen sogar zu ihr nach Hause gehen und “theetijd“ halten. So nennen die Niederländer den Plausch am Nachmittag, selbst wenn sie dann auch mal Kaffee trinken und nicht nur Tee. Morgen früh will sie dann wieder nach Deutschland fahren. Sie hat so viel vor. Zuerst kommt die Semesterarbeit über Rembrandt. Sie hat schon nächste Woche einen Termin bei ihrem Professor. Wenn ich heute die Bilder gesehen habe, werde ich genügend Notizen haben. Sie ist schon weit gekommen. Gleich nach dem Besuch im Rembrandthaus wird sie im Café noch Notizen für einen beeindruckenden letzten Teil fertig schreiben können, so hofft sie. Vielleicht schaffe ich es noch, bevor Jopie mich abholt. Wie Jopies Mutter wohl so ist? Viele Sohnmütter sind ja sehr feindlich, Freundinnen gegenüber. „Meine Mutter ist cool“, hat Jopie ihr versichert, „mach dir bloß keine Sorgen.“ Wenn nur dieser Traum nicht wäre. Irgendwie war er auch etwas unheimlich – diese Dunkelheit. Der Traum muss in einer früheren Zeit gespielt haben. Heutzutage tragen wir ja keine Fackeln als Straßenbeleuchtung.

Ihr Handy vibriert, eine WhatsApp von Jopie:

Darling, Mara, leider klappt es heute nicht mit der Besichtigung und dem Besuch bei meiner Mutter. Sei nicht traurig, wir holen es nach. Ich komme hier nicht weg, muss nach der Konferenz noch etwas besprechen, das nicht aufgeschoben werden kann. So sorry. I love and miss you. Will write you my new arrival … kisses xxx Jopie.

Oh nein, darling Mara, my foot – wieder und wieder diese unvorhergesehenen Änderungen. Wenn es nicht so frustrierend wäre, könnte man sagen, das Leben mit Jopie wird nie langweilig. Will ich das wirklich, jedes Mal? Immer versuchen, alles positiv zu sehen! Beinahe weint sie vor Enttäuschung. Jetzt weine ich auch noch. Tante Elvira hat immer gesagt, nie wegen eines Mannes weinen. Sie sind es nicht wert. Sie ist zu enttäuscht und lässt die Tränen kommen. Was soll ich jetzt machen? Ich werde nach dem Museumsbesuch zurück nach Frankfurt fahren.

Hektisch schreibt sie zurück: Und was ist mit dem Besuch bei deiner Mutter?

Never mind, ich habe ihr Bescheid gegeben, wir holen den Besuch nach. Warte einfach auf mich im Hotel. Ich melde mich!

Dann sehen wir uns gar nicht mehr. Ich habe schon ausgecheckt. Wir wollten uns doch zur Besichtigung treffen. Dann gehe ich allein,

schreibt sie enttäuscht und gibt sich Mühe, sich nicht zu ärgern. Oh, warum muss Jopie so sein? Dauernd etwas Neues. Er wollte mir Amsterdam zeigen und vor allem die Bilder im Rembrandthaus Museum erklären. So wie er sich jetzt verhält, sehe ich vollkommen schwarz für irgendetwas Schönes heute. Warte auf mich im Hotel! Was denkt er sich? Wir sind doch nicht verheiratet. Ehefrauen lassen sich sowas vielleicht gefallen, aber doch ich nicht. Ins Rembrandthaus gehe ich aber, wo Rembrandt die ersten Jahre mit seiner Saskia gelebt hat, muss ich sehen. Ich brauche die Informationen. Ich habe mich so gefreut. Jetzt wird alles nur eine Pflichtübung sein, es macht gar keinen Spaß mehr. Sie seufzt. Die Stadt Amsterdam soll ja alles restauriert haben, so, wie es damals ausgesehen haben soll. Ich werde nach dem Besuch gleich zum Bahnhof fahren, die Züge fahren ja stündlich nach Frankfurt. Meine Notizen schreibe ich dann im Zug.

