Aussöhnung im Konflikt - Sebastian Holzbrecher - E-Book

Aussöhnung im Konflikt E-Book

Sebastian Holzbrecher

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Beschreibung

Der Briefwechsel der polnischen und deutschen Bischöfe 1965 markiert einen Wendepunkt im Verhältnis beider Episkopate zueinander. Der Tagungsband dokumentiert den deutschen und polnischen Forschungsstand zum Briefwechsel und ordnet die deutsch-polnischen Kirchenkontakte zwischen 1945 und 1990 in den historischen Kontext ein. Die entsprechenden Themenfelder (Konflikte nach 1945, "Causa Hlond", Wegbereiter der Versöhnung, Briefwechsel und seine Rezeption, gegenseitige Wahrnehmung 1978-1990) werden jeweils von deutschen und polnischen Wissenschaftlern in komplementären Beiträgen dargestellt.

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Sebastian HolzbrecherJörg Seiler

Herausgeber

Aussöhnung im Konflikt

ERFURTER THEOLOGISCHE SCHRIFTEN

im Auftrag

der Katholisch-Theologischen Fakultät

der Universität Erfurt

herausgegeben

von Josef Römelt und Josef Pilvousek

BAND 41

Sebastian HolzbrecherJörg Seiler

Herausgeber

Aussöhnung im Konflikt

Historische Perspektiven auf den Briefwechsel der polnischen und deutschen Bischöfe 1965

echter

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar

1.Auflage 2017

© 2017 Echter Verlag, Würzburg

eBook-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheimwww.brocom.de

ISBN

978-3-429-04360-5 (Print)

978-3-429-04920-1 (PDF)

978-3-429-06340-5 (ePub)

www.echter-verlag.de

INHALTSVERZEICHNIS

Inhaltsverzeichnis

Einführung

Karl-Joseph Hummel

Polen und Deutschland 1945-1990Aktive Verständigung, gelungene Versöhnung, gefährdete Normalisierung

Severin Gawlitta

Von der Langlebigkeit einer Legende

Joachim Piecuch

Vergebung – eine weltliche oder religiöse Handlung?

Helmut Jan Sobeczko

Das katholische Polen und die deutsche Kirche nach 1945 bis 1965

Sebastian Holzbrecher

„Den Hass besiegen“ – Anmerkungen zu deutschen Versöhnungsinitiativen zwischen 1945 und 1965

Konrad Glombik

Die „Causa Hlond“Darstellung in der polnischen Historiographie

Rainer Bendel

Das Bild Kardinal Hlonds auf deutscher Seite

Theresia Niesing

Wegbereiter der deutsch-polnischen Versöhnung in der DDR Gerhard Schaffran und Günter Särchen

Erwin Mateja

Wegbereiter der deutsch-polnischen Versöhnung Bolesław Kominek und Alfons Nossol

Piotr Górecki

Die Rezeption der Briefe von 1965 in der polnischen Presse Der lange Weg zur Aussöhnung

Theo Mechtenberg

Die Rezeptionsgeschichte des Briefwechsels polnischer und deutscher Bischöfe aus deutscher Perspektive

Tadeusz Dola

Die Kirche in Deutschland aus polnischer Perspektive (1978-1990)

Jörg Seiler

„Sie möchten sich versöhnen […], aber sie stören dabei immer wieder sich selbst“. Die Kirche in Polen aus deutscher Sicht (1978-1990)

Register

EINFÜHRUNG

Der Briefwechsel zwischen dem deutschen und polnischen Episkopat im November 1965 war – nach ersten Annäherungen Ende der 1950er Jahre – der wichtigste Bezugspunkt für die Versöhnungsarbeit der katholischen Kirche in Polen und Deutschland. Die Begegnungen beider Episkopate auf dem 2. Vatikanischen Konzil (1962-1965) hatten den Briefwechsel wesentlich motiviert. Obgleich die von den polnischen Bischöfen ausgehende Initiative im unmittelbaren Vorfeld verschiedenen deutschen Bischöfen und Theologen angekündigt worden war, handelte es sich doch insgesamt um ein Unternehmen, das von beiden Seiten nicht ausreichend vorbereitet war. Zugleich waren es verschiedene persönliche Kontakte im Vorfeld und im Hintergrund des Briefwechsels, die die offizielle Kontaktaufnahme erleichtert und mental vorbereitet haben.

Seit 1965 ist der polnisch-deutsche Briefwechsel wiederholt Gegenstand historischer Forschungen gewesen und wurde dabei mit unterschiedlichen Interessenslagen untersucht. Nach der frühen Edition der Texte 1966 kamen weitere Forschungsimpulse in der Regel im Kontext von Jubiläen auf. Gerade in jüngster Zeit beschäftigen sich junge Wissenschaftler mit dem Briefwechsel, seiner Entstehung, den zahlreichen Kontexten, in die er hineingestellt wurde, und seiner Rezeption.

Der vorliegende Band entstand anlässlich einer Tagung zum 50. Jubiläum des Briefwechsels im Oktober 2015. Er beinhaltet im Wesentlichen1 die Beiträge der Tagung, die durch das Theologische Forschungskolleg der Universität Erfurt (Kath.-Theol. Fakultät) und der Forschungsstelle für kirchliche Zeitgeschichte in Erfurt veranstaltet wurde. Das Ziel der Tagung mit deutschen und polnischen Teilnehmerinnen und Teilnehmern bestand darin, die bislang landesspezifisch geprägten Positionen aus Polen und Deutschland auszutauschen und sie komparativ miteinander ins Gespräch zu bringen. Wir danken den Kollegen der Theologischen Fakultät der Universität Opole/Oppeln, dass sie mit uns die verschiedenen Perspektiven diskutiert haben. Ausgewählte Themenfelder wurden deshalb jeweils durch einen Beitrag aus polnischer und deutscher Perspektive aufgegriffen und behandelt. Auf diese Weise konnten nicht nur Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Beschreibung, Wahrnehmung und Analyse der historischen Ereignisse und Prozesse herausgearbeitet werden. Zugleich ermöglichte dieses Vorgehen eine Rezeption der – in Deutschland oftmals unbekannten – polnischen Forschungsliteratur zu bestimmten Themen und Fragekomplexen.

Theresia Niesing (in Vertretung von Josef Pilvousek) und Jörg Seiler erwiderten den Besuch der polnischen Kollegen und referierten über ihre Themen auf der Tagung „50 lat wymiany listów biskupów polskich i niemieckich ‚Przebaczamy i prosimy o przebaczenie’. Konferencja naukowa zorganizowana przez. Katedrę historii Kościoła i Patrologii Wydziału Teologicznego Uniwersytetu Opolskiego oraz Theologisches Forschungskolleg (Universität Erfurt)“ im Dezember 2015 an der Theologischen Fakultät der Universität Opole/Oppeln.

Den verschiedenen Blöcken mit thematischen Doppelbeiträgen des vorliegenden Tagungsbandes sind drei einführende Aufsätze voran gestellt. Karl-Joseph Hummel unternimmt in seiner weitgreifenden historischen Überblicksdarstellung „Polen und Deutschland 1945-1990“ eine Verortung des Briefwechsels innerhalb des deutsch-polnischen Versöhnungsprozesses, der als eine schwierige und bleibende Herausforderung beschrieben wird, die immer wieder vor der Gefahr stand, einer nicht unproblematischen Normalisierung zu erliegen. Severin Gawlitta rekonstruiert in seinem Beitrag „Von der Langlebigkeit einer Legende“ akribisch die Entwicklungen von Oktober bis Dezember 1965 und versucht dabei die Legende von der missglückten Zustellung des polnischen Versöhnungsbriefs und der dadurch entstandenen Verzögerung des deutschen Antwortbriefes zu entlarven und auf ihren historischen Kern hin zu untersuchen. Eine philosophisch-theologisch orientierte Spurensuche unternimmt Joachim Piecuch mit seinen Erörterungen zu „Vergeltung – eine weltliche oder religiöse Handlung?“ und steuert dabei eine Reflexion zum Versöhnungsbegriff bei, der verschiedene Anknüpfungspunkte zu weiteren Aufsätzen des Bandes bietet.

Die ersten beiden Doppelbeiträge widmen sich der gegenseitigen Wahrnehmung von Deutschland und Polen in der Zeit von 1945 bis 1965. Dabei stellen Helmut Sobeczko und Sebastian Holzbrecher nicht nur historische Etappen auf dem Weg zum Briefwechsel vor, sondern gehen auch auf Versöhnungsinitiativen vor 1965 ein.

Im zweiten Themenblock wird die – noch immer als „heißes Eisen“ zu bezeichnende – „Causa Hlond“ aus polnischer und deutscher Perspektive vorgestellt und anhand des jeweils aktuellen Forschungsstandes in Deutschland und Polen diskutiert. Konrad Glombik zeichnet dabei die unterschiedlichen Wahrnehmungen und Darstellungen über den polnischen Primas August Kardinal Hlond (1881-1948) in der polnischen Historiographie nach, während Rainer Bendel die deutschsprachige Forschungsliteratur, noch immer mit dem Schwerpunkt auf den Forschungen von Scholz, präsentiert. Eine synthetisierende Untersuchung unter Heranziehung sowohl der polnischen als auch der deutschen Forschungsliteratur – dies zeigen die weiterhin stark differierenden Interpretationen – wäre nunmehr wünschenswert.

Auf konkrete Wegbereiter der Versöhnung dies- und jenseits der lange Zeit höchst umstrittenen Oder-Neiße-Grenze geht der dritte Doppelblock ein. Auf deutscher Seite werden der Meißner Bischof Gerhard Schaffran (1912-1996) und der Leiter der Magdeburger „Arbeitsstelle für pastorale Hilfsmittel“, Günter Särchen (1927-2004), als Pioniere der Versöhnung vorgestellt, wobei Theresia Niesing dabei auf den Tagungsvortrag von Prof. Dr. Josef Pilvousek zurückgreifen konnte. Auf polnischer Seite werden zwei Schlesier von Erwin Mateja exemplarisch portraitiert, die ebenfalls zur Avantgarde der Versöhnung zu zählen sind: der Breslauer Kardinal Bolesław Kominek (1903-1974) und der Oppelner Erzbischof Alfons Nossol (*1932). Diese biografischen Zugänge eröffnen einen Blick auf die netzwerkartigen Strukturen zwischen polnischen und deutschen Katholiken, die bereits vor dem Briefwechsel existierten und die seine Entstehung und die Umsetzung seines Anspruchs in späteren Jahren mit beeinflusst haben.

Die äußerst schwierige und höchst konfliktreiche Rezeptionsgeschichte der beiden Versöhnungsbriefe wird im vierten Themenblock wiederum aus polnischer und deutscher Perspektive analysiert und dargestellt. Piotr Górecki zeichnet den aggressiven Umgang der polnischen Regierung und v.a. die mediale Hetzjagd gegen die Verfasser und Ideen des Versöhnungsbriefs in Polen nach und skizziert dabei die verschiedenen Dilemmata, vor denen die polnischen Bischöfe nach der Veröffentlichung der Briefe standen. Theo Mechtenberg skizziert komplementär dazu die Rezeptionsgeschichte der Briefe aus deutscher Sicht, wobei er einen Schwerpunkt auf den Umgang mit den Versöhnungsbotschaften in der DDR legt.

Die Wahl des Krakauer Erzbischofs Karol Wojtyła zum Papst Johannes Paul II. 1978 stellt zweifellos eine wichtige, wenn auch nicht unumstrittene Wegmarke für das Verhältnis zwischen Deutschen und Polen dar. Deshalb nimmt der abschließende Themenblock nochmals die gegenseitige Wahrnehmung und das Gegen- und Miteinander von Deutschen und Polen in der ersten Hälfte des Pontifikats von Johannes Paul II. in den Blick. Tadeusz Dola beschreibt dabei die polnische Perspektive auf die katholische Kirche in Deutschland, wie sie sich in der polnischen Publizistik niederschlug. Den Schwierigkeiten, Problemen und den „atmosphärischen Störungen“ im deutsch-polnischen Versöhnungsprozess bis 1990 geht Jörg Seiler nach, wobei auch er die medialen Diskussionen (v.a. in der Herder-Korrespondenz) und die (Nicht-)Bezugnahme auf den Briefwechsel anlässlich der Reisen von Johannes Paul II. in die Bundesrepublik thematisiert.

Die zahlreichen Tagungen zum 50. Jubiläum des polnisch-deutschen Briefwechsels im Jahr 2015 werden den historischen Forschungsstand in vielerlei Hinsicht ergänzen. Der vorliegende Band möchte seinen Teil dazu beisteuern und vor allem den aktuellen polnischen Forschungsstand für deutschsprachige Leserinnen und Leser zugänglich machen. Es wird weiteren Arbeiten vorbehalten sein, die sich hieraus ergebende Synthese im Rahmen einer bi- bzw. trilateralen Beziehungsgeschichte der katholischen Kirche in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts zu erforschen.

Unser Dank gilt den Herausgebern der Reihe Erfurter Theologische Schriften, Prof. Dr. Josef Pilvousek – der zugleich die Tagung mit vorbereitet hat – und Prof. Dr. Josef Römelt. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat die polnisch-deutsche Tagung finanziell gefördert, wofür wir gerne Dank abstatten. Den Mühen der redaktionellen Arbeit unterzogen sich Herr Benjamin Litwin (Studentische Hilfskraft am Lehrstuhl für Kirchengeschichte des Mittelalters und der Neuzeit der Universität Erfurt) und in besonderer Weise Herr Dr. Martin Fischer (Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Forschungsstelle für Kirchliche Zeitgeschichte Erfurt). Auch ihnen danken wir herzlich. Herr Dr. Fischer zeichnet zudem für das Register verantwortlich, das helfen möge, die Bezüge der Beiträge zueinander noch transparenter zu machen.

Erfurt, am 7. Februar 2017

Jörg Seiler / Sebastian Holzbrecher

1 Auf Wunsch von Urszula Pękala wurde ihr Tagungsbeitrag „Europa und die deutsche und polnische Kirche im 21. Jahrhundert“ nicht in den Tagungsband aufgenommen. Eingang fand dafür der Beitrag von Joachim Piecuch „Vergeltung – eine weltliche oder religiöse Handlung?“

POLEN UND DEUTSCHLAND 1945-1990 AKTIVE VERSTÄNDIGUNG, GELUNGENE VERSÖHNUNG, GEFÄHRDETE NORMALISIERUNG

Karl-Joseph Hummel

1. Die verspätete Avantgarde

Die von deutschen Katholiken nach 1945 übernommene Rolle einer „Avantgarde der Versöhnung“1 im Europa des Kalten Krieges begann nicht unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, sondern erst in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre nach einer „Phase des kollektiven Beschweigens“2 Die deutschen Katholiken verbanden mit ihren „außenpolitischen“ Aktivitäten – zeitlich versetzt – drei Hauptziele: den Aufbau freundschaftlicher Beziehungen mit dem „katholischen“ Frankreich3 im Westen, die Verbesserung des jüdisch-christlichen Dialogs und die Versöhnung mit dem östlichen Nachbarn, dem katholischen Polen.4

Auf der politischen Ebene forderte Konrad Adenauer in seiner ersten Regierungserklärung am 20. September 1949: „Der deutsch-französische Gegensatz […] muss endgültig aus der Welt geschafft werden.“5 Das bilaterale Verhältnis zu Polen stand bei dem Gründungskanzler der Bundesrepublik Deutschland 1949 noch nicht auf der Prioritätenliste. Adenauer sprach davon nur in den Konfliktpunkten „Oder-Neiße-Linie“ und „Vertreibung“, die „in vollem Gegensatz zu den Bestimmungen des Potsdamer Abkommens“ vorgenommen worden sei.6

Die Wiederanknüpfung von Beziehungen zwischen den polnischen und deutschen Katholiken verzögerte sich aus ganz unterschiedlichen Gründen, war immer wieder von Rückschlägen betroffen und verbesserte sich in Abhängigkeit von den allgemeinpolitischen Konjunkturen des Kalten Krieges lange Jahre weder stetig noch nachhaltig. Erfahrene Beobachter warben dennoch um Geduld. Mit der naiven Vorstellung, sich gleich versöhnen zu können, zeige man nur, dass man keine Vorstellung davon habe, was zwischen Polen und Deutschen alles zu bewältigen sei. Innerkatholisch dauerte es immerhin 20 Jahre bis zu dem berühmten Briefwechsel der Bischöfe von 1965, an den wir mit dieser Tagung erinnern.7 Als Julius Kardinal Döpfner 1970 auf der Würzburger Jahresversammlung von Pax Christi feststellte: „An die erste Stelle gehört zweifellos, und zwar auf viele Jahre hinaus, die Verständigung und Versöhnung mit Polen“8, war dies alles andere als eine Erfolgsmeldung nach 25 Jahren intensiver Anstrengung, sondern eher das Eingeständnis, dass hier offensichtlich noch ein großer Nachholbedarf bestand.

Die erste Reise nach Polen als Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz unternahm Julius Kardinal Döpfner 1973. 1978 besuchte erstmals eine polnische Bischofsdelegation die Bundesrepublik Deutschland. Der erste Besuch eines deutschen Bundeskanzlers in Warschau – Willy Brandts Kniefall gehört zu den Ikonen symbolischer Politikinszenierung – fand 25 Jahre nach Kriegsende 1970 statt. Der Warschauer Vertrag von 1972 sollte erst einmal die „Grundlagen der Normalisierung“ legen. Von dort zur „Normalisierung“, dann zur „Verständigung“ und schließlich zur „Versöhnung“ war ein weiter Weg. 1972 wurden die ersten Botschafter ausgetauscht. Das Deutsch-Polnische Jugendwerk nahm seine Arbeit am 1. Januar 1993 auf – fast genau 30 Jahre nach dem deutsch-französischen Vorbild.

2. Menschen der Versöhnung

Bundeskanzler Willy Brandt war sich bei seinem Besuch in Warschau wohl bewusst: „Das Gespräch der Kirchen und ihrer Gemeinden war dem Dialog der Politiker voraus.“9 Die Geschichte der polnisch-deutschen Versöhnung nach 1945 ist in der Tat auf beiden Seiten zunächst die Geschichte privater Einzelinitiativen und nicht vorrangig die Geschichte politisch-diplomatischer Beziehungen oder offizieller institutioneller Kontakte. „Jene katholischen und evangelischen Christen, denen die deutsch-polnische Aussöhnung mehr bedeutete als polit-ökonomische Kontakte, waren und sind auch heute eine Minderheit. Aber sie haben – in diesem Fall – Geschichte gemacht.“10

„Beiden Kirchen kommt das Verdienst zu, in der Breite der Gesellschaft in Deutschland wie in Polen eine Diskussion ausgelöst zu haben, die letztlich die Voraussetzung dafür schuf, die starren Fronten politischen Denkens aufzubrechen und neue Wege zu gehen. Wir haben es hier mit dem seltenen, vielleicht in der Bundesrepublik in dieser Form einmaligen Fall zu tun, dass von den Kirchen ohne direkte politische Einmischung, doch in Wahrnehmung ihres Auftrags, zu den Lebensfragen unseres Volkes Stellung zu nehmen, Impulse von zukunftsträchtiger Wirksamkeit ausgingen.“11

Basil Kerski hat darauf aufmerksam gemacht, dass die polnisch-bundesrepublikanischen Beziehungen dadurch bereits lange vor 1990 Elemente der Vergesellschaftung aufwiesen, die sonst nur in den bilateralen Beziehungen zwischen Demokratien aufgeführt werden:

„Mit dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems kam in Polen eine politische Elite an die Macht, die in den vorhergehenden Jahrzehnten an der Herausarbeitung einer kollektiven Identität auf der Basis von Wertekomplementarität zwischen Deutschen und Polen wesentlichen Anteil hatte.“12

Tadeusz Mazowiecki, viele Jahre einer der im Dialog mit den Deutschen engagiertesten polnischen Laien, bedankte sich 2001 für den ihm verliehenen Deutschen Nationalpreis mit den Worten: „Ich könnte jetzt die politischen Umstände der deutsch-polnischen Beziehungen aufzählen, doch die Menschen waren viel wichtiger […] ‚Menschen der Versöhnung’“13. Für Mazowiecki hatte das deutsch-polnische Verhältnis drei Dimensionen, die politische, die wirtschaftliche und die gesellschaftliche Dimension, „die des Ausbaues von Kontakten zwischen Menschen, Kulturen und Institutionen des gesellschaftlichen Lebens bedarf. Ich glaube, dass diese dritte Dimension die Aufgaben bestimmt, die vor jenen christlichen Kreisen stehen, welche für die Verwirklichung der Versöhnung zwischen unseren Völkern gewirkt haben und weiterhin wirken.“14

Einer der Pioniere der polnisch-deutschen Versöhnung, Władysław Bartoszewski, hat in seinen Erinnerungen ebenfalls besonderen Wert auf die vielen Einzelkontakte von Christen gelegt, die seit den 1960er Jahren die „schwierige Aussöhnung“ voranzubringen suchten.15 Auf deutscher Seite stimmt Bernhard Vogels Fazit mit dieser Einschätzung nahtlos überein. Auf die Frage: Wie konnte es je wieder zu einer guten Nachbarschaft zwischen Deutschland und Polen kommen? – antwortete Vogel:

„Nur weil es Menschen gab, die wider alle Hoffnung hofften und Anfänge wagten, blieb es nicht bei Verzweiflung und Resignation. Menschen in Polen und Menschen in Deutschland, die Versöhnung wollten – zwischen den Staaten und zwischen den Menschen – Menschen, die nicht auf andere und auf bessere Zeiten warteten, sondern entschlossen waren, selbst Hand anzulegen.“16

Die ersten vorsichtigen Initiativen begannen in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre. Zu den frühen Gesprächskontakten gehörte neben einer Reihe von Einzelinitiativen 1957 das Treffen deutscher Publizisten mit Redakteuren der Zeitschrift ZNAK und der Wochenzeitung Tygodnik Powszechny in Wien, auf dem der Chefredakteur der KNA, Karl Bringmann, Stanisław Stomma zu einem Besuch in der Bundesrepublik einlud, der 1958 tatsächlich auch stattfinden konnte. Eine offizielle Teilnahme polnischer Katholiken am Kölner Katholikentag 1956 bzw. 1958 in Berlin war damals dagegen noch nicht möglich.

Die emotional schwerwiegendste, bis zum heutigen Tag nicht ausgeräumte kirchenpolitische Belastung in den katholischen Beziehungen ist erst in der unmittelbaren Nachkriegszeit entstanden und wurde durch den von polnischer Seite angestrengten Seligsprechungsprozess für Kardinal Augustyn Hlond (1881-1948) Mitte der 1990er Jahre erneut in das Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. In diesem Konflikt geht es um die Frage, welche päpstlichen Sondervollmachten dem Primas 1945 zur Verfügung standen, um die deutschen Bischöfe, Weihbischöfe, Generalvikare und Domkapitel in drei ostdeutschen Diözesen (Breslau, Ermland, Freie Prälatur Schneidemühl) und den deutschen Teilen der Diözesen Prag und Olmütz zum 1. September 1945 durch Apostolische Administratoren zu ersetzen, und ob er davon in der rechten Weise Gebrauch gemacht hat. Daneben gibt es oder gab es aber auch Streitfragen, wie die „Kirchenglocken“ oder „Kirchenbücher“, die sich zu einem jahrzehntelangen Dauerbrenner mit brisantem Streitwert entwickelten.

Deutliche Veränderungen, die auch durch Umfrageergebnisse belegbar sind, ergaben sich erst in den 1960er Jahren, als z. B. von Magdeburg aus Jugendgruppen als kleines Zeichen der Sühne und des Versöhnungswillens nach Polen pilgerten, sofern die DDR-Behörden die notwendigen Genehmigungen nicht verweigerten. Ab 1964 wurde diese Initiative auch von der Aktion Sühnezeichen unterstützt und dadurch zu einem ökumenischen Anliegen. Ebenfalls 1964 – während des Frankfurter Auschwitz-Prozesses – fand eine Sühnewallfahrt statt. Die ersten Freiwilligen meldeten sich zu Arbeitseinsätzen in ehemaligen Konzentrationslagern. Vom 19. bis 24. Mai 1964 machten sich 34 „Menschen der Versöhnung“ aus Deutschland auf nach Auschwitz und trafen dort auch mit Karol Wojtyła, dem neuen Erzbischof von Krakau, zusammen. Zu einem Zeitpunkt, als viele Zeitgenossen in beiden Ländern noch in dem nationalistischen Freund-Feind-Schema der Vergangenheit gefangen waren, wurde diese Wallfahrt zum Gründungsimpuls für das bis heute segensreich tätige Maximilian-Kolbe-Werk. Durch die Beteiligung Wojtyłas, der erst seit Januar 1964 im Amt war, gelang mit dieser Wallfahrt ein erster Durchbruch, der Anfang zu deutschpolnischer Versöhnung. Der Erzbischof begrüßte jeden Einzelnen mit einem persönlichen Händedruck und versicherte, durch diese Begegnung habe eine neue Zeit begonnen, die polnischen Katholiken seien bereit, „einen neuen Geist der Versöhnung herzustellen.“17 Seine Überzeugung: „Nur durch solche Pilger- und Sühnefahrten und andere Bußwerke können wir von Gottes Barmherzigkeit die Annäherung der Völker und Religionen erhoffen“18, entsprach exakt der Einschätzung der deutschen Pilgergruppe. Für die kleinen Schritte vorwärts sollten in den deutsch-polnischen Beziehungen noch lange Jahre engagierte Einzelkämpfer und selbstorganisierte kleine Gruppen beider Kirchen, einzelne Menschen, zuständig sein, Pilger und Wallfahrer.

3. Von der Vergangenheit zur Zukunft

1960 eilte der Berliner Bischof Julius Döpfner weit voraus, als er versuchte, in einem eskalierenden Konflikt zwischen Konrad Adenauer und Primas Wyszyński zu vermitteln. Adenauer hatte auf einer Wahlkampfveranstaltung in Düsseldorf von einem „Rückkehrrecht der Ostpreußen“ gesprochen und damit eine gewaltige Protestlawine losgetreten. Primas Wyszyński meldete sich damals symbolträchtig aus der Marienburg:

„Es kommt zu Euch der Widerhall von Drohungen, die ein feindseliger Mensch aus dem fernen Westen, der hochmütig auf seine Kraft vertraut, an die Adresse unserer Heimaterde und unserer Freiheit schleudert. […] Schaut nur auf diese hohen Burgen, wo sich der Dünkel eingenistet hatte, der auf Stahl und Eisen vertraute. Wo sind sie geblieben?“19

Döpfners berühmt gewordene Berliner Hedwigs-Predigt vom 16. Oktober 1960 war der erste erfolgreiche Versuch, den Blick nicht nur auf die Konflikte der Vergangenheit, sondern auch auf die Aufgaben für eine gemeinsame Zukunft zu richten. Der damalige Berliner Bischof betonte zwar, es könne nicht Aufgabe eines Bischofs sein, politische Pläne zu entwickeln, gleichwohl stieß er mit seiner Initiative weitreichende politische Entwicklungen an, als er dem deutschen Volk dringend riet, sich drei Punkte einzuprägen:

„1. Krieg als Mittel zur Neuordnung des Verhältnisses zwischen Polen und Deutschen scheidet von vorneherein aus […] 2. Das deutsche Volk kann nach allem, was in seinem Namen geschehen ist, den Frieden nur unter sehr großen Opfern erlangen […] Beide Völker müssten völlig darauf verzichten, sich gegenseitig Untaten vorzurechnen […] 3. Für die Zukunft ist die Gemeinschaft der Völker und Staaten wichtiger als Grenzfragen.“20

Auf polnischer Seite war eine der treibenden Kräfte zur Überbrückung der Gräben zwischen Deutschen und Polen Bolesław Kominek (1903-1974). Kominek, seit Dezember 1956 bischöflicher Verwalter des Administraturbezirkes Breslau, nahm z. B. einen deutschen Vorschlag auf und regte im November 1963 in Rom an, sich gegenseitig für die Selig- und Heiligsprechungsprozesse von Edith Stein (1891-1942) und Maximilian Kolbe (1894-1942) einzusetzen. Kominek gilt auch als der geistige Vater der polnischen Einladung an die deutschen Amtsbrüder, zur Millenniumsfeier 1966 Polen zu besuchen.

Das II. Vatikanische Konzil hatte jenseits aller offiziellen Termine und Beratungen auch eine einzigartige Gelegenheit geboten, weltweit persönliche Beziehungen zu Menschen zu knüpfen, denen man sonst nie begegnet wäre, Vertrauen zu Menschen aufzubauen, mit denen eine persönliche Begegnung bis dahin nicht oder nur unter erschwerten Bedingungen möglich gewesen war. Diese Erfahrung machten auch die polnischen und deutschen Konzilsväter. Ohne ihre vertrauensbildenden Kontakte und Gespräche am Rande des Konzils wäre es am 18. November / 5. Dezember 1965 sehr wahrscheinlich nicht zu dem nicht nur die Öffentlichkeit überraschenden Briefwechsel gekommen. Will man an einem Beispiel herausfinden, ob und wie sich ein damals begründetes vatikanisch-multinationales Konzilsnetzwerk mittelfristig entwickelt hat, eignen sich die deutsch-polnischen Beziehungen 1965-1987 besonders gut.

Aus deutscher Sicht umfassen diese Jahre die Amtszeit der beiden Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz Julius Döpfner (1965-1976) und Joseph Höffner (1976-1987). Auf polnischer Seite soll Karol Wojtyła, der Erzbischof von Krakau (1964-1978), näher betrachtet werden, der nicht nur in unserem Untersuchungszeitraum – von seinem Engagement für den Briefwechsel 1965 bis zu seinen beiden Deutschlandbesuchen als Papst Johannes Paul II. 1980 und 1987 – einer der wichtigsten Gesprächspartner für deutsche Katholiken gewesen ist und der Lage der katholischen Kirche in Deutschland außergewöhnliche Aufmerksamkeit gewidmet hat. Unter dem Gesichtspunkt der bilateralen Beziehungen handelt es sich einerseits um die Zeit der wichtigen ostpolitischen Veränderungen und andererseits um die entscheidende Phase der Transformation des katholischen Polen am Ende des kommunistischen Nachkriegseuropas.

4. Konflikt und Versöhnung 1965

Bei einer Generalaudienz in Rom würdigte der ehemalige Erzbischof von Krakau, in dessen Diözese das Vernichtungslager Auschwitz lag, – inzwischen Papst Johannes Paul II. – am 28. November 1990 in einem polnischen Grußwort die Bemühungen der deutschen und der polnischen Kirche um Versöhnung, als einen bedeutenden Beitrag zum Wiederaufbau einer „moralischen Einheit Europas“. Die „prophetische“ Botschaft von 1965 sei ein Pionierschritt für die Aussöhnung in Frieden und Gerechtigkeit gewesen.21

Erzbischof Józef Michalik und Karl Kardinal Lehmann zogen 2005 in einer Gemeinsamen Erklärung zum 40. Jahrestag des Briefwechsels das Fazit:

„‘Wir vergeben und bitten um Vergebung‘. In diesem Wort gipfelte 20 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ihre Versöhnungsbotschaft. Dieser Satz hat höchste Wirkmächtigkeit entfaltet und sich tief in das historische Bewusstsein der Völker eingegraben. […] Dieser Briefwechsel hat Sprachlosigkeit überwunden.“22

Aus der Sicht des Jahres 1965 musste man zwangsläufig noch zu einer anderen Einschätzung kommen. Für die Zeitgenossen beherrschten Streit und Konflikt, Spannungen und Missverständnisse die Szene, die Konflikte der Vergangenheit dominierten die Tagesordnung der Gegenwart. Die Polnische Bischofskonferenz hatte 1965 zunächst zum „20. Jahrestag des Aufbaus ‚polnischen Kirchenlebens in den West- und Nordgebieten am 1. September 1965‘ an die Neuorganisierung des kirchlichen Lebens in den polnischen Westgebieten durch Kardinal Hlond erinnert und behauptet: „Diese Entscheidungen wurden von Rom approbiert.“23 Die bevorstehenden Feierlichkeiten des Millenniums „werden ein besonderer Ausdruck der allgemeinen Überzeugung und eine Manifestation des Willens des polnischen Gottesvolkes – der Bischöfe, Priester und Gläubigen – sein, eine Manifestation des ungebrochenen Willens, in diesem Gebiet auszuharren, da diese Erde untrennbar mit dem polnischen Mutterland vereint ist.“24 Dies sei, so der Primas, „Standpunkt aller Kinder des polnischen Volkes, die ohne Rücksicht auf ihre politische Orientierung und Weltanschauung, im Sinne der natürlichen Gerechtigkeit die Westgebiete als untrennbar vereint mit dem polnischen Mutterland erachten.“ Papst Johannes XXIII. habe die Westgebiete als „nach Jahrhunderten wiedergewonnene Erde Polens“25 bezeichnet. In einer provozierenden Predigt im Breslauer Dom am 31. August 1965 vertrat Kardinal Wyszyński die Meinung:

„Alles, was Kardinal August Hlond tat, geschah mit der höchsten Billigung des Heiligen Stuhles. Ich bin authentischer Zeuge eben dieser Haltung des Heiligen Stuhles, des Heiligen Vaters Pius’ XII., Johannes’ XXIII. und Pauls VI., dessen segnende Haltung in Bezug auf unsere kirchliche und religiöse Arbeit in den Westgebieten unverändert treu ist, für uns sehr wertvoll, voller Verständnis und geistiger Approbation.“26

„Wenn wir auf die Heiligtümer der Piasten schauen, uns hineinfühlen in ihre Sprache, dann wissen wir: bestimmt ist das kein deutsches Erbgut, das ist polnische Seele. Daher waren sie niemals und sind kein deutsches Erbgut! Sie reden zum polnischen Volk ohne Kommentar. Wir brauchen keine Erklärungen, ihre Sprache verstehen wir gut.“27

Diese Äußerungen stimmten fast wortidentisch mit einer Predigt Wyszyńskis im Breslauer Dom vom 29. Mai 1952 überein: „Wir sind in unser Eigentum zurückgekehrt, als rechtmäßige Eigentümer; wir kamen hierher zurück aufgrund der richterlichen Entscheidung der göttlichen Gerechtigkeit.“ Und weiter:

„Wenn wir diese Gotteshäuser […] ansehen, […] dann wissen wir, es ist kein von den Deutschen hinterlassenes Erbe. Sie haben eine polnische Seele! Niemals waren sie deutsches Erbe, und sind es auch heute nicht. Das sind die Spuren des königlichen Stammes der Piasten. […] Wir verstehen ihre Sprache!“28

Der deutsche Botschafter beim Heiligen Stuhl, Josef Jansen, machte nach dieser erneuten Bekräftigung Ende Oktober 1965 „die chauvinistische Haltung hoher polnischer Kirchenkreise“29 zum alleinigen Thema einer Unterredung im Staatssekretariat. Kardinal Döpfner verlangte eine zufriedenstellende öffentliche Interpretation.

Auf der Pressekonferenz nach der Herbstvollversammlung der deutschen Bischöfe zeigte Döpfner am 3. September 1965 zwar mit Nachdruck Verständnis für die schwierige Lage der Polen, die von ihrer Regierung bedrängt würden, eine endgültige Ordnung der kirchlichen Verwaltung in den deutschen Ostgebieten zu erreichen, und für die schwierige Lage des Vatikans, der ohne gültige internationale Verträge nicht bereit sei, Bistumsgrenzen zu verändern. Die Feststellung Kardinal Döpfners, es bestehe leider die Gefahr, dass der polnische Episkopat kirchliche und nationale Gesichtspunkte zu stark identifiziere, bewirkte aber ihrerseits eine erneute Verstimmung bei der Polnischen Bischofskonferenz.30 Die Bischöfe beider Länder standen in diesen August-Tagen 1965 kurz vor der Abreise zu den Abschlusssitzungen des Zweiten Vatikanischen Konzils. Wie angespannt die bilateralen Beziehungen zwischen deutschen und polnischen Katholiken damals waren, lässt sich an folgender Meldung ablesen:

„Die Grußbotschaft des polnischen Episkopats, die in der Jubiläumssitzung am 1. September in Breslau von Kardinal Wyszyński und den anwesenden 60 polnischen Bischöfen gebilligt worden ist, soll erst nach Kenntnisnahme des Inhalts durch den Hl. Vater veröffentlicht werden. Die Botschaft, die nach übereinstimmenden Informationen die Bitte an den Hl. Vater enthält, die Möglichkeiten einer baldigen Eingliederung der in den deutschen Ostgebieten gelegenen Diözesen in die polnische Kirchenverwaltung zu überprüfen, war kurz nach Beendigung der Jubiläumssitzung nach Rom abgesandt worden.“31

Ein Sprecher der Erzdiözese Breslau erklärte, dass der polnische Episkopat durch eine vorläufige Nichtveröffentlichung dieser Botschaft an den Hl. Vater unter Umständen mögliche missverständliche Deutungen vermieden sehen wolle.

Kardinal Döpfner suchte in Rom unverzüglich das persönliche Gespräch mit dem polnischen Primas. Nach dem ersten Vier-Augen-Gespräch in der zweiten Oktoberhälfte 1965 – ein zweites Gespräch fand am 1. Dezember 1965 statt – meldete Die ZEIT: „Die Meinungsverschiedenheiten sind dabei, wie zuverlässig verlautet, nicht beigelegt worden.“32 Kardinal Döpfner habe sein grundsätzliches Verständnis für den polnischen Standpunkt zum Oder-Neiße-Problem bekundet, dabei jedoch unterstrichen, dass seiner Meinung nach die polnische katholische Kirche der Gefahr des Nationalismus zu erliegen drohe, wenn sie den polnischen Anspruch auf die ehemals deutschen Ostgebiete historisch begründe. Wyszyński entgegnete, es sei Sache der polnischen Kirche, zu beurteilen, was dem nationalen Selbstverständnis entspreche.

5. Die Einladung

Im November 1965 luden die polnischen Bischöfe Amtsbrüder aus 57 Ländern ein, im Mai 1966 zur Millenniumsfeier der Christianisierung nach Polen zu kommen. An die deutschen Bischöfe erging am 18. November 1965 eine besondere Einladung, die den unerwarteten Satz enthielt, der nicht nur die deutschen Bischöfe, sondern aus unterschiedlichen Gründen auch die Gläubigen auf beiden Seiten und die politische Öffentlichkeit in Bonn, sowie in Ost-Berlin und Warschau aufhorchen ließ:

„In diesem allerchristlichsten und zugleich sehr menschlichen Geist strecken wir unsere Hände zu Ihnen hin in den Bänken des zu Ende gehenden Konzils, gewähren Vergebung und bitten um Vergebung. Und wenn Sie, deutsche Bischöfe und Konzilsväter, unsere ausgestreckten Hände brüderlich erfassen, dann erst können wir wohl mit ruhigem Gewissen in Polen auf ganz christliche Art unser Millennium feiern.“33

Die Initiative und der Entwurf für den polnischen Versöhnungsbrief, den der Primas erst nach einigem Zögern unterschrieben hatte, stammten vom Breslauer Erzbischof Bolesław Kominek. Am 4. Oktober 1965 hatte Kominek im Rahmen eines Abendessens in Rom die drei deutschen Bischöfe, mit denen er in einer Caritas-Gruppe zusammenarbeitete, Franz Hengsbach (Essen), Joseph Schröffer (Eichstätt) und Otto Spülbeck (Meißen), über den beabsichtigten Brief vorinformiert, ohne dass diese Bischöfe die Bedeutung dieser Information richtig eingeschätzt hätten. Am Namenstag der Hl. Hedwig, dem 16. Oktober, versuchte er mit einer versöhnlichen Predigt den Schaden zu begrenzen, den die August-Predigt des Primas angerichtet hatte. Noch am gleichen Tag übersandte er Kardinal Döpfner zusammen mit dem Text seiner Predigt eine Reliquie der Heiligen und ließ wissen, er habe „das heilige Messopfer in der Intention einer guten Nachbarschaft und Zusammenarbeit beider Völker“34 gefeiert.

Zu den kommunikativen Schwierigkeiten dieser Tage auf der deutschen Seite gehört, dass der für die Heimatvertriebenen und Flüchtlinge zuständige Hildesheimer Bischof Heinrich Maria Janssen aus taktischer Vorsicht erst am Vortag der Abstimmung in der Bischofskonferenz von der polnischen Einladung Kenntnis erhielt.

„Es hat mich etwas befremdet“, beschwerte sich Janssen bei Döpfner, „dass ich in keiner Weise über die Gespräche informiert wurde, die mit polnischen Bischöfen geführt wurden. Von Laien habe ich zum ersten Mal davon gehört am Tage vor unserer Konferenz im Campo Santo. Ich wäre doch sehr dankbar, wenn ich wenigstens erfahren würde, zu welcher Haltung und Diktion man sich denn einigt. Es ist doch unmöglich, dass mit Journalisten solche Dinge eher besprochen werden, als sie uns mitgeteilt sind.“35

Zu den organisatorischen Pannen gehörte schließlich auch, dass der Brief an den noch amtierenden Vorsitzenden Kardinal Frings in dessen römischem Postfach abgelegt wurde, obwohl der Kardinal zu dieser Zeit nach Köln zurückgereist war. Severin Gawlitta hat kürzlich in einer akribischen Untersuchung der Vorgänge zwischen dem 18. November 1965 und dem 5. Dezember 1965 versucht, unter Berufung auf Aufzeichnungen des Meißener Bischofs Otto Spülbeck die „Legende“ von der verspäteten Zustellung der polnischen Einladung zu widerlegen, sowie der Behauptung die Schlagkraft zu nehmen, die deutsche Antwort sei nicht auf dem gleichen hohen Niveau erfolgt, weil den deutschen Bischöfen nur wenig Zeit zur Formulierung ihres Briefes verblieb. Gawlitta nimmt an, die Bischöfe Spülbeck, Hengsbach und Schröffer seien in den Besprechungen der polnisch-deutschen Bischofskommission, die sich mit caritativen Fragen beschäftigte, „direkt an (den) vorausgegangenen Besprechungen über den Briefwechsel beteiligt gewesen“36 und hätten den Entwurf des polnischen Schreibens bereits am 27. Oktober untereinander besprochen. Erzbischof Kominek habe dem Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz Kardinal Frings dann vermutlich nicht vor dem bzw. am 23. November 1965 eine auf den 1. November datierte Vorabversion an dessen Kölner Adresse zukommen lassen, die im Erzbischöflichen Archiv in Köln aber nicht nachweisbar ist. Am 25. November habe Spülbeck Döpfner informiert, der polnische Brief sei bereits verschiedenen Pressevertretern zugänglich gemacht worden, ohne dass Döpfner selbst bis zu diesem Tag ein Exemplar in den Händen gehabt hätte. Kominek ließ Döpfner nach dessen telefonischer Rückfrage „bei den Polen“ dann aber noch am 25. November eine Kopie des auf den 1. November datierten Frings-Schreibens zukommen und wies ihn am 27. November gesondert darauf hin, dass der Vorsitzende Frings diese Version „schon vor etlichen Tagen“37 zugestellt bekommen habe.

Kardinal Frings hatte aus Krankheitsgründen Rom am 20. November verlassen und war erst am 29. November wieder zurückgekehrt. Am späten Nachmittag des 29. November erläuterte Frings in einer extra zu diesem Tagesordnungspunkt anberaumten Sitzung der deutschen Bischöfe die polnische Einladung. Am 30. November 1965 veröffentlichte der Episkopat die polnische Botschaft. Gesichert ist, dass der Berliner Erzbischof Bengsch dann am Abend des 30. November in mehrstündiger Arbeit einen Entwurf für das Antwortschreiben verfasste, den der Görlitzer Weihbischof Schaffran am nächsten Tag durch ein 8-Punkte Programm ergänzte.

Die deutschen Bischöfe waren sehr bestrebt, „Vergebung“ und „Verzeihung“ möglichst von der „Politik“ zu lösen: Die Bereitschaft zu gemeinsamem Gebet, zu caritativer Unterstützung und gegenseitigen Besuchen war 20 Jahre nach Kriegsende ohne Zweifel gewachsen.

„Wir sind Kinder des gemeinsamen himmlischen Vaters“, schrieben die deutschen Bischöfe. „Alles menschliche Unrecht ist zunächst eine Schuld vor Gott, eine Verzeihung muß zunächst von Ihm erbeten werden. An Ihn richtet sich zuerst die Vaterunserbitte ‚Vergib uns unsere Schuld!‘ Dann dürfen wir auch ehrlichen Herzens um Verzeihung bei unseren Nachbarn bitten. So bitten wir zu vergessen, ja, wir bitten, zu verzeihen […] und einen neuen Anfang zuzulassen.“38

Für die Zustimmung zu einer kirchlichen Neuordnung in den Oder-Neiße-Gebieten, die Anerkennung eines Heimatrechts der Polen dort oder eine klare Festlegung in der Grenzfrage fühlten die Bischöfe sich weder zuständig noch kompetent. Genau diese politischen Zugeständnisse, zumindest eine verlässliche Aussage in der Grenzfrage, hatten die polnischen Amtsbrüder allerdings erwartet – unausgesprochen, fast selbstverständlich. Die polnischen Bischöfe konnten davon aber weder in Rom noch nach ihrer Rückkehr aus Rom öffentlich reden.

Die Vollversammlung der deutschen Bischöfe, die letzte gesamtdeutsche Versammlung für lange Zeit, beriet und verabschiedete die deutsche Antwort am 2./3. Dezember 1965 im Campo Santo Teutonico in Rom mit der Maßgabe, dass die drei Mitglieder der erwähnten Caritas-Kommission und der Görlitzer Weihbischof Schaffran als Mit-Autor des in der Konferenz verabschiedeten deutschen Antwort-Entwurfs den endgültigen Text mit Vertretern der polnischen Bischöfe abstimmen sollten. Dass Döpfner in seinem zweiten bilateralen Gespräch mit dem Primas, das für den 1. Dezember anberaumt war, den Briefwechsel nicht zum beherrschenden Thema gemacht haben sollte, ist nicht anzunehmen. Die Veröffentlichung der deutschen Antwort erfolgte dann am 5. Dezember 1965 in beiden Sprachen und führte zunächst auf verschiedensten Seiten zu Enttäuschung und Empörung, auf der politischen Ebene bei den staatlichen Stellen in Ost-Berlin und Warschau und den beiden Bischofskonferenzen, bei den völlig unvorbereitet überraschten Katholiken in Polen, in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR.

Neben Kominek gehörte 1965 vor allem Karol Wojtyła zu den polnischen Bischöfen, die intern dafür geworben hatten, dass dieser Brief überhaupt zustande kam. Zurück in Polen hatte Wojtyła sich wie alle Unterzeichner dafür bei den staatlichen Stellen zu rechtfertigen, die eine Erklärung von ausländischem Boden aus, in der Polen Deutsche um Vergebung baten, wo es nichts zu vergeben gab, für Kompetenzanmaßung, Landesverrat und Beeinträchtigung polnischer Interessen hielten. Wojtyła wies bei seiner Vorladung am 1. Februar 1966 zunächst die Einschätzung zurück, es handle sich um ein politisches Dokument. Wojtyła bezeichnete die Botschaft aber als

„großes, erfolgbringendes Werk. […] Die deutschen Bischöfe wurden gezwungen, sich zur Schuld zu bekennen. Dies ist ein Ausdruck dessen, dass sich die Deutschen überhaupt zu den an der polnischen Nation begangenen Verbrechen bekannten. Dies hat niemand im Laufe der ganzen 20 Jahre geschafft. Wir spielten die Rolle eines Beichtvaters, so wie wir das im Beichtstuhl mit dem Sünder tun.“39

Die polnische Propaganda hatte sich damals als ein Element ihrer Kampagne einen „Offenen Brief“ der Arbeiter der Sodafabrik in Krakau ausgedacht, der am 22. Dezember 1965 in der Tageszeitung Krakowska Gazeta erschien. Die Arbeiter äußerten in diesem Schreiben ihre tiefe Enttäuschung darüber, dass die Bischöfe im Namen des polnischen Volkes Erklärungen abgegeben hätten, zu denen sie nicht befugt gewesen seien. Besonders enttäuscht seien sie über die Unterschrift von Wojtyła, der „während der Nazi-Okkupation ein Arbeiter unserer Fabrik“40 gewesen sei. In seinem Antwortschreiben, das damals nur in der Untergrundpresse zirkulierte, erklärte Wojtyła:

„Als wir während der Okkupation zusammen arbeiteten, hat uns vieles verbunden, vor allem die Achtung vor den Menschen, vor dem Gewissen, der Individualität und der sozialen Würde. Das habe ich überreichlich von den Arbeitern bei Solvay gelernt; diese grundlegenden Prinzipien aber kann ich in dem offenen Brief nicht entdecken.“ Und außerdem sei es in einer so langen und verwickelten Geschichte, wie sie Deutschland und Polen verbinde, undenkbar, dass die „Menschen nicht Grund haben, sich gegenseitig um Verzeihung zu bitten.“41

Der protestantische deutsche Außenminister Gerhard Schröder (CDU) gab 1966 dem neuen deutschen Botschafter beim Hl. Stuhl die Weisung mit:

„Ich bitte Sie, bei Ihren Gesprächen das besondere Interesse Deutschlands an einem gerechten Ausgleich mit den Völkern Osteuropas, vor allem mit dem polnischen Volk, zum Ausdruck zu bringen. Für jede Hilfe in dieser Richtung sind wir dem Hl. Stuhl dankbar.“42

Im Zentrum heftiger innenpolitischer und ökumenischer Auseinandersetzungen in Deutschland standen ab 1965/1966 die Ost-Denkschrift der EKD (1. Oktober 1965) über die „Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen Nachbarn“, die Bamberger Erklärung des 81. Deutschen Katholikentages (13.-17. Juli 1966) und das Bensberger „Memorandum deutscher Katholiken zu den polnisch-deutschen Fragen “ (März 1968).

Im Zusammenhang mit den Vorbereitungen zum Bamberger Katholikentag kam auf Initiative von Walter Dirks, „nach dem Schneeballsystem aus einander Altbekannten zusammengerufen“, eine sehr diverse Gruppe von Katholiken im Mai 1966 in der Katholischen Akademie Bensberg zusammen. Sie trafen sich, um „Fragen, die katholischerseits vernachlässigt schienen wie der Staat Israel, die Wehrdienstverweigerung und eben das Nachbarschaftsverhältnis zum katholischen Polen – unter den Friedensinitiativen des Konzils gründlich [zu] diskutieren.“43 Nach zweijähriger Diskussion veröffentlichte dieser Kreis im März 1968 das Bensberger „Memorandum deutscher Katholiken zu den polnisch-deutschen Fragen“, das wie die Ost-Denkschrift der EKD zu der Frage der polnischen Westgrenze klar Position bezog:

„Daher wird es für uns Deutsche unausweichlich, uns mit dem Gedanken vertraut zu machen, dass wir die Rückkehr dieser Gebiete in den deutschen Staatsverband nicht mehr fordern können.“44

Das Bensberger Positionspapier trug ca. 140 Unterschriften – auch von Nicht-Mitgliedern des Kreises. Prominente Mitglieder des Bensberger Kreises wie Paul Mikat oder Otto B. Roegele distanzierten sich von dieser Erklärung, während andere Prominente wie Karl Rahner, Joseph Ratzinger oder Robert Spaemann die deutsch-polnische Annäherung damals mit ihrer Unterschrift unterstützten. Die Arbeitsgemeinschaft der katholischen Vertriebenenorganisationen konnte sich diese Überraschung nur mit der Überlegung erklären, einige, „vornehmlich Hochschullehrer, Ordensleute und Theologen rankten sich bis heute an den Idealen der Jugend hoch ohne diese in der rechten Weise an der Wirklichkeit zu messen.“45 Die Hoffnungen, die das Memorandum bei vielen Unterzeichnern weckte, kleidete der damalige Tübinger Theologieprofessor Joseph Ratzinger in seiner Antwort an den Bensberger Kreis in den Satz: „Im Übrigen bin ich dankbar und glücklich, dass endlich eine solche Initiative ergriffen wird, auf die ich seit langem gewartet habe.“46 Die Zustimmung Ratzingers stand freilich unter dem Vorbehalt einer Korrektur des Entwurfs, den der Münsteraner Theologe Johann Baptist Metz verfasst hatte.

Das mit über 1300 Zeitungsmeldungen im Frühjahr 1968 außerordentlich stark diskutierte Memorandum wurde zu einem herausragenden politischen Ereignis. Nun wurden die ausgestreckte Hand der polnischen Bischöfe und die jedenfalls für die polnische Seite enttäuschende Antwort der deutschen Bischöfe erneut diskutiert. Die Deutsche Bischofskonferenz gab eine kritische Stellungnahme zum Bensberger Memorandum ab, für den Primas aus Polen war es – „nicht so sehr vom politischen als vielmehr vom sozial-religiösen Standpunkt“ – eine Freude, „Ihnen danken zu dürfen für Ihren christlichen Mut, ehrlichsten guten Willen und Ihren internationalen Weitblick.“47

Die Clubs katholischer Intelligenz und die politische Gruppe des ZNAK mit Stomma und Mazowiecki begrüßten das lange erwartete Signal. Mazowiecki stellte das Memorandum im Mai 1968 ausführlich in der Monatszeitschrift Więź vor, auch wenn er es „hauptsächlich für den innerdeutschen Gebrauch bestimmt“ hielt. Drei Gründe waren für ihn dabei ausschlaggebend: Der Text sei von einer hohen moralischen Sensibilität gegenüber den Fragen geprägt, die das deutsch-polnische Verhältnis so schwierig machten, das Memorandum versuche, den Deutschen manche polnische Reaktionen verständlich zu machen, und ziehe schließlich aus der richtigen Analyse klare politische Konsequenzen. Stomma würdigte die Prominenz der vielen Unterzeichner und war sich sicher: „Die Tatsache, dass sich eine solche Gruppe von Laien abzeichnete, änderte die Lage. Wir hatten jetzt unseren eigentlichen Partner gefunden. Der leere Platz war nun ausgefüllt.“48

6. Ostpolitisches Störfeuer 1965-1976

Als Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz hatte Döpfner nicht nur mit der Aufarbeitung der historischen Belastungen zu kämpfen, sondern auch mit den aktuellen Irritationen, die von der neuen vatikanischen Ostpolitik ausgingen, wie sie Papst Paul VI. und sein Außenminister Agostino Casaroli für richtig hielten.

Zwischen der Deutschen Frage und den deutsch-polnischen Konfliktfeldern bestand dabei selbst dann ein unmittelbarer Zusammenhang, wenn man versuchte, die politischen Angelegenheiten und die Fragen der Seelsorge voneinander zu trennen. Der Vatikan stand in diesem Zusammenhang bei den meisten Problemen vor der dreidimensionalen Schwierigkeit, die ihm von Polen und Deutschland vorgetragenen gegensätzlichen Wünsche, die möglichen Auswirkungen vatikanischer Entscheidungen auf deren gegenseitige Beziehungen und die Folgen für deren jeweiliges bilaterales Verhältnis zum Vatikan zu berücksichtigen. Nur manchmal konnten beide Seiten gleichzeitig berücksichtigt werden. Im Oktober 1966 erfuhr z. B. der deutsche Botschafter beim Heiligen Stuhl, Erzbischof Bengsch von Berlin könne beim nächsten Konsistorium zum Kardinal ernannt werden, wenn „gleichzeitig ein Pole den Roten Hut erhält. […] Erzbischof Kominek steht wohl nicht mehr auf der Kandidatenliste, wohl der Erzbischof von Krakau.“49 Tatsächlich wurden Karol Wojtyła und Alfred Bengsch am 26. Juni 1967 dann gemeinsam in das Kardinalskollegium aufgenommen. Alfred Bengsch hatte bereits im Frühjahr 1967 auf ein politisches Junktim aufmerksam gemacht, das sich wenige Jahre später tatsächlich – wenn auch in umgekehrter Richtung – in einem Dominoeffekt auswirken sollte:

„Sollten in der DDR Schritte erforderlich sein, so wäre mit zu überprüfen, ob nicht auch in den polnisch besetzten Gebieten zugleich eine wenigstens vorläufige Lösung gefunden werden kann. Es erscheint mir notwendig, dass bei allen Überlegungen beide Gebiete im Blick behalten werden, dies schon deshalb, weil ja die Bundesrepublik für beide Gebiete auf die Geltendmachung ihrer konkordatär festgelegten Rechte verzichten müsste.“50

Nach einer Unterredung im vatikanischen Staatssekretariat hatte Bengsch diesen Gedanken sogar als offiziellen Vorschlag unterbreitet:

Sollte sich die Möglichkeit ergeben, in den polnischen Westgebieten Apostolische Administratoren einzusetzen, „halte ich es für notwendig, dasselbe gleichzeitig in den ostdeutschen Jurisdiktionsgebieten zu tun. […] Auch ich würde eine Änderung für die ‚DDR’ allein nicht befürworten. […] Wenn aber in den westpolnischen Gebieten Administratoren eingesetzt werden, ergibt sich eine andere Lage.“51

Als daraufhin „offenbar in den Bonner Ministerien unnötige Unruhe hervorgerufen“ wurde, schrieb Bengsch im April 1967 an Nuntius Bafile, er sei auch mit einer anderen Regelung einverstanden.

„Wichtig ist nur, wie mir scheint, dass alles, was nicht mehr von den westdeutschen Ordinarien veranlasst oder getragen werden kann, von der Autorität des Heiligen Stuhles veranlasst oder getragen wird.“52

Die Vertragspolitik der sozial-liberalen Bundesregierung Brandt/Scheel spielte dem Vatikan nach 1969 das damals entscheidende Argument zu, zunächst in Bezug auf die Gebiete östlich der Oder und Neiße einen wichtigen Schritt weiterzugehen. Nach der Unterzeichnung und Ratifizierung des Warschauer Vertrags am 3. Juni 197253 reagierte Rom binnen drei Wochen – und errichtete vier neue polnische Diözesen.54 In der vatikanischen Erklärung55wurde zur Begründung auf pastorale Notwendigkeiten hingewiesen. Die vor dieser Entscheidung nicht konsultierte Deutsche Bischofskonferenz tat sich freilich schwer, gerade diese Begründung als ausschlaggebend zu akzeptieren.56 In Rom hieß es damals, man beabsichtige weiterhin keine endgültigen Regelungen vor einem noch zu schließenden Friedensvertrag, aber eine vatikanische Reaktion auf die Ratifizierung des Warschauer Vertrages sei unausweichlich notwendig, schließlich könne man in Rom nicht deutscher sein als die Deutschen selbst.

Kritiker dieser Entscheidung wiesen darauf hin, dass die vatikanische Neuregelung nur die Anpassung im Westen Polens vorgenommen, die „übrigen Grenzen“ Polens aber nicht berücksichtigt habe. Corrado Bafile, seit 1960 Apostolischer Nuntius in Deutschland, versicherte den zahlreichen Kritikern der vatikanischen Entscheidung in einem allgemeinen Antwortschreiben am 31. Juli 197257, er stehe den vorgebrachten Argumentationen keineswegs fremd gegenüber, die Kritiker fänden bei ihm Respekt und Anteilnahme. Gleichzeitig warb er um Verständnis für den Heiligen Stuhl, der verpflichtet sei, zunächst und vor allem die Seelsorge optimal zu gewährleisten. Von polnischer Seite seien in den vergangenen Jahren immer wieder schwere Vorwürfe erhoben worden, Rom lasse sich zu sehr von politischen Erwägungen leiten und ablenken.

„In der Tat“, schrieb der Nuntius, „wäre es für die polnischen Katholiken unverständlich gewesen, wenn der Heilige Stuhl sich in der neuen Situation länger geweigert hätte, den polnischen Bischöfen in ihrem Willen zur inneren Festigung der Kirche beizustehen. Das jetzt entstandene Missverständnis bezüglich der päpstlichen Anordnung bestehe hauptsächlich darin, dass die Errichtung der neuen Diözesen und die Ernennung der Bischöfe als ein Akt nicht so sehr kirchlicher oder pastoraler als vielmehr politischer Natur aufgefasst wird, d.h. als politische Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze. Eine solche Auffassung sei jedoch nicht gerechtfertigt. Der Heilige Stuhl habe mit seiner Anordnung keine Anerkennung politischer Art ausgesprochen: das wäre auch gar nicht seine Aufgabe gewesen. Der Heilige Stuhl hat vielmehr eine Maßnahme kirchlicher Natur in einer Angelegenheit seiner Zuständigkeit getroffen und sich dazu erst entschieden, nachdem die Grenzlinie an der Oder-Neiße zwischen den beteiligten Staaten als unverletzlich erklärt worden war.“58

Auf den Vorwurf, der Heilige Stuhl habe zwar die Bistumsgrenzen an die Oder-Neiße-Grenze angepasst, in Bezug auf die „Diözesen, die an den übrigen Grenzen Polens liegen“, aber nichts dergleichen getan, antwortete Bafile:

„Demgegenüber ist geltend zu machen, dass derartige Probleme sich nicht mittels schematischen Vorgehens lösen lassen, unabhängig von den realen Bedürfnissen der Seelsorge. Es ist doch so: während für die Gebiete jenseits der Oder - Neiße seit Jahren eine Neuordnung der Diözesen nachdrücklich verlangt wurde, liegt ein ähnliches Anliegen betreffs der Gebiete entlang der übrigen polnischen Grenzen im allgemeinen nicht vor. Außerdem sind in den Gebieten jenseits dieser letztgenannten Grenzen die gegenwärtigen Verhältnisse nicht gerade günstig für eine neue Organisierung der Seelsorge.“59

Die Neuregelung in Polen hatte eine wichtige Signalwirkung für die Politik der vielen kleinen Schritte der 1970er Jahre in der DDR. Mit der in der Verlautbarung vom 28. Juni 1972 errichteten Apostolischen Administratur Görlitz, die aus dem Gebiet der Erzdiözese Breslau ausschied, hatte der Vatikan erstmals in einem kirchenrechtlichen Akt von der Deutschen Demokratischen Republik Kenntnis genommen.

Am 21. Dezember 1972 unterzeichneten Egon Bahr und Michael Kohl in Ost-Berlin den Grundlagenvertrag. Nach dem Inkrafttreten dieser Vereinbarung – der Bundestag ratifizierte am 11. Mai 1973, die Volkskammer am 13. Juni 1973 – verstärkte die DDR den Druck auf den Vatikan und die katholischen Bischöfe. Jetzt wollte die DDR auch kirchenpolitisch wie ein souveräner Staat behandelt werden. Dabei ging es erstens um die Forderung der völligen kirchenrechtlichen Trennung der Kirche in den beiden Teilen Deutschlands, zweitens um die Errichtung einer Diözese auf dem Gebiet der DDR, drittens um die Einrichtung einer eigenen Bischofskonferenz und schließlich um die Aufnahme diplomatischer Beziehungen der DDR zum Vatikan.

Am 14. Juli 1973 ernannte Papst Paul VI. die Bischöflichen Kommissare von Erfurt, Schwerin und Magdeburg, Hugo Aufderbeck, Heinrich Theissing und Johannes Braun, zu Apostolischen Administratoren und den Bischöflichen Kommissar von Meiningen, Karl Ebert, zum Weihbischof von Erfurt.60 Dadurch wurde „die Jurisdiktion der Ordinarien von Fulda, Würzburg, Paderborn, Hildesheim und Osnabrück für ihre in der Deutschen Demokratischen Republik gelegenen Diözesananteile suspendiert.“61

Am 22. September 1976 wählte die Deutsche Bischofskonferenz Joseph Kardinal Höffner als Nachfolger des am 24. Juli 1976 überraschend verstorbenen Julius Kardinal Döpfner zu ihrem Vorsitzenden. Döpfner hatte noch alles versucht, den nächsten Schritt in Richtung einer kirchenrechtlichen Anerkennung der DDR – die Errichtung der Berliner Bischofskonferenz – zu verhindern, blieb aber erfolglos. Der Heilige Stuhl hatte gerade noch Rücksicht auf den Termin der Bundestagswahl am 3. Oktober 1976 genommen, ließ sich aber am 26. Oktober 1976 von der Umwandlung der Berliner Ordinarienkonferenz in die „Berliner Bischofskonferenz“ nicht abhalten:

„Die neue Bischofskonferenz tritt an die Stelle der früheren Berliner Ordinarienkonferenz, welche als Regionalkonferenz im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz galt, und hat die Funktionen und Befugnisse, welche die geltenden kirchenrechtlichen Bestimmungen den unabhängigen Bischofskonferenzen für ihre betreffenden Territorien zuerkennen. […] Die Errichtung der Berliner Bischofskonferenz entspricht Bedürfnissen, die kirchlicher Natur sind.“62

In der offiziellen Stellungnahme der deutschen Bischöfe hieß es:

„Die Deutsche Bischofskonferenz versteht diese kirchenrechtliche Verselbständigung der Berliner Ordinarienkonferenz nicht als Trennung, sondern sie weiß sich mit ihren bischöflichen Mitbrüdern in der DDR auch fernerhin eng verbunden. […] Die seelsorglichen Erwägungen, die den Heiligen Stuhl veranlasst haben, die genannte Maßnahme zu treffen, sind in der heute vom Presseamt des Heiligen Stuhls veröffentlichen Erklärung dargelegt. Die Deutsche Bischofskonferenz verweist auf diese Erklärung.“63

Polen stand von jetzt an und für die nächsten 15 Jahre mit hoher Priorität auf der politischen Tagesordnung in Deutschland. Karol Wojtyła wurde jetzt auch von der politischen Seite ein gefragter Gesprächspartner. Als Erzbischof von Krakau hatte Wojtyła zu Kardinal König in Wien und zu einigen deutschen Bischöfen freundschaftliche Beziehungen gepflegt und sich in ganz verschiedenen Angelegenheiten als Vermittler betätigt. In diesen Zusammenhang gehört auch die Anregung Wojtyłas, ein Stipendienprogramm aufzulegen, das polnischen Stipendiaten ein Studium in Paris ermöglichen sollte. Das daraufhin von Johannes Schauff und vielen anderen – Heinrich von Brentano, Herbert Czaja, Baron Theodor zu Guttenberg, Reinhold Lehmann, Herbert Wehner – 1969 gegründete „Werk für europäische Partnerschaft“ wurde bis 1990 vom Auswärtigen Amt mit insgesamt 2 Millionen DM unterstützt.

7. Besuch aus Polen 1978

Nach den beiden Polen-Reisen der Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz – 1973 reiste Julius Kardinal Döpfner erstmals nach Polen, im April 1977 der Kölner Kardinal Höffner – kam es vom 20. bis 25. September 1978 unter Leitung des 77-jährigen Primas Wyszyński, der Polen nach 1945 bis zu diesem Tag nur verlassen hatte, um den Vatikan und Italien zu besuchen, zum ersten Gegenbesuch einer zehnköpfigen polnischen Delegation in der Bundesrepublik Deutschland. Bei der Reisedramaturgie wurde von beiden Seiten peinlich genau darauf geachtet, dass dieser Besuch vor allem zum Besuch des Primas wurde. Dies bedeutete u. a., dass der Erzbischof von Krakau sich in diesen Tagen bewusst im Hintergrund hielt. Kardinal Wojtyła versäumte aber nicht, verschiedentlich an den im Juli 1976 verstorbenen Kardinal Döpfner zu erinnern, der „Gott auf dem Wege der Annäherung an die Kirche in Polen und an unser Volk suchte, nach den Schreckenserfahrungen des Zweiten Weltkrieges.“64 Ohne das Vorbild Kardinal Döpfners wäre damals wahrscheinlich keine neue Qualitätsstufe der deutsch-polnischen (Kirchen-)Beziehungen erreicht worden. Döpfner hatte bereits in seiner berühmt gewordenen Hedwigs-Predigt vom 16. Oktober 1960 dringend empfohlen, den Blick von den gegenseitigen Aufrechnungen zu den gemeinsamen Aufgaben der Zukunft zu wenden. Für die Annahme dieser Anregung in breiteren Kreisen war es damals aber offensichtlich noch zu früh. Auch der Besuch 1978 verlief zunächst noch in den alten Bahnen. Die vertrauten Themen der Vergangenheit wirkten immer noch wie eine nicht abgelöste Hypothek. Die Gespräche drehten sich um die Pflege deutscher Kriegsgräber und allgemein der deutschen Gräber in Polen, um die Möglichkeit zu deutschsprachiger Seelsorge, um gemeinsame Wallfahrten. Um das Problem der Kirchenglocken oder die Zusammenarbeit katholischer Wissenschaftler und Theologen aus beiden Ländern, sowie um die „facultates specialissimae“, die Sonderbefugnisse für Kardinal Hlond, die angeblich von den Päpsten Johannes XXIII. und Paul VI. gegenüber Primas Wyszyński erneuert worden waren.

Für den Erfolg des damaligen Zusammentreffens war dann entscheidend, dass es beiden Seiten – unterstützt durch das bei dieser Begegnung neu entstandene Vertrauen – doch noch gelang, den zukunftsgerichteten Auftrag der Kirche in beiden Ländern als Schwerpunkt herauszustellen. Die beiden Vorsitzenden der Bischofskonferenzen machten mehrfach deutlich, dass die Gestaltung der Zukunft wichtiger sei als der Streit um die Vergangenheit.

„Unsere Kirchen haben die Pflicht“, sagte der Primas zum Abschluss, „das Zusammenleben und die Zusammenarbeit der Nationen auf den Grundprinzipien der christlichen Sittenlehre aufzubauen. Man kann nicht immer in die Vergangenheit zurückblicken, obwohl man sich ihrer erinnern muss, um keine Fehler zu wiederholen.“65

In den Worten Kardinal Höffners hieß dies:

„Es ist unsere tiefe Hoffnung und Überzeugung, dass der Besuch des Primas von Polen bei uns in Deutschland der Ausgangspunkt für eine neue Epoche in unseren Beziehungen und für Europa ist.“66

Kardinal Wojtyła ließ ebenfalls keinen Zweifel:

„Wir sind heute da, um durch die vielen Jahrhunderte hindurch zu unserem gemeinsamen ‚Anfang‘ zu gelangen. […] Ich habe die Hoffnung, dass die Begegnung einen regeren und auch tieferen Austausch der Güter in Gang setzen wird, welche das Leben unserer Kirchen und unserer christlichen Völker formen. […] Ich bin überzeugt, dass dies zur Gestaltung eines neuen Antlitzes Europas und der Welt beitragen wird zur nahenden Jahrhundert- und Jahrtausendwende.“67

Die beiden Bischofskonferenzen vereinbarten damals – auf Vorschlag von Karol Wojtyła – eine bis zum heutigen Tag aktive gemeinsame „Kontaktgruppe“ einzurichten, um künftig die gegenseitige Information zu verstetigen und zu intensivieren. Wojtyła wusste zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass er wegen Terminschwierigkeiten, die durch den Tod Papst Pauls VI. und das sich anschließende Konklave entstanden waren, seine Zusage nicht einhalten konnte, gemeinsam mit Mutter Teresa am Freiburger Katholikentag teilzunehmen (13.17.9.1978). Das Motto des Katholikentreffens lautete: Ich will euch Zukunft und Hoffnung geben. Nur wenige Wochen später – am 16. Oktober 1978 – wurde Kardinal Wojtyła zum Papst gewählt. Der Besuch in Deutschland von 1978 markierte so auch aus weltkirchlicher Sicht nicht nur ein Ende, sondern auch einen in dieser Form völlig unerwarteten Anfang einer grundlegend neuen Phase vatikanischer Politik, deren Gestaltung der neue Papst sich selbst vorbehielt. Der neue Kardinalstaatssekretär Erzbischof Casaroli hatte Außenminister Genscher schon kurz nach dem Amtsantritt des polnischen Papstes gesagt:

„Herr Minister, wir brauchen uns jetzt über die Fragen, über die wir uns in der Vergangenheit gestritten haben, nicht mehr zu streiten. Bei diesem Papst werden Sie immer recht bekommen.“68

8. Papstbesuch 1980

Die Vorbereitungen für den Besuch Johannes Pauls II. 1980 verliefen nicht in allen Bereichen problemfrei und geräuschlos. Zurecht ging man von einer grundsätzlichen Sympathie der großen Mehrzahl der deutschen Katholiken für den Papst und für die Person Karol Wojtyła aus. In dem skandierten Ruf „Johannes Paul II. – wir stehen an Deiner Seite“ drückte sich bereits bei seiner Ankunft auf dem Flughafen eine spontane emotionale Zustimmung aus.

Die offiziellen diplomatischen Beziehungen verliefen ebenfalls korrekt. Das persönliche Verhältnis des protestantischen Bundeskanzlers Helmut Schmidt zu Karol Wojtyła war dagegen zumindest vorbelastet. Schmidt hatte im November 1977 Polen besucht und dabei auf Rat des Wiener Kardinals Franz König auch einen Besuch in Krakau eingeplant. Dabei habe der damalige Erzbischof von Krakau es „vorgezogen“, erinnert sich Schmidt, „statt eines von mir vorgeschlagenen ‚zufälligen‘ Treffens in seiner Kathedrale mich durch einen hohen Geistlichen begrüßen zu lassen“, „um nicht unnötig Konflikte mit der Regierung in Warschau heraufzubeschwören.“69 Helmut Schmidt fühlte sich dadurch so gekränkt, dass er die Episode mehrfach schriftlich und mündlich festgehalten hat und nach der Wahl des polnischen Papstes Johannes Paul II. und dem polnischen Staats- und Parteichef Gierek gratulierte.

Der Bundeskanzler konnte auch die Haltung Johannes Pauls II. in der Frage der Empfängnisverhütung nicht verstehen. Der Papst sei für seine Argumente unzugänglich geblieben, obwohl er ihm im persönlichen Gespräch mehrere Male versucht habe, „den Circulus vitiosus zwischen Bevölkerungsexplosion, Unterentwicklung und Massenelend zu erklären.“70 Helmut Schmidt fühlte sich gleichwohl und trotz seiner kritischen Bemerkungen „durch die Gottergebenheit und Warmherzigkeit“ des Papstes fasziniert und empfand „menschliche Sympathie.“71

Im deutsch-polnischen Verhältnis hatte im Dezember 1979 ausgerechnet ein katholischer Politiker durch ein Interview im Nachrichtenmagazin Der Spiegel heftige Angriffe provoziert, der zu den engagiertesten Vertretern der Aussöhnung zwischen Polen und Deutschen gehörte: Hans Maier, der Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken.72 Maier hatte nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Grundvertrag in seiner Eigenschaft als bayerischer Staatsminister für Unterricht und Kultus darauf bestanden, dass in allen Karten in Schulbüchern dort, wo politische Grenzen eingezeichnet waren, die Grenzen des Reiches vom 31. Dezember 1937 markiert wurden, um deutlich zu machen, dass über die damalige staatsrechtliche Zugehörigkeit von z.B. Breslau oder Königsberg friedensvertraglich noch nicht entschieden war. Seine Kritiker in Polen und in Deutschland forderten dagegen, sich an die Empfehlung der deutsch-polnischen Schulbuchkommission anzuschließen und „von den gegenwärtigen Realitäten auszugehen.“73

Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken hatte seit dem Briefwechsel in der Konzilsaula 1965 zu jedem Katholikentag eine Delegation polnischer Katholiken eingeladen und begrüßen können – erstmals in Bamberg 1966. Einmalig 1980 – auf dem Berliner Katholikentag (4.-8. Juni 1980) – waren die polnischen Katholiken nicht mit führenden Repräsentanten vertreten – aus Protest gegen die Position Hans Maiers in der Frage der politischen Landkarten in den Schulbüchern.

Formeller Anlass der Papst-Reise war der 700. Todestag von Albertus Magnus, der am 15. November 1280 verstorben war und in Köln begraben liegt. „Er war einer der größten Geistesmenschen im 13. Jahrhundert. Er hat wie kaum ein anderer das ‚Netz‘ geknüpft, das Glaube und Vernunft, Gottesweisheit und Weltwissen miteinander verbindet.“74 Der Papst ehrte mit Albertus Magnus aber nicht nur den Wissenschaftler. „In ihm ehre ich zugleich den Genius des deutschen Volkes, ehre ich vor allem die katholische Kirche dieses Landes, die wie in der Vergangenheit bis in unsere Tage ein hoch angesehenes und lebendiges Glied der Weltkirche geblieben ist.“75 Das uneingeschränkte – „wie in der Vergangenheit bis in unsere Tage“ – aus dem Mund des ehemaligen Erzbischofs von Krakau, in dessen Diözese das Vernichtungslager Auschwitz lag und der freiwillig zum Zwangsarbeiter in Polen wurde, um der wahrscheinlichen Deportation ins Reich zu entgehen, überraschte in seiner Eindeutigkeit auch diejenigen, die um das Urteil des Zeitzeugen Wojtyła über die Vergangenheit besser Bescheid wussten.

Für Papst Johannes Paul II. überwogen die Hoffnungen auf die Zukunft die Ängste wegen der Vergangenheit. Er erinnerte auch jetzt noch einmal an den Besuch der polnischen Bischöfe in Deutschland 1978, der zu dem, wie sich inzwischen herausgestellt hat, nicht mehr umkehrbaren Paradigmenwechsel in den deutsch-polnischen Beziehungen von der Vergangenheit zur Zukunft geführt hatte, und rief dazu auf, in den Friedensbemühungen nicht nachzulassen,

„durch die auch Ihr Land zur weltweiten Völkerverständigung maßgeblich beizutragen sucht, mit besonderer Freude (hebe ich) die wachsende Verständigungsbereitschaft zwischen Ihren Bürgern und dem polnischen Volk hervor. Hierbei gebührt bekanntlich auch den Bischöfen und Katholiken in beiden Ländern ein nicht geringes Verdienst. In allen leidvollen Beziehungen zwischen den Völkern gilt der Grundsatz: Nicht das Aufrechnen des gegenseitig sich zugefügten und erduldeten schweren Unrechts und Leids, sondern allein der Wille zur Versöhnung und die gemeinsame Suche nach neuen Wegen friedlichen Zusammenlebens können für die Völker den Weg in eine bessere Zukunft ebnen und gewährleisten.“76

„Ich werde Euch liebe Brüder sehr dankbar sein, wenn Ihr Euch weiterhin darum bemüht, diese Kontakte noch zu vertiefen. Dabei haben wir die Geschichte der Kirche und der Christenheit dieser Nation in ihrer tausendjährigen Dimension vor Augen, in der das Leben ihrer Bürger oft nicht leicht gewesen ist. Diese Nation ist Euch von der göttlichen Vorsehung als unmittelbarer östlicher Nachbar gegeben worden.“77

Eine besondere Mahnung erging an die polnischen Landsleute des Papstes in der Bundesrepublik, mit denen er in Mainz zusammentraf: