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Mietkosten in den Großstädten explodieren, die Lebenshaltung wird teurer. Ein Job allein reicht nicht mehr zum Leben. Kinderarmut wächst von Jahr zu Jahr. Jedes fünfte Kind ist inzwischen betroffen. Und Alleinerziehende sind von Altersarmut bedroht. All dies hat Folgen. Der Staat ist an vielen Stellen längst überfordert, die entstehenden Probleme grundsätzlich und zukunftsweisend anzugehen. Bernd Siggelkow und Martin P. Danz sind überzeugt: Es braucht Menschen mit Herz, die vor Ort handeln. Es braucht Nähe zu den Kindern und Jugendlichen und keine Verwalter. Und es braucht Unternehmungen und Unternehmer, die sich für die Zukunft unseres Landes engagieren, weil sie wissen: Es ist auch ihre Zukunft. Martin P. Danz und Bernd Siggelkow machen Mut, Verantwortung zu übernehmen, sich persönlich mit Herz und Hand einzubringen, jeder an der Stelle, an der er steht. Ein längst überfälliges Buch zu einem Thema, das uns alle angeht.
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Seitenzahl: 281
Veröffentlichungsjahr: 2013
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BERND SIGGELKOW
MARTIN P. DANZ
AUS-
GETRÄUMT:
DIE
LÜGE
VOM
SOZIALEN
STAAT
INHALT
Kapitel 1
Deutschlands vergessene Kinder
Armes Deutschland:
Warum deine Kinder ausgeträumt haben
Kapitel 2
Verwahrlosung, Misshandlungen, Tod
Unternimmt unser Sozialstaat wirklich alles,
um Kinder zu retten?
Kapitel 3
Warum es Aufgabe eines Sozialstaats ist,
zum Leben zu befähigen
Warum wir Wachstum, Wohlstand
und Vermögen neu definieren müssen
Kapitel 4
Das Problem einer additiven Sozialpolitik
Was läuft und nicht läuft in unserem Staat
Kapitel 5
Was unseren Kindern zum Glücklichsein fehlt
Warum die persönliche Lebenssituation
von Kindern und Familien zu stärken ist
Kapitel 6
Eine bessere Welt für Kinder schaffen
Warum der Weg zu einem neuen Sozialstaat
trotz unterschiedlicher Regierungen eine Stolperfalle ist
Kapitel 7
Ein neuer Garten im globalen Umfeld
Kinder zwischen komplexen Strukturen
und den „Interessen“ einer angeblichen „Sozial-Industrie“
Kapitel 8
Kinder sind die Brücke zur Zukunft!
Das Potenzial der Kinder entdecken und sie befähigen,
ihr Leben zu führen – die Rahmenbedingungen des Gartens
Kapitel 9
Willkommen im Garten
Was der Staat von gesunden Unternehmen lernen kann,
um die gesellschaftliche Verantwortung
zum Wohle der Kinder zu stärken
Kapitel 10
Die Kreisläufe Wirtschaft und Soziales verbinden
Verlässliche Vorbilder gesucht! Es gilt, den Kreislauf
Wirtschaft und Soziales zum Ziele der Lebensbefähigung
von Kindern miteinander zu verbinden
Kapitel 11
Der schwere Weg zur Leichtigkeit
Der Schulterschluss aller Beteiligten oder
Warum wir eine Lobby für die Kinder brauchen
Kapitel 12
Investition und Nachhaltigkeit
Das LieBI-Prinzip: „Wir lieben sie einfach“ – wie sich Bildung
und Lebensbefähigung in Kinder investieren lassen
und warum Nachhaltigkeit kein Modewort sein darf
Kapitel 13
Angefacht statt ausgeträumt
Welche konkreten Maßnahmen unserer Empörung
endlich folgen müssen
Epilog
Papa Bernd hat einen Traum…
KAPITEL 1
DEUTSCHLANDS VERGESSENE KINDER
ARMES DEUTSCHLAND: WARUM DEINE KINDER AUSGETRÄUMT HABEN
Im Jahr 2007 haben wir als christliches Kinder- und Jugendwerk Arche mit dem Buch „Deutschlands vergessene Kinder“ Deutschland aufgerüttelt: Chancengleichheit, wie sie jedem Kind gewährt werden sollte, gibt es nicht. Immer mehr Kinder können sich nicht nach den gleichen Möglichkeiten entwickeln wie andere.
Seitdem hat sich die Zahl der Archen auf 15 vervielfacht, vier davon allein in der Hauptstadt Berlin und je zwei in Hamburg und Frankfurt. Ihr Name ist Programm und mittlerweile ein Aushängeschild, denn für Kinder sind die Archen sichere Inseln im oft chaotisch aufgewühlten Meer ihres sozialen Umfelds. Täglich bieten sie ihnen kostenlos eine warme Mahlzeit und schenken mit vielen Programmen ein wenig Farbe in ihren oft durch Sorgen belasteten Alltag. Es sind Orte, an denen die Kinder erfahren, dass ihnen zugehört wird. Sie dürfen unbefangen Spaß haben, machen und erleben. Und sie spüren, wenn nicht gar wissen, es gibt dort Menschen, die an sie glauben und sich engagiert kümmern, ihnen eine Perspektive fürs Leben zu eröffnen.
Dass die zunehmende Zahl der Archen als Erfolg für unsere spendenbasierte Arbeit sowie als wertvolle Anlaufstelle für Kinder anzusehen ist, lenkt gleichzeitig unverhohlen den Blick auf den dahinterliegenden Trend – den stetig steigenden Bedarf: Immer mehr Kinder in Deutschland haben es nötig, unterstützt, betreut und gefördert zu werden. Über 2,5 Millionen Kinder leben in Deutschland zurzeit in Einkommensarmut. Die Plätze und Angebote sozialdiakonischer Einrichtungen reichen bei Weitem nicht aus. Deutschland bräuchte noch mehr Archen, mehr betreute Angebote, mehr Pädagogen, mehr Räumlichkeiten, mehr … und mehr …
Selbstkritisch, aber ohne unsere vielen Unterstützer vor den Kopf stoßen zu wollen, fragen wir daher: Drückt der Erfolg der Archen nicht gleichzeitig den Misserfolg des Sozialstaates aus? Denn hätten Kinder alles, was sie brauchen, würde es dann noch Archen bzw. andere tätige Vereine oder Organisationen für Kinder geben? Sind Deutschlands Kinder, sieben Jahre nach dem Aufschrei, also immer noch vergessen?
BERUFSWUNSCH HARTZ IV
Eine unserer wichtigsten Aufgaben als Gesellschaft ist es, Kindern Geltung und Wert fürs Leben mitzugeben. Es gilt sie wertzuschätzen und zu fördern. Individuell, persönlich und ganzheitlich. Nicht nur, weil sie unser gesellschaftliches und wirtschaftliches Potenzial von morgen sind, als Mitarbeiter und Kunde. Als deutscher Staat haben wir uns sogar dazu verpflichtet, ihre Würde zu achten und zu schützen. Und damit einher geht unsere Verantwortung, sie auf dem Weg ins Leben, hinein in unsere Gesellschaft zu begleiten. Gerne klammern wir uns da einvernehmlich an den gesellschaftlichen Konsens und skandieren in der Politik einmütig: „Kinder sind unsere Zukunft.“ Doch ist uns tatsächlich die Gegenwart dieses Denkspruchs bewusst? Dass sie es heute schon sind und es nicht einfach eines Tages sein werden. Wie also wollen wir für Werte und soziale Gerechtigkeit Sorge tragen, wenn der Staat diesem Gestaltungsauftrag, mitunter sogar seiner Pflicht hier und heute nicht nachkommt?
Zu uns in die Arche kommen viele Kinder, die dem Staat nicht mehr trauen. Sie haben die bittere Erfahrung gemacht, nicht mehr als Potenziale wahrgenommen zu werden. In ihrem direkten Umfeld hören sie nur allzu oft, dass sie „nichts“ sind, „nichts“ können oder zu „nichts“ zu gebrauchen sind. Manche greifen zu Alkohol und Drogen, um ihrem Selbstwert-Vakuum wenigstens eine begrenzte Zeit zu entfliehen. Ihre Spirale führt abwärts. Was aber, wenn sie sich selbst einen Ruck geben, sich selbst beim Schopfe packen, um ihrem Schlamassel und ihrer Bedeutungslosigkeit zu entkommen und eine Wendung zu geben? Treffen diese Kinder und Jugendlichen dann noch auf einen Staat und eine Gesellschaft, die es verstehen, in sie zu investieren? Fakt ist: Niemand scheint sich mehr Mühe geben zu wollen, wenn erst einmal der Stempel „Hartz IV“ oder „Förderschüler“ über einem Kind prangt. Manche Schulen haben sogar bereits das „Fördern“ an den Nagel gehängt und sind dazu übergegangen, die Kinder gezielt auf Hartz IV, auf ein Leben ohne Ausbildung und Arbeit, vorzubereiten, so wie ihre Eltern es führen. Gesellschaftlich scheint sich ein Investment wohl nicht mehr zu lohnen, da man sich heute nicht mehr viel von diesen Kindern verspricht. Statt als Innovationsbringer schreibt man sie lieber als Ausgabe ab, als Belastung für das Sozialsystem von morgen. Schöne Zukunft!
OHNE PERSPEKTIVE WIRD ES INSTABIL
Wir machen uns etwas vor, wenn wir so tun, als wüssten diese Kinder nicht, dass ihre materielle Armut auch ihre emotionale und intellektuelle bedingt. Sie selbst sind täglich konfrontiert mit ihrem Defizit an Zukunft und Perspektive, das noch viel schlimmer ist als die täglichen Sorgen, die sie zu Hause haben.
Wenn also Kinder und Jugendliche in der Arche als Berufswunsch Hartz IV nennen, dann darf uns das nicht ins Nachdenken bringen; es muss uns empören! Und wenn Lehrer Hartz IV als Bildungsauftrag verstehen, müssen wir Verantwortung übernehmen und als Gesellschaft handeln.
In der Arche erleben wir allerdings im Großen wie im Kleinen, dass „erwachsene“ Lösungen oft nicht Kindern entsprechen. Manche sind auch gar nicht zukunftstauglich. Einfach Regelsätze aufzustocken oder Bildungsgutscheine auszugeben reicht nicht, um Kindern aus armen Verhältnissen wirklich Perspektive zu schenken. Eine Bescheinigung oder ein paar Euro mehr in der Tasche der Eltern helfen Kindern auch nicht dabei, aktiv neue Vorstellungskräfte zu entwickeln. Es braucht mehr, um ein Kind von seiner Vorstellung zu lösen, dass Gangster-Rapper, Castingshow-Popstar oder Hartz-IV-Empfänger erstrebenswerte Traumberufe sind. Zudem begreifen einige gar nicht die Realität hinter ihrem TV-gespeisten Mikrokosmos – dass das Leben vor allem für sie, wenn nicht gar für alle Kinder in Deutschland, noch herausfordernder wird, angesichts zukünftiger Entwicklungen. Vom bildungspolitischen Standpunkt betrachtet werden sich Kinder aufgrund kürzerer Schul- und Ausbildungszeiten stärker und schneller behaupten und gegen ihresgleichen durchsetzen müssen. Aber auch sozialökonomisch und -ökologisch, angesichts schwindender Rohstoff-ressourcen, werden unsere nachfolgenden Generationen konfrontiert mit Problemen, wie sie sich heute zwar schon anbahnen, aber wie wir sie in ihrer Intensität noch gar nicht kennen. Wir brauchen daher schnelle und nachhaltige Lösungen, die den zukünftigen Entwicklungen globaler Einflüsse standhalten. Wo diese nicht gegeben sind, werden Lücken entstehen und Defizite den Lauf der Dinge bestimmen. Lokal wie global. So ist denn auch die zunehmende Perspektivlosigkeit junger Menschen eins der dringlichsten Themen. Nicht nur in der Arche, sondern für Deutschland und ganz Europa. Auf dem diesjährigen Weltwirtschaftsforum in Davos stellte man fest, dass von seiner Tragweite her die Perspektivlosigkeit junger Menschen sogar die Angst vor dem Auseinanderbrechen der Währungsunion abgelöst habe. In Spanien, Griechenland und Frankreich sei die Arbeitslosenquote der unter 24-Jährigen auf extrem hohem Niveau. Topmanager befürchten soziale Unruhen durch Aufstände der Jungen. Und auch Bundeskanzlerin Angela Merkel warnte nachdrücklich vor einer möglichen instabilen Lage, sollte sich daran nichts ändern.
DES DEUTSCHEN LIEBSTES KIND
Wie können also junge Menschen wieder lernen, von einem erfüllten Leben zu träumen? Wie können sie wieder Perspektive gewinnen? Gerade Kinder und Jugendliche, die von Aussichten und Träumen leben. Noch verhalten sie sich hierzulande ruhig. Noch gehen sie nicht auf die Straße, um zu demonstrieren. Aber wie lange noch? In anderen europäischen Ländern ist das bereits passiert. Unsere Kinder sind vermutlich noch nicht vollständig desillusioniert, eher apathisch und nüchtern. Für die Vergangenheit machen sie uns keinen Vorwurf, da sie wissen, was von den Großeltern und Eltern errungen wurde. Aber sie sehen nichtsdestotrotz, dass das „System“, also der Staat – das Zusammenspiel von Wirtschaft, Politik und Wissenschaft – nicht zu den Lösungen kommt, die sie eigentlich erwarten dürfen. Denn Kinder erleben oft nur ein „Gehacke“ um Interessen, um Positionen, um Stimmen, Geld und Ressourcen – aber Lösungen, die Perspektiven schüren, bislang oft nicht.
Des Deutschen liebstes Kind ist bekanntlich das Auto. Unser blechernes Gefährt hegen, pflegen und bewegen wir regelmäßig. Täglich sind wir darin unterwegs. Es bereitet uns viel Freude. Wir lieben es, mobil zu sein. Und am Wochenende widmen wir ihm Zeit, um es zu waschen und fein herzurichten. Es gibt ausreichend Parallelen zwischen dem Umgang mit dem liebsten Kind auf vier Rädern und dem auf zwei Beinen. Aber:
Würden wir es in der Waschstraße akzeptieren, wenn nach dem Waschgang für 14,99 Euro noch die Felgen dreckig sind? Würden wir es hinnehmen, wenn bei einer Reparatur No-Name-Produkte statt Originalteile montiert werden?Oder würden wir uns damit abfinden, wenn unser Auto wegen „Konzentrationsstörungen“ oder mangelnder Motivation auf der Autobahn anhält und nur jeden dritten Tag wieder anspringt?Ein solches Auto wäre ratzfatz vom Markt verschwunden. Aber im Umgang mit unseren Kindern scheinen wir all das widerspruchslos zu akzeptieren. Noch etwas: Unserem Auto gönnen wir für seine Unterbringung ca. 18 Quadratmeter Garagenraum und wir „fördern“ es mit einem monatlichen Unterhalt von etwa 593 Euro. Unser Nachwuchs hingegen hat durchschnittlich einen „Bewegungsspielraum“ von fünf bis acht Quadratmetern und Sieben- bis Zwölfjährige „kosten“ uns im Schnitt 568 Euro pro Monat.
Das macht nachdenklich, oder? Haben wir uns an solche Relationen etwa schon gewöhnt – im Privaten wie im Vater Staat? Sollten wir nicht eher Garagen kindgerecht umbauen und dem Nachwuchs vernünftige Schuhe kaufen, als in Alufelgen und Breitreifen zu investieren? Zur Erinnerung: Wir sind Deutschland. Die Gleichen, von denen man sagt, sie bauen die besten Autos der Welt.
Geben wir Deutsche, die wir sonst so auf Qualität bedacht sind, uns also in Sachen Kinder nur noch mit einem passablen Status quo zufrieden? Denn allem Anschein nach akzeptieren wir es ja, wenn unser Bildungssystem jugendliche „Verlierer“ produziert. Wir haben uns auch anscheinend mittlerweile daran gewöhnt, dass Kinder freie und spendenfinanzierte Einrichtungen wie die Arche aufsuchen müssen. Dass 48 Prozent der Menschen ohne Beschäftigung Langzeitarbeitslose und zunehmend junge Menschen sind, registrieren wir auch noch irgendwie.
Für die Kinder in der Arche sind Perspektivlosigkeit und das Fristen als Sozialfall brutale Realität. Die Kinder sehen, dass sich unsere Welt schneller verändert, als wir Menschen uns verändern. Sie stellen fest, dass der Staat nicht genug handelt, und für sie grundsätzlich auch nicht zum Besseren. Schon gar nicht für ihre Zukunft. Mit Statistiken sich etwas schönzureden, können sie letztlich nicht – dazu fehlt ihnen das Know-how. Daher sind sie täglich konfrontiert mit der Lüge des sozialen Staates!
STÜTZE ODER LEBENSBEFÄHIGUNG?
Altbundespräsident Roman Herzog hatte vor mehr als zehn Jahren den grundlegenden Umbau unseres Sozialstaates gefordert. Der Sozialstaat sei unsozial geworden, sagte er. Angeblich helfe er den Menschen, aber in Wirklichkeit mache er sie abhängig von der Versorgung und ersticke ihre Antriebskräfte. Herzog schlug vor, dass sich der Staat zunehmend beschränken müsse und Bürger wie Unternehmen mehr Freiräume bekommen müssten. Ein neues Selbstbewusstsein der Bürger müsse her. Zwar stellt das Thema soziale Gerechtigkeit unbestritten einen leitenden Grundsatz aller deutschen staatlichen Maßnahmen dar, aber selbst das Bundesverfassungsgericht kam zu dem Schluss: „Das Sozialstaatprinzip enthält lediglich einen Gestaltungsauftrag an den Gesetzgeber.“ Es gebe also nach dem Grundgesetz keine konkreten Ansprüche der Deutschen auf staatliche Unterstützung. Auch konkrete Ansprüche des Bürgers auf staatliche Unterstützung können aus der Verfassung nicht abgeleitet werden.
Wir brauchen daher neue Lösungen – in unseren Köpfen wie im Staat –, die schnell wirken und nachhaltig sind. Diese können wir nur gemeinsam finden. Unsere Kinder sind da nicht abgeneigt, sich zu beteiligen. Nur sie haben ein anderes Verständnis von Beteiligung und den Lösungen. Aus den oben genannten Gründen, wie auch bedingt durch das Zeitalter der Transparenz und sozialer Netzwerke, gehen sie die Dinge anders an. Sie wollen lokal Lösungen erleben, vor der eigenen Haustür. Und sie wollen eingreifen können, sich engagieren. Sie wollen ernst genommen werden und sind bereit, dafür auch etwas zu tun.
Sie ahnen, dass alles Globale in Form von erhöhter Ausbildung, Konkurrenz, Unsicherheit ihr Lokales bedingt. Sie passen sich eher an, als dass es ihnen gelänge, sich aus sich selbst heraus zu entwickeln. An diesem Punkt unterscheiden sich die Kinder in der Arche nicht von anderen. Aber genau dieser Punkt, die Lebensbefähigung der Kinder, ist der Schlüssel zur Veränderung. Diesen Punkt, diese Qualität müssen wir mit unseren Maßnahmen erreichen. Lebensbefähigung ist das Ziel, das Resultat, an dem wir unsere Lösungen künftig messen sollten.
···
Wie Lebensbefähigung gelingen kann, zeigt ein Beispiel aus unserer Arche-Arbeit: Vor drei Jahren wagte die Arche Frankfurt ein Experiment. Ihr Leiter, Daniel Schröder, organisierte für Zehn- bis Zwölfjährige einen einwöchigen Urlaub. Diese Kinder konnten zum allerersten Mal erleben, was es heißt, in Ferien zu fahren. Raus aus dem Großstadtalltag, hinein in die grüne Berglandschaft der schweizerischen Voralpen. Vor Beginn der Reise waren wir alle skeptisch: Was nehmen die Kinder von einer solchen Zeit wirklich mit? Vom Leben auf dem Bauernhof, inmitten intakter Familien? Und der ganz anderen und naturnahen Lebensweise?
Die Aufregung der Kinder war groß. Vor Ort waren alle Eindrücke neu für sie – Berge, Wasserfälle, Schnecken, Morgentau. Ein Mädchen machte überhaupt zum ersten Mal einen Spaziergang in der Natur.
Später erzählte uns Arche-Leiter Daniel Schröder von den Erfahrungen der Kinder. Viele von ihnen sind in der Zeit aufgeblüht und haben das Naturerlebnis sehr genossen. Einige sagten, sie wüssten nun auch, was Familie bedeuten kann. Andere wiederum waren neu motiviert worden, zur Schule zu gehen, weil sie verstanden hatten, dass Schule, Arbeit und sich solche Ferien leisten zu können, irgendwie miteinander verbunden sind. An den Erfahrungen und Antworten der Kinder wurde deutlich: Sie wurden ermutigt, ihr Leben neu anzugehen. Sie sind ausgebrochen aus ihrer Perspektivlosigkeit und haben anhand von ganz simplen Mitteln sehr fundamental Erwartungen ans Leben entwickelt.
ERMUTIGER GESUCHT!
Wir schreiben dieses Buch als Anwälte der Kinder. Wir wollen die Situation der Kinder ungeschönt vor Augen führen. Aber wir möchten nicht bei der Klage verharren, sondern ermutigen, und zwar im Sinne von Bundeskanzler Konrad Adenauer (1876–1967): „Kritiker haben wir genug. Was unsere Zeit braucht, sind Menschen, die ermutigen.“ Daher soll das Buch, neben einer detaillierten Beschreibung des Status quo unseres Sozialstaates, vor allem inspirieren und die Diskussion anstoßen für innovative Lösungen.
Unsere Absicht ist es nicht, den Staat oder die Politik anzurufen und auf im Grundgesetz Geschriebenes zu pochen, nur um eine Diskussion über Wochen in den Medien halten zu können. Dass wir uns nur darüber beschweren, dass Staat, Wirtschaft und Politik nicht Dinge tun, die sie eigentlich tun sollten, entfesselt keine Kraft, die wirklich etwas bewegt. Was letzten Endes Nachhaltigkeit schafft, sind Lösungen, die dem Staat helfen, sich zu bewegen.
Sollten wir aber nicht reagieren, nichts tun, keine neuen Lösungen schaffen, würden wir den bisherigen Zustand einfach akzeptieren. Jeder Nachfolger dieser Apathie würde somit Teil des Problems. Das kann und darf nicht sein! Wenn wir im Alltag für unsere hochgelobten deutschen Autos stets bestrebt sind, qualitativ wertige und kompatible Lösungen zu schaffen, dann haben es die Kinder in Deutschland weitaus mehr verdient, dass sie ermutigt und gefördert werden. Ganzheitliche Lösungen sind also gefragt, die sich zum Ziel die Lebensbefähigung des Kindes setzen; sie zu wertvollen Mitgliedern der Gesellschaft zu machen.
Den größeren Teil des Buches haben wir deshalb Beispielen gewidmet, wie durch erfolgreiches Zusammenwirken von Innovation und Energie und oft mit wenigen finanziellen Aufwendungen eine große Wirkung erzielt werden kann. Und wir ermitteln – aus neuen Ansätzen der Ökonomie und natürlich anhand unserer Erfahrungen aus der Arche –, welche Alternativen es gibt, Wirtschaft und Soziales neu zu einem Kreislauf zu verbinden. Dahinter verbirgt sich nicht einfach die reflexhafte Forderung „mehr Geld für den sozialen Bereich“, welche verständlich, aber nicht zielführend wäre. Voraussetzungen und Rahmenbedingungen sind genauso wichtig, damit die bereitgestellten finanziellen Mittel die Wirkung letzten Endes erzielen, die sie haben sollten. Vor Ort beim Kind ist beides notwendig und es braucht einen Staat, der dies ermöglicht und fördert, um eine Nachhaltigkeit zu erreichen.
Letztlich sind wir so weit gegangen, verschiedene Denkanstöße und drei Sofortmaßnahmen zu präsentieren, um bestehende Probleme ursächlich und nachhaltig zu lösen. Unsere Beispiele haben wir unterlegt mit Untersuchungsergebnissen sowie Erfahrungen aus den Archen und als Praxisbeispiele veranschaulicht. Wir wollen damit eine Diskussion anstoßen – bei Ihnen zu Hause oder in Ihrem Unternehmen. Oder sogar zu Aktivitäten, zum Einbringen Ihrer Fähigkeiten motivieren.
Lassen Sie sich darauf ein, die Themen anders zu betrachten und neu zu denken! Entwickeln Sie mit Ideen, wie Sie sich einbringen können! Wachen Sie auf, damit Deutschlands Kinder nicht ausgeträumt haben!
KAPITEL 2
VERWAHRLOSUNG, MISSHANDLUNGEN, TOD
UNTERNIMMT UNSER SOZIALSTAAT WIRKLICH ALLES, UM KINDER ZU RETTEN?
Fast täglich berichten Medien über Schicksale von Kindern, die Hunger, Verwahrlosung und Schläge erleben. Sie schockieren uns. Leider wiederkehrend. Kopfschüttelnd fragen wir uns, wie Eltern zu solchen Taten fähig sein können. Wie kann es sein, dass Kinder ihren Eltern über Tage, Wochen oder Monate bis in den Tod ausgeliefert sind, ohne dass jemand anderes davon erfährt? Wurden Schreie hinter der Nachbartür nicht gehört? Hämatome als bloße Spielplatzbeulen angesehen? Oder einfach sich nicht getraut, mit offenen Augen hinzusehen und couragiert das Herz in die Hand zu nehmen?
Im Jahre 2011 wurde 12.700-mal hingeschaut und gehandelt. So oft haben Familiengerichte Eltern das Sorgerecht ganz oder teilweise aberkannt, weil Jugendämter, Nachbarn, Erzieher den Mund aufgemacht haben. Zwar wird heute das Sorgerecht öfter als früher entzogen, dennoch ist die dahinterstehende Entwicklung besorgniserregend. Noch nie zuvor waren so viele Kinder von einer Inobhutnahme betroffen. Waren es vor fünf Jahren gerade mal fünf Kinder und Jugendliche von 10.000, ist die Zahl der heute Betroffenen doppelt so hoch, wie das Statistische Bundesamt herausgefunden hat. Eine rasante tendenzielle Entwicklung.
In der Arche sind wir täglich damit konfrontiert mitzuerleben, dass unsere staatlichen Sicherungen nicht ausreichend sind, um das Wohl eines Kindes ausreichend zu schützen. Wie ich (Bernd Siggelkow) im Falle von Chantal sehr direkt miterleben musste:
CHANTAL – DIE GESCHICHTE EINES VIEL ZU KURZEN LEBENS
Heiß stand die Sonne über unserem Sommercamp. Überall auf dem Gelände wuselten die Kinder aus Hamburg. Sie waren in ihren Ferien zu uns gekommen, um Spaß, Erholung und Action zu erleben. Einige spielten Fußball oder spritzten sich mit Wasser ab, andere saßen unter einem großen Pavillon und spielten „Uno“, „Elfer raus“ oder „Skippo“. Wieder andere hatten auf Stühlen vor den Zelten Platz genommen. Sie lachten, naschten Süßes und unterhielten sich. Die Atmosphäre war vertraut und zwanglos. Die Kinder genossen jede Minute dieser wunderbaren Woche. Viele waren noch nie zuvor im Urlaub gewesen und einige hatten ihr Viertel in Hamburg überhaupt zum ersten Mal verlassen. Dass während der Busfahrt manche Kinder bereits nach einer halben Stunde gefragt hatten, wann wir endlich da wären, war also wenig verwunderlich.
Auf dem Zeltplatz war nichts zu spüren von all dem Druck, dem viele dieser Kinder täglich ausgesetzt sind. Weder sorgten sie sich wie sonst ums Geld und Essen noch mussten sie um Geborgenheit und Liebe betteln. Nicht eine Sekunde mangelte ihnen etwas von dem, wofür sie sonst so hart kämpfen mussten. Unsere Mitarbeiter schenkten ihnen Aufmerksamkeit und spielten mit ihnen. Keins der Kinder vermisste elektronisches Plastikspielzeug oder den Fernseher und nur sehr selten gab es Streit untereinander. Die Kinder konnten endlich mal sie selbst sein.
Der Tag endete für sie damit, dass unsere Betreuer sie zu Bett brachten, ihnen noch eine Geschichte erzählten und gespannt den Erlebnissen des Tages lauschten. Mit den Worten „Ich hab dich lieb“ im Ohr schliefen die Kinder glücklich ein, um am nächsten Tag fit zu sein für ein neues Abenteuer.
Eines Nachmittags kamen zu mir ein paar Kids, die sich für mein Quad interessierten. Sie setzten sich zu mir auf das Fahrzeug. Neugierig fragten sie nach den verschiedenen Funktionen und brummten lauthals los, als ob sie die Maschine gerade gestartet hätten. Sarah saß in der Mitte, neben ihr Precious und hinter dem Fahrzeug stand Chantal, ein sehr aufgewecktes, fröhliches und vor allem interessiertes elfjähriges Mädchen. Sie kam nicht aus unserer Hamburger Arche, sie war mit drei anderen Kindern aus der „Insel Arche“ Hamburg-Wilhelmsburg mitgekommen. Die Insel Arche ist ein Projekt ähnlich unserer Arbeit, das sich um sozial benachteiligte Kinder kümmert. Da diese Einrichtung keine Feriencamps anbot, fragten uns die Verantwortlichen, ob einige ihrer Kinder, Chantal und ihre Freunde, bei uns mitfahren dürften.
Die drei Kids wollten nicht nur das Quad anschauen. Im Stillen hofften sie darauf, mit mir eine Runde ums Gelände zu fahren, was ich ja auch zweimal am Tag tat. Natürlich konnte ich ihren bittenden Blicken nicht widerstehen und so warf ich das vierrädrige Motorrad an. Blitzschnell bildete sich eine Schlange, denn nun wollten noch mehr Kinder mitfahren. Als Chantal dran war, freute sie sich besonders. Sie hatte richtig Spaß an der Fahrt. Obwohl sie vorher niemanden kannte, hatte das dunkelblonde Mädchen mit ihren hübschen Augen und ihrer liebevollen Art schnell Anschluss im Feriencamp gefunden. Sie war sehr interessiert, das Gelände zu erkunden, am liebsten jedoch blieb sie bei den Pferden, denn Tiere mochte sie ganz besonders. So stellte sie sich beim Reiten auch immer geduldig in die Schlange. Nur nach ihrem Ritt wollte sie eigentlich gar nicht mehr absteigen. Auch im Schwimmbad war die kleine Elfjährige begeistert dabei. Sie rutschte durch die Tunnelrutsche und konnte kaum glauben, dass diese Schwimmhalle die einzige Bergauf-Rutsche Deutschlands besaß. Unser Team war sich sicher, dass diese Ferien für Chantal wie für alle anderen Kinder ein ganz besonderes Erlebnis waren.
···
Ein paar Monate später, die sommerlichen Temperaturen waren schon längst vergessen und der Winter war in Deutschland eingezogen, hatte ich einen Termin in Bayern. Ich fuhr mit dem Auto dorthin und stimmte mich gedanklich bereits auf den Vortrag ein, den ich am Abend halten sollte. Nebenbei hörte ich Musik. Meine Gedanken wurden durch das Klingeln meines Mobiltelefons unterbrochen. Die Freisprecheinrichtung stellte das Radio stumm und ich drückte den Knopf „Annehmen“.
„Hallo Bernd, hier ist Tobias aus der Arche Hamburg.“ Dass es Tobias war, hatte ich allerdings schon auf meinem Display gesehen. Er klang nicht so fröhlich wie sonst, wenn wir telefonierten.
„Hast du heute schon Nachrichten gehört?“, war seine Frage, die ich mit Ja beantworten konnte. Er fragte mich, ob ich von dem toten Kind in Hamburg gehört hätte. Ich wusste davon und bereits vor Tobias’ Anruf hatte mich diese schreckliche Meldung beschäftigt. Schon wieder ein totes Kind in Deutschland. Waren es nicht schon genug von überforderten Müttern ausgesetzte Babys? Oder Kinder, die an den Folgen von Verwahrlosung gestorben sind? Und schon wieder in Hamburg. Es war doch erst wenige Jahre her, dass die siebenjährige Jessica in Hamburg-Jenfeld verhungerte.
„Bernd, was ich dir jetzt sage, wird dich schockieren, versuch den Wagen irgendwo abzustellen.“ In diesem Moment hatte Tobias Lucht meine gesamte Aufmerksamkeit. Ich wechselte auf die rechte Spur und versuchte mich auf die Fahrbahn wie auch die nächste Information zu konzentrieren und die Ausfahrt zum nächsten Parkplatz zu erwischen, denn wenn es um Kinder geht, bin ich sehr achtsam und sensibel.
„Du kennst dieses Kind“, sagte Tobias. Blut schoss mir in den Kopf, mein Herz fing an zu rasen und meine Finger zitterten. Mit so einer schrecklichen Nachricht hatte ich nicht gerechnet.
„Sie war mit uns im Sommercamp. Chantal aus der Insel Arche aus Wilhelmsburg. Kennst du sie noch?“ Ich kämpfte mit den Tränen und bejahte Tobias’ Frage.
„Wir haben auch geweint, als wir es gehört haben“, sagte er.
Mir war schlecht und zittrig zugleich. Am liebsten wäre ich ausgestiegen und hätte mit voller Wucht irgendwo gegen geschlagen. Dieses liebevolle Mädchen, dieser wundervolle Mensch, der noch nie jemandem etwas getan hatte. All ihre Wünsche und Träume, all ihre Hoffnungen und Zukunft waren zerplatzt wie eine kleine Seifenblase. Ich sagte leise vor mich hin: „Bei Gott ist alles gut, Chantal.“ Mich aber konnte das in diesem Moment nicht trösten.
···
Nach meiner Reise verfolgte ich intensiv die Berichterstattung über Chantal, da ich zu diesem Thema auch in einigen Talkshows auftreten sollte. Den Nachrichten konnte man entnehmen, dass Chantal bei einer Pflegefamilie gelebt hatte. Die Elfjährige wollte selbst dorthin, weil ihre Freundin dort auch lebte. Bei ihrem leiblichen Vater durfte Chantal nicht bleiben; er war drogenabhängig. Dennoch verstand sie sich gut mit ihm und seiner Lebensgefährtin. Oft war sie zu Besuch, denn ihr Vater lebte in unmittelbarer Nähe zur Pflegefamilie. Im großen Bericht, den das Hamburger Abendblatt über das kurze Leben von Chantal geschrieben hatte, las ich von etwas, das ich nur allzu gut nachvollziehen konnte: Chantal wollte mal Tierärztin werden.
Ein freier Träger, der vom Jugendamt eingesetzt war, hatte regelmäßig Chantal und die Familie besucht, um zu sehen, ob es ihr gut ging. Solche Besuche werden immer angemeldet, insofern ist die Situation seitens der Pflegefamilien meist gut vorbereitet. Das soll nicht heißen, dass Pflegefamilien ihrer Aufgabe nicht richtig nachgehen, nur wer sich um Kinder kümmert, sollte freiwillig transparent sein, weil er immer das Wohl des Kindes vor Augen hat.
Es stellte sich heraus, dass weder das Jugendamt noch der eingesetzte Träger in Kenntnis waren, dass Chantals Pflegeeltern an einem Methadonprogramm teilnahmen, da sie drogenabhängig waren. Zudem gingen, obwohl von außen gesehen nichts auffällig war, fünf Hinweise an das zuständige Jugendamt. Ein Nachbar, der anonym eine Anzeige machen wollte, wurde vom Sachbearbeiter telefonisch abgewiesen mit den Worten: „Anonym geht mal gar nicht!“
Chantal starb an den Folgen einer Methadonvergiftung. Wie das elfjährige Mädchen an das Methadon gekommen ist, bleibt für viele schleierhaft. Aber sicher ist, dass das Kind nicht in einem Umfeld eingebettet war, wie es ein Kind braucht und auch verdient.
Weiteren Nachrichten entnahm ich, dass Chantal nur wenige Tage vor ihrem Tod eine Nachricht an ihren Vater geschickt hatte mit den Worten: „Bitte hole mich aus dieser schrecklichen Familie.“ Und obwohl scheinbar ein guter Kontakt zu dieser Familie bestand und das Jugendamt von diesem Brief wusste, passierte nichts.
Chantal starb am 16. Januar 2012. Später gab die verbeamtete Jugendamtsleiterin ihren Posten ab und der Stadtrat trat zurück. So antwortet die Gesellschaft üblicherweise; es ist ein Schuldiger auszumachen. Lehren aus dem Geschehen werden jedoch nicht gezogen. In zwei Sendungen von Markus Lanz stellte ich daher die Frage, welche Schlüsse man aus den vielen verwahrlosten und gestorbenen Kindern ziehen würde. Vonseiten der Behörden gab es bis heute keine Reaktion.
WAS LEHRT UNS DAS SCHICKSAL VON CHANTAL?
Nichts macht Chantal wieder lebendig. Mit dieser Trauer müssen wir, allen voran die Angehörigen, leben, wie auch mit dem Versagen der Behörden. Gleichsam stehen wir in der Pflicht, Fragen zu stellen, wie man Chantals Tod hätte verhindern können. Nicht um konjunktivisch in der Vergangenheit zu verharren und neue Vorwürfe zu schmieden, was im Falle Chantal alles versäumt wurde, sondern um gezielt das Lebensumfeld bedrohter Kinder zu ändern und aktiver zu kontrollieren. Denn Chantals viel zu kurze Lebensgeschichte und das sich stetig wiederholende Schicksal missbrauchter, verwahrloster und getöteter Kinder führen vor Augen, dass unser gut organisierter Sozialstaat, der in Europa mit seinen aufgebauten Strukturen und Systemen seinesgleichen sucht, eklatante Lücken aufweist und einen falschen Fokus hat. In unserem Sozialstaat bleiben trotz aller sozialen Sicherungsmaßnahmen, Zuständigkeiten und Fördergelder für Menschen, die sich selbst nicht wehren können, auf der Strecke. Aus der Wahrnehmung von mir (Bernd Siggelkow) sterben pro Woche drei Kinder an den Folgen von Gewalt oder Verwahrlosung.1 So etwas darf in einem Staat, der sich Sozialstaat nennt, einfach nicht passieren. Genauso wenig wie, dass nach unsrer Wahrnehmung in Ballungsgebieten auf einen Sachbearbeiter im Jugendamt bis zu 120 Kinder kommen2. Beides ist leider bittere Realität und verlangt nach Ursachensuche und Sofortmaßnahmen.
BEI HUNDEN REAGIERT DEUTSCHLAND SCHNELLER
Nachdem im Sommer 2000 in einem Schulhof in Hamburg-Wilhelmsburg der sechsjährige Volkan infolge eines Angriffs durch einen Staffordshire und Pitbull verblutete, war die Nation schockiert. Im Eiltempo erließen Politiker in den folgenden Wochen und Monaten in den einzelnen Bundesländern Kampfhundverordnungen. Eine Kommission aus Tierärzten, Tierpsychologen und anderen Fachleuten wurde eingesetzt, um die schrecklichen Hundebisse miteinander zu vergleichen und um zu prüfen, wie künftig ein besserer Schutz aussehen könnte. Leinenzwang, Maulkorbpflicht, Meldepflicht für bestimmte Rassen wurden erlassen und von den Hundehaltern galt es bestimmte Voraussetzungen für den Besitz eines Tieres zu erfüllen. Die Verordnungen zeigten damals tatsächlich Erfolg. Die Zahl der gemeldeten Hundebisse in Berlin sank binnen eines Jahres von 1816 (im Jahr 1999) auf 1140 (im Jahr 2000).
Was aber passiert, wenn Kinder von ihren eigenen Eltern oder Pflegeeltern missbraucht oder vernachlässigt werden? Sind wir nicht imstande, dann auch binnen weniger Wochen und Monate strikte Verordnungen zu erlassen, die künftig weitere Tragödien verhindern? Welche Schlüsse hinsichtlich besserer Schutz- und Kontrollorganismen ziehen wir durch ihre Namen und Geschichten:
…
Jessica, 7 Jahre alt, qualvoll verhungert in Hamburg-Jenfeld (2005).
Kevin, 2 Jahre alt, verwahrlost und zu Tode misshandelt in Bremen (2010).
Chantal, 11 Jahre alt, vergiftet durch Methadon in Hamburg-Wilhelmsburg (2012).
Kieron,2 Jahre alt, verdurstet neben seiner an Drogenkonsum verstorbenen Mutter in Leipzig (2012).
Lea-Sophie, 2 Jahre alt, vom Lebensgefährten der Mutter zu Tode geprügelt in Köln (2013).
…?
Dass ein konsequent beherztes Durchgreifen und Handeln zum Schutz und Wohl des Kindes von Erfolg gekrönt sein kann, verdeutlicht die Geschichte von Sharlyn, die ich (Bernd Siggelkow) in Berlin, unweit unserer Arche in Berlin-Hellersdorf, dieses Jahr Pfingsten miterlebt habe:
SHARLYN – ENTFÜHRT, ABER NICHT AUFGEGEBEN
Der Himmel über Berlin war blau dieses Jahr Pfingstmontag. Auf den Straßen ging es ruhig zu, nur wenige Menschen ließen sich blicken. Vermutlich nutzten viele das verlängerte Wochenende für einen Ausflug. Gegen Mittag unterbrach ein Hubschrauber die Stille im Berliner Stadtteil Hellersdorf. Unentwegt kreiste er über den Kiez und er machte keine Anstalten zu landen. Hier war kein Rettungshubschrauber im Anflug zu einem Unfallort, sondern die Polizei schien irgendetwas oder irgendjemanden zu suchen. Nur kurze Zeit später fuhren Polizeibusse durch die Straßen. Und die Polizei gab bekannt, dass ein achtjähriges Mädchen gesucht werde. Ihr Name: Sharlyn.
Noch am Vormittag hatte sie mit ihrer ein Jahr jüngeren Schwester auf dem Spielplatz gespielt. Letztere war gegen 11 Uhr kurz hoch in die Wohnung der Großmutter gegangen. Als sie zurückkam, lag nur noch Sharlyns Spielzeug im Sand. Von dem Mädchen fehlte jede Spur. Da es sich bei Sharlyn um ein gewissenhaftes Mädchen handelte, die nicht einfach irgendwohin rannte, wurde um 12:30 Uhr die Polizei informiert.
Die Beamten befürchteten das Schlimmste und leiteten sofort eine Großfahndung ein. Spürhunde und ein Hubschrauber mit Wärmebildkameras unterstützten die Polizisten am Boden, die auch mit Lautsprecherdurchsagen nach dem Mädchen suchten. Sogar Nachbarn und Bekannte beteiligten sich an der stundenlangen Suche nach dem kleinen Mädchen.
Nicht nur den Hellersdorfern stockte einen ganzen Tag lang der Atem. Als ich am Abend die Suche nach dem Mädchen in Facebook postete, las ich auf verschiedenen Seiten von der Ohnmacht der Menschen, die von Sharlyns Verschwinden bereits im Newsticker gelesen hatten. Gemeinsam mit der Arche forderte ich unsere Freunde auf, die Suche nach Sharlyn an ihre Freunde weiterzugeben. Jegliche Kanäle sollten genutzt werden, um die Kleine zu finden – die Solidarität war gewaltig. Allen war bewusst, dass hier ein Kind entführt worden war, und zwar am helllichten Tag um 11 Uhr von einem öffentlichen Spielplatz. Wie konnte das passieren? Hatte keiner hingeguckt? Wollte das keiner sehen?
„Bitte nicht schon wieder“, schrie es aus dem Innern aller Beteiligten, denen sofort die Bilder und Schlagzeilen von all den entführten, missbrauchten und getöteten Kindern in den Kopf schossen. Sie alle, die Helfer vor Ort wie die Menschen vor dem PC oder Fernseher, hofften und beteten, dass Sharlyn wohlbehalten gefunden würde.
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Um 22 Uhr berichtete der Rundfunk Berlin-Brandenburg: „Vermisste Achtjährige in Berlin wieder aufgetaucht.“ Diese Botschaft verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Sharlyn klingelte um 21:30 Uhr bei ihrer Oma mit den Worten: „Oma, ich bin wieder da.“ Die Erleichterung war überwältigend.
Wo aber war Sharlyn die letzten elf Stunden gewesen? Uns in der Arche beschäftigte diese Frage. Natürlich waren wir alle froh, dass die große Suchaktion erfolgreich verlaufen war. Nur vielleicht hatte sie einem Kind sogar das Leben gerettet.
Am nächsten Tag konnte man in den Zeitungen mehr über Sharlyns Verschwinden erfahren. Tatsächlich wurde das Mädchen von einem 25-jährigen Mann entführt, der zurückgezogen in der Nachbarschaft wohnte. Allerdings war Sharlyn von ihm nicht sexuell missbraucht worden. Gott sei Dank!
Da die Polizei Sharlyn nicht mehr am selben Abend zum Geschehen befragen wollte, warteten die Beamten bis zum nächsten Tag. Sie fanden heraus, dass Sharlyn nur eingeschüchtert, jedoch nicht bedrängt wurde. Die groß angelegte Suchaktion, die vielen Lautsprecherdurchsagen und die Fahndung hatten wahrscheinlich auf den Mann so viel Druck ausgeübt, dass es nicht zu einer schlimmeren Tat kam. Er schenkte Sharlyn noch Spielzeug, vielleicht als Schweigegeld, vermutete die Presse.
Die Achtjährige führte die Polizisten zu der Wohnung, in der sie tags zuvor gegen ihren Willen festgehalten wurde. Da niemand öffnete, brach die Polizei diese in Zusammenarbeit mit der Feuerwehr auf. Im Badezimmer fand sie einen blutüberströmten Mann, der scheinbar einen Selbstmordversuch vollzogen hatte, indem er sich die Pulsadern aufgeschnitten hatte. Ein Notarzt vor Ort stabilisierte den Mann, ehe man ihn ins Krankenhaus transportierte. Beim späteren Verhör schwieg der Täter zu den Vorwürfen; er wurde in die Psychiatrie eingewiesen.