Die unbekannte Schwester - Theresa Prammer - E-Book

Die unbekannte Schwester E-Book

Theresa Prammer

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Beschreibung

Eine Entführung im engsten Familienkreis? Carlotta Fiore muss den Spuren ihrer Schwester folgen!   Ein höchstpersönlicher Fall Carlotta Fiore muss wohl ihren persönlichsten Fall lösen, als ihr Schwester Henriette verschwindet. Und das, da Lotta gerade erst erfahren hat, dass Henriette ihre Halbschwester ist – denn sie konnte mit Hilfe von Konrad Fürst düstere Familiengeheimnisse enthüllen. Außer Henriette, Lotta und Konrad, der für Lotta zur Vaterfigur geworden ist, weiß niemand über die Familientragödie Bescheid. Und Lotta hat doch auch beruflich gerade alle Hände voll zu tun!   Ein wahr gewordener Traum? Lotta konnte sich ihren Traum – zumindest einen ihrer Träum – erfüllen und ist nun hochoffiziell im Polizeidienst. Auch Konrad Fürst, ehemaliger Polizeikommissar, ist wieder im Dienst und wird mit Freude empfangen – Lotta hingegen wird nicht gleichermaßen von ihren Kolleg*innen akzeptiert. Die beiden ermitteln gemeinsam in ihrem ersten Fall: ein vermeintlicher Selbstmord eines Journalisten. In dessen Wohnung entdeckt Lotta eine Notiz, die zu ihr selbst führt! Hat es jemand auf sie und ihre Familie abgesehen?   Die lebendigsten Figuren, seit es Kriminalromane gibt Lottas Leben ist ein Auf und Ab: gescheiterte Träume und neue Chancen, Familienzusammenführung, Liebe – oder doch nicht? Die gescheiterte Sängerin ist die erste Figur, der Theresa Prammer in Romanform Leben einhauchte, nachdem sie schon als Mädchen begann, Kurzgeschichten in ein buntes Heft zu schreiben. Als Schauspielerin und Regisseurin ist Prammer Profi darin, sich einzufühlen in andere Leben – und so treten uns die Menschen aus ihren Büchern entgegen wie gute Bekannte, die man viel zu lange nicht gesehen hat und die man auf der Stelle auf eine Melange einladen will.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Theresa Prammer

Die unbekannteSchwester

Ein Wien-Krimi

Für Joseph

 

 

„Der feinste Trick des Teufels ist es, uns einzureden, dass er nicht existiert.“

Charles Baudelaire (1821–1867)

Inhalt

Prolog: Suizid

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Epilog

Die Autorin

Impressum

PROLOG

Suizid

In 3 Minuten und 50 Sekunden bist du tot.

Wenn Maria Fiore den letzten Ton gesungen hat, ist dein letzter Moment angebrochen.

Du liegst in der vollen Badewanne, nur dein Kopf und deine Hände ragen aus dem Schaumberg heraus. Aus dem Lautsprecher des Handys klingt das berühmte Lied.

„L’Amour! L’Amour!“, singst du mit.

Ich breche in unechtes Gelächter aus und applaudiere deinem Gesang. Du wiegst dich im Rhythmus der Musik, schnippst mit den Fingern. Deine Bewegungen werden wilder. Du fragst mich, ob es mir gefällt? Ich nicke, dabei warte ich nur auf die Stelle, an der die Musik schneller wird.

Endlich kommt sie. Noch 2 Minuten und 25 Sekunden.

„Sing mit“, sagst du.

Also reiße ich stumm den Mund auf, hebe abwechselnd die Knie, als würde ich einen Cancan in deinem Badezimmer tanzen. Du schlägst mit der flachen Hand im Takt auf das Badewasser und spritzt mein Kleid nass. Aber du merkst es nicht. Du bist zu vollgedröhnt mit Koks und zu betrunken. Und ich gebe vor, es auch zu sein.

Mit einem breiten Grinsen siehst du zu mir hoch, als wärst du kein erwachsener Mann, sondern ein kleiner Junge.

„Laut singen“, verlangst du.

Ich schüttele den Kopf. Du kommst hoch, fasst nach meiner rechten Hand und machst meinen Handschuh nass. Quetschst meine Finger so fest, dass sich mein Ehering in das Fleisch des mittleren und kleinen Fingers bohrt. Ich möchte schreien vor Schmerz, aber ich lache dich weiter an. So, wie ich in den letzten Monaten jeden angelächelt habe. Mein Lächeln ist zu einer Attrappe geworden, genau wie mein Ehering.

Tempowechsel, noch 1 Minute und 55 Sekunden.

Niemand weiß von dem Abgrund, der sich in mir aufgetan hat. Alle nicken mir zu, mit diesem verständnisvollen „Manchmal kann das Leben einfach hart sein, aber du bist zum Glück stark“-Blick. Und ich muss mir ein Grinsen verkneifen, denn sie wissen nichts.

Ich werde nicht in den Abgrund stürzen. Deshalb bin ich hier. Du bist nur das erste Puzzleteil, die anderen werden folgen. Mein Plan ist perfekt. Er hat sogar einen letzten Ausweg: Carlotta Fiore töten.

Ich entziehe dir meine Hand und lege den Zeigefinger auf meinen Mund. Drücke dich sanft zurück in die Badewanne. Du lachst auf und fasst dir mit dramatischer Geste an die Brust.

Maria Fiore singt das letzte Mal „L’Amour! L’Amour!“.

In 80 Sekunden ist es so weit. In 80 Sekunden wirst du sterben.

Du reißt voller Inbrunst den Mund auf. Weil du den Text des Liedes nicht mehr kennst, imitierst du ihren Gesang. Ich mache mich bereit. Höre auf die Musik.

40 Sekunden.

Meine Hände fangen an zu zittern. 20 Sekunden.

Ich atme ein und atme aus.

10 Sekunden. Ich zähle jede Einzelne mit.

3. 2. 1.

Die Musik verklingt. Der tosende Applaus setzt ein. Als du begreifst, was ich tue, reißt du die Augen auf. Aber es ist zu spät.

1.

Online-Kommentar von Notna29 zum Zeitungsartikel „Maria Fiore – die Legende“, erschienen an ihrem sechsten Todestag im Wiener Tagblatt „Gefeierte Operndiva. Eine Stimme, als würde sich das Mondlicht in einem Kristallglas spiegeln. Vor sechs Jahren ging die letzte Legende des klassischen Gesangs von uns und hinterließ eine nicht zu füllende Lücke. Eine Ausnahmekünstlerin …“

Bei dem Scheiß, den ihr schreibt, möchte ich kotzen.

Ihr wisst nichts über sie, gar nichts. Sie hat euch hinters Licht geführt, euch wie eine Rattenfängerin eingelullt mit ihrer Stimme, bis ihr nicht mehr klar denken und sehen konntet. Soll ich euch sagen, wer sie war? Wer eure heißgeliebte Maria Fiore wirklich war? Sie war ein Monster! Ein Scheusal der schlimmsten Sorte. Und ich meine hier nicht ihre zahllosen Affären oder ihren krankhaften Ehrgeiz. Ich meine etwas anderes, Dunkles. Jenseits eurer Vorstellungskraft. Ich tanze auf ihrem Grab. Und wenn ihr wüsstet, was ich weiß, dann würdet ihr das auch tun.

Like 12/Dislike 996

Ich starrte auf das Handy, bis die Buchstaben auf dem hellen Hintergrund verschwammen. Meine Arme und Beine pulsierten, als krabbelten Tausende Käfer unter der Haut. Seit zehn Minuten stand ich im Toilettenraum des Kriminalkommissariats und hatte aus lauter Langeweile Nachrichten auf dem Smartphone gelesen.

Zufällig war ich auf der Seite des Wiener Tagblatt gelandet. Es war nicht ungewöhnlich, dass zu Marias Todestag überall Beiträge, Fernsehberichte und diverse Huldigungen erschienen. Das passierte jedes Jahr. Und jedes Jahr versuchte ich mich rund um dieses Datum vor der Welt zu verstecken, damit alle Anfragen, ein „Interview mit ihrer Tochter Carlotta“ betreffend, an Aktualität verloren – wer interessierte sich schon einen Monat nach ihrem Todestag für mich?

Die Kommentare unter dem Artikel waren fast alle Lobeshymnen. Natürlich gab es wie üblich ein paar andere, aber sie waren von bedeutungsloser, oberflächlicher Gehässigkeit.

Die Anonymität des Internets macht aus den größten Feiglingen Helden. Doch dieser eine Kommentar hier war anders. Sofort fragte ich mich, ob der Verfasser einfach nur ein Verrückter war oder ob er wirklich die Wahrheit über Maria Fiore wusste? Wer war diese Person, die den Kommentar geschrieben hatte?

Schritte auf dem Gang holten mich wieder zurück in die Gegenwart. Ich hob den Kopf. Mein erschrockenes Spiegelbild sah mir über dem Waschbecken entgegen. Die Schritte kamen näher, das mussten zwei Personen sein. Nach der unangenehmen Begrüßung meiner neuen Kollegen vor ein paar Minuten war ich nicht in der Stimmung für weiteren Kennenlern-Small-Talk.

Die Tür zum Vorraum der Toiletten ging auf. Im selben Moment flüchtete ich in die erstbeste Toilettenkabine.

„… du dir das vorstellen? Dann hat dieser Trottel verlangt, ich soll ihm seine …“, sagte eine kieksende Frauenstimme.

Zum Glück dachte ich noch daran, mein Handy auf lautlos zu stellen, und ließ es vorsichtig in die Hosentasche gleiten. Die zweite Frauenstimme sagte was, aber wegen Kieksstimmes durchdringendem Organ verstand ich kein Wort. Sie regte sich über irgendeinen Kollegen auf.

Mein erster Arbeitstag bei der Kriminalpolizei hatte heute schon beschissen begonnen und fand jetzt seine glorreiche Fortsetzung: Ich versteckte mich auf dem Klo. War ich eigentlich noch ganz bei Trost? Wieso war ich nicht einfach stehen geblieben?

Endlich hatte ich den Job, den ich schon so lange wollte. Aus der Polizeischule war ich vor Jahren rausgeschmissen worden, und erst durch einen Undercover-Einsatz in der Wiener Oper hatte ich eine neue Chance bekommen.

Nun war er da, mein erster Tag im Kommissariat. Zum ersten Mal gab man mir die Möglichkeit, mich ganz offiziell zu beweisen. Zu zeigen, dass ich zu Recht hier war. Auch wenn ich das bei der Aufklärung von Serienmorden in Wien vor ein paar Monaten eigentlich schon getan hatte. Aber eben nicht offiziell. Ich wusste, dass Polizeichef Krump meiner Einstellung zugestimmt hatte, weil er Konrad zurück in den Dienst holen wollte. Und den bekam er nur mit mir.

Aber was tat ich mit dieser Chance? Versteckte mich wie ein kleines Mädchen an seinem ersten Schultag.

Ich musste hier raus, und zwar sofort.

Ich beschloss, einfach die Spülung zu betätigen und das Klo zu verlassen, also drehte ich mich um. Meine Schuhsohlen machten ein kurzes, schleifendes Geräusch auf dem Fliesenboden. Und in diesem Moment unterbrach ein beherztes „Psst“ den Redeschwall von Kieksstimme.

„Was ist psst, was hast du denn?“, quietschte sie erbost.

„Wir sind nicht allein. Ich hab was gehört.“ Bei Kieksstimmes Geplapper musste diese Frau Ohren wie ein Luchs haben.

„Wer soll da sein? Glaubst, es versteckt sich wer?“

Ich öffnete meinen Mund, um mich bemerkbar zu machen, da sagte die zweite Stimme leise: „Könnt doch die Neue sein?“

Kieksstimme lachte gackernd auf. „Geh bitte, denkst, sie sperrt sich am Klo ein, weil sie sich so vor ihren neuen Kollegen fürchtet? Obwohl, hast du das von ihr gehört? So aaarg …“

Ohne es weiter auszuführen, ließ sie die letzten zwei Worte in der Luft hängen. Mein Finger erstarrte über der Spültaste.

„Meinst du, weil sie Kruuumps Schatzi ist?“, fragte die andere. Ihre Art, den Namen „Krump“ zu sagen – als wäre es „Kruuump“, mit drei u. Genauso hatte eine neue Kollegin, deren Gesicht mich an einen Frosch erinnerte, heute Morgen den Namen des Polizeichefs ausgesprochen.

„Nein. Also, was ich über die Neue erzählen wollte, sie hat doch …“, fuhr Kieksstimme fort. Ich hielt gespannt den Atem an.

„Wart! Ich hab grad eben wirklich was gehört“, unterbrach die andere.

„Du hörst Gespenster.“

Die andere antwortete nicht.

Ich senkte meinen Blick – unterhalb der Tür war ein 15 cm breiter Spalt. Und dann hörte ich auch schon Schritte, die immer wieder stoppten. Ich war in der letzten Kabine. Wie viele waren davor? Sechs? Fünf? Sie kamen näher. Wenn ich mich bewegte, würden sie mich hören. Beim nächsten Klacken eines Absatzes setzte ich mich so vorsichtig wie möglich auf den zugeklappten Toilettendeckel. Gleich mussten sie hier sein. Die Schritte waren schon fast da. Im letzten Moment zog ich meine Füße hoch.

Zwei Sekunden lang war Stille.

Gerade, als ich dachte, ich wäre schnell und leise genug gewesen und sie hätten mich nicht bemerkt, war Kieksstimmes „Tatsächlich! Die Fi-or-e versteckt sich am Häusl“ zu hören. Ich musste ein Aufstöhnen unterdrücken, aber wahrscheinlich wäre es sowieso in ihrem Gekicher untergegangen. Meine Selbstachtung hatte soeben ihren zweiten Sturzflug an diesem Morgen hingelegt.

Bevor ich etwas sagen konnte, klapperten ihre eiligen Absätze auf den Keramikfliesen davon. Ich war wieder allein. Stellte meine Füße auf den Boden und vergrub mein Gesicht in den Händen.

Normalerweise waren mir Gerüchte, auch wenn ich deren Inhalt war, egal.

Aber hier ging es nicht nur um mich.

Und es wurde noch schlimmer dadurch, dass ich keine Ahnung hatte, was Kieksstimme über mich erzählen wollte, das „so aaaarg“ war. Außerdem konnte sie jetzt allen mitteilen, dass ich mich auf dem Klo versteckte. Und zur Krönung war das alles nach der Begrüßung heute Morgen passiert, als meine neuen Kollegen mich bereits erwarteten und ihre Abneigung spüren ließen.

Mir war durch ihre missbilligenden Blicke schnell klar gewesen, dass sie mich nicht wegen Maria Fiore begutachten wollten. Vielleicht wussten sie gar nicht, dass mein Nachname Fiore für dieses weltberühmte Fiore stand.

Die Frau, die fast breiter als hoch war, hatte mich laut genug, so dass ich es hören musste, „die Möbelhaus-Detektivin“ genannt, „die ohne Qualifikation vom neuen Polizeichef Heinz Kruuump eingesetzt wird“. Durch ihre langen, wulstigen Arme, den nicht vorhandenen Hals, den breiten Mund und den kleinen Kopf musste ich an einen Frosch denken. Ich hätte gerne sofort etwas erwidert. Aber es gab die strikte Order von Krump, den Mund zu halten, wenn ich diesen Job nicht verlieren wollte. Dass der Polizeichef meine unautorisierten Einsätze bei den letzten beiden großen Mordfällen in Wien als praxisbezogene Ausbildungszeit anrechnete, wusste hier niemand.

Also hatte ich nichts zu Froschgesicht gesagt und einfach das Büro verlassen. Weil ich nicht wusste, wo ich hinsollte, wählte ich die nächstbeste Tür – und war auf der Toilette gelandet.

Ob Konrad schon bei den neuen Kollegen auf mich wartete? Er hatte in der Früh eine Stunde bei seinem Physiotherapeuten, wollte aber gleich danach ins Kommissariat kommen. Zumindest hatte er das gestern gesagt. Es war schließlich für uns beide der erste Arbeitstag.

Ich hoffte, dass er da war. Mir war nicht wohl dabei, dass meine Tasche unbewacht am Schreibtisch stand, den man mir im Großraumbüro zugewiesen hatte. Ein alter wackeliger weißer Kunststofftisch, auf dessen Tischplatte man noch die unzähligen Kaffeetassenränder erkennen konnte. Ohne Schubladen oder Ablagemöglichkeiten. Ohne Computer. Ohne Stuhl.

Ich stand vom Toilettendeckel auf. Obwohl jetzt keiner mehr hier war, drückte ich alibihalber die Spülung.

Gerade als ich mir die Hände wusch, wurde die Tür geöffnet und eine junge Beamtin in Uniform kam herein. Ich murmelte „Guten Morgen“ und ging rasch an ihr vorbei. Sie erwiderte meinen Gruß nicht.

2.

„Ah, auch wieder da.“

Es kam von Froschgesicht. Sie stand neben einer dünnen honigblonden Frau, die an einem penibel aufgeräumten Schreibtisch saß und einen Stift in der Hand hielt.

„Schau, Eva. Das ist sie“, sagte Froschgesicht zu der Blonden.

Die blonde Eva sah hoch und ihr strähniger Pagenkopf wippte wie ein Fransenvorhang. Sie kniff die Augen zusammen, streckte ihr spitzes Kinn vor und legte den Kopf zur Seite.

57, Haferflocken mit Vanille-Joghurt und Dunkelrot. Das Alter, die letzte Mahlzeit und die Lieblingsfarbe. Bei manchen Menschen, denen ich zum ersten Mal begegnete, wusste ich das plötzlich. Aber meine Eingebungen passierten mittlerweile so selten, dass sie mich regelrecht überraschten.

„Na, ist das Klopapier ausgegangen?“, quietschte sie. Ich hatte schon damit gerechnet, aber trotzdem gehofft, sie wäre nicht Kieksstimme. Froschgesicht hinter ihr lachte, die beiden erinnerten mich an die weiblichen Versionen von Stan Laurel und Oliver Hardy. Ohne den Humor.

„Ist ja schon eigenartig“, sagte Kieksstimme, ohne mich aus den Augen zu lassen.

„Was?“, fragte Froschgesicht.

„Dass plötzlich Leute ohne richtige Ausbildung zur Polizei kommen dürfen“, antwortete sie.

Beide sahen mich herausfordernd an. Ich hielt ihren Blicken stand, fing an von 10 rückwärts zu zählen und versuchte ruhig zu bleiben. 9, 8, 7 … sag nichts Unüberlegtes, Lotta. Aber es türmte sich auch so genug Überlegtes in meinem Kopf, das aus meinem Mund rauswollte. Und das war keineswegs nett.

6, 5, sag es nicht. Halt den Mund. Für Konrad. Die beiden grinsten immer mehr. Ich schaute weg. 4, 3 … nein, nein, nein …

Noch bevor ich bei 2 angekommen war, setzte die Musik ein. Maria Fiores grandiose, gefühlvolle Stimme erfüllte den ganzen Raum.

Es war „Habanera“ aus Carmen. Ihr weltberühmtes „L’Amour! L’Amour!“, die Worte schwebten wie Flügelschläge eines majestätischen Adlers.

Ich riss die Augen auf, Froschgesicht und Kieksstimme grinsten wie zwei lüsterne Spanner.

In der Lichtreflexion ihres Bildschirms sah ich, dass ein Video lief. Gleich kam die nächste Strophe. Ich bemühte mich um einen gelassenen Gesichtsausdruck, während ich innerlich ‚Nicht diese, nicht diese‘ wiederholte, als wäre es ein Mantra. Doch es war natürlich genau diese Aufzeichnung.

Mein Gesang erklang wie eine aufgescheuchte Taube, die panisch davonflattert. Alles in mir krampfte sich zusammen. Das war die einzige Aufnahme, als ich mit Maria Fiore bei einem Galaabend im Konzerthaus gesungen hatte.

Irgendjemand hatte dieses beschissene Video gleich nach Marias Tod vor sechs Jahren hochgeladen. Mittlerweile war es fast eine Million Mal auf YouTube angeklickt worden.

„World famous Maria Fiore sings with her daughter Carlotta – what a difference“ war der Titel.

„What a difference“ bezog sich auf mich. Denn ich war das Gegenteil von grandios.

Die Musik brach so plötzlich ab, wie sie erklungen war. Jemand legte eine Hand auf meine Schulter. Dankbar stieß ich einen Seufzer aus, Konrad war also endlich da. Ich drehte mich zur Seite und sah völlig überrascht in Hannes’ Gesicht. Aber nicht, weil ich generell verwundert war, ihn zu sehen – als Hauptkommissar hatte er schließlich sein Büro im selben Gebäude.

Nein, es war etwas anderes. Er wirkte so distanziert und kühl wie ein völlig Fremder. Das war nicht der Hannes, neben dem ich noch vor ein paar Stunden im Bett gelegen, der mich geküsst und an sich gedrückt hatte. An dessen Blick ich sonst erkannte, wie er sich fühlte. Der mit Konny durchs Zimmer tanzte, wenn unser Sohn sich weigerte, einzuschlafen. Vor mir stand ein Mann mit ernster Miene, ein Kommissar, der seinen Job machte und keine Zeit für Nebensächlichkeiten hatte. Ich war verwirrt und von Kieksstimme und Froschgesichts Blicken überfordert. Weil ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte, streckte ich Hannes die Hand entgegen und murmelte: „Guten Morgen“.

Er stockte, ein überraschter Blick huschte über seine Augen und er verzog leicht den Mund, als müsse er sich ein Lachen verkneifen.

„Guten Morgen.“

Im nächsten Moment beugte er sich zu mir und küsste mich auf den Mund.

„Fiiips?“, hörte ich Froschgesicht und Kieksstimme gleichzeitig flüstern.

Fips. Hannes’ Spitzname, den er seiner süßen neuen Kollegin verdankte.

Aber selbst das war mir in diesem Moment egal. Er nickte mir zu.

„Wenn du was brauchst, du weißt ja, wo du mich findest, Lotta.“

„Danke, ich komme zurecht“, sagte ich.

Dann grüßte er in Kieksstimme und Froschgesichts Richtung: „Eva, Inge, guten Morgen.“ Sie nickten zurück wie zwei gemaßregelte Schulkinder.

Es war kindisch, aber meine Genugtuung war grenzenlos. Wir hatten nie darüber gesprochen, ob wir unsere Beziehung hier öffentlich machen wollten. Aber ich hatte nicht damit gerechnet, da bis vor ein paar Monaten auch keiner seiner Kollegen von Konny, unserem ein Jahr alten Sohn, wusste. Anscheinend hatte ich mich geirrt. Hannes lächelte mir noch einmal zu, bevor er das Großraumbüro verließ.

Kieksstimme Eva sah mich ungläubig an. Sie schaute zu ihrer Kollegin Froschgesicht Inge und setzte an, etwas zu sagen.

Doch sie kam nicht dazu, da ihr Telefon läutete.

„Wo ist das?“, quietschte sie in den Hörer und schrieb die Adresse auf.

„Aha. Okay. Ja, passt. Aber … Moment, weißt du was? Ich schick euch unsere Neue rüber. Die Carlotta Fiore.“ Sie hielt kurz inne, grinste. „Ja. Genau die.“ Ihre Stimme war vor Vergnügen noch höher gerutscht.

Sie legte auf und wedelte mit einem gelben Post-it, als wäre ich ein Hund, dem sie ein Stöckchen werfen wollte.

„Na schau. Ich hab schon den ersten Fall für dich. Was ganz, ganz Spannendes. Ein Unfall. Wennst Glück hast, war es sogar Selbstmord. Uhh, aufregend. Gell?“

„Geh, Eva, da muss keiner von uns hin“, sagte Inge. Sie bemühte sich zum ersten Mal um ein Lächeln für mich, aber es misslang. Offensichtlich gab es für sie nun geänderte Spielregeln, da sie wusste, dass Hannes und ich ein Paar waren. Das ärgerte mich noch mehr, ich ging zu Eva und nahm ohne Kommentar die Notiz.

Die Adresse war im 8. Bezirk, Florianigasse 29. Mir war alles recht, um hier wegzukommen.

Froschgesicht Inge kam zu mir herüber, schüttelte den Kopf und streckte mir ihre offene Hand entgegen. „Komm, gib mir die Adresse wieder, du musst da wirklich nicht …“

In dem Moment rief jemand aus einer hinteren Ecke: „KONRAD!“ Ich drehte mich um. Endlich war er da.

Konrad stand in der Tür, seine Kohleaugen suchten den Raum ab, bis er mich fand. Er nickte mir zu und zog einen Mundwinkel hoch zu einem leichten Lächeln. Währenddessen echote sein Name, mal leiser, mal lauter, mal mit und ohne „Fürst“, wie ein Klangteppich von diesem zum Nebenraum.

Und plötzlich war Klatschen zu hören. Zuerst nur von einer Person. Dann folgte eine Zweite. Eine Dritte. Sie erhoben sich nacheinander von ihren Stühlen, kamen hinter ihren Schreibtischen hervor, strömten aus den angrenzenden Zimmern. Alle applaudierten dem Mann, der eine Legende bei der Wiener Kriminalpolizei war. Und der nun seinen Dienst nach der Katastrophe vor fast 27 Jahren offiziell wieder antrat.

Im ersten Moment begriff Konrad gar nicht, dass der Applaus ihm galt. Er sah sich irritiert um, was alle nur anspornte, noch lauter zu klatschen. Dann drehte er sich einmal um sich selbst. Er schaute wieder zu mir, runzelte die Stirn zu einer stummen Frage. Ich lächelte. Nickte ihm zu, weil ich an seinem Blick erkannte, wie schwer es ihm fiel zu glauben, dass sie ihn meinten. Seine Wangen färbten sich rosa, er sah rasch zu Boden. Und ich biss mir auf die Unterlippe, um nicht vor Rührung zu weinen. Meine Augen brannten. So wütend ich auf meine neuen Kollegen war, so dankbar war ich ihnen für den Empfang, den sie Konrad bereiteten. Sogar Froschgesicht Inge und Kieksstimme Eva applaudierten.

Konrad verdiente diese Anerkennung mehr als jeder andere. Wer wusste das besser als ich? Er winkte beschämt ab, doch davon ließ sich niemand abhalten.

Konrad Fürst, der Mann, der von den Toten auferstanden war. Eineinhalb Jahre hatte er im Koma gelegen. Dass er jetzt hier stehen würde, daran hatten vor sechs Monaten weder er noch ich geglaubt.

Vielleicht war es die neue und ungewohnte Umgebung, vielleicht diese Situation, aber mir fiel hier auf einmal deutlich auf, wie sehr er sich in letzter Zeit verändert hatte. Er hatte zugenommen, kochte fast jeden Abend, und sein durch das Koma abgemagerter Körper sah mehr und mehr so aus wie vor zwei Jahren, als wir uns kennengelernt hatten. Die vielen Stunden mit dem Physiotherapeuten hatten seine Muskeln größtenteils wieder zurückgebracht und seit einiger Zeit brauchte er auch keinen Stock mehr zum Gehen.

Kieksstimme Eva ging auf Konrad zu. Sie drückte ihn unbeholfen an sich, als hätte Konrad einen Hula-Hoop-Reifen um seinen Körper. Ganz eindeutig war sie es nicht gewohnt, jemanden zu umarmen. Sie ließ ihn wieder los, dabei zuckten ihre Schultern. Von hinten sah es so aus, als würde sie weinen. Ich war erstaunt, als sie sich tatsächlich über die Augen wischte. Konrad sah genauso überrascht aus. Vielleicht hatten sie früher zusammengearbeitet?

Ein weiterer Kollege schüttelte ihm überschwänglich die Hand. Bemüht erwiderte Konrad das Lächeln, aber seine Stirn runzelte sich mehr und mehr in Ratlosigkeit. Der Applaus verebbte langsam, wurde von einem „Eine Rede, eine Rede“-Chor abgelöst.

Alle sahen ihn erwartungsvoll an. Nur das Ticken des Sekundenzeigers der Wanduhr war zu hören. Konrad kratzte sich am Kopf und murmelte schließlich verlegen: „Es freut mich, wieder hier zu sein. Und jetzt können wir alle an die Arbeit gehen.“

„Bitte stell dein Licht nicht unter den Scheffel, Konrad“, quiekte Eva.

„Ihr könnts von ihm was lernen. Kannst du dich erinnern, ich hab mal unabsichtlich die sichergestellten Haschkekse gegessen. Oder der Fall mit dem irren Mizzi! Mein Gott, ist das wirklich schon 30 Jahre her? Das waren noch Zeiten! Ihr Grünschnäbel würdets euch wundern, gell, Konrad?“

„Ja, das war was, stimmt“, sagte Konrad und lachte unbeholfen.

„Was war denn das für eine Mizzi-Geschichte?“, rief Froschgesicht Inge. Ich drehte mich um, doch sie sah mich gar nicht mehr an, sondern strahlte nur in Konrads Richtung. Konrad schaute hilfesuchend zu Eva, sein steifes Lächeln weiterhin im Gesicht, als wäre es festgefroren.

„Das musst du erzählen, Konrad, es ist deine Geschichte.“

„Ja, also, die Mizzi …“

„Der Mizzi“, korrigierte sie, nickte aufgeregt und blies die Backen auf. Dann deutete sie mit beiden Zeigefingern auf ihre prallen Wangen. Ich fragte mich, ob der Mizzi vielleicht ein Hamster war?

„Ach ja, stimmt … der Mizzi … haha … ja, wir waren … das war …“

Konrad suchte offensichtlich nach Worten. Dann verstummte er plötzlich, sein angestrengter Blick ging ins Leere. Die Zeit verstrich, es waren sicher nur ein paar Sekunden, aber es kam mir ewig vor. Schließlich hielt ich es nicht mehr aus.

„Konrad, wir müssen zu dieser Adresse“, rief ich in die Stille, schob mich durch die Menschentraube und drückte Konrad das gelbe Post-it in die Hand.

„Aber, wieso … er muss doch nicht?“, fragte Kieksstimme Eva. Sie sah zwischen uns hin und her.

„Und ob. Konrad und ich arbeiten zusammen“, sagte ich.

Als wir den Raum verließen, hörte ich sie hinter uns: „Die ist Konrads Partnerin? Mein Gott, die muss es Krump aber ordentlich besorgt haben.“

Konrad wollte stehen bleiben, aber ich schob ihn einfach weiter zu den Aufzügen. Die Lifttüren öffneten sich gerade, ein Beamter in Uniform stieg aus. Ich trat hinter Konrad hinein und drückte panisch auf die „Tür schließen“-Taste.

„Das war ja fabelhaft“, sagte Konrad trocken, als sich die Kabine surrend in Bewegung setzte.

„Du hast es gut gemacht. Niemand hat gemerkt, dass du dich nicht erinnerst.“

Er hob eine Augenbraue – der unmissverständliche Hinweis, dass er mir nicht glaubte.

„Müssen wir wirklich wohin?“, versuchte er abzulenken.

„Ja, zu einem Selbstmord. Und dort oben hätte es auch schlimmer kommen können.“

Währenddessen kramte ich nach dem Autoschlüssel in meiner Handtasche. Weil ich ihn nicht finden konnte, stellte ich meine Tasche auf den Boden und kniete mich darüber. Ich hatte ihn doch hineingeworfen, nachdem ich das Auto geparkt hatte, wieso war er jetzt verdammt noch mal nicht da? Oder hatten ihn meine neuen Kollegen rausgenommen, als ich auf dem Klo war?

„Was meinst du mit schlimmer?“, fragte Konrad.

Der Fahrstuhl kam im Erdgeschoss zum Stehen, die Tür öffnete sich. Ich wollte gerade wieder aufstehen, da spürte ich Metall an meinen Fingerkuppen. Gott sei Dank, der Schlüssel war da.

„Na ja, Superarsch Krump hätte zu deiner Begrüßung da sein …“. Ich verstellte meine Stimme, als hätte ich Polypen in der Nase, damit ich so klang wie der Polizeichef: „… und sein sinnloses Gewäsch …“

„Guten Morgen, Frau Fiore“, näselte eine mir wohlvertraute Stimme über mir. Ich sah hoch. In das verbissene Gesicht von Polizeichef Heinz Krump, der vor dem Aufzug stand.

3.

Konrad saß auf dem Beifahrersitz und wartete bereits auf mich. Krump hatte ihn vorgeschickt, da er mit mir allein reden wollte.

„Was hat er gesagt?“, fragte Konrad, als ich ins Auto stieg.

Krumps wütendes „Fiore! In einer Stunde! Hier!“ klang mir noch immer in den Ohren. Mehr hatte der Polizeichef nicht gesagt, nur den Lift betreten, die fuchsteufelswilden Glupschaugen bis zuletzt auf mich gerichtet.

„Er erwartet mich in einer Stunde“, spielte ich es herunter.

„Und was sind das für Kameras?“, fragte Konrad.

„Welche Kameras?“

Während der Dieselmotor vorglühte, sah ich zum Gebäude, ob Konrad die Überwachungskameras beim Eingang meinte. Doch er deutete zur gegenüberliegenden Straßenseite. Ein langhaariger Mann hievte gerade eine Filmkamera aus einem weißen Van, auf dem groß der Name des Fernsehsenders Ö-TV stand. Ein Zweiter trug einen Scheinwerfer, der größer war als er selbst. Eine weitere Kamera befand sich bereits vor dem Auto.

„Ich hab keine Ahnung“, murmelte ich.

Endlich erlosch die Zündspule, doch kaum hatte ich den Schlüssel herumgedreht, krachte der Motor so laut, als hätte der Blitz eingeschlagen.

Die zwei Männer sahen sofort zu uns herüber. Reflexartig rutschte ich tiefer in den Sitz und versuchte, mein Gesicht hinter dem Lenkrad zu verstecken.

„Fährt es sich so leichter?“, fragte Konrad und runzelte die Stirn.

„Ich will nicht, dass die beiden mich sehen“, sagte ich leise, als könnten sie mich sonst hören.

„Aha. Und warum?“

Weil ich paranoid bin und vermute, dass jeder Reporter sich heute wegen Marias Todestag sofort auf mich stürzt, dachte ich, sprach es aber nicht aus. Natürlich wusste ich, dass sie sicher nicht wegen mir hier waren. Doch vielleicht war ich jetzt in ihren Köpfen präsenter als sonst. Und ich wollte gar nicht daran denken, wie sie reagierten, wenn sie wüssten, dass ich nun bei der Kripo war. Ich versuchte ein entschuldigendes Lächeln in Konrads Richtung, während ich den Blinker setzte und uns aus dem Parkplatz manövrierte. Was anstrengend ist, wenn man nur das obere Drittel der Straße sieht. Erst als wir gute 100 Meter entfernt waren, rutschte ich wieder hoch. Konrads Frage ließ ich unbeantwortet. Es war nicht so, dass ich es ihm nicht gerne erzählt hätte. Aber mir fehlten dafür die Worte. Zumindest die richtigen. Das war schon immer so gewesen. So weit ich zurückdenken konnte, war das Gefühl, nicht aussprechen zu können, was in mir vorging, ein Teil von mir. Der Klumpfuß meiner Seele. Ich hatte es einfach nie gelernt. Vielleicht, weil Maria Fiore nie hatte wissen wollen, was ich wirklich fühlte. Aus gutem Grund.

Ein Bild von ihr tauchte in meiner Erinnerung auf. Einer dieser Flashbacks, die mir Dr. Machland in der ersten Therapiesitzung angekündigt hatte. Maria und ich saßen im Esszimmer. Ich war sehr klein, auf meinem Stuhl stapelten sich unter mir mehrere Polster, damit ich bis zur Tischplatte reichte. Sie gab mir ein Stück Toast mit Butter auf den Teller. Ich wollte ihn nicht essen. Nicht einmal anfassen wollte ich ihn. Ich wollte nur weg. Und da war dieser Geruch im Zimmer. Wie ein Gewürz. Aber blumiger.

„Hier muss es sein“, sagte Konrad und holte mich in die Gegenwart zurück. Er deutete zu dem Hauseingang vor uns, in dem ein uniformierter,junger Polizist mit karottenroten Haaren stand.

Ich war so in Gedanken versunken, dass ich ganz automatisch zu der Adresse in der Florianigasse im 8. Bezirk gefahren war. Der alte Wagen ruckelte, als ich abbremste. Autos hupten, ich fuhr in eine Garageneinfahrt und parkte hinter dem Polizeiauto, das die Einfahrt versperrte. Sofort kam der Polizist herüber.

„Es tut mir leid, Sie können da jetzt nicht rein“, sagte er übertrieben deutlich durch das geschlossene Autofenster. Seine Sommersprossen um den Mund tanzten beim Sprechen und seine Stimme klang holprig, als wäre er im Stimmbruch. Hätte er seine Uniform nicht getragen, wäre er glatt als Teenager durchgegangen. Ich stieg aus dem Auto.

„Lotta Fiore und Konrad Fürst. Wir sind hier wegen des Selbstmords.“

Erst in diesem Moment fiel mir auf, dass ich weder eine Marke noch einen Dienstausweis hatte.

„In welches Stockwerk müssen wir?“, fragte ich forsch, um davon abzulenken.

Er sah von mir zu Konrad. „Da brauche ich bitte Ihre Auswei-“, begann er.

Doch Konrad unterbrach ihn. „Die sind noch in der Zentrale. Wir haben nicht viel Zeit, Polizeichef Krump erwartet uns in Kürze zurück im Kommissariat.“

Der junge Polizist sah zwischen Konrad und mir hin und her.

„Wir können dem Polizeichef natürlich auch sagen, dass wir zu spät sind, weil unser Kollege uns nicht zum bestellten Tatort gelassen hat. Sie heißen …?“

Ich ließ die Frage in der Luft hängen. Einen Moment dachte ich, er würde nicht darauf reinfallen, doch dann sagte er: „Es ist im zweiten Stock. Der Kollege ist oben. Ich öffne Ihnen.“

„Danke.“

Er ging voraus und sperrte mit einem Generalschlüssel das Haustor auf.

Als wir im Haus waren und die Tür hinter uns ins Schloss fiel, murmelte ich: „Sind unsere Ausweise wirklich in der Zentrale?“

„Ich habe nicht die leiseste Ahnung“, sagte Konrad. „Geh schon vor. Ich seh mich hier noch um.“

Es war eine Ausrede, das wusste ich. Wenn ich in seinem Tempo ging, hielt uns das beide auf. Ich nickte ihm zu und versuchte nicht zu zeigen, dass ich lieber auf ihn warten würde.

Je näher ich dem zweiten Stock kam, desto deutlicher hörte ich die Musik. Die geschmeidige Stimme einer Jazzsängerin hallte durch das Treppenhaus.

„Hallo?“, rief ich.

Auf dem Treppenabsatz erschien ein riesiger, hagerer Polizist in Uniform, unter dessen Kappe blonde Haare hervorleuchteten.

„Franz!“

„Ja, bitte?“

Ich kannte ihn, wir waren uns vor ein paar Monaten begegnet, als ich Hannes zum Fundort einer Leiche begleitet hatte. Damals hatte ich mit dem Mitte zwanzigjährigen zwar nur ein paar Worte gewechselt. Aber wegen seiner aufgeweckten und freundlichen Art hatte ich ihn sofort gemocht.

Franz beugte sich vor und sah die Treppe hinunter. Als er mich erkannte, klatschte er mit den Händen auf seine Oberschenkel.

„Carlotta Fiore! Was machen Sie denn hier?“

„Wurde ich nicht angekündigt?“

Ich ging hoch zu ihm. Obwohl ich neben ihm stand, musste ich meinen Kopf in den Nacken legen, um ihm ins Gesicht zu sehen.

„Also mir nicht.“ Er lächelte. „Macht aber nix. Der Hannes kommt gleich.“

Aus seinem Funkgerät waren Stimmfetzen und Rauschen zu hören, er machte es leiser.

„Hannes kommt? Wirklich?“

Hatte Hannes erfahren, dass man mich hergeschickt hatte? War er deshalb hierher unterwegs?

„Ja, das wurde mir ausgerichtet“, sagte Franz. „Ich weiß gar nicht, warum. Das ist hier eigentlich alles geklärt. Es tut mir leid, ich darf Sie nicht in die Wohnung lassen. Wenn Sie auf den Hannes wart-“

„Ich bin nicht hier wegen Hannes, ich wurde hergeschickt. Mein Kollege kommt auch gleich, er sieht sich nur noch im Haus um.“

„Sie sind … und wieso Kollege?“ Franz sah verblüfft drein. „Moment … Sie sind doch nicht die Neue, von der alle reden?“ Er lachte auf.

„Was reden sie denn?“

Sein Mund klappte auf und zu wie bei einer Bauchrednerpuppe.

„Schon gut.“ Ich streckte ihm meine Hand entgegen. „Ich heiße Lotta.

Kannst du mich in die Wohnung bringen?“

Erst als er meine Hand schüttelte, merkte ich, dass er weiße Plastikhandschuhe trug. Er war noch immer sehr verwundert, aber doch erfreut.

„Ja, ähm, natürlich. Wahnsinn, Carlotta Fiore bei der Kripo. Deine Mutter kenn sogar ich … obwohl, Oper ist ja nicht so meins. Ich bin mehr Richtung Pop. Dabei hab ich mal den Domingo kennengelernt. Ähem, na, hast du den auch gekannt? Ich mein, persönlich?“

„Nein.“

„Ach, ich dachte, ihr kennts euch alle untereinander. Lustig. Aber du hast schon auch gesungen, gell? Ich glaub, mir hat erst letztens wer davon erz-“

Bevor er weiterreden konnte, versuchte ich, einen professionellen Ton anzuschlagen. „Was ist hier genau passiert?“

Er tippte sich an die Kappe und grinste mich an, als hätte er eine neue Spielkameradin gefunden. Das Schlimme war, genauso fühlte ich mich auch.

„Also, Amtsarzt und Spusi sind vor zehn Minuten weg.“

„Wer ist Spusi?“

„So wird die Spurensicherung genannt. Aber erwähne das bloß nie, wenn einer von ihnen dabei ist. Und ich warte hier eigentlich nur noch auf den Leichenwagen. Darum war ich auch so überrascht, dass der Hannes angekündigt wurde. Ich versteh das gar nicht, ich meine, wieso sollte ihn ein Selbstmord interessieren? Da hat sicher wieder mal jemand einen Fehler gemacht.“

Daran zweifelte ich und verbiss mir die Frage, wer ihn angekündigt hatte. Vielleicht planten Froschgesicht und Kieksstimme so, mich loszuwerden? Franz lächelte, als versuchte er, eine normale Situation daraus zu machen. Ich lauschte, ob Konrad bereits hochkam, aber bis auf den Jazzgesang, der hier irgendwo seinen Ursprung haben musste, war nichts zu hören. Einen Moment überlegte ich, Hannes einfach anzurufen. „Und du … bist jetzt echt bei der Kripo gelandet. Ich packs ja nicht“, sagte Franz zum zweiten Mal und vergrub seine Hände in den Hosentaschen. Entweder wollte er generell nicht in die Wohnung zurück, oder er versuchte, es bis zu Hannes’ Ankunft hinauszuzögern.

„Ja. Können wir jetzt rein?“

Franz biss die Zähne zusammen, ein unterdrücktes Aufseufzen spannte seinen Brustkorb. Ihm war etwas unangenehm. Und mir fiel eine dritte Möglichkeit ein, warum er so befangen war. Vielleicht hatte er nicht die Wahrheit gesagt? Oder zumindest nicht die ganze Wahrheit – möglicherweise gab es eine ganz konkrete Anweisung, „die Neue“ bis zu Hannes’ Eintreffen nicht reinzulassen. Nur hatte er eben nicht gewusst, wer diese „Neue“ war.

Franz lächelte verlegen und beugte sich ein wenig zu mir herunter: „Ich hoffe nur, dass die Beruhigungsspritze bei der Putzfrau endlich wirkt. Sie hat den Toten gefunden. Seit zehn Minuten will sie gehen, aber immer wenn sie aufsteht, klappt sie wieder zusammen.“ Er richtete sich auf. Das Ganze machte ein bisschen den Eindruck, als wären wir auf einer Party und er bemühte sich um den passenden Small Talk.

„Also?“, fragte ich und deutete zu einer Tür am Ende des Gangs. Sie war einen Spalt geöffnet. „Ist es da drin?“

„Ja. Ja, da ist es.“ Ich ging voran, ohne auf ihn zu achten. Die Musik wurde immer lauter, sie kam aus dieser Wohnung.

„Brauche ich Schutzkleidung?“, fragte ich, bevor ich eintrat.

„Nur Handschuhe. Wie gesagt, es waren alle schon da und es sieht so aus, dass kein Fremdverschulden vorliegt.“

Ich blieb stehen und drehte mich um. „Ich habe aber keine mit.“

Franz griff in seine hintere Hosentasche, nahm ein paar weiße Latexhandschuhe heraus und gab sie mir. „Eigentlich eh unnötig. Ein Selbstmord, wie er im Buche steht.“

„Wie?“

„In der Badewanne“, sagte er gedämpft. „Stromschlag. Er hat in der Nacht einen Föhn mit ins Wasser genommen. Dürfte laut Arzt so zwischen 23 Uhr gestern und 1 Uhr früh passiert sein.“

„Unfall wird ausgeschlossen?“

Er lachte auf, doch als er begriff, dass ich keinen Witz gemacht hatte, sagte er: „Es war ein 2500-Watt-Föhn.“

„Und? Was hat das damit zu tun?“

„Na ja, er hat eine Glatze.“

Vielleicht war es Einbildung, aber plötzlich hatte ich den Geruch von verbranntem Fleisch in der Nase. Mir wurde übel, mein Magen flatterte merkwürdig, als wäre darin ein Vogel, der herauswollte. Ich überspielte es mit einem: „Wieso läuft die Musik? Springt bei so was nicht sofort die Sicherung raus?“

„Ist sie ja auch.“

„Wieso ist er dann tot?“

„Der Elektriker hat gesagt, die Badewanne ist aus Acryl, üblich für die 80er-Jahre, ohne Erdung. Das Haus ist ein Altbau, die elektrischen Leitungen haben auch etliche Jahre am Buckel. Da dauerts schon ein bisserl, bis die Sicherung reagiert. Und der Föhn hat ungefähr 280 Volt. Das überlebst nicht. Aber ein schöner Tod ist es auf jeden Fall nicht. Und geschwind auch nicht. Laut Amtsarzt ist er mit ziemlicher Sicherheit an Atemlähmung gestorben …“

Mir wurde schwindlig, aber ich starrte zu Franz, damit er nichts merkte. Anscheinend klappte es, denn er sprach unbekümmert weiter, als wäre er froh, endlich ein Thema gefunden zu haben, das mich davon abhielt, in die Wohnung zu gehen.

„Der Elektriker hat den FI wieder eingeschaltet. Da hat die Musik begonnen. Das Lied läuft in Dauerschleife. Wahrscheinlich hat er es gehört, als er grad dabei war …“ Er verzog den Mund und wiegte den Kopf hin und her.

Ich nickte und drehte mich wieder zum Eingang. Mein Herz klopfte wie verrückt.

Der Tote war nicht die erste Leiche, die ich zu Gesicht bekommen würde. Und trotzdem war das hier anders. Vielleicht, weil ich wusste, ich musste hinschauen, durfte meinen Blick nicht abwenden. Vielleicht hatte es auch etwas damit zu tun, dass er sich das Leben genommen hatte. Und ich auch schon einmal an diesem Punkt gewesen war. Sterne tanzten vor meinen Augen, aber ich zwang mich, ruhig weiterzuatmen.

„Moment noch. Wieso wird Fremdverschulden ausgeschlossen?“, sagte ich, als wäre es mir eben eingefallen. Jetzt war ich es, die das Betreten der Wohnung hinauszögern wollte. „Es könnte doch auch jemand den Föhn in die Wanne geworfen haben?“

Der Polizist beugte sich vor und deutete zum Türschloss. „Von innen war versperrt und der Schlüssel ist gesteckt.“

„Aber ich dachte, die Putzfrau hat ihn gefunden?“

„Hat sie ja auch. Laut ihrer Aussage hat der Mann viel von zu Hause gearbeitet. Es ist schon ein paar Mal vorgekommen, dass sie nicht in die Wohnung konnte, weil er den Schlüssel innen hat stecken lassen. Der Tote war gelegentlich … indisponiert.“

Franz streckte den kleinen Finger und den Daumen weg und tat so, als würde er aus einem unsichtbaren Glas trinken, dazu schnalzte er rhythmisch mit der Zunge.

„Er war alleinstehend, hat gern gesoffen und dann seinen Rausch ausgeschlafen“, flüsterte Franz. „Und von der Putzfrau der Cousin der Schwägerin des Neffen, oder so ähnlich, keine Ahnung, der hat einen Schlüsseldienst. Jedenfalls hat der ihr schon ein paar Mal die Tür von außen aufgemacht. Dieses Mal auch. Leider.“

Ich trat einen Schritt zur Seite. „Es ist besser, wenn du vorausgehst, Franz.“

Er musste den Kopf einziehen, als er durch die Wohnungstür trat. Es war ein nüchternes Vorzimmer, ein paar graue und schwarze Mäntel, ein dunkelgrüner Parka und eine Damenhandtasche hingen an der Edelstahlgarderobe, daneben ein weißer Ikea-Kleiderschrank. Der einzig hochwertige Gegenstand war ein hüfthoher silberner Schirmständer in Form eines Elefanten. Die Musik war hier herinnen lauter. Und da war ein Geräusch, das wie ein verstopfter Abfluss klang.

„Was ist das?“, fragte ich und deutete in die Luft.

„Das Lied, das gelaufen ist, als er … ich kann’s fast schon mitsingen.“

„Nein, ich meine dieses Glucksen. Gehört das zur Musik?“

Franz verdrehte die Augen. „Das ist die heulende Putzfrau. Die sollte unbedingt weg, bevor der Leichenwagen kommt. Aber ich hab es nicht geschafft …“

Schritte hallten im Treppenhaus, ich rief: „Konrad, wir sind hier.“ Dann sagte ich zu Franz: „Sag ihm bitte alles, was du mir gerade erzählt hast. Ich seh in der Zwischenzeit mal nach ihr“, und folgte dem Weinen.

Auf einer schwarzen Ledercouch saß eine ungefähr sechzigjährige Frau. Ihre kupferrot gefärbten Haare hingen ihr ins blasse, teigige Gesicht. Sie starrte vor sich hin, mit jedem gluckernden Einatmen bebte ihr Brustkorb und Tränen quollen aus den rotgeweinten Augen. Ich ging ein paar Schritte in das Zimmer, der Parkettboden knarrte unter meinen Füßen. Dieser Raum war ansprechender, er war modern eingerichtet, mit Glasregalen voller Bücher und Urlaubs-Souvenirs wie bunt bemalte Schatullen oder afrikanische Figuren aus Ton. Am Esstisch stapelte sich Post, ungeöffnete Zeitschriften in Plastikhüllen, dazwischen Textmarker und Stifte.

„Mein Name ist Lotta Fiore, ich bin von der Kriminalpolizei“, sagte ich. Meine Stimme hörte sich so unsicher an, wie ich mich fühlte.

„Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen?“ Sie reagierte nicht.

„Mein Kollege hat mir gesagt, Sie sind mit einem Schlüsseldienst hereingekommen, stimmt das?“ Ich nahm ihr neuerliches Aufschluchzen als Zustimmung. „Und dann?“

Sie antwortete nicht. Also probierte ich es anders.

„Seit wann arbeiten Sie schon für …?“

Weil ich nicht „den Verstorbenen“ sagen wollte, ging ich einen Schritt näher an den Esstisch heran. Vielleicht könnte ich seinen Namen von einem der Kuverts lesen.

Dieses längliche Stück Papier, das zur Hälfte unter einem Zahlschein hervorlugte, fiel mir sofort auf. Es lag verkehrt herum und war von Hand beschrieben, aber ich konnte die Worte nicht lesen. Das waren keine Buchstaben, mehr Hieroglyphen. War das Steno?

Nur in der ersten Zeile standen in krakeliger Schrift zwei Wörter und daneben ein Datum. Ich ging um den Tisch herum, um alles besser lesen zu können.

Wenn man etwas sieht, das man nicht erwartet, dann verschwimmt die Realität für eine Sekunde. Als hätte man geträumt und wäre noch nicht sicher, ob man schon wach ist oder noch schläft. In dem Moment, als ich realisierte, dass diese zwei Worte und das Datum auf dem Zettel keine Einbildung waren, schnappte meine Hand ganz automatisch danach, als würde sie gar nicht zu mir gehören und stopfte das Papier in die rechte Seitentasche meiner Jeans.

„Ist alles okay mit dir?“, fragte Franz.

Ich sah hoch. Wie lange stand er schon leicht gebückt im Türrahmen?

Hatte er gesehen, was ich gerade getan hatte?

„Natürlich.“ Ich zog meine Mundwinkel hoch und hoffte, dass es wie ein Lächeln aussah. „Ja, ja, es ist nur …“, schob ich hinterher und verdrehte meine Augen in Richtung der Putzfrau. Es funktionierte, denn Franz hob leicht die Augenbrauen und nickte wissend. Und dann war es da, sein erlösendes Lächeln. Er hatte nichts bemerkt.

„Ich komme gleich zu euch“, sagte ich und lächelte weiter, als wäre nichts geschehen.

„Okay.“

Erst als er wieder weg war, stützte ich mich auf der Tischplatte ab und stieß ein paar Mal Luft aus. Meine inneren Alarmglocken schrillten.

Mein Geheimnis, mein Geheimnis, mein Geheimnis.

Der Zettel, der zwischen der Post des Toten gelegen hatte, war mit einem Datum versehen. 1. Mai.

Daneben die einzigen Wörter, die ich entziffern konnte: CARLOTTA FIORE.

Mein Name.

Erste Hypnosesitzung, vor einem Monat

„Mit jedem Ausatmen geben Sie Gewicht in den Stuhl ab. Sie werden schwerer und schwerer. Ihre Arme und Beine entspannen sich mit jedem Atemzug mehr. Sie sinken tiefer in die Unterlage, lassen alles los. Die Gedanken dürfen wie Wolken vorbeiziehen und …“

Die Worte der Therapeutin sollten mich beruhigen. Aber genau das Gegenteil war der Fall. Je länger und eindringlicher sie sprach, desto nervöser wurde ich.

Ich öffnete die Augen und blinzelte gegen die Helligkeit in dem Raum an. „Bitte, können wir nicht einfach ganz normal reden?“, fragte ich.

Es war meine erste Stunde. Niemand wusste, dass ich hier war. Noch nicht einmal Hannes. Und das, obwohl wir uns darauf geeinigt hatten, ohne Geheimnisse auszukommen. Unsere Beziehung war fast daran zerbrochen, als ich vor ein paar Monaten auf seinen Heiratsantrag mit einem panischen „NEIN“ reagiert hatte. Als er dann die Wahrheit für dieses Nein erfuhr, war seine einzige Bitte, dass ich nichts mehr vor ihm geheim halten sollte. Hannes hielt es aus, was es auch war. Alles war erträglicher als Ungewissheit ohne Vertrauen. Ich konnte ihn besser verstehen, als ihm klar war. Und trotzdem war ich nun hier und machte eine neue Einzahlung auf „Lottas Geheimniskonto“. Aber dieses Mal war es anders.

Dr. Beatrix Machland, eine freundliche Frau mit brünetten hochgesteckten Haaren und sanftem Blick aus erstaunlich dunkelblauen Augen, lächelte mich an.

„Natürlich, Frau Müller“, sagte sie. Frau Müller, das war ich. Es war eine Vorsichtsmaßnahme, dass ich ihr einen falschen Namen genannt hatte. Der Name Fiore sollte hier keine Rolle spielen. Trotzdem war es mir unangenehm, wie selbstverständlich sie ihn aussprach.

„Sie müssen hier nichts tun, mit dem Sie sich nicht wohlfühlen. Wir können auch einfach nur reden.“

„Danke.“ Ich rutschte im dunkelgrünen Sessel hoch und verschränkte die Arme. Es war ein gemütliches Zimmer. Der beigefarbene Teppich war weich und flauschig. Der Schreibtisch in der Ecke mit den gestapelten Psychologie-Fachbüchern vermittelte Sicherheit. Und die Sitzbank aus weiß lackierten Paletten unter dem Fenster mit den bunten Kissen sah so perfekt aus wie aus einer Do-it-yourself-Zeitschrift. Von der Straße war Kinderlachen zu hören.

Dr. Machland wartete eine Weile. Als ich nichts sagte, fragte sie:

„Wollen Sie mir jetzt erzählen, wieso Sie zu mir gekommen sind?“

Das hatte sie mich schon zu Beginn gefragt, aber ich war ihr ausgewichen. Darum hatten wir uns auf eine Entspannungsübung geeinigt.

„Ich dachte, na ja, es ist so wie mit dem Rauchen. Wenn jemand damit aufhören möchte, kommt er zu Ihnen zur Hypnose. Sie versetzen ihn in Trance, und wenn er aufwacht, ist er Nichtraucher. Und ich dachte mir, wenn ich aufwache, bin ich normal und geheilt“, sagte ich und schnippte mit den Fingern. Erst als ich es ausgesprochen hatte, wurde mir klar, wie lächerlich das klang.

Sie lachte auf, aber es war ein mitfühlendes Lachen, eines von der Sorte, das dir das Gefühl gibt, nicht alleine im Boot des Wahnsinns zu sitzen.

„Eigentlich ein guter Plan. Es tut mir leid, nur so funktioniert das nicht. Weder bei jemandem, der mit dem Rauchen aufhören möchte, noch bei anderen Themen. Und bei Ihnen müssen wir erst mal rausfinden, wieso Sie das Gefühl haben, nicht normal zu sein.“

Sie hatte das Wort „normal“ so ausgesprochen, als wäre es ein liebes Kosewort und keine Tatsache. Mein Unwohlsein war mir anscheinend anzusehen, denn sie legte den Kopf zur Seite und blinzelte mir mit einem leichten Nicken zu.

„Aber vielleicht sprechen wir einfach mal darüber, warum Sie sich gerade jetzt entschieden haben, zu mir zu kommen?“

Weil ich nichts sagte, fragte sie nach: „Gab es einen Auslöser?“

Ich sah von ihr weg zu den Fransen des Teppichs, als würde ich dort die Antwort finden.

„Nicht nur einen, es waren einige.“

„Und welcher von diesen einigen beschäftigt Sie am meisten?“

Ich brauchte nicht lange nachzudenken. „Es gab da einen Vorfall.“

Wegen dem ich seit einer Woche so gut wie nicht schlafen konnte. Und wenn ich es tat, wachte ich mitten in der Nacht schweißgebadet auf.

„Aber es ist eigentlich etwas sehr Lächerliches … und außerdem verstehe ich das alles nicht. In meinem Leben ist zum ersten Mal alles in Ordnung.“

„Was ist denn passiert?“

Es war mir peinlich, darüber zu sprechen, ich sah wieder hoch zu ihr und winkte ab. „Es ist total belanglos. Wirklich.“

Sie sagte nichts, wartete nur.

„Es war nur eine … eine Kissenschlacht“, sagte ich schließlich.

„Was war das für eine Kissenschlacht?“

„Eine ganz normale Kissenschlacht.“ Ich begann, an den Armbündchen meines dunkelgrauen Sweatshirts zu ziehen. „Völlig harmlos, mit Hannes, wir leben zusammen, haben einen Sohn, sein Name ist Konny.“

Mein Kinn begann zu zittern, als wäre mir plötzlich kalt. Vielleicht war das doch ein Fehler, dass ich hier war. Aber dann begann ich zu erzählen.

„Es war Sonntagnachmittag, wir haben herumgeblödelt, im Bett. Es ging darum, wer die Pizza vom Italiener zum Abendessen holt. Weil er nicht wollte, hab ich nach dem Kissen gegriffen und damit nach ihm geworfen. Er hat dasselbe gemacht. Es war lustig, ich meine, wir haben beide immer mehr gelacht. Und dann, es war nicht mal seine Absicht, er ist auf dem Bett gekniet und hat das Kissen genommen. Ich bin zwischen seine Beine und wollte ihn umwerfen. Er hat das Gleichgewicht verloren, ist auf mich gekippt und hat mir das Kissen aufs Gesicht gedrückt. Nur ganz kurz, höchstens zwei Sekunden. Für ihn war es noch immer ein Spiel. Aber für mich nicht. Ich bin ausgerastet. Und zwar richtig.“

„Was haben Sie getan?“

Ich schnappte nach Luft, es fühlte sich an, als würde ich durch ein dickes Baumwolltuch atmen.

„Ich … ich war panisch. Hab mich angezogen, bin aus der Wohnung gerannt und habe nur noch geheult.“

Dass ich zur nächsten Tankstelle gelaufen war, verschwieg ich. Ich stand schon an der Kasse mit einer Flasche Wodka in der Hand. Und obwohl das Bedürfnis nach Alkohol in diesem Moment um so viel größer war als in den Monaten davor, hatte ich ihn dann doch wieder ins Regal gestellt.

„Was war vor dieser Kissenschlacht? Wie ist es Ihnen da gegangen? Sie haben gesagt, es war Nachmittag und Sie waren im Bett …?“

„Es ist mir gut gegangen. Konny war mit Konrad bei unserer Nachbarin und Hannes und ich … wir hatten miteinander geschlafen. Es war schön, alles war in Ordnung. Bis zu der Kissenschlacht.“

„Konny ist Ihr Sohn. Und wer ist Konrad?“

„Er ist … ein Freund.“ Ich hatte keine Ahnung wieso, aber mir schoss das Blut in die Wangen. Als wäre die Lüge über Konrad anders, schwerwiegender als die anderen.

„Verstehe. Es war also alles normal. Bis es das plötzlich durch einen scheinbar harmlosen Auslöser nicht mehr war. Und Sie wissen nicht, wieso Sie so reagiert haben. Habe ich das richtig zusammengefasst?“

Ich sah von meinen Händen hoch. Frau Dr. Machland hatte eine Brille aufgesetzt und sich Notizen in ein kleines Heft gemacht. Ich hatte es gar nicht bemerkt.

„Nein, es ist … lächerlich.“

„Warum finden Sie das lächerlich?“

Die Worte ‚Weil ich fast von einem Psychopathen vergewaltigt wurde und mich ein irrer Serienkiller umbringen wollte, aber ich das alles besser verkraftet habe als diese beschissene Kissenschlacht‘ lagen mir auf der Zunge. Aber wenn ich es ihr erzählte, dann würde sie mehr erfahren wollen. Und deshalb war ich nicht hier.

„Hatten Sie in letzter Zeit außergewöhnlichen Stress?“

„Nein, nicht mehr. Sogar im Gegenteil.“

Sie wartete, doch als ich es nicht näher ausführte, sagte sie: „Verstehe.

Hat Sie diese Kissenschlacht denn an etwas erinnert?“

„NEIN“ Es war mir energischer rausgerutscht, als ich beabsichtigt hatte. Als wäre ihre Frage etwas Böses.

Frau Dr. Machland legte Stift und Block auf den kleinen Couchtisch. Dann nahm sie die Brille herunter und rieb sich mit der anderen Hand über die Nasenwurzel.

„Verzeihung, aber ich muss das fragen. Wie würden Sie generell die Beziehung zum Vater Ihres Kindes beschreiben?“

Ich atmete tief ein. „Ganz normal.“

Sie lächelte flüchtig, als wäre „ganz normal“ wieder keine adäquate Antwort. Vielleicht erkannte sie auch, dass ich nicht die Wahrheit sagte. Nach außen sah es so aus, als hätten wir eine glückliche Beziehung. Aber je näher ich Hannes an mich heranließ, je mehr ich meine Liebe für ihn zuließ, desto größer wurde meine Angst, die Kontrolle über mein Leben zu verlieren. Die Gründe dafür waren verständlich und ich wusste, das hatte nichts mit ihm zu tun. Trotzdem wurde es dadurch für mich nicht einfacher – im Gegenteil.

„Fühlen Sie sich bei ihm sicher?“, fragte Frau Dr. Machland.

Soweit es für mich überhaupt so etwas wie Sicherheit gibt, dachte ich und nickte.

„In einer für Sie vollkommen sicheren Situation ist also etwas passiert, das Sie zutiefst verunsichert hat. Sagt Ihnen der Begriff Triggern etwas?“

Ich hob halbherzig die Schultern, natürlich war er mir bei der Suche nach den Eckpfeilern meiner Vergangenheit oft begegnet.

„Damit wird in der Psychologie ein ausgelöster Schlüsselreiz bezeichnet. Also etwas Belastendes, das Sie einmal erlebt haben, wird getriggert. Das bedeutet, es ist gar nicht der aktuelle Vorfall, der Ihnen in Wahrheit zu schaffen macht. Es ist das, woran er in Ihrer Lebensgeschichte andockt. Haben Sie eine Ahnung, einen Verdacht, was das sein könnte?“

„Nein.“