Auswilderung - Bettina Suleiman - E-Book

Auswilderung E-Book

Bettina Suleiman

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Beschreibung

Freizeit? Schlaf? Kein Kommentar. Dafür lebt Marina mit Anfang Dreißig den Traum einer ganzen Forschergeneration. Für ein Millionenprojekt der UN experimentieren sie und ihr Mentor Griffin mit Gorillas, die zwar wie Menschen aufwachsen. Aber sollten Gorillas auch Rechte haben? Was wären die Konsequenzen? Marina driftet immer tiefer ab in die Welt ihres Mentors, die von Fördergeldern bewegt wird. Im letzten Moment beschließt sie zu handeln – und manipuliert die Forschungsergebnisse. Auf einer Insel im Roten Meer läuft die Auswilderung der Tiere an. Das Problem: Die Gorillas wollen ihre Freiheit nicht mehr; einige werden depressiv; bald schon der erste Todesfall. Die UN macht Druck. Ihre Karriere, Griffin, alles steht vor dem Aus. Und Marina erkennt, dass sie viel weniger für die Freiheit der Gorillas kämpft als für ihre eigene. »Auswilderung« ist ein kühnes literarisches Debüt, wie es lange keines gab: Coming of Age in Zeiten des konditionierten Egoismus. Ein spannendes Porträt unserer Gegenwart, abgründig, unterhaltsam, bewusstseinserweiternd.

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Seitenzahl: 341

Veröffentlichungsjahr: 2014

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Freizeit? Freunde? Kein Kommentar! Dafür lebt Marina mit Anfang dreißig den Traum aller Evolutionsforscher. Für ein Millionenprojekt der UN experimentieren sie und ihr Mentor Griffin mit Gorillas, die zwar wie Menschen aufwachsen, aber sollten sie deshalb auch Rechte haben? Das Projekt ist umstritten, denn was wären die Konsequenzen – für die Tiere und für die Gesellschaft? Auch Marina beginnt zu zweifeln, aber Griffin zieht sie tiefer hinein in seine Welt, die von Fördergeldern bewegt wird. Derweil nehmen die Affen immer menschlichere Züge an. Im letzten Moment, hinter Griffins Rücken, beschließt Marina zu handeln.

Nach dem Ende der Experimente läuft auf einer Insel im Roten Meer die Auswilderung der Tiere an. Das Problem: Die Gorillas wollen ihre Freiheit nicht mehr. Sie treten in den Hungerstreik, einige werden depressiv; bald schon kommt es zum ersten Todesfall. Die UN macht Druck. Ihre Karriere, Griffin, alles steht vor dem Aus, und Marina erkennt, dass sie viel weniger für die erfolgreiche Auswilderung der Gorillas kämpft als für ihre eigene.

Bettina Suleimans Roman ist ein kühnes Debüt, wie es lange keines gab, und ein spannendes, hellwaches Porträt einer ganzen Generation: Coming of Age in Zeiten des konditionierten Egoismus.

Bettina Suleiman, geboren 1978 in Dessau, schloss ihr Philosophiestudium mit einer Promotion über das Argument der Selbstverteidigung im israelisch-palästinensischen Konflikt ab. Sie arbeitete für verschiedene Theater und NGOs in Israel. Heute lebt sie mit ihrem Mann in Haifa. Auswilderung ist ihr erster Roman.

Bettina Suleiman

AUSWILDERUNG

Roman

Suhrkamp

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2014

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 4552

Originalausgabe

© Suhrkamp Verlag Berlin 2014

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

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Umschlagillustration: Kat Menschik

Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler

eISBN 978-3-518-73919-8

www.suhrkamp.de

I. SPRECHEN

Weiß symbolisiert Unschuld, Rot symbolisiert Gefahr. Die Schrift ist weiß und das Schild rot und groß genug, um die Botschaft in zwei Sprachen zu verkünden, auf Französisch und Englisch: Mortal Danger – No Trespassing. Nicht groß genug, um spezifizieren zu können, was hinter dem Zaun lauert und das Leben von unbefugten Eindringlingen gefährdet. Vermutlich Landminen, wir sind in Afrika.

Dann zoomt die Kamera langsam raus und das Schild bekommt einen Rahmen aus grauem Maschendraht und himmelblauer Plastikfolie, gekrönt von einer Rolle Stacheldraht. Vorsichtiger Schwenk nach links, und wir sehen den Zaun in seiner ganzen Pracht. Die Metallpfosten − alle zehn oder vielleicht auch nur fünf Meter ein schlankes silberglänzendes Y − erstrecken sich bis zum Horizont. Der nicht weit entfernt ist, das Gelände ist uneben, der Zaun zieht sich eine leichte Steigung hinauf. Wie weit die Sicht geht, lässt sich an den Schildern abzählen, Mortal Danger, vier oder fünf davon in regelmäßigen Abständen, alle hundert Meter vielleicht.

Ein Bellen, ein Grunzen, ein hastiger Schwenk nach rechts: Was ist das? Eine dunkle Gestalt balanciert auf einem Y, einen nackten Fuß auf jedem Ende, bis zu den Knien im Stacheldraht. Die Kamera weiß nicht, wo sie zuerst hinschauen soll, auf die Zehen, die sich um die Pfosten klammern − wie geht das, ohne vom Draht zerschnitten zu werden? −, oder auf die massige Gestalt selbst, den riesigen Schädel, die stark vorgewölbten Augenbrauen, das dichte Körperhaar. King Kong? Dann springt sie − drei Meter?, fünf Meter? −, und es sieht kinderleicht aus. Sie landet auf den Füßen, geht in die Knie und schnellt wieder hoch, und im selben Moment taucht eine schwarze, behaarte Hand hinter dem blauen Plastik auf, umfasst das Y, und eine zweite, kleinere Gestalt zieht sich daran nach oben, blitzschnell und mühelos. Sie scheinen geübte Kletterer zu sein, die zwei, die drei, fünf sind es am Ende. Eine Minute, länger brauchen sie nicht, und schon stehen sie auf der anderen Seite. Der Größte von ihnen rennt entschlossen in Richtung Kamera. Sekunden nur, und er wird sie erreicht haben.

Die Einstellung wechselt, die Kamera streift die Savanne, die weißlichen Gräser, grünlich-graue Bäumchen, alles sonnenverbrannt und verwackelt. Eine staubige Windschutzscheibe, die linke Hand des Kameramanns umklammert das Lenkrad. Und dann noch einmal die fünf, während der Flucht hat proudexplorer sie aus dem Seitenfenster gefilmt, auf gut Glück draufgehalten oder auf gut Glück losgefahren, Schau-nach-vorne muss nicht sein in der Wüste. Die Bilder muss er im Kasten haben, und als er sie kommentiert, als er uns erklärt, was wir da eigentlich sehen, überschlägt sich die Stimme des stolzen Hobbyforschers vor Aufregung, vor Aussicht auf Geld und Ruhm.

In den ersten vierundzwanzig Stunden wurde der Clip zwanzigtausend Mal angeklickt. Innerhalb einer Woche hätte er die hunderttausend locker überschritten. Aber schon einen Tag nach dem Upload war er nicht mehr aufrufbar, waren die zu erwartenden Werbeeinnahmen im Eimer.

Es ist zwei, drei Jahre her, dass das Video auf YouTube aufgetaucht ist. Ein Must-See: Wer diese verwackelten Bilder nicht kennt, hat die einzigen Aufnahmen verpasst, die von Griffins Projekt je an die Öffentlichkeit gelangt sind. Sicher halfen die abschreckenden Gerüchte, von dem verprügelten Journalisten; von dem Aktivisten, den die Subjects angeblich in Stücke rissen. Das sind keine Kuscheltiere, war die Botschaft. Griffin hatte die Subjects nicht jahrelang menschlicher Gesellschaft entwöhnt, um am Ende einen Pulk Gaffer und Hobbyforscher auf sie loszulassen. Wer wissen will, wie die Sache weiterging, der kommt an ihm nicht vorbei.

Aber komm erst mal an ihn ran. Glaub bloß nicht, es sei leicht, sich seine Gunst zu erarbeiten. Du hast mit Auszeichnung studiert und Empfehlungen bekommen? Das hat die halbe Welt. Du machst Überstunden und dich nützlich, nimmst dabei klaglos hin, dass du nie auftauchst unter den Ko-Autoren und in den Danksagungen, auch wenn du die Daten erhoben hast, nicht Griffin? Erwarte kein Schulterklopfen für Selbstverständlichkeiten. Es ist ein Akt der Gnade und nicht weniger, wenn dein Name eines Tages neben seiner Tür zu lesen ist, The super student is: Marina Heuter. Dann koste deine fünfzehn Minuten mit aller Macht aus. Sind sie erst vorbei, führt kein Weg zurück.

Warum darf ich mir das hier dann ansehen? Wie komme ich zu der Ehre?

Gorti_6, Tag 2, 14:07 Uhr, sagt die Einblendung am unteren Bildschirmrand, große weiße Buchstaben, kaum lesbar auf dem Hintergrund der hellgelben Savanne, der staubigen, ungepflasterten Straße, und dort am Straßenrand taucht sie wieder auf, die Fünfergruppe. Ich erkenne keinen von denen, die dort ihres Weges ziehen, mit stoischem Gleichmut und neuerdings auf allen vieren. Die Aufnahmen sind aus einiger Entfernung gemacht worden.

Beim nächsten Cut sind wir in den Bergen, wo die Subjects mit erstaunlichem Tempo einen dicht bewachsenen Hang hinaufsteigen. Der Einsatz ihrer langen Arme beschleunigt die Fortbewegung augenscheinlich und macht sie müheloser. Ihre kurzen Beine sind dabei von Vorteil: Ihre Oberkörper sind im Laufen aufgerichtet, und sie haben auch so alles im Blick, den Urwald um sie herum, das Grün, Grün und nochmals Grün. Von Zivilisation ist weit und breit keine Spur, und mir kommen fast die Tränen vor Rührung. Es hat Leute gegeben, die eine Auswilderung für leidvoll oder gar unmöglich hielten. Ich wünschte, die könnten das hier jetzt sehen. Gorti_6, Tag 3, 17:12 Uhr, ich kann ihre Gesichter nicht erkennen, aber ich bin mir sicher, dass sie ganz aus dem Häuschen sind vor Glück.

Gorti steht für Gorillas Return to Innocence, ein den erhabenen Zielen der Studie angemessener Titel, den Griffin vermutlich ironisch gemeint hat. Die Ziffer weist darauf hin, dass wir es mit Gruppe 6 zu tun haben.

»Dreiundsechzig Kilometer liegen hinter ihnen«, informiert das Voice-Over, eine geschulte Altstimme, warm und sympathisch, unterdrückter niederdeutscher Akzent, »zwanzig und mehr am Tag.« Mit der Disziplin und Hingabe von Pilgern, als hätten sie keine andere Wahl, marschieren die Subjects von Gorti_6 zwölf Stunden am Tag – wohin eigentlich?, frage ich mich –, reißen nur en passant Beeren und Früchte von Büschen und Bäumen und verschlingen sie im Gehen. Rast machen sie kaum. Von Tag zu Tag werden ihre Körper ausgezehrter. Von Freude keine Spur mehr, es ist deprimierend, die Subjects stellen sich in freier Wildbahn kaum geschickter an als, sagen wir, Griffin und ich es täten, ausgesetzt in der Walachei. Ich frage mich, warum sie nicht besser vorbereitet sind; was Griffin in all den Jahren mit ihnen gemacht hat.

Der Rekord liegt bei zweihundertzwanzig Kilometern durch Savanne, Urwald und Sümpfe. Nach zwölf Tagen war Gorti_3 am Ende gewesen, hatte die Gruppe sich mit allerletzter Kraft vorwärts geschleppt, sodass Griffins Leute die Sache hatten abbrechen müssen. Der Tod eines Subjects wäre die größte mögliche Katastrophe. Gewehrt hatte Gorti_3 sich nicht. Die Kollegen hatten sich nur zeigen müssen, und die Subjects waren auf sie zugelaufen. Ich meinerseits schaffe es nicht, ihnen auch nur ein Stück entgegenzugehen, ich spüre meine Beine nicht, mein ganzer Körper versagt. Je näher die Subjects mir kommen, umso stärker wird der vertraute, jahrelang entbehrte Duft, herb-männlich, weiblich-süß, ich sauge ihn auf, als könnte ich einen Vorrat anlegen. Wer weiß, ob ich ihn je wieder riechen werde. Die Subjects grunzen, sie freuen sich, mich zu sehen. Ich will sie fragen, warum sie sich dieser Tortur unterzogen haben, statt einfach dort zu bleiben, wo wir sie ausgesetzt hatten, in ihrem neuen Zuhause. Da schrecke ich hoch, werde in meinem Schreibtischstuhl wach, den Geruch noch in der Nase; ein Blick auf den Bildschirm genügt, wo das Video ungerührt weiterläuft, und weg ist er. Die Grunzlaute sind in Wahrheit die Jubelschreie von Gorti_6, ausgelöst von Anzeichen menschlicher Aktivität. In einem Tal zu ihren Füßen haben sie eine lose Ansammlung rostiger Dächer entdeckt. Trampelpfade durchziehen die kahle Erde zwischen den Hütten, Braun- und Ockertöne dominieren auch hier, gesprenkelt vom Grün eines Baums, eines Buschs. In angemessener Entfernung umzieht ein Ring aus Plastikmüll die Behausungen. Der Lärm von Motoren, Werkzeugen und Kindern vertreibt die Stille, Staub wirbelt auf und schwebt als Wolke über dem Dorf. Ausgerechnet das küren die Subjects zu ihrem Ziel, ausgerechnet dahin rennen sie jetzt. Die Skeptiker werden das gern sehen. Sie haben es von Anfang an gewusst.

Eine Minute später, an Tag 4, 11:12 Uhr, ehe sich die Bevölkerung mit Gewehren oder Macheten gegen den vermeintlichen Angriff wehren kann, kommen die Forscher ihr zuvor. Narkosepfeile bohren sich in das Fleisch der Subjects. Die zucken zusammen, ihre Bewegungen werden langsamer und unsicherer, schließlich bleiben sie stehen. Zwei legen sich hin, drei fallen. So endet der Ausflug von Gruppe 6. So enden die meisten dieser Expeditionen.

Einen Schnitt später kündigt das Knacken von Zweigen den nächsten Versuch dieser Familie Robinson an. Sie sind zurück. Wieder wurden sie ausgesetzt in der Wildnis. Vorläufig sitzen die fünf zusammengekauert im Gras neben dem Käfig, in dem sie sich heute Morgen aufs Neue wiedergefunden haben. Geben sie sich schließlich geschlagen? Nein. Als sie Gesicht und Hände zufällig in die am Gitter angebrachte Kamera drehen, schnappe ich Gesprächsfetzen auf: Nach Hause? Geheimsprache, stumme Sprache. Weiß Griffin, dass er ihnen nicht einmal die hat austreiben können?

»Sechzehn Stunden sitzen sie schon dort«, das immerhin können sie jetzt, wie richtige Gorillas, und das heißt, dass es nicht ganz umsonst war, all das Umlernen, die Gegenkonditionierung, das jahrelange Incommunicado, die schmerzhafte Preisgabe alter Gewohnheiten. Sechzehn Stunden. Das muss man sich mal vorstellen. Vielleicht bin ich die Einzige, aber ich würde das gern mal ungeschnitten sehen.

Leipzig, 03:12 Uhr morgens, ich schalte den Monitor aus und bin zurück aus Afrika, zurück in der Wirklichkeit meines Büros. Gorti_6 wollte genauso wenig wie beim ersten Mal in ihrem neuen Zuhause bleiben, hat es genauso wenig zurück »nach Hause« geschafft. Die ganze Sammlung ist, objektiv betrachtet, ein Fundus katastrophaler Schiffbrüche, von Forscher- und Versuchstierseite gleichermaßen. Subjektiv betrachtet, ist das die deprimierendste Abendunterhaltung, die ich mir momentan vorstellen kann.

Sechs Stunden später steht Griffin in meinem Büro und fragt mich, ob ich mir die Aufnahmen inzwischen angesehen habe.

Er sieht geschlaucht aus; er war die ganze Woche für Meetings in Genf. Seine Haut ist fast so grau wie der ihm verbliebene Haarkranz, als hätte er seit Tagen keine Sonne mehr gesehen. Die zwei senkrechten Kerben zwischen seinen Augenbrauen sind tiefer als sonst. Selbst seine Artikulation ist undeutlich und fehlerhaft, sein amerikanischer Akzent im Deutschen stärker als sonst. Nicht uncharmant, aber insgesamt kann ich entspannter als früher mit ihm umgehen. Wer ihm heute zum ersten Mal begegnet, wird ihn als einen alten Mann wahrnehmen, jenseits von Gut und Böse.

Mit seinen Geheimratsecken und grauen Schläfen war er noch vor zehn Jahren richtig heiß. Es war schwer gewesen, sich davon nicht ständig aus der Fassung bringen zu lassen. Besprechungen unter vier Augen hatten mich bereits Tage zuvor in einen Mix aus positiver Aufregung und schierem Terror versetzt. Fand ich mich schließlich in der Umgebung seines Büros wieder − bring es halt hinter dich −, konnte ich seinen Worten kaum folgen, konzentriert darauf, nicht aufzusehen, den Blick auf meine Notizen zu heften, dann doch aufzusehen, wie wirkt das denn sonst, und bloß nicht rot zu werden. Die Bürotür stand immer offen, auf amerikanische Art einladend und locker. Oder puritanisch und vorsorglich, wie ich verstand, als Griffin sie einmal demonstrativ schloss und mich mit diesem Schachzug vollends in Schockstarre versetzte. Noch mal war so etwas folglich nicht vorgekommen. Wahrscheinlich war das besser so.

»Ich habe Ende April zwei Deadlines«, antworte ich und lecke mir die Lippen gegen den Durst. Es brennt mir auf der Zunge, ihm zu erzählen, dass ich seinetwegen die letzten vier Nächte kaum vier Stunden geschlafen habe. Aber Übereifer bringt nur Übergriffe ins Zeitbudget ein. Ich kann nicht mehr alles stehen und liegen lassen, nur weil er gerade jemanden für eine Hilfsarbeit braucht oder um ihm zu sagen, dass Gorti und blul_pre die interessantesten Filme der Welt sind. Dass er, das Genie, schon noch rausfinden wird, wo der Hund begraben liegt. Schwerfällig, mit ostentativem Halbinteresse sage ich: »Ich habe nur hier und da mal reingeschaut.«

Seit ich nicht mehr für ihn arbeite, hat er mich auch nicht mehr besucht. Normalerweise laufen wir uns nur noch bei den Gastvorträgen über den Weg. Meine letzte, überschwängliche E-Mail, triefend vor Dankbarkeit, ließ er unbeantwortet. Mein Fehler, was hatte ich mir eingebildet? Wie eine Achtjährige hatte ich mich verhalten, die glaubt, mit ihrer Grundschullehrerin befreundet zu sein. Und Griffin? Mit dem Alter wird man immer weniger beeindruckbar, und ich war nur seine Doktorandin gewesen, nicht wichtiger als Eva für mich jetzt, eher weniger wichtig. Eine von vielen. Er hat nicht die Zeit, mit jedem ständig Kaffee trinken zu gehen, und ich habe sie ja auch nicht. Außerdem bin ich die letzten sieben Jahre gut ohne Prof. Griffin Wilder klargekommen. Ich war zufrieden. Und dann taucht er Montag hier auf und drückt mir einen Stapel DVDs in die Hand.

Mein Herz rast, vielleicht wegen der Koffeinüberdosis nach dem Riesenbecher Kaffee zum Frühstück in der Cafeteria und zwei weiteren hier im Büro, dabei ist es noch nicht einmal zehn. Gähnend elaboriere ich: »Ich muss ein Paper überarbeiten, Babygebärden als Kommunikation zwischen ungleichen Sprechern. Und meinen Vortrag fertig machen für die Fachtagung Kleinkindpädagogik.«

Nachfragen in dieser Richtung darf ich nicht erwarten. Mein Kreuzzug gegen das Baby Signing ist sicher das Letzte, was Griffin im Moment interessiert. Und da ist er nicht der Einzige. Über ein Jahr habe ich damit zugebracht, den Artikel anzubieten, bis ihn endlich First Language akzeptiert hat.

»Fleißiges Bienchen«, sagt Griffin leichthin, nicht merklich angespannt, als liefe in seinem Projekt alles super. Vielleicht sieht er das wirklich so, zuzutrauen ist es ihm. Das Glas ist immer halb voll usw. Kein Problem, dass er seine Schauspieler nicht dazu bewegen kann, das Happy End zu spielen, zufrieden in ihrem Reservat zu hocken, Blätter zu fressen und nicht im Traum daran zu denken, durch die Gegend zu irren und nach Menschen zu suchen. Externe Annahme 3.18: Eine erfolgreiche Gegenkonditionierung garantiert eine konfliktlose Umsiedlung. Ausbruchsversuche sind völlig ausgeschlossen.

»Und zwei Peer-Reviews. Ich habe wirklich keine Kapazitäten frei«, füge ich hinzu, den Kopf in den Nacken gelegt. Damit er sich hinsetzt – im Stehen bin ich zwei Köpfe kleiner als er –, harre ich aus auf meinem Schreibtischstuhl, dessen Höhe man, anders als die meiner Besuchersessel, verstellen kann. Wenn es nach mir ginge, würde ich zwei oder drei Zentimeter auf ihn hinabblicken. Niemals justiere ich meinen Stuhl so hoch, dass die Leute es merken; es geht um die subliminale Wirkung. Nur einer von vielen hilfreichen Tipps aus dem Handbuch Frauen im Management: Nutzen Sie bei Verhandlungen im eigenen Büro Ihren Heimvorteil! Ihre Sitzhöhe verkörpert Ihre Position.

»Teresa macht Druck«, sagt Griffin. »Die Stimmung in Genf war ätzend. Die erklären uns sozusagen den Krieg.«

Zu Recht, denke ich, vielleicht hilft ein ordentlicher Tritt in den Hintern ja. Schon nach den ersten Ausbrüchen hätte Teresa das Programm für gescheitert erklären und die Gelder streichen können. Zum Glück hat sie das nicht getan. Die Jahre von Arbeit, die große Vision, die bereits investierten Millionen − das gibt man nicht einfach so auf. Ich sage: »Vielleicht waren ja wirklich ein paar Kodierungen falsch.« Eine Art Messfehler, wie er in der Wissenschaft immer wieder vorkommt. Externe Annahme 3.37: Unterscheidet sich das Verhalten der Versuchstiere grundlegend von dem zu erwartenden, so müssen die Grundannahmen in Frage gestellt werden.

Aber Griffin ist unfehlbar, oder zumindest ist es das, was sein Blick sagt. Als er seine Fassung wiedergefunden hat, zählt er auf: »Hunderttausend Versuche, eine Studie nach der anderen, bis zum Erbrechen. Auch deine Arbeit, Marina Perfeccionista. Wir sind supergenau. Wir müssen unser Licht nicht unter den Scheffel stellen.« Er lächelt verbissen. Er würde niemals etwas sagen wie: Du warst nur ein paar Jahre dabei. Nicht dein halbes Leben. Was weißt du schon.

»Teresa hat mich buchstäblich von heute auf morgen nach Genf beordert«, presst er zwischen den Zähnen hervor. »Ich musste auf die Schnelle alle Termine absagen. Als würde ich hier sonst nur Däumchen drehen! Das ist doch …« Er verdreht die Augen zur Zimmerdecke, als stünden dort oben die passenden Worte.

Angemessen. »Eine UnverSCHämtheit«, helfe ich. Nein, ich habe keinen Sprachfehler. Ich bin einfach nur hundemüde.

»Quasi über Nacht mussten wir ihr eine Liste fertig machen mit den«, er verzieht das Gesicht, hebt die Stimmlage und sagt im Glauben, Teresas Akzent angemessen zu imitieren, das R gerollt: »Hauptprrroblemen bei derrr Evakuation. Und unseren Antrag überarbeiten, und zwar so, dass das Kernproblem sich von selbst deduziert. Alles, was wir brauchen, ist ein besserer prrroblem trrree, sagt sie. So einfach. Das ist ja wohl …«

Da er keine Anstalten macht, auf meine Augenhöhe herunterzukommen, stemme ich mich jetzt doch aus dem Stuhl, mit beiden Armen. Eine Sekunde lang stehe ich ungeschützt im Raum. Dann ziehe ich mich ans Fenster zurück, zwei kleine Schritte, lehne mich an die kalte Heizung. Er blickt erwartungsvoll auf mich herab, immer noch, aber mit verringertem Gefälle.

»Eine alte Zimtziege«, bestätige ich.

»Zaubern«, bellt er nickend. »Jetzt sollen wir ganz einfach zaubern. Wir haben sechs Monate für den letzten Versuch. Für die Vorbereitung und die Durchführung. Um den Transport zu organisieren. Und für die Sicherheitsvorkehrungen. Und die diplomatischen Verhandlungen. Entweder wir zaubern, oder sie streichen uns ein für alle Mal die Gelder.«

»Hilft Fischer dir?«, frage ich und werde mit seinem Willst-du-mich-veräppeln-Blick bestraft, und er hat ja Recht. Dass die Direktoren bei jeder Gelegenheit jammern, wenn sie an der Reihe sind, den Geschäftsführer zu spielen, gehört nicht nur zum guten Ton. Sie haben wirklich auch sonst schon genug zu tun. Also tun sie, was sie müssen; mehr nicht.

»Kauf dir schon mal was Schickes in Schwarz. Ich lasse die Abschiedsfeier am Teich steigen. Die gefeuerten Mitarbeiter dürfen mich irgendwelchen Pygocentri piraya vorwerfen, die ich von den letzten Mäusen importieren lassen werde.« Er würde niemals einfach sagen: Das wird ein Desaster. Und ich trage die Verantwortung für diese Leute. Man vertraut auf mich.

Und ich frage besser nicht: Diese Liste, kann ich die mal sehen? Und den Antrag? Die ungeschnittenen Aufnahmen? Vielleicht fällt mir ja ein, wie man es besser machen kann.

In die sich ausbreitende Stille hinein platzt Griffin heraus, mit jungenhaftem Trotz: »Wir machen es noch mal − auf einer Insel.«

»Ausgerechnet?«, frage ich und muss schon wieder gähnen. Nach dem Debakel beim ersten Versuch dieser Art ist eine Wiederholung absurd. Ist er das Projekt schon so leid, dass er es durch schrittweise Eliminierung der verfügbaren Subjects aus der Welt schaffen will? Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende?

Räächnet, habe ich gesagt. Meine Vokale klingen zu deutlich, übertrieben gedehnt. Als wollte ich mich über seinen Vorschlag lustig machen. Das ist keine Präzisionsarbeit hier, sage ich mir. Andere schaffen das auch und besser, ohne dass sie darüber nachdenken. Entspann dich doch mal ein bisschen. Es ist nur eine schlechte Angewohnheit. Sprecherzieher, Dialektcoaches haben das auch von Zeit zu Zeit. Stimmtrainer kennen das und Hörgeräteakustiker, und eben Gebärdensprachdolmetscher. Gelernt ist gelernt.

Mit triumphierender Stimme bestätigt Griffin: »Ausgerechnet, und dabei war Teresa immer gegen Inseln.«

»Bis auf die Malediven«, antworte ich postwendend, und er kann wieder grinsen. Pflichtschuldig rolle ich die Augen und grinse vertraulich zurück. Das bringt ihn dazu, es sich endlich gemütlich zu machen, wenn auch nicht auf einem Stuhl, sondern auf meinem Schreibtisch. Gedankenverloren streicht er über das hellbraune, unregelmäßig von dunkleren Adern durchzogene Ahorn-Furnier. Obwohl ich jetzt stehe und er sitzt, thront er immer noch über mir.

Teresa Pajak, Programmkoordinatorin beim UNEP, dem Umweltprogramm der Vereinten Nationen, Regionalbüro Europa, Genf, hat nicht nur mich auf die Palme gebracht. John war der Einzige, der sie leiden konnte, mit ihr befreundet war. Bei ihren Kontrollbesuchen übernachtete sie sogar in seiner Wohnung. Griffin hingegen konnte auf den Tod nicht ausstehen, dass sie seine penibel verfassten Anträge niemals wirklich las, sondern sie nur auf ein paar Punkte scannte, an denen sie herummäkeln konnte. Weil sie sowieso nichts verstanden hätte, befand er, und ab und an musste er ihr das auch unter die Nase reiben.

Ich selbst hasste sie wegen der Malediven, der Kanaren, wegen Bali und Kreta. Ich habe sie vier Mal getroffen, und jedes Mal kam sie gerade von einer Insel oder war gerade auf dem Sprung auf eine, mit den Kindern, ohne die Kinder, Familienurlaub, romantisches Wochenende, wie auch immer. Beim Wort »Urlaub« schießt mein Blutdruck einfach in die Höhe. Kann man nichts machen. Anders als Griffin habe ich ihr meine Abneigung aber nie gezeigt. Ich war immer lieb und nett zu ihr.

Ich gähne so gewaltig, dass mir Tränen in die Augen steigen, dann frage ich: »Wieso feuern sie sie nicht endlich?« Und dich gleich mit?, denke ich.

»Die Verrrsuchstierrre einzusperrren errrscheint uns wissenschaftlich werrrtlos”, äfft Griffin Teresa nach. Wenn sie glaubt, etwas Kluges gesagt zu haben, worauf niemandem eine Antwort einfallen wird, reckt sie ihr spitzes Kinn keck in die Höhe, sodass die konkav um ihre untere Gesichtshälfte geföhnten Haarsträhnen nach hinten fliegen. Ein herausforderndes Funkeln aus dunkel geschminkten Augen, ein selbstgefälliges Lächeln auf roten Lippen. Am Institut trifft man eher Frauen wie mich, ungeschminkt, mit bunten Bändern in den Haaren, Frauen ohne Haarschnitt, deren Kleidung man die Outdoor-Erfahrung ansieht. Woher nimmt sie den Glauben, dass ausgerechnet sie sich Make-up leisten kann, ohne intellektuell unterschätzt zu werden? Oder weiß sie, dass das kaum möglich ist, und versucht es gleich mit anderen Mitteln? »Wirrr wünschen keine Inseln. Wirrr wünschen keine Gefängnisse.«

Der Großteil der Bevölkerung, gefragt nach einsamen Inseln, auf denen man keinen Pauschalurlaub buchen kann, würde eine der folgenden nennen: Alcatraz, Robben Island und die Île d‘If. Bei der berühmten Frage nach den drei Dingen sagen sie: meinen Partner, meine Strandliege und mein Gummiboot. Teresa wollte nur das Beste für die Subjects. Sie konnte sich ehrlich nicht vorstellen, dass irgendjemand glücklich werden könnte auf einer Insel ohne Hotelbetten, Frühstücksbuffets und Restaurants.

Der erste und bisher letzte Testlauf, der nicht auf dem Festland stattfand, die Vorstudie blul_pre im letzten Jahr, belegt immerhin, dass die Subjects von einer Insel tatsächlich nicht fliehen können. Das erprobten sie selbst intensiv. Angesichts der Aufnahmen der winzig kleinen Insel mitten im großen Kratersee in Kamerun rechnet man nicht im Traum damit, dass die aquaphoben Subjects jetzt gleich ins Wasser gehen würden; aber sie taten das tatsächlich. Es war ein faszinierender Anblick, blul_pre Tag 1, 08:34 Uhr, sechs massige dunkle Körper, die sich langsam ins Tiefe vorkämpften.

Blul_pre steht für The Blue Lagoon Preliminary Study. Auch das war Griffins Studie, auch dieser Titel seine glorreiche Idee.

Nach jedem Schritt machten die sechs eine Pause. Das Männchen hielt einen langen Stock in der Hand, mit dem es die Wassertiefe vor sich auslotete. Die fünf Weibchen hinter ihm warteten geduldig, bis es weiterging. Die Kommentare aus dem Off, Griffin und sein Team, sprachen eine deutliche Sprache: erst Wows, dann Oh-Ohs, dann angespanntes Schweigen. Außer Griffins Stimme erkannte ich noch die von Dr. Huberto Diaz, dem