Sie hebt den Kopf, reckt die Schultern nach hinten und geht zielstrebig der Jodenbreestraat entgegen. Der Wind bläst ihr die halblangen braunen Haare nach hinten. Es hat aufgefrischt. Seeklima eben. Sie schnuppert. Die Luft ist so frisch hier, wie in Hamburg. Sie schaut sich in einem Schaufenster im Vorbeigehen an, alles ok. Die Jeans schmal an den Beinen, die bordeauxrote Kapuzenjacke leicht und warm, die Sneakers bequem … Ich werde mir den Tag nicht verderben lassen von Jopie. Sie lächelt. Lächeln bleibt die beste Hilfe, die gute Laune zurückzugewinnen. Sie atmet tief ein mit ihrer geraden, sommersprossigen Nase und geht zügig weiter. Es ist so ein herrlicher Morgen. Langsam kommt ihre Vorfreude trotz der Enttäuschung zurück. Sie fühlt sich lebendig. Ich bin hier, in Amsterdam ...Ich darf mir Jopies Benehmen nicht zu Herzen nehmen. Immerhin kenne ich ihn schon über ein Jahr und weiß, wie sprunghaft er sein kann. Außerdem habe ich es immer ertragen, ohne ihm einmal zu zeigen, dass es so nicht geht. Heute zeige ich es ihm. Ich war viel zu nachsichtig mit ihm. Ich weiß nicht, wo ich stehe. Vielleicht sollte ich mich von Jopie trennen. Ich will aber nicht diese Bemerkungen hören, na ja, eben Fernbeziehung, da weiß man ja, wie so etwas endet. Amsterdam ist so eine tolle Stadt, zu jeder Jahreszeit lohnt sich ein Besuch. Ich habe Glück, gerade hat der Frühling begonnen. Wie schön wäre es, mit jemandem in diesen wunderbaren Straßen zu laufen, der zärtlich meine Hand hält ... Es soll wohl nicht sein. Es ist vielleicht ein Zeichen, jetzt einen Schlussstrich zu ziehen. Warum muss ich mich so quälen? Was denkt er sich bloß? Sie schnuppert wieder. Die blühenden Bäume duften stärker als der Dieselgeruch stinkt. Sie holt ihren Stadtplan heraus und öffnet ihn. Hier ist der berühmte Waterlooplein und von da ist es nicht mehrweit,die Ecke muss es sein. Sie bewundert die alten Giebelhäuser, alle so hübsch und kunstvoll verziert, eins anders als das andere in Stil und Farbe. Ich, Mara Reiser, bin in Amsterdam und gleich in dem Haus, in dem Rembrandt so lange lebte. Sie macht einen kleinen Hüpfer auf dem Straßenpflaster. So schön ist es. Ich muss jetzt aufhören, wegen Jopie so traurig zu sein, nimmt sie sich vor.

Sie kann nicht aufhören zu staunen. Alles fasziniert sie: die Ausflugsboote auf den Grachten, das glänzende bewegte Wasser, wenn die Schiffe hindurchpflügen, die hübschen Boutiquen und Kunstgalerien, die alten Bäume überall, die Blumenbepflanzung. Sogar hier und da ein Tulpenkissen. Ich werde keine Zeit haben, die Tulpenfelder zu genießen. Ob ich wiederkommen werde, ist jetzt wohl fraglich. Hier ist alles so leicht und die Menschen so freundlich. Wenn ich ein zweites Mal kommen sollte, dann lieber nach Delft, dort soll es auch so schön sein. Das Haus von Jan Vermeer lohnt sich bestimmt auch zu besichtigen. Das möchte ich auch noch sehen. Dann kann ich selbst sehen und mir vorstellen, wie es war, als die Geschichte von “Girl with a pearl earring“ von Tracy Chevalier stattfand. Es ist so schön, in den alten Gebäuden in die Zeit versetzt zu werden, als Menschen in ihnen lebten, nachzuspüren, wie es früher dort zuging. Es heißt ja, dass der Geist der Bewohner immer in einem Haus oder einer Wohnung bleibt …

Mehr und mehr redet Mara sich gedanklich den Abschied von Jopie ein. Sie sieht keine Zukunft mit ihm. Eine Beziehung sollte nicht traurig sein. Auf gar keinen Fall darf ich mich jetzt hängen lassen, es ist doch zauberhaft hier. So eine Leichtigkeit des Lebens. Jopie hat selbst schuld. Na ja, er kennt seine Stadt schon. Wenn er mich wirklich lieben würde, dann müsste es eine Freude sein für ihn, sie mir zu zeigen. Ich darf nicht mehr an ihn denken, sondern jetzt nur noch an Rembrandt und sein Leben. Ich bin so gespannt, wie es innen in dem Haus ist. Sie haben es ja nachgebaut, so wie es in der Rembrandtzeit war. Einfach phantastisch sieht es im Internet aus. Ah, da vorn ist es ja schon. Maras Gedanken wollen einfach keine Ruhe finden.

Sie geht etwas schneller, und als sie im Museum angekommen ist, findet sie zum Glück keine allzu lange Schlange an der Kasse vor. Sie kauft ihr Ticket, einen Führer durch das Haus und schaut sich danach in der Eingangshalle um. Sie sieht die Plakate der laufenden Ausstellung: Ferdinand Bol und Govaert Flinck. Das waren doch die Schüler, die Meisterlehrlinge Rembrandts. Wie toll, dass gerade jetzt, wo ich hier bin, ihre Bilder gezeigt werden. Das Plakat muss ich unbedingt kaufen. Sie lebten doch in den 1630er Jahren, gerade als Rembrandt seine zukünftige Frau Saskia heiraten wollte. Was für Zufälle, so hatte ich es ja in dem Buch “Aminas Welt“ gelesen, indem Marco auch davon träumte, bei Rembrandt zu lernen. Und jetzt diese Plakate. Vielleicht hat Marco diese beiden sogar kennengelernt. Es kann kein Zufall sein, dass ich das Buch über Amina und Marco gefunden habe. Zu gern möchte ich wissen, ob es eine Fortsetzung gibt über Aminas Leben hier in Amsterdam mit Marco.

Ihr wird ganz heiß vor Begeisterung. Jopie rückt weiter in den Hintergrund. Obwohl sie trotzdem aufmerksam um sich blickt … Könnte es nicht sein, dass er doch noch auftaucht? Als sie zur Ausstellung gehen will, macht ein Aufseher sie höflich darauf aufmerksam, ihren Rucksack zur Aufbewahrung zu bringen. Bevor sie ihn abgibt, holt sie eine kleine Tasche heraus und tut ihr Handy, ihre Geldbörse mit Kreditkarten und einem Fünfzig-Euro-Schein sowie Kleingeld, ihre Federtasche, ihr kleines Notizbuch, Notizen müssen sein, wenn ich durch das Haus gehe, ihre Papiertaschentücher und ihren Labello hinein. Auch das Buch steckt sie ein, zieht sich vorher noch den Labello über die Lippen und steckt die Münze zum Abholen des Rucksacks in ihre Jackentasche. Sie zeigt alles dem Aufseher, der sich ein wenig wundert, dann jedoch zustimmend nickt.

Bevor sie nach Amsterdam gekommen ist, hat sie sich sorgfältig über das Leben Rembrandts informiert. Neben der nötigen Fachliteratur für die anstehende Semesterarbeit hat sie wieder und wieder in der Bildbiographie von Christopher White gelesen. Sie will versuchen, einige Bilder darin hier im Original wiederzufinden. Jopie hatte ihr Amsterdam als Ort der Ausspannung und Unterhaltung sehr empfohlen. Er hatte zwei Semester mit ihr studiert, bevor er wieder in die Niederlande zurückgekehrt war. Mara interessiert sich natürlich hauptsächlich für die Malerei Rembrandts, aber das Privatleben solcher berühmten Menschen und Künstler findet sie auch so bewegend, denn es beeinflusste ja ihre Kunst außerordentlich. Sie blickt sich um und entscheidet sich dann, den im Museumsführer empfohlenen Rundgang zu machen.

Fantasie haben, heißt nicht, sich etwas auszudenken, es heißt, sich aus den Dingen etwas zu machen.

Thomas Mann (1875-1955)

Mara schlendert durch die Räume. Sie ist vollkommen versunken in dieser Welt von früher, die so liebevoll angeordnet und restauriert worden ist. Die dunklen alten Möbel, die fast wie neu aussehen – beeindruckend. Die Farbpulver auf einem Tisch leuchten in ihren Schüsseln. Sie bestaunt jeden Gegenstand, riecht an den Farben. Sie meint sogar, das Leinöl zu riechen, womit sie angerührt worden sind. Reine Einbildung. Klar, die sind von heute, aber sie liebt es, an Farben zu riechen. Es erinnert sie an den Geruch von frisch gedruckten Büchern.

Überall an den Wänden hängen Rembrandts Gemälde, Zeichnungen und viele Radierungen. Sie geht an einer Wand entlang, an der ein Bild von Saskia mit Kleinkind sie sehr rührt. Es ist die Wand, hinter der die Küche liegt, wie sie auf dem Grundriss entdeckt. Sie findet die Tür zur Küche, schaut kurz herein, geht aber erst nach oben, um Rembrandts Wohn- und Schlafzimmer zu finden. Im Schlafzimmer stehen die Feuerstelle und der in die Wand eingelassene Alkoven im Mittelpunkt – dies spiegelt ganz die friesische Tradition. Sie stellt sich vor, wie Saskia dort mit ihren Babys saß oder lag, so wie Rembrandt das Thema auf vielen Bildern festgehalten hat. Im Wohnzimmer findet sie Gemälde von Rembrandts Zeitgenossen. Truhen und zwei Stühle sind an der Wand platziert und auch eine – verschlossene – Feuerstelle in der Mitte der Seitenwand. Eingerahmt ist sie von zwei antiken Figuren. Es sieht so aus, als ob sie den Kaminsims mit den Köpfen stützen. Alle Feuerstellen sind mit verzierten eisernen Ofenplatten verschlossen. Sie schaut sich um, lässt die Atmosphäre auf sich wirken, geht noch einmal zurück ins Schlafzimmer. Sie will sich Notizen machen über die Anordnung der Möbel, die schöne Decke bewundern, die auf dem Bett liegt. Der kleine Tisch mit einem Kerzenleuchter und dem Sessel davor hat es ihr angetan. Rechts vom Bett steht noch eine Kommode. Diese alten Möbel sind viel schöner als unsere modernen Fertigprodukte, die zwar erschwinglich sind, aber auch nicht allzu lange halten. Diese hier sind für die Ewigkeit. Obwohl die Möbel teilweise auch nachproduziert wurden, kann ich mir vorstellen, dass die Alkoven das Original sind. Sie sind ja in die Wand eingelassen. Ich will noch mal nach unten in die Küche gehen und mir die Feuerstelle anschauen. Danach werde ich meinen Rucksack abholen, im Café werde ich mich etwas ausruhen, den Katalog über das Rembrandt Haus durchgehen und dabei einen Kaffee trinken. Dann wird es Zeit, zum Bahnhof zu gehen und einen Zug zurück nach Frankfurt zu suchen. Eine gewisse Traurigkeit überkommt sie bei diesen Gedanken. Nicht mehr dran denken, ermahnt sie sich innerlich.

Sie geht jetzt weiter in die Küche, alle Feuerstellen in den Zimmern oben und unten sind untereinander angeordnet, klar, das macht Sinn. Die Tür zur Küche steht offen, zwei andere Besucher schauen sich dort um, sie nickt und die Gedanken in ihrem Kopf stehen nicht still. Dieser Schlafplatz hier muss für die Köchin oder Magd gewesen sein, ah, da ist noch eine kleine Kammer, wer weiß, wer da geschlafen hat? So schön war es früher, so eine Kammer zu haben, die an die Küche grenzt. Das kenne ich von Altbauwohnungen, für die Bediensteten früher. So praktisch. Tante Elvira in Hamburg in der Isestraße hat auch so eine Kammer, da wohnte früher Lisa, ihr Mädchen für alles – ach, was hatten wir für Spaß. So viele Spiele machte sie mit mir, wenn sie Zeit hatte. Heizen musste Lisa nicht mehr, aber sonst hatte sie genug zu tun.

Was für ein Leben damals – all die Feuerstellen zu beheizen und vorher das Holz herbeizuschaffen, laufen ihre Gedanken zurück in die Vergangenheit der Rembrandt Familie. Zwischendurch kann sie ihre Gedanken an Jopie nicht abschalten, sie kommen wieder und wieder. Sie versucht, sie auszublenden, will sich nicht mehr ärgern. Aber so einfach ist das nicht. In der Küche blickt sie sinnend auf die Feuerstelle. Die fasziniert sie am meisten. Die Feuerstelle, Dreh- und Angelpunkt jeder Küche. Der Tisch sieht zwar alt aus, vielleicht ist er aber auf alt gemacht. Wie in der Weihnachtsgeschichte von Felix Timmermans “St. Nikolaus in Not“, sieht es hier aus, wo die kleine Cecilie am Ende das Schokoladenschiff, die “CONGO“, im Kamin findet. Ein Kamin und eine Küche bergen so viele Geheimnisse, das wussten die Menschen schon in den alten Kulturen. Nur ungern trennt sie sich von dieser interessanten Küche, geht zurück durch den Empfangsraum zum Café und sucht sich einen Platz am Fenster. Der Kaffeeduft macht ihr bewusst, wie durstig sie ist und auch ein wenig angeschlagen. Eine hübsche junge Frau, gekleidet wie es auf Bildern der Rembrandtzeit zu sehen ist, mit der weißen Haube, dem blauen Mieder über einer weißen Bluse und dem weiten blauen Rock mit einer gestickten Schürze darüber, fragt nach ihren Wünschen. Sie lächelt freundlich und bringt den gewünschten schwarzen Kaffee für Mara und ein Stück Käsekuchen. Mara studiert die Radierungen im Katalog und bewundert die feinen Striche. Sie liebt die Porträts von Saskia. Der ganze Kaltnadelprozess dieser Radierungen – faszinierend. Das Selbstporträt von Rembrandt und Saskia ist einfach umwerfend. Er hat es 1636 geschaffen. Da waren sie drei Jahre verheiratet. Ach, Amina, ich muss immer wieder an sie denken. Selten hat mich eine Romanfigur so gefesselt. Ob es damals wohl geklappt hat, dass Marco bei Rembrandt Lehrling sein durfte? Ich sollte langsam zum Bahnhof gehen. Schade, die Stadt beindruckt mich in unerklärlicher Weise. Und dann der Traum heute Morgen … Noch einmal muss ich mir das Selbstporträt im Original anschauen. Soviel Zeit muss ich mir nehmen. Dann kann ich gehen und Amsterdam verlassen. Sie seufzt. So schön hätte es sein können …. Bis jetzt haben wir ja diese Fernbeziehung ganz gut hingekriegt. Aber nervig ist es.

Als die Uhr von der nahen Kirche viermal schlägt, packt sie ihre Sachen zusammen, steht auf, wendet sich zur Uhr im Café, um die Zeit zu vergleichen – 16:04 Uhr jetzt – und geht dann die Wand entlang, wo das Porträt hängt. Es ist wie ein Zwang, der sie vorwärts schiebt. Sie steht jetzt wieder vor dem Porträt, blickt in Saskias Gesicht und nimmt wahr – Oh, was ist jetzt? – wie das Bild sich auf einmal wellengleich bewegt, immer größer wird. Es nimmt inzwischen fast die ganze Wand ein. Staunend sieht sie zu, wie ein vertikaler Riss entsteht, er wird länger und öffnet sich jetzt in der Breite.

Träume ich? Was geschieht hier? Ihr ist eiskalt, sie fühlt einen starken Wind und hält sich an ihrem Gürtel mit der kleinen Tasche fest.

Als ob sie von unsichtbaren Händen gezogen und getragen wird, steigt sie wie in Trance durch den Riss hindurch, fliegt dann durch eine Dunkelheit. Sie sieht gar nichts mehr, fliegt und fliegt. Es geschieht alles gleichzeitig – mal langsam, mal schnell – es wird jetzt heller, ein schwaches Licht wie von einem Feuerschein und Kerzen. Sanft landet sie auf ihren Füßen. Sie steht in der Küche, es ist die Küche von vorhin, aber so anders …

Teil 2: 1633

Freitag, 13. Mai 1633

… das ist doch die Küche, in der ich eben noch war … Sie reibt sich die Augen, blickt sich um … Wie kann das sein – was ist geschehen? Es ist dieselbe Küche, aber doch anders, die Feuerstelle ist jetzt offen … Sie nimmt den riesigen Kessel wahr, der an Ketten über der großen Eisenplatte hängt, die das Feuer bedeckt. Durch ein Loch züngelt die Flamme, aus dem Kessel dampft es und riecht würzig nach gutem Essen. Ich bin auf einmal hungrig,obwohl ich ja gerade den Käsekuchen gegessen habe.

Ein weiterer Unterschied zu vorhin ist der lange Holztisch, der jetzt so aussieht, als ob er dort wohl schon sehr lange gestanden haben muss. Viele Furchen durchziehen die Oberfläche, man sieht sie durch die Bemehlung. Einige Mägde arbeiten an den Längsseiten und klatschen und klopfen einen großen Teig. Mara hört Lachen und eine Sprache, die sie nicht versteht. Wo bin ich? Sie ist verwirrt. Es ist warm in der Küche. An der einen Schmalseite des Tisches sitzt eine junge Frau, dunkle Locken ringeln sich aus der weißen Haube, ihre blaue Schürze bedeckt den roten Rock, sie schält Kartoffeln. Sie sieht so aus, wie ich mir Amina vorstelle, geht es Mara durch den Kopf, während sie die geschäftigen Mägde beobachtet. Sie dreht sich kurz um – kein Riss ist mehr in der Wand zu sehen. So, als ob gar nichts geschehen wäre. Niemand scheint mich entdeckt zu haben. Alle sind so beschäftigt. Sie fühlt sich unwohl in ihren Jeans, den Turnschuhen, der Jacke und der Tasche. Da erinnert sie sich - mein Rucksack, er ist in der Garderobe des Museums, ihr wird ganz kalt. Meine Sachen ... zum Glück istmein Handy hier und mein Geld und meine Kreditkarte …

Die junge Frau mit den dunklen Locken blickt auf. Ihre Blicke treffen sich. Es muss Amina sein, es kann gar nicht anders sein, ja, ich weiß es einfach, es ist Amina ... Mara hebt die Hand und macht ein Zeichen, dass Amina kommen möge und geht dann rückwärts der Tür in der Ecke entgegen. Die junge Frau steht auf, spricht mit einer der Mägde, geht Mara nach, die schon die Küche verlassen hat und geradeaus einen düsteren Flur entlang geht. Was ist das für ein merkwürdiger Zufall? geht es Amina durch den Kopf. Woher kommt diese Frau? Ich kenne sie nicht, sie winkt mir und ich folge ihr. Irgendetwas sagt mir, dass ich keine Angst haben muss. Es wird nichts Schlimmes geschehen. Sie macht sogar einen ängstlichen Eindruck. Am Ende ist Tageslicht durch eine offene Tür zu sehen, die auf einen Hof führt. Amina geht ihr nach, Mara dreht sich um, vergewissert sich, dass sie ihr folgt, tritt dann hinaus und sieht den Hof.

„Ich bin Mara“, sagt sie, als sie nebeneinander stehen, „bist du Amina?“

„Ja, ich bin Amina! Aber woher weißt du das?“

„Ich habe in einem Buch über dich und Marco gelesen und dass ihr nach Amsterdam gehen wolltet. Ist er auch hier?“

„Ja, er ist hier! Wieso weißt du das auch, woher kennst du mich?“

Sie blickt Mara an. Wie sie aussieht, sie trägt Hosen wie ein Mann. Oder hat sie sich verkleidet, wie ich damals auf unserer Reise?

Mara betrachtet den Hof, nimmt alles wahr. Es ist, als ob sie einen Film anschaut, immer noch wie in Trance und verwirrt. Sie sieht den Brunnen in der Mitte, daneben ein Kälbchen und dahinter, das muss ein Esel sein. Oh, und ein Taubenschlag in der Ecke, weiße Tauben, ein gutes Omen, und da picken Hühner. Was ein Glück, hier ist keiner. Ist das ein Hund dort hinten? Er spitzt ja die Ohren. Und die alten Mauern, das Kopfsteinpflaster – als ob ich in ein Gemälde der alten Meister geraten bin. Was ist bloß geschehen?

Sie schnüffelt ein wenig und wundert sich über den Stallgeruch, der in der Luft hängt. Bestimmt kommt der von den Tieren. Ich habe das Gefühl, dass ich jetzt in einer anderen Zeit bin, es kann ja gar nicht anders sein. Es soll ja früher schrecklich gerochen haben. Wie kann es sein, dass ich jetzt hier bin und mit Amina? Der Traum – sollte es das hier bedeuten? Oder bin ich in einem neuen Traum und wache gleich auf?

Sie wendet sich Amina zu. „Entschuldige, ich weiß selbst nicht, was eben passiert ist. Ich versuche, es dir zu erklären. Ich war eben in einem Museum, dem Rembrandt Haus, da ist auf einmal eine Wand aufgegangen, ich wurde hineindurchgezogen und nun bin ich hier.“

„Hier ist das Haus, in dem Rembrandt wohnt!“, antwortet Amina mit ihrer dunklen, weichen Stimme in einem deutschen Dialekt, den Mara, die in Hamburg aufgewachsen ist, so nicht kennt. Aber sie versteht sie.

„Ja, Amina, ich habe diese Küche vorhin angeschaut. Sie war fast genau wie hier. Natürlich war sie leer, nur den Tisch kann man sehen. Das Feuer war aus. Sie ist jetzt ein Museum. Auch Bilder, die Rembrandt gemalt hat, werden dort ausgestellt. Man sieht, wie sein Haus aussah, damals!“

Ja, damals, und was ist jetzt? Bin ich etwa in Aminas Zeit gefallen? Was ist mit mir geschehen? Ich bin doch nicht “Alice im Wunderland“ oder Lucy aus “Das Wunder von Narnia“.

Was ist wohl ein Museum, fragt sich derweil Amina.

„Amina, sag mir bitte, welches Datum haben wir heute, und welches Jahr ist jetzt?“

Mara zittert.

„Es ist der 13. Mai 1633, heute ist Freitag, warum fragt du?“

Auch das noch, denkt Mara, kein Wunder, Freitag, der 13!“

„Weil in meiner Zeit heute der 13. Mai 2018 ist. Allerdings ein Sonntag. Amina, ich verstehe es ja selbst nicht. Ich bin nach Amsterdam gekommen, um mir die Bilder von Rembrandt anzusehen. Als ich fertig war, trank ich noch einen Kaffee im Museumscafé. Dabei betrachtete ich das Porträt von ihm und seiner Frau Saskia in einem Katalog. Ich wollte dann zum Bahnhof gehen und nach Frankfurt zurückfahren, aber vorher nochmal das Original des Bildes anschauen.“

Sie erzählt Amina alles, genauso, wie sie es erlebt hat, und je mehr sie davon spricht, umso ungläubiger wird sie selbst und muss gleichzeitig akzeptieren, dass sie nun hier im Amsterdam von 1633 ist und nicht mehr von 2018.

Amina hört ihr aufmerksam zu, versucht das Gehörte zu verstehen oder zumindest zu akzeptieren. Es scheint keine Gefahr von dieser Fremden auszugehen. Kann ich ihr glauben? Gibt es das, durch ein Bild gezogen zu werden wie sie mir erklärt. „Ich kann es mir nur sehr schlecht vorstellen“, erwidert sie und schüttelt den Kopf. Sie sieht nicht aus wie eine Lügnerin. Am besten erkläre ich ihr, wo sie hier ist.

„Du bist in Mijnheer Rembrandts Haus, und ich helfe gerade in der Küche, weil zwei Mägde krank sind. Wieso ist das Bild in einem Katalog und was ist ein Katalog überhaupt?“

Sie blickt Mara an. Maras Herz klopft bis zum Hals. Sie zittert. Kurz erklärt sie ihr, was ein Katalog ist und fährt dann fort:

„Du bist es, du bist Amina? Ich fasse es nicht. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr ich an dich gedacht habe, die ganzen letzten Wochen. Was soll ich denn jetzt bloß machen? Ich habe nichts dabei, nur mein Handy, meine Geldbörse und Kleinigkeiten. Aber mein Buch. Hier!“

Sie zieht das Buch aus der Tasche und zeigt es Amina. Amina traut ihren Augen kaum. Mara zeigt ihr die Seiten, auf denen sie erwähnt ist und erzählt ihr etwas von dem, was sie gelesen hat. Amina staunt und liest. Ob ich ihr wohl trauen kann? Aber was ich hier sehe, stimmt alles. Kann es Hexerei sein? Was Marco wohl sagen wird? Irgendwie wirkt sie verstört, diese Mara. Ich muss etwas mehr über sie herauskriegen, sie schaut nett aus. Sie ist vielleicht in meinem Alter. Amina nickt und fragt dann: „Was hast du jetzt vor? Wohin willst du?“

„Amina, ich will nach Frankfurt fahren, wo ich wohne und studiere. Ich bin hier, weil ich mehr über Rembrandt wissen wollte.“

„Nach Frankfurt am Main? Das ist nicht weit von Seligenstadt, woher ich komme.“

„Genau, ist es auch nicht.“

„Mara, du bist hier, im Haus des Kunsthändler Hendrick van Uylenburg. Er ist Frau Saskias Onkel und hat Mijnheer Rembrandt und seiner Nichte erlaubt, hier zu wohnen, bis sie selbst ein Haus gefunden haben. Sie wollen bald heiraten.“

Mara hört ihr staunend zu. Genau das habe ich selbst in einer Biographie Rembrandts gelesen. Und das alles ist doch über 380 Jahre her. Doch ich bin jetzt hier, hier in diesem Hof. Sie presst ihre Hände gegen die Schläfen und schüttelt den Kopf.

Amina legt ihre Hand auf Mara Arm.

„Beruhige dich. Du hast bestimmt eine lange Reise gemacht!“

„Ja, lang und dann durch die Zeit. Nächste Woche muss ich in Frankfurt meinen Professor treffen!“

„Es ist besser, du bleibst jetzt erst mal hier. Es ist schon später Nachmittag.“ Sie blickt sie prüfend an. „Ich kann dir Sachen von mir geben, die du anziehen kannst. Sie müssten dir passen, damit du dich nicht so abhebst von den Frauen hier. Aber erst gehe ich zu Saskia, meiner Herrin, und erzähle ihr von dir. Sie ist sehr nett. Der Herr ist verreist. Was denkst du?“

Mara ist sprachlos. Ich bin jetzt gefangen, ich kann nicht mehr zurück. Ich habe nichts dabei außer dem, was ich anhabe. Der Rest ist in dem Rucksack. Außerdem darf ich nicht allzu viel sagen. Nur Amina darf es wissen. Es ist einfach ungeheuerlich. Nachher denken Saskia und ihr Mann noch, dass ich eine Hexe bin. Ich weiß ja nicht, wie sie sind. Sie schluckt, bevor sie doch noch antwortet: „Ja, geht das denn so einfach? Was soll ich sagen? Ich spreche ja auch gar nicht Niederländisch. Sie muss an Jopie denken und was er wohl zu dieser Geschichte sagen würde. Wahrscheinlich würde er mich auslachen.

Amina schlägt ihr vor, zu warten.

„Ich gehe zu Frau Saskia und frage, ob wir zu ihr kommen können. Setz‘ dich hier so lange hin, ich komme gleich zurück.“

„Amina, ich möchte sehr gern hier bleiben, bei dir. Ich muss selbst erst alles verstehen. Ich komme aus dem Jahr 2018 und hier ist es 1633, einfach so, seit ich durch den Tunnel geflogen bin. Ich bitte dich, mir zu glauben. Es geschah einfach, ich konnte mich nicht wehren.

Amina schaut Mara mit großen Augen an.

„Mara, ich will dir helfen. Marco ist unterwegs, um in den Dörfern nach Pflanzen zu suchen, aus der die Farben gezogen werden, er kann das am besten. Sonst malt er hier im Atelier mit Rembrandts Meisterlehrlingen. Ich kann meine Herrin fragen, ob sie Arbeit für dich hat. Sie kennt auch andere Familien, vielleicht weiß sie, wo du bleiben kannst. Du musst doch irgendwo schlafen. Jetzt bist du erst mal hier.“

„Danke, Amina, das ist einfach großartig von dir. Danke für dein Vertrauen!“

Sie setzt sich ruhig auf den Mauervorsprung und bemüht sich, gelassen zu bleiben. Sie beginnt zu beten, was sie sonst nicht regelmäßig tut, nur in Situationen, in denen sie sich unsicher fühlt. Ich habe ja keine andere Wahl, als hier zu warten und zu sehen, was geschieht. Dann werde ich weitersehen. Was sie wohl mit meinem Rucksack machen, wenn er nicht abgeholt wird? Vielleicht denken sie, er gehört einer gefährlichen Organisation. Alles, was auf mich hinweist, habe ich ja hier. Bestimmt machen sie ihn auf. Mara ist den Tränen nahe. In was bin ich hier nur geraten? Sie ist ratlos, trotzdem dankbar, dass sie Amina gefunden hat. Sie zieht ihr Handy aus der Tasche. Sie versucht es anzumachen – nichts. Die Oberfläche bleibt schwarz. Zum Glück habe ich das Ladegerät dabei. Ladegerät? Ihr fällt ein, dass sie hier vergeblich nach Steckdosen suchen wird… Ihre Gedanken laufen wie ein Karussell in ihrem Kopf herum. Was denkt Amina wohl von mir? Sie will mir helfen, und das ist einfach unglaublich nett, wo sie mich doch gar nicht kennt. Jopie wird sich fragen, wo ich bin. Alle werden fragen, sogar Tante Elvira, die sich sonst doch gar nicht so sehr für mich interessiert. Aber das ist mir jetzt auch nicht wichtig, was habe ich denn für eine Wahl? Ich bleibe erst mal hier, bei Amina, wenn Frau Saskia es erlaubt. Sonst muss ich ein Gasthaus suchen. Wie kann ich das bezahlen? Oh, lieber Gott, bitte steh‘ mir bei in dieser Lage, nur du kannst mir helfen. Amen. Und wie soll ich denn überhaupt zurückkommen? Wieder kommt ihr der Traum von heute Morgen in den Sinn. War es wirklich erst heute Morgen? Derselbe Tag?

Sie blickt auf und sieht, dass Amina zurückkommt. Sie lächelt unsicher.

---ENDE DER LESEPROBE---