Ausgespielt - Theresa Prammer - E-Book

Ausgespielt E-Book

Theresa Prammer

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Beschreibung

Date mit dem Tod

Nicht weniger als das perfekte Match verspricht die Partnervermittlung AMOR, auch langjährige Singles sollen hier garantiert den Richtigen und die große Liebe finden. Doch der Schein trügt. Eine Kundin wird tot aufgefunden, ermordet, dann verschwinden immer mehr Frauen – ein Fall für Kommissarin Liv Dorn mit ihrer außergewöhnlichen Begabung, in fremde Identitäten zu schlüpfen. Als verdeckte Ermittlerin begibt sie sich ins Dating-Spiel. Doch schon bald spürt sie, dass sie Gefühle für einen der Verdächtigen entwickelt – und der Fall wird zu einem gefährlichen Balanceakt zwischen der Suche nach Wahrheit und unerwarteter Liebe.

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Seitenzahl: 418

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Cover

Titel

Theresa Prammer

Ausgespielt

Thriller

Insel Verlag

Impressum

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eBook Insel Verlag Berlin 2025

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 5100.

Originalausgabe© Insel Verlag Anton Kippenberg GmbH & Co. KG, Berlin, 2025

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München

Umschlagabbildung: FinePic®, München

eISBN 978-3-458-78312-1

www.insel-verlag.de

Widmung

Für Lars Kossack, der das Leben gefeiert hat.

Deine Geschichten leben weiter. Danke für alles!

Und für Joseph, immer und immer wieder.

Motto

»Das Herz will, was es will – oder es ist ihm egal« –

Emily Dickinson

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Motto

Prolog

1.  

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  10 Tage zuvor. AMOR

2.

3.

4.

5.  

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  Liv

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  Alice

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  Alice, 1986

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  Liv

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  Alice, 1986

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  Liv

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  Alice, 1986

20. Liv

21.

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  Alice, 1986

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  Liv

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  Alice, 1986

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  Liv

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  Alice

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  Liv

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  Alice, 1986

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  Alice

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  Liv

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  Alice, 1986

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  Liv

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  Alice

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  Liv

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  Alice, 1986

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  Alice

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  Alice, 1987

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  AMOR

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  Liv

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  Alice, 1987

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  Alice

50. Alice

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  Alice, 1987

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  Alice

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  Liv

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  Alice, 1987

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  Liv

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  Liv

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  Liv

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  Liv

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  Alice

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  Alice, 1987

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  Liv

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  Alice, 1987

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  Liv

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  Alice, 1987

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  Liv

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  Alice, 1987

102. Alice

103.  

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  Liv

104.

105.  

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  Alice

106. Liv

107. Alice

108.  

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  Liv

109.

Epilog

Danke

Liebe Leserin, lieber Leser,

Informationen zum Buch

Ausgespielt

Prolog

»Ich weiß, dass du lügst.«

Meine Stimme zittert. Die Waffe fühlt sich kalt in meinen Händen an. Noch immer spüre ich seine Berührung, nehme seinen Geruch an mir wahr.

Er scheint zu überlegen, öffnet den Mund.

»Kein Wort«, stoppe ich ihn.

Seine Augen bohren sich in meine. Als würde sein Blick sagen, du irrst dich, hör auf damit.

Aber ich weiß, dass ich recht habe. Er hat diese Frauen getötet. Und ich wäre die Nächste gewesen.

Ich entsichere die Waffe. Das habe ich schon tausend Mal getan, trotzdem fühlt es sich an wie das erste Mal. Eine Träne rinnt über meine Wange.

»Liv«, flüstert er. »Tu das nicht.« Er macht einen Schritt auf mich zu. »Ich kann alles erklären.«

»Bleib stehen.« Ich strecke die Arme durch, ziele auf seine Stirn. »Bleib verdammt noch mal stehen und halt den Mund. Wo ist sie?«

Ein Klirren. Er hat die Tassen fallen lassen und stürmt auf mich zu.

Ich drücke den Abzug.

1.  //  10 Tage zuvor

AMOR

Du bist schön. Du bist klug. Du bist witzig. Du bist ein Hauptgewinn. Vielleicht ist er ein Arschloch, vielleicht ist er die Liebe deines Lebens. Egal, was er ist – du wirst damit klarkommen.

Lana starrt auf ihr Spiegelbild. In spätestens zehn Minuten muss sie los, wenn sie pünktlich sein will. Und was macht sie? Steht da in Unterwäsche und bekommt nicht mal einen geraden Lidstrich hin, weil ihre Hand zittert. Warum ist sie bloß so nervös?

Das ist nicht ihr erstes Blind Date. Es ist ihr sechstes. Und somit ihre letzte Chance.

Die ersten fünf Verabredungen waren nett. Schöne Abende, unterhaltsam, aber nicht weltbewegend. Keine Sensation, wie ihr versprochen worden war. Sonst hätte sie nie fünftausend Euro ausgegeben.

»Sechs potentielle Partner werden für Sie ausgewählt. Wir können nicht voraussagen, bei welchem es passiert. Aber wir versichern Ihnen, einer davon ist Ihre große Liebe.«

Heute Abend muss es also so weit sein. Kein Wunder, dass sie so aufgeregt ist.

Eine Zigarette, das ist es, was sie jetzt bräuchte. Aber sie hat vor drei Jahren mit dem Rauchen aufgehört, als bei ihr Asthma diagnostiziert wurde. Außerdem hat sie bei AMOR angegeben, Nichtraucherin zu sein, und das wäre der unpassendste Zeitpunkt, wieder anzufangen. Statt der Zigarette nimmt sie einen Zug aus dem Asthmaspray.

Einatmen. Ausatmen. Krieg dich ein.

Am liebsten würde sie Amanda anrufen, ihre Freundin kann sie beruhigen, wie niemand sonst. Doch Amanda ist gegen AMOR, sie traut der ganzen Sache nicht. Es würde nur wieder auf eine Diskussion hinauslaufen.

Sie seufzt und setzt den Eyeliner erneut an. Die Zickzacklinie auf ihrem Augenlid sieht aus wie eine Comiczeichnung. Nur mehr acht Minuten. Mit den Fingern verwischt sie die dunklen Striche und verteilt glänzenden Lidschatten darüber. Nicht perfekt, aber passabel. Der dunkelrote Lippenstift betont den Mund. Das wird gehen.

Sie tuscht sich so eilig die Wimpern, dass sie sich ins Auge fährt. Es beginnt sofort zu tränen. Noch fünf Minuten. Sie stolpert ins Schlafzimmer. Mit einer Hand wischt sie sich die Tränen weg, mit der anderen zwängt sie sich in die enge Jeans, die auf dem Bett liegt. Während sie die lila Seidenbluse zuknöpft, schlüpft sie in die schwarzen High Heels. Wo sind die goldenen Ohrringe? Ihr Handy vibriert. Eine Nachricht. Das Taxi ist vorgefahren.

So sollte es nicht sein. Sie hatte sich bei einem Glas Sekt und ihrer Liebeslieder-Playlist entspannt in der Badewanne voller Vorfreude für den Abend einstimmen wollen. Doch dann kam der Anruf aus dem Krankenhaus. Vor drei Stunden. Ein Auffahrunfall, ihrer Mutter ging es gut, ihr war nur ein wenig schwindlig. Der Arzt wollte sie zur Beobachtung dabehalten, Lana musste ihr ein paar Sachen bringen. Wäre ihr Verhältnis besser, hätte Lana von der Verabredung erzählt. Schließlich war es ihre Mutter gewesen, die ihr – übergriffig wie immer – von der neuen Partnervermittlung AMOR erzählt hatte.

»Du bist vierunddreißig, Schatz, das ist kein Alter, sich noch irgendwelchen Illusionen hinzugeben.«

Illusionen, da kann sie nur lachen. Ihre Mutter hat keine Ahnung, was für Unmengen an Irren und Verlierern sich auf Tinder und Co. herumtreiben. Wie viel Zeit sie mit sinnlosen Unterhaltungen und ernüchternden Dates vergeudet hat.

Matches gibt es genug. Sie ist groß, blond, schlank und achtet auf sich. Aber nicht eine Verabredung war gut verlaufen. Deshalb hat sie sich nach ein paar Wochen frustriert von jeder dieser Plattformen abgemeldet.

Im echten Leben jemanden für eine ernsthafte Beziehung kennenzulernen, scheint fast noch schwieriger. Sie findet sich nicht anspruchsvoll, auch wenn ihre Mutter ihr das immer wieder vorwirft. Was ist falsch daran, einen Mann zu wollen, der nett ist und humorvoll, dazu gut aussieht (am liebsten durchtrainiert), gepflegt und einen Kopf größer ist (mindestens), mit modischem Geschmack? Einfach ein Mann, mit dem sie sich sehen lassen kann.

In der Vergangenheit hat sie wenig Glück gehabt, sie zieht immer wieder dieselben Typen an. Zuerst schwören sie ihr die große Liebe, und wenn die erste Begeisterung verfliegt, scheint »Zuverlässigkeit« ein Fremdwort zu sein.

Laut AMOR soll das jetzt anders werden.

Während sie intime Details ihrer Vorlieben und prägende Ereignisse aus ihrer Vergangenheit preisgab, hatte man sie überwacht. Ihr Herzschlag, ihr Hautleitwert und ihre Mikromimik wurden von der KI erfasst und ausgewertet.

Mittendrin bekam sie Zweifel wegen dieser totalen Durchleuchtung. Wo blieb die Romantik? Das Schicksal?

Lana wirft einen letzten Blick in den Spiegel, wuschelt sich durch die blonde Mähne und legt eine Schicht Chanel No. 5 auf. Der Lieblingsduft ihrer Großmutter soll ihr Glück bringen.

2.

Das Restaurant am Hohen Markt ist voll besetzt. Die Kellnerin führt Lana an den von AMOR reservierten Tisch. Ihr Date wartet bereits. Er hat ihr den Rücken zugewandt. Als er aufsteht und sich umdreht, ist alles, was Lana denken kann: »Wollen die mich verarschen?«

Dieser Typ gehört in die Kategorie von Männern, die Lana nicht mal nach fünf doppelten Tequilas eines Blickes würdigt. Selbst wenn sie die High Heels auszieht, ist er ein paar Zentimeter kleiner als sie. Die streichholzkurzen schütteren, blonden Haare sollen wohl den hohen Haaransatz kaschieren. Er trägt einen grauen Anzug von der Stange, ein langweiliges blassblaues Hemd – und wozu um alles in der Welt hat er eine Krawatte um? Will er ihr eine Versicherung verkaufen?

Der Typ ist ein Büroangestellter, wie er im Buche steht. Atemberaubend nichtssagend.

Entweder ist AMOR der größte Schwindel aller Zeiten und sie einer hervorragenden Marketingstrategie aufgesessen. (Was erklären würde, warum sie im Vorfeld nie ein Foto der potentiellen Dates erhalten hat.) Oder dem Programm ist ein gewaltiger Fehler unterlaufen. Sie flucht innerlich, als ihr bewusst wird, dass sie nicht mal einen Rettungsanruf vereinbart hat. Wie sonst, wenn eine ihrer Freundinnen sie nach einer gewissen Zeit bei einem Blind Date anruft und um Hilfe bittet, damit sie gegebenenfalls verschwinden kann.

Falls er ihre Reaktion bemerkt, lässt er sich nichts anmerken. Er lächelt schüchtern – auch das noch. Der Kerl wirkt wie ein Welpe im Tierheim, der hofft, adoptiert zu werden.

Sie nimmt einen tiefen Atemzug und unterdrückt ein Seufzen. AMOR kann sich auf was gefasst machen, sie wird die Partnervermittlung verklagen.

Er streckt ihr die Hand entgegen.

»Guten Abend. Es freut mich, dich kennenzulernen. Mein Name ist Florian Stinger.«

Lana erstarrt. Seine Stimme. Die Art, wie er spricht, passt nicht zu seiner Erscheinung. Dieser warme dunkle Ton. Männlich und tief. Gleichzeitig so sanft, als würde sie mit jedem Wort gestreichelt. Ihr Herzschlag beschleunigt sich, ein Schauer geht durch ihren Körper. Wie ein elektrischer Schlag. Sein Blick ruht auf ihr.

»Lana«, sagt sie heiser und schüttelt seine Hand. Sein Händedruck ist fest, warm, weich.

»Darf ich?«, fragt er und deutet auf ihre Jacke. Er kommt ihr näher. Sein Geruch. Sie schließt instinktiv die Augen. Noch nie hat ein Mann so gut gerochen. Es ist nicht nur sein Parfüm, das sie an Palmen, Strand und Meer erinnert. Es ist er selbst. Würzig und zugleich frisch. Ihr wird schwindlig.

Er berührt sie an der Schulter. Ein Bild blitzt in ihrem Kopf auf. Seine Hände auf ihrem nackten Körper. Seine Lippen an ihrem Ohr, während er ihren Namen flüstert.

Er rückt ihr den Stuhl zurecht, und sie muss sich zurückhalten, um nicht aufzustehen und an ihm zu schnuppern.

Wie kann dieser unscheinbare, unattraktive Mann so eine Reaktion in ihr auslösen?

»Ich hoffe, du bist nicht enttäuscht von mir«, sagt er mit dieser Stimme. »Ich wurde von AMOR vorgewarnt, aber mir war nicht klar, wie schön du bist.« Er lächelt. »Bitte entschuldige. So etwas hörst du sicher ständig. Nur der Form halber, du sollst dich nicht zu diesem Treffen verpflichtet fühlen.«

Lana kann nicht antworten. Sie kann nicht mal einen klaren Gedanken fassen, als die Kellnerin fragt, was sie trinken will.

Er wartet auf ihre Antwort und stößt ein erleichtertes Lachen aus, als sie sagt: »Ich würde dich gern kennenlernen, Florian.«

Sie bleiben nicht lange beim Small Talk. Es gibt Vorgaben von AMOR, man solle beim ersten Treffen nicht über den Beruf sprechen, kein Alter erwähnen – um zu garantieren, dass man den Menschen frei von sozialen Attributen kennenlernt. Doch keiner von beiden hält sich daran. Vielleicht hat es damit zu tun, dass er Psychologe ist und bei ihm gar nicht die Gefahr besteht, in Oberflächlichkeiten abzurutschen. Er sei auf Kinder spezialisiert. Leider habe er keine eigenen, was er manchmal bereue. Aber seinen Beruf liebe er, obwohl ihm die Schicksale seiner Patientinnen näher gehen, als gut für ihn sei. Wenigstens stumpfe er nicht ab, wie viele seiner Kollegen und Kolleginnen. Seine Ehrlichkeit ist verblüffend. Er interessiert sich für ihren Job als zahnmedizinische Fachangestellte. Und lacht, dass ihm die Tränen kommen, als sie von ängstlichen Patienten erzählt, die manchmal zu viele Beruhigungstabletten vor dem Behandlungstermin einnehmen, und dann hemmungslos die intimsten Geheimnisse ausplaudern. Noch nie hat sie einen Mann so zum Lachen gebracht. Vielleicht auch deshalb, weil kein Mann ihr je diese Aufmerksamkeit geschenkt hat. Die meisten Männer scheinen bei Unterhaltungen nur darauf zu warten, selbst wieder das Wort zu ergreifen.

Die Zeit fliegt dahin, und mit jeder Stunde scheint sich sein Gesicht zu verändern. Sie bemerkt plötzlich dieses Grübchen am Kinn, wenn er lächelt. Die tiefblaue Farbe seiner Augen. Die Art, wie er das Glas hält – geradezu liebevoll, als wäre es ein kostbarer Gegenstand. Überhaupt fällt ihr auf, wie behutsam er in seinen Berührungen ist.

3.

»Es tut mir leid, wir schließen jetzt«, unterbricht die Kellnerin ihr Gespräch. Ganz selbstverständlich reicht er ihr seine Kreditkarte und gibt ein mehr als großzügiges Trinkgeld.

Er hilft Lana in die Jacke und berührt sie dabei leicht an den Oberarmen. Eine Sehnsucht erfasst sie, das ist mehr als Erregung. Sie will ihn, gleich hier und jetzt. Er sieht sie an. Lana fühlt sich ertappt.

Sofort ist sie in Gedanken in dem Befragungsraum von AMOR:

»Was erregt Sie? Bei welchen Stellungen kommen Sie zum Orgasmus? Was für Arten des Vorspiels bevorzugen Sie?«

Wäre dieser Mann ausgewählt, wenn seine und ihre Antworten nicht harmonierten? Wahrscheinlich nicht. Sie will ihn in ihrem Bett, ihn auf und unter sich spüren. Seine Lippen kosten, seine Stimme hören, wenn sie sich lieben. Sie dachte, lebensverändernder Sex sei ein Mythos, aber bei der Vorstellung, mit ihm im Bett zu sein, wird ihr heiß.

Es ist nach Mitternacht, sie stehen unbeholfen vor dem Lokal auf der menschenleeren Straße, wie zwei Teenager.

Soll sie ihn fragen, ob er mit zu ihr will? Warten, was er vorschlägt?

Normalerweise hat Lana kein Problem, die Initiative zu ergreifen, doch dieses Mal ist es anders. Er räuspert sich. Sein Blick ist fragend. Zögernd. Sie sollte jetzt etwas sagen.

Gleichzeitig öffnen sie den Mund, halten inne. Und fangen beide an, schallend zu lachen. Lana kann sich gar nicht erinnern, wann sie sich das letzte Mal in der Gegenwart eines Mannes so gut gefühlt hat. Das ist doch verrückt.

»Ich habe das echt nicht erwartet«, gluckst sie. »Dieser Abend … ich war so skeptisch, was AMOR prophezeit hat. Aber jetzt …«

Sie muss sich zurückhalten, ihm nicht um den Hals zu fallen. AMOR ist wirklich jeden Cent wert.

Er tritt einen Schritt auf sie zu, streicht ihr eine Haarsträhne aus der Stirn.

»Darf ich dich küssen, Lana?«

Sie neigt den Kopf, blickt ihm tief in die Augen, ihr ganzer Körper prickelt.

Bei ihrem »Ja« stößt er einen Laut zwischen Freude, Lust und Erleichterung aus. Er zieht sie an sich. In dem Bruchteil der Sekunde, bevor seine Lippen ihre berühren, läutet sein Handy.

»Was …«, sagt er und lässt sie los. »Entschuldige bitte.« Er fischt das Handy aus der Sakkotasche. Runzelt die Stirn beim Blick auf das Display.

Normalerweise würde sie jetzt an eine eifersüchtige Freundin denken, die ihn anruft. Aber so etwas erscheint ihr bei ihm absurd. Fühlt sich so Vertrauen an?

»Das ist die Mutter eines Patienten. Ich habe ihr gesagt, sie kann sich jederzeit melden. Er durchlebt gerade eine schwierige Phase. Darf ich kurz rangehen?«

»Natürlich.«

Er meldet sich, sie sieht, wie er erschrickt. Die Sorge zeichnet sich in seinem Gesicht ab. Am liebsten würde sie ihn in die Arme schließen, seine Sorge mit ihm teilen.

»Schicken Sie mir die Adresse. Ich bin sofort da.«

Er muss weg, ein Notfall. Sein sechzehnjähriger Patient habe sich nach einem Wutanfall in der Garage eingesperrt. Wo auch das ganze Werkzeug lagert. Seine Mutter befürchte, er könne sich etwas antun.

Während sie auf ihre Taxis warten, nimmt sie sein Handy, tippt ihre Nummer ein und ruft sich selbst an. Zum Abschied umarmt er sie, es geht alles ganz schnell. Sie hätte ihn gern geküsst, aber der Moment soll nicht überschattet werden von der Sorge um seinen Patienten.

Kaum ist sie zu Hause, schickt sie ihm eine Nachricht mit ihrer Adresse.

»Falls du noch vorbeikommen willst.«

Dann putzt sie eine Stunde lang ihre Wohnung und räumt auf, bevor sie ins Bett geht. Mit einem Gefühl im Herzen, das sie noch nie empfunden hat. Sie kann nur an ihn denken, seine Augen, wie er redet, an seinen Geruch.

Die Erkenntnis überrascht sie so sehr, dass sie laut auflacht. Sie ist doch tatsächlich bis über beide Ohren verknallt. Das ist ihr das letzte Mal mit dreizehn passiert.

4.

Ein Geräusch weckt sie.

War das ihr Handy? Hat er geschrieben?

Die Digitalanzeige des Weckers zeigt 03:38. Sie greift nach dem Telefon auf dem Nachttisch. Tappt ins Leere. Ist es heruntergefallen?

Sie knipst die Nachttischlampe an. Es bleibt dunkel. Stromausfall? Nein, sonst würde auch der Wecker nicht funktionieren. Wahrscheinlich ist die Glühbirne kaputt. Sie schiebt den Oberkörper über die Bettkante, tastet auf dem Boden nach dem Handy.

Am anderen Ende des Schlafzimmers leuchtet es kurz auf. Sie verharrt eine Sekunde. Nein, da ist nichts, sie hat sich das eingebildet. Sie will weiter nach ihrem Handy suchen, da leuchtet es erneut. Das Display ihres Handys. Wieso liegt es dort?

Sie streckt ein Bein aus dem Bett und will aufstehen. Da bewegt sich plötzlich das Display in der Dunkelheit. Als würde es durch die Luft schweben.

Die Panik lässt sie erstarren. Sie will schreien, doch sie bekommt kaum Luft. Ihr Brustkorb ist wie zugeschnürt.

Das Display leuchtet weiter. Wird von ihr weggedreht, und der schwache Lichtschein fällt auf eine Gestalt.

Schemenhaft erkennt sie einen Kopf. Er ist glänzend schwarz. Eine Latexmaske.

Etwas Silbriges schimmert im Licht des Displays. Ein Messer. Der Anblick verstärkt den Krampf ihrer Lunge. Sie braucht dringend ihr Asthmaspray. Es hat auf dem Nachttisch gelegen. Wäre es noch dort, hätte sie es gerade ertastet.

Die Gestalt nähert sich ihr langsam. Bei jedem Schritt ist ein Quietschen zu hören. Das muss ein ganzer Latexanzug sein.

Das Display wird dunkel.

Sie hört die Schritte, schiebt sich ans Bettende. Für den Notfall hat sie ein zweites Asthmaspray in der Kommode unter dem Fenster. Ihre Bewegung scheint ihn zu irritieren. Es hört sich an, als wäre er stehen geblieben.

Der Selbstverteidigungskurs, den sie vor etlichen Jahren besucht hat, fällt ihr ein. Immer in Bewegung bleiben.

Sie muss zur Kommode. Im Nachttisch hat sie eine Taschenlampe. Weil im Fernsehen ständig von der Gefahr eines drohenden Blackouts die Rede ist.

Sie lehnt sich hinüber. So schnell sie kann, öffnet sie die Lade. Greift ins Leere. Plötzlich wird ein Lichtstrahl auf sie gerichtet. Sie reißt die Arme vor der blendenden Helligkeit hoch. Dieses Arschloch hat die Taschenlampe herausgenommen. Ihr Blut pulsiert in den Adern, sie ballt die Hände zu Fäusten. Der Lichtkegel bewegt sich langsam auf sie zu. Reflexartig greift sie nach ihrem Kissen, hält es vor sich. Spürt, wie daran gezogen wird. Sie lässt es los, rollt sich zur Seite, tritt mit nackten Füßen auf die Gestalt ein.

Ein Röcheln ist zu hören. Das Poltern der Taschenlampe, die zu Boden fällt. Sie hastet aus dem Bett. Es ist erneut stockdunkel. Das ist ihr Vorteil.

Rasch ist sie bei der Kommode, reißt die Lade auf. Zum Glück liegt das Asthmaspray da. Sie nimmt einen Zug, hechtet zur Tür. Ihre Lunge weitet sich, der Sauerstoff gibt ihr Kraft. Sie drückt die Türklinke und prallt mit der Schulter gegen das Holz. Die Tür lässt sich nicht öffnen.

Das kann nicht sein. Es gibt keinen Schlüssel, um abzuschließen. Irgendwas muss sie von außen verbarrikadieren.

Sie drückt erneut mit ganzer Kraft dagegen. Die Tür geht einen Spalt auf. Und sofort wieder zu. Da steht jemand davor. Der sie zuhält. Ganz in ihrer Nähe ist ein Laut, wie ein mechanisches Surren.

Was zur Hölle ist das?

Das Quietschen wird lauter, der Kerl kommt auf sie zu. Er hat die Taschenlampe aufgehoben.

Abermals stemmt sie sich gegen die Tür, so fest sie kann. Vergeblich. Sie dreht sich um, der Lichtkegel leuchtet neben sie.

Es ist ein Zeichen. Sie soll hinsehen.

Eine Videokamera. Sie ist alt. Groß. Wie aus den 80er Jahren. Und sie ist auf sie gerichtet.

5.  //  Liv

Ich sitze am Tresen, blättere in einer Zeitschrift und schlürfe an einer Cola, als die neuen Frauen gebracht werden.

Fünf Männer in Slimfit-Maßanzügen treiben die jungen Frauen in die verlassene Bar. Sie brüllen auf Englisch, schneller zu machen. Einige der Frauen stolpern über die zwei Stufen beim Eingang und helfen sich gegenseitig wieder hoch. Keine sagt ein Wort. Nicht einmal ein Murmeln ist zu hören. Es müssen zwanzig sein, vielleicht sogar mehr.

Das wäre der richtige Zeitpunkt, um sich in die kleine Küche hinter der Bar zu verziehen.

Keiner der Slimfits beachtet mich. Sie sind viel zu sehr mit den Frauen beschäftigt. Es ist riskant, aber ich bleibe sitzen. In den vergangenen Wochen habe ich gelernt, dass ich durch das Zuhören – ich nenne es nicht belauschen, denn ich bin immer für alle sichtbar – mehr erfahren kann als aus irgendwelchen Akten.

Aus den Lautsprechern erklingt leise und blechern Barry Manilow, der die Copacabana besingt. Ich habe den Oldie-Sender eingestellt gelassen, der in der Früh für die Putzfrauen läuft. Alles soll so sein wie immer.

Ich darf nur nicht daran denken, was diese Frauen auf dem Weg von ihrer Heimat bis hierher durchgemacht haben. Sie wurden mit den weißen Lieferwagen gebracht, die immer im Innenhof parken und vor zwei Tagen verschwunden sind.

Sie werden mit dem Versprechen einer geregelten Bezahlung gelockt. Sie wollen hier genug Geld verdienen, um sich ein gutes Leben zu finanzieren und ihre Familien in der Heimat zu unterstützen. Dass von ihrem Lohn Unterkunft, Essen und Miete für das Zimmer, in dem sie ihre Freier empfangen, abgezogen wird, wissen sie sicher nicht. Und sie haben auch keine Ahnung, was ihnen bevorsteht. Ohne Möglichkeit, wieder nach Hause zu kommen.

Sie sind nicht nur hier gestrandet – sie sind Sklavinnen.

Einer der Slimfits schaltet die Beleuchtung ein. In schmutziger Kleidung stehen die Frauen aneinandergedrängt, keine älter als Anfang zwanzig. Ängstliche Blicke und verweinte Augen.

Ich scanne die Gesichter sofort nach dem meiner Schwester Melina ab. Es ist ein Reflex, wie eine Art Suchprogramm, das ständig läuft, egal, wo ich mich befinde. Unwillkürlich greife ich an die Mulde meines Schlüsselbeins.

Melina war gerade fünf geworden, als sie vom Klettergerüst gefallen und auf einem spitzen Stein gelandet ist. Im Krankenhaus hat man die Wunde am Schlüsselbein mit sieben Stichen genäht. Ein Jahr danach verschwand Melina.

Jeden Abend, wenn ich meine kleine Schwester ins Bett brachte, klopfte sie sich voller Stolz auf die Narbe und sagte: »Ich mache meine eigenen Stunts. Ich bin Melina-Supergirl.«

Das war vor siebzehn Jahren. Natürlich wird sie sich verändert haben – wenn sie überhaupt noch lebt. Vielleicht ist es unrealistisch, aber ich zweifle keinen Moment daran. Solange ihre Leiche nicht gefunden wird, lebt meine Schwester, und ich werde sie wiedererkennen.

Keine der Frauen ist Melina. Der ersten Erleichterung folgt die Enttäuschung.

Ein Mädchen mit langen roten Haaren bemerkt meinen Blick. Ihre Lippen formen stumm »Help, please«, ihre Augen wirken leblos.

Sie ist jünger als die anderen. Ich muss den Blick von ihr losreißen und stoße mich vom Tresen ab. Rasch trete ich hinter die Bar, bevor einer der Slimfits auf mich aufmerksam wird.

Das Rotlichtmilieu hat sich seit einigen Jahren verändert, zumindest was die Außenwirkung betrifft. Bordelle sind Laufhäusern gewichen, betrieben von Immobilienfirmen, Bauunternehmen und Werbefirmen, die für das Tagesgeschäft Sub-Firmen anheuern. Das Fast-Food-Franchise-Konzept hat sich beim käuflichen Sex durchgesetzt.

Die Fassade hat einen neuen Anstrich bekommen, aber im Inneren ist alles schlimmer denn je. Als gäbe es keine Wünsche mehr, die nicht erfüllt werden können.

Es ist acht Uhr morgens, in zwei Stunden soll das Laufhaus für die ersten Kunden aufsperren. Bis dahin werden die Frauen in winzigen Zimmern verteilt und umgezogen sein. Und eine Menge Männer stehen für diesen Tag auf der Warteliste. Weswegen jeder nur dreißig Minuten bekommt. In dieser Zeit kann er für den üblichen Stundensatz alles machen, was er will.

Ich habe darüber gelesen. Es ist der erste Freitag jeden zweiten Monat. In den einschlägigen Foren im Darknet wird er »Frischfleischtag« genannt.

Seit sechs Wochen arbeite ich hier und habe nicht damit gerechnet, so schnell den Dienst in der Bar an diesem Tag zu übernehmen. Meine Kolleginnen haben mich eingeteilt, weil ich sagte, ich brauche am Wochenende frei, da meine Nichte Erstkommunion habe und ich zu meiner Familie aufs Land fahren wolle. Für so etwas hat man Verständnis. Das Leben draußen geht in geregelten Bahnen weiter.

So wie bei den Stammgästen, die heute kommen und nicht gesehen werden wollen. Ich weiß, wer sie sind, habe mir ihre Gesichter gemerkt. Viele von ihnen sind angesehene Mitglieder der Gesellschaft, Familienväter, Ehemänner oder alleinstehend. Woher die jungen Frauen kommen oder ob sie freiwillig hier sind, kümmert sie nicht. Sie wollen sie dominieren, ihre Angst spüren.

6.

Meine Kolleginnen haben mich vorbereitet, dass sich am »Frischfleischtag« keiner an die Bar setzt oder etwas aufs Zimmer bestellt. Meine Aufgabe heute ist lediglich, die Männer mit Getränken aufs Haus zu besänftigen, wenn eine sich zu sehr wehrt.

Den Frauen darf ich keinen Alkohol ausschenken. An vergangenen »Frischfleischtagen« war es ein paar Mal vorgekommen, dass sie zu viel getrunken und ihre Freier angekotzt haben.

Wir teilen uns zu dritt die Schichten; die beiden Kolleginnen haben früher selbst im Gewerbe gearbeitet und sind deutlich älter als ich. Was niemand hier ahnt oder sieht.

Dank des flüssigen Latex auf meinen Wangen, meiner Stirn, dem Kinn, dem Hals und den Händen, der schwarzen Perücke, meiner leicht eingefallenen müden Haltung, den durch Spezialkleber hängenden Augenlidern, den falschen, von Zigaretten verfärbten Zähnen, der Brille, und den Schaumstoffteilen an Brust, Bauch und Hintern sehe ich etliche Jahre älter und total verlebt aus.

Das dick aufgetragene Make-up, die übertrieben geschminkten Augen, die falschen Wimpern, der verschmierte Lippenstift und der Geruch nach Zigaretten und Alkohol, der in dem engen roten Rollkragenpullover hängt, vervollständigen das klischeehafte Bild einer ehemaligen Prostituierten.

Hier bin ich nicht Olivia Dorn, genannt Liv. Sondern Emmi, 66Jahre alt, Tante von zwei Nichten, alleinstehend.

Diese Verwandlung dauert jeden Tag zwei Stunden, und ich brauche eine weitere, um das ganze Zeug wieder aus meinem Gesicht zu bekommen.

Die Slimfits schleichen jetzt um die Frauen herum und rufen sich gegenseitig zu, wie sie die neue »Ware« beurteilen, welche gutes »Material« ist.

Ich poliere die Gläser mit einem Geschirrtuch. Ein grauenhaft süßlicher Geruch steigt mir in die Nase. Bananen. Irgendwer hier isst eine. Ich konzentriere mich auf das Glas und bemühe mich, flach zu atmen. Weder der Geruch von verwesenden Leichen noch von Blut oder Exkrementen macht mir viel aus – es gibt nur eines, bei dem sich mir der Magen umdreht: Bananen, in welcher Form auch immer.

»Hey, du hinter der Bar.«

Einer der Slimfits kommt auf mich zu. Ausgerechnet der mit der Banane in der Hand.

Ich konzentriere mich auf seine Augen, während er abbeißt und mit offenem Mund kaut.

Er ist riesig, seine Muskeln spannen den teuren Anzugstoff.

Einer der anderen Slimfits ruft ihm zu: »Boris, schau her. Hier ist eine ganz Scharfe.«

Doch er winkt ab und fixiert mich, ohne zu blinzeln. Es ist ein Fehler, dass ich mich nicht in die Küche verzogen habe.

Vor ein paar Tagen haben sich zwei der Prostituierten nach ihrer Schicht an die Bar gesetzt. Ich spreche nie mit ihnen, je unauffälliger ich bin, desto schneller vergessen sie, dass ich da bin. Während sie ihre Cubra Libres tranken, fingen sie an, auf Englisch miteinander zu reden. Über Kunden, den »Frischfleischtag«, die Slimfits. Und über Boris. Er sei der Schlimmste. Ein Sadist.

»Ich hab dich hier noch nie gesehen. Wie heißt du?«

»Emmi.«

Er sieht mich durchdringend an, verengt die Augen zu Schlitzen.

»Wieso bist du so früh hier?«

Ich stecke mir eine Zigarette an und nehme einen tiefen Zug. Mit einer Hand stütze ich mich am Tresen ab und blase den Rauch zur Seite, um den Geruch der Banane zu vertreiben.

»Hab die Putzfrauen reingelassen«, sage ich mit knarzender Stimme. »Ich wohne außerhalb der Stadt, kann nicht die ganze Zeit hin- und herfahren. Da bleib ich lieber hier.«

Ich halte seinem Blick stand. Einer der Slimfits ruft erneut seinen Namen. Er reagiert nicht und legt die leere Bananenschale auf den Tresen. Mit einer schnellen Bewegung werfe ich ein Geschirrtuch darüber.

»Willst du was?«, frage ich und deute mit einer Kopfbewegung zu den aufgereihten Wodka- und Whiskeyflaschen.

Er sagt nichts, aber seine Augen wandern zu meinem ausgestopften Busen. Nach seinem Blick zu urteilen, ist Emmi nicht zu alt für ihn. Ich nehme einen weiteren Zug, huste und ziehe Schleim aus meiner Lunge hoch.

»Verdammter Raucherhusten«, krächze ich.

Nichts verdirbt die Anziehungskraft so schnell wie ein unsichtbarer Schleimpfropfen, der in ein Taschentuch gespuckt wird.

Er verzieht angewidert den Mund.

»Mach mir einen doppelten Espresso.«

Ich nicke müde, schalte die Maschine ein.

Als ich mich mit dem fertigen Kaffee umdrehe, ist er verschwunden.

7.

Die Frauen stehen noch immer hier – bis auf die Rothaarige. Auch Boris ist nirgends zu entdecken. Mein Puls wird schneller.

Die anderen Slimfits lachen, sie teilen die Frauen in verschiedene Gruppen auf, bedeuten ihnen, sich auszuziehen. Eine junge Frau kommt zur Tür herein. Ich habe sie hier noch nie gesehen. Sie trägt Jeans, Sneaker und eine Baseballkappe. Es wirkt vollkommen deplatziert, als sie die Slimfits fröhlich mit Küsschen auf die Wangen begrüßt. Sie blickt über die Frauen hinweg und scheint genau zu wissen, was sie zu tun hat.

Aus ihrem Rollkoffer verteilt sie kleine Päckchen mit Schokolade, Energydrinks, Duschgel, Shampoo, Unterwäsche, Einwegrasierer, Lippenstift und Wimperntusche.

Ich nehme den Kaffee und gehe zu einem der Slimfits.

»Wo ist Boris? Ich soll ihm seinen Espresso bringen.«

Er beachtet mich nicht und starrt gierig auf eine der Frauen. Einige fangen an zu weinen, während sie sich bemühen, beim Umziehen ihre nackten Körper zu verstecken.

Ich versuche es bei einem anderen.

»Wahrscheinlich in der eins. Stell die Tasse vor der Tür ab und klopf an. Geh nicht rein«, sagt er.

Ich nicke, drehte mich um, da spüre ich seinen festen Griff am Oberarm. Der Kaffee schwappt aus der Tasse.

»Auf keinen Fall gehst du rein, hörst du?«, zischt er. Ich nicke erneut, ohne ihm in die Augen zu sehen. Sonst hätte ich ihm den Kaffee ins Gesicht geschüttet.

Zimmer 1 liegt einen Stock höher, am Ende des Ganges. Obwohl ich noch ein paar Meter entfernt bin und über die Lautsprecher Abbas »Fernando« aus dem Radio erklingt, höre ich erstickte Schreie.

Ich klopfe, nichts tut sich. Ich klopfe abermals. Boris reißt die Tür auf. Er trägt nur ein Unterhemd, seine Hose ist geöffnet. Sein Schweiß riecht widerlich.

»Was?«

Hinter ihm liegt die Rothaarige gekrümmt auf dem Bett, nackt. Sie ist fast noch ein Kind. Mit ängstlich aufgerissenen Augen

Von ihrer Schläfe tropft Blut auf das Laken. Er hat sie mit einem Handtuch geknebelt, ihre Hände am Rücken zusammengebunden. Sie windet sich beim Versuch, sich zu befreien.

»Du sollst runterkommen.«

Schon als ich es ausspreche, weiß ich, es ist ein Fehler. Unten wartet niemand auf Boris. Wenn er zurückkommt, wird er seine Wut an dem Mädchen auslassen. Und an mir.

»Warum?«

»Weiß ich nicht.«

Ich strecke ihm die Tasse entgegen. Er lacht auf.

»Verpiss dich.«

Er schlägt mir die Tasse aus der Hand, das Porzellan zerschellt am Türstock. Mit einem Ruck knallt er die Tür zu. Sofort ist das erstickte Schreien wieder zu hören. Ein lautes, knirschendes Geräusch folgt. Die Schreie werden durchdringender. Panischer.

Ich hämmere gegen die Tür. Höre Boris’ lautes Fluchen. Und mache mich bereit.

Kaum wird geöffnet, schnellen meine Fäuste auf Boris’ Kehlkopf. Wieder und immer wieder.

Im ersten Augenblick überrumpelt, stolpert er nach hinten. Ich stürme auf ihn zu. Bevor ich wieder zuschlage, packt er meine Hände. Ich ducke mich, versuche, mich aus seinem Griff zu drehen. Ein Schmerz explodiert in meinen Handgelenken. Mit ganzer Kraft trete ich nach seinen Weichteilen. Zumindest versuche ich das, doch er springt zur Seite. Er schlägt mir so fest ins Gesicht, dass ich hinfalle.

»Scheiße, was …«, höre ich seine Stimme.

Aus dem Augenwinkel sehe ich die hellbraune Strähne, die sich unter meiner Perücke gelöst hat.

Im nächsten Moment ist er über mir, fixiert meine Arme, seine Finger kratzen mir Latexteile vom Gesicht. Ich habe gegen die erste Regel meines Einsatzes verstoßen.

Niemals die Tarnung gefährden.

Ich habe keine Chance gegen ihn. Ich spüre den Schmerz, als er mir die Perücke herunterreißt.

Mit seiner freien Hand zückt er eine Waffe und hält mir den Lauf vor das Gesicht.

»Wer bist du?«

»ZUGRIFF«, brülle ich, so laut ich kann.

8.

Klirrendes Glas und die trampelnden Schritte des Einsatzkommandos vermischen sich mit den Schreien der Mädchen. Obwohl die Aufnahme wackelt, kann man sehen, wie das Chaos ausbricht. Das Video stammt von der Bodycam eines der Polizisten, die das Laufhaus gestürmt haben. Zwei Stunden zu früh.

Bernhard Moser, mein Vorgesetzter, stoppt das Video. Seit Jahren spricht er davon, in Rente zu gehen. Ich weiß, er wird das nicht tun. Wahrscheinlich werden sie ihn aus seinem Büro raustragen müssen. Er wendet den Blick aus dem Fenster auf den tristen Innenhof des BKA.

»Weißt du, was ich alles tun musste, wem ich in den Arsch gekrochen bin, damit du nicht suspendiert wirst? Wir waren so dicht dran, Liv, so dicht … du hast nicht nur dich und die ganze Aktion gefährdet, wir werden nie wieder so nah rankommen an diese Arschlöcher.«

»Sie wissen jetzt, dass sie aufgeflogen sind.«

»Na und? Glaubst du, die finden nicht andere Wege?«

Moser hat recht. In den letzten sechs Wochen habe ich viel mitbekommen, was nicht in meinen Berichten gelandet ist. Ich habe mir ihre Gesichter gemerkt. Weiß von ihren Vorlieben. Und wo ich sie finden werde.

»Denkst du, es hat dich jemand erkannt?«, fragt Moser und dreht sich zu mir.

Ich schüttle den Kopf.

»Boris könnte jetzt hier stehen, und er wüsste trotzdem nicht, wen er vor sich hat.«

Keine Ahnung, ob das stimmt. Aber Moser scheint beruhigt. Es gibt einen Grund, warum ich intern »Das Chamäleon« genannt werde. Wenn ich eine Sache perfekt beherrsche, dann die Fähigkeit, mich zu verwandeln.

»Du hättest deinen Einsatz nie gefährden dürfen.«

»Sollte ich zusehen, wie er das Mädchen vergewaltigt? Vielleicht sogar umbringt?«

Moser geht nicht auf die Frage ein. Was soll er auch sagen? Er presst den Kiefer so fest zusammen, dass die Halsmuskeln hervortreten. Er nimmt eine Akte aus seinem Schreibtisch.

»Du bekommst einen neuen Fall. Ich habe mich dafür eingesetzt. Es geht um AMOR.«

»Wer ist das?«

»Nicht wer, sondern was. AMOR ist eine Partnervermittlung.«

»Nennt man das heute noch so?«

Er zuckt mit den Achseln.

»Was weiß ich. Sie sind gut im Geschäft, ein neues Konzept, mit Erfolgsgarantie.«

Moser greift an die Stelle, wo er bis letzten Herbst seinen Ehering getragen hat. Ich habe ihn nie gefragt, woran seine Ehe gescheitert ist. Er fängt meinen Blick auf und lässt die Hand sofort sinken.

»Die haben bis jetzt alles aus den Medien rausgehalten, da mischen ein paar sehr einflussreiche Leute mit. Aber seit der Sache gestern wird ihnen das nicht mehr gelingen.«

Ich öffne die Akte. Darin sind Fotos. Ein Schlafzimmer. Hellblaue Bettwäsche mit rosa Pfingstrosen. Eine Frauenleiche auf dem Boden. Blond. Sie liegt auf der Seite, den Kopf in Richtung Wand, mit dem Rücken zur Tür. Ihr nackter Körper ist voller Blut. Eine Großaufnahme ihrer durchschnittenen Kehle. Ihre Hände sind wie zum Gebet gefaltet und mit Kabelbinder fixiert. Ich versuche, jedes Mitgefühl zu verdrängen. Der Anblick wird mich in den Schlaf verfolgen. Ich klappe die Akte zu.

»Sie hat sich gewehrt. Lana Frick wurde gestern tot in ihrer Wohnung aufgefunden, nachdem sie nicht an ihrem Arbeitsplatz erschienen ist. Am Abend davor hatte sie eine Verabredung. Von AMOR organisiert.«

»Hat ihre Verabredung ein Alibi?«

Er winkt ab. »Um ihn geht es nicht.«

»Sondern?«

»Es ist schon der dritte Fall in Verbindung mit der Partnervermittlung. Und das innerhalb der letzten zwei Monate. Eine Kundin ist nach einem Überfall ins Koma gefallen. Bei ihr besteht Hoffnung, dass wir sie befragen können, wenn sie aufwacht. Dann haben wir einen angeblichen Selbstmord durch einen Sprung vom Balkon, keine Zeugen. Und nun die tote Lana Frick. Alle drei Frauen hatten zuvor Treffen mit den Männern, die AMOR für sie ausgesucht hat.«

»Und ich soll mich bei AMOR einschleichen«, stelle ich fest.

Moser grinst. Doch das Lächeln erreicht nicht seine Augen. Es sieht nach einer Mischung aus Entschuldigung und Schadenfreude aus.

9.

»Du sollst dich bei AMOR anmelden und zu einer dieser Frauen werden, Liv.«

»Haben sie sich so ähnlich gesehen?«, frage ich überrascht.

»Nein.« Er verschränkt die Arme hinter dem Kopf. »So ein Auftrag ist es nicht. Alle drei Frauen unterscheiden sich optisch voneinander. Aber was ihre Persönlichkeiten betrifft, scheint es viele Übereinstimmungen zu geben.«

»Was heißt das?«

»Sie ähneln sich, ihre Vorlieben, Einstellungen. Sagt zumindest AMOR. Wir hatten einen richterlichen Beschluss für die Befragungsaufzeichnungen dieser Kundinnen, aber die Unterlagen sind sehr dürftig. Das meiste wird ab der Zuordnung der potentiellen Partner gelöscht. Aus Datenschutzgründen.«

»Gibt es dafür Beweise?«

»Nein, aber auch keine dagegen. Alles, was wir wissen, ist: Diese drei wurden sechs Männern als potentielle Partnerinnen zugeordnet. Und drei Männer haben alle Opfer getroffen.«

»Wie kann das sein? Haben die nicht mehr männliche Kunden?«

»Doch. Aber AMOR erklärt das mit den hohen Übereinstimmungen.« Er kaut auf seiner Unterlippe, ich beuge mich vor.

»Und du glaubst ihnen?«

Langsam schüttelt er den Kopf.

»Die versuchen, ihr Unternehmen zu schützen. Schon allein deshalb will ich, dass du dir das ansiehst, Liv.«

»Lass es mich auf meine Weise tun. Ich werde einen Weg finden, Zugang zur Firma zu be…«

»Dafür ist keine Zeit«, unterbricht er mich. »Die letzte Verabredung der Toten am Abend zuvor hat sich bereits dort abgemeldet. Wir ermitteln noch in seinem Umfeld, aber ich glaube nicht, dass es irgendwohin führt.«

»Wieso?«

»Erstens, er hat kein Motiv. Er wurde vor zwei Jahren geschieden, seine Frau lebt mit ihrem neuen Mann in den USA. Und zweitens hat er ein Alibi. Er wurde in der Nacht zu einem Patienten gerufen, den er in die Psychiatrie eingewiesen hat. Das dauerte über den Tatzeitpunkt hinaus, es gibt Aufzeichnungen der Überwachungskameras.«

»Wieso hat er sich bei AMOR abgemeldet?«

»Der Mord hat ihn schwer getroffen. Anscheinend war die Tote sein perfektes Match. Du wirst herausfinden, was diese drei Kundinnen gemeinsam haben. Und du meldest dich bei AMOR an und lässt dich verkuppeln. Wenn wir Glück haben, sind die drei Verdächtigen dabei.«

»Bernhard, ist dir klar, wie unwahrscheinlich das ist? Selbst wenn ich zustimme, wie kommst du darauf, dass ich ausgerechnet die Männer treffen werde, um die es geht? Wie viele Kunden hat AMOR?«

»Das weiß ich nicht. Sie geben dazu keine Informationen. Und es ist ein Versuch, bei dem du …« Er zögert.

»Bei dem ich was?«

»Bei dem du nicht viel Schaden anrichten kannst.« Ich habe das Gefühl, er sagt mir nicht die Wahrheit. Er scheint meine Skepsis zu bemerken, winkt ab. »Selbst wenn es andere Dates sind, spielt es keine Rolle. Wir brauchen jemanden, der das Prozedere durchläuft. Die Ermittlungen gehen ganz normal weiter.« Moser kneift die Augen zusammen. »Ich weiß, dass du es nicht machen willst, Liv.«

Das ist die reinste Untertreibung. Egal, was ich nun sage, er wird ein Gegenargument parat haben. Wenn Moser sich etwas in den Kopf gesetzt hat, gibt es kein Zurück. Mein Schweigen irritiert ihn.

»Was ist das Problem?«, fragt er ungeduldig.

»Diese Idee ist Schwachsinn.«

»Das hast du nicht zu beurteilen.«

»Es wird nicht funktionieren.«

»Weil?«

Ich muss mich beherrschen, um nicht laut zu werden.

»Weil es lächerlich ist. Dass ich dieselben Männer treffe, wird nicht funktionieren. Und das weißt du auch. Willst du mich abschieben wegen der Bordell-Sache?«

»Wenn es so wäre – und ich sage nicht, dass es stimmt –, hilft es den Ermittlungen.«

»Vergiss es, Bernhard.«

Ein leichtes Lächeln taucht auf seinen Lippen auf.

»Dann hat sie doch recht.«

10.

Ich muss nicht fragen, wen Moser mit ›sie‹ meint.

Fanny Schäfer und ich haben gemeinsam hier angefangen. Wir sind gleich alt und waren befreundet – bis ich befördert wurde. Es war nicht so, dass sich unsere Freundschaft von einem Tag auf den anderen veränderte. Harmlose Sticheleien hie und da. Kleine Unterstellungen, in einen Witz verpackt. Und dann kam mir das Gerücht zu Ohren, das sie über mich verbreitete. Ich hätte mit Moser eine Affäre und wäre deshalb befördert worden. Sie behauptete, es wäre ein Scherz gewesen, den die Kolleginnen ernst genommen hätten. Ein Missverständnis. Nicht ihre Schuld. Wir entfernten uns immer mehr voneinander. Bis Fanny Schäfer und ich nichts weiter als Kolleginnen waren, die sich auf dem Gang grüßten.

»Schäfer hat gesagt, du wirst es nicht machen«, sagt Moser schließlich. In seiner Stimme ist keine Überheblichkeit, trotzdem bin ich verärgert.

Die Frage liegt mir auf der Zunge, wieso er überhaupt mit ihr darüber gesprochen hat.

»Ja, weil es unmöglich ist«, sage ich stattdessen.

»Nein. Aus Angst, weil es persönlich wird und du dich nicht wie sonst hinter einer Fassade verstecken kannst. Sie möchte die Verabredungen übernehmen. Wir wissen beide, dass sie dafür ungeeignet ist, Liv.«

»Wieso?«

»Eitelkeit und fehlende analytische Fähigkeiten. Schäfer würde einknicken.«

»Sie ist nicht eitel. Es ist ihre Unsicherheit, die diesen Eindruck vermittelt. Auch dass du ihr fehlende analytische Fähigkeiten unterstellst, ist nicht richtig, du musst sie nur …«

»Es sagt mehr über dich aus, dass du so von ihr sprichst, als über sie, Liv. Ich will sie dafür nicht einsetzen, und damit ist die Sache gegessen.«

»Dann lass es eben jemand anderes machen«, versuche ich es.

»Das werde ich nicht tun. Und ich sage dir auch, warum.« Er senkt die Stimme. »Liv, du hast uns so dermaßen in die Scheiße geritten mit dieser Aktion im Bordell. Das Innenministerium sitzt mir im Nacken … weitere Femizide sind das Letzte, was ich brauche.«

Sein Handy läutet. Beim Blick auf das Display runzelt er die Stirn und drückt den Anruf weg.

Ich stehe auf, stütze mich auf der Tischplatte ab.

»Ich reiche hiermit meine Suspendierung ein.«

»Das hättest du gern.«

»Dann werde ich in Krankenstand gehen.«

»Was fehlt dir?«, fragt er fast schon amüsiert.

»Psychische Überlastung, traumatische Belastungsstörung …«

Er seufzt.

»Tu das nicht, Liv. Sieh dir wenigstens die Wohnung von Lana Frick an. Die Spurensicherung hat sie freigegeben. Und Beck erwartet dich in der Pathologie. Dann reden wir weiter.«

Er streckt mir eine Mappe hin.

»Hier sind alle Informationen, die du brauchst, die Namen der Verdächtigen und was die Kollegen über sie rausgefunden haben.«

»Das wird nichts an meiner Meinung ändern.«

Widerwillig nehme ich die Akte und verabschiede mich.

»Liv«, sagt Moser, als ich bei der Tür bin. »Pass auf, wenn du deinen Spind öffnest. Es sind …«

Ich drehe mich um. Moser presst die Lippen zusammen.

»Bananen?«

»Tut mir leid, Liv. Ich habe schon etliche Male gesagt, sie sollen das lassen, aber … es … es ist wegen des verpatzten Einsatzes.«

Es gibt immer eine Erklärung, warum ich plötzlich braune Bananen in meinem Spind, manchmal auch in meiner Tasche oder bei den Waschbecken auf der Damentoilette finde.

Früher, als wir noch befreundet waren, hat Fanny mich mit meinem Ekel vor Bananen aufgezogen. Es war ein Running Gag zwischen uns. Sie hat panische Angst vor Tauben, die es in Wien massenhaft gibt. Einmal schenkte ich ihr zu Weihnachten eine Plüschtaube und sie mir ein Kissen in der Form einer Banane. Damals war es witzig. Mittlerweile weiß die ganze Abteilung von meinem Ekel, und es ist nichts weiter als eine Boshaftigkeit, bei der Fanny mitmacht.

»Kein Problem.«

»Ich werde noch mal mit ihr reden, damit es nicht mehr passiert.«

Moser wendet rasch den Blick ab. Wenigstens ist er ein besserer Chef als Lügner.

11.  //  Alice

Alice Gerber hätte weiß Gott was getan, damit das Jucken des Knöchels endlich aufhört. Sie hat es schon mit einer Stricknadel versucht, einem Lineal und sogar mit chinesischen Essstäbchen, aber sie erreicht den Knöchel einfach nicht.

Dabei hat sie den Gips erst zwei Tage, sechs weitere stehen ihr bevor. Sie wird wahrscheinlich wahnsinnig werden.

Sechs Tage, an denen sie ihre Wohnung im vierten Stock ohne Lift nicht verlassen kann. Sie hat es versucht, aber die Treppen in dem Altbau sind mit Krücken und Gipsfuß zu hoch. Sie nimmt noch eine Schmerztablette in der Hoffnung, dass dieses elende Jucken betäubt wird.

Wäre der Schock nach dem Treppensturz nicht so frisch gewesen, hätte sie sich nicht so leichtfertig von diesem blutjungen Arzt zu einem Gips überreden lassen.

»Frauen in Ihrem Alter«, hat er gesagt und extra laut gesprochen, als wäre sie schwerhörig, »sollten bei einem Bänderriss wegen möglicher Folgeverletzungen in den ersten Tagen unbedingt einen Gips der einfachen Schiene vorziehen. In einer Woche nehmen wir den Gips ab, und ich sehe mir das wieder an. Es ist besonders wichtig, dass Sie den Fuß in der Zeit so wenig wie möglich belasten.«

Frauen in Ihrem Alter – wenn sie das schon hört.

Sie war auf dem Weg ins Fitnessstudio, als sie stürzte. Seit ihrer Pensionierung geht sie jeden Montag, Mittwoch und Freitag trainieren und anschließend in die Sauna. Danach trifft sie sich mit einer Freundin auf einen Drink oder setzt sich ins Kaffeehaus, um bei einem Stück Kuchen die Zeitungen zu lesen. Das Leben ist da, um gelebt zu werden. Wenn sie etwas aus ihrem Job als Kriminalkommissarin gelernt hat, dann das. Sie betrachtet den Gips und verdrängt den Gedanken, dass die Reise nach Rom auf dem Spiel steht. Die Fahrt im Nightjet in einer luxuriösen Einzelkabine und das 5-Sterne-Hotel gleich beim Fontana di Trevi sind seit einem halben Jahr gebucht. Ohne Storno-Versicherung. Das hat sie dem blutjungen Arzt nicht gesagt. Ihr war klar, er würde ihr die Reise ausreden. Der Bandagist hatte Alice besser gefallen. Er hatte wilde schwarze Locken, viele Piercings im Gesicht und sah in seiner weißen Kleidung wie ein Rockstar aus, der gerade im Krankenhaus ein Video dreht.

»Ich fahre in zwölf Tagen nach Rom. Das ist unverhandelbar.«

Er hat genickt, auf seinem Handy herumgetippt und ihr ein Foto von einer Art Skischuh aus Plastik gezeigt.

»Das ist eine Gehschiene mit Vacuum-Polsterung.«

»Und die funktioniert?«

»Das wissen Sie in einer Woche.«

Das Signal einer E-Mail erklingt vom Laptop auf ihrem Schreibtisch. Auf eine Krücke gestützt humpelt Alice hinüber. Sie setzt die Brille auf und lächelt, als sie den Absender sieht. Valentin hat länger nichts von sich hören lassen. Ihr Kontakt ist seit ein paar Jahren nur sporadisch. Dennoch haben sie sich nie aus den Augen verloren. Sie öffnet die Nachricht, er ist kurzfristig für drei Tage in der Stadt, um sein neues Buch zu präsentieren, und will sie zum Abendessen treffen.

Dieser Mann ist rastlos. Obwohl er zwei Jahre älter ist als Alice, gehört er in die Kategorie der erfolgreichen Männer, für die Ruhestand ein Fremdwort ist. Wofür ihn Alice insgeheim beneidet, obwohl sie das nie zugeben würde. Der Job fehlt ihr.

Sie antwortet ihm, er könne sie besuchen, da sie in ihrer Wohnung festsitze, und bittet ihn, etwas zu essen und eine Flasche Wein mitzubringen. Gleich darauf ploppt eine weitere Nachricht auf.

Der Absender ist [email protected]

Das ist keine echte Adresse, es müsste ›Standard‹ dort stehen. Wahrscheinlich eine Phishing-Mail, darüber hat sie erst letztens in der Zeitung gelesen. Eigentlich hätte der Spamfilter die Nachricht aussortieren sollen. Alice will schon auf Löschen klicken, doch dann hält sie inne.

Drei Worte stehen da: Es wiederholt sich.

Darunter ein Link, der augenscheinlich zu einem Artikel der echten Zeitung führt. Unschlüssig fährt sie mit der Maus darüber.

Vielleicht ein Virus? Doch der Link sieht echt aus.

Und wenn es nur ein raffinierter Trick ist, um an ihre Daten zu gelangen? Aber kommen diese Art von Mails nicht mit irgendwelchen Versprechungen oder Aufforderungen?

Oder der Link führt zu einem Love-Scammer, der ihr eine rührselige Geschichte über eine verstorbene Ehefrau und einen Sohn schreibt, den er allein aufziehen muss?

Das wäre wenigstens ein Zeitvertreib, ihr fällt ja jetzt schon die Decke auf den Kopf.

Sie klickt auf den Link. Es ist tatsächlich ein Zeitungsartikel, vor einer Stunde erschienen. Es geht um die Partnervermittlung AMOR.

Darüber hat Alice bereits gelesen. Mit der Erfolgsgarantie bei der Suche nach der immerwährenden großen Liebe hat AMOR sie an CUPIDO erinnert. Obwohl es so lange her ist, kann sie sich noch gut daran erinnern.

Es war das Jahr 1986: In Tschernobyl war ein Atomreaktor explodiert, Aids befand sich auf dem Vormarsch, die sieben Astronauten der Raumfähre Challenger verunglückten beim Start, und der Kalte Krieg schien kein Ende zu nehmen.

Es war eine Zeit der Unsicherheit, in der das Internet als greifbare Zukunftsvision aufgetaucht und der Wunsch nach Stabilität und Geborgenheit gewachsen war.

CUPIDO hatte die Partnersuche salonfähig gemacht. Zu etwas, für das man sich nicht mehr schämen musste. Was wahrscheinlich mit den strengen Auswahlkriterien zusammenhing, vor allem aber auch damit, dass die Vermittlung als Erste ein Computerprogramm verwendete und ein kleines Vermögen kostete. Bis die Morde passierten. Zwei Jahre nach dem ersten Mord musste das Unternehmen Konkurs anmelden. Obwohl sie den CUPIDO-Mörder gefasst hatten, wollte sich niemand mehr vermitteln lassen.

Das waren andere Zeiten, ganz abgesehen davon, wie sehr sich die Computertechnik weiterentwickelt hatte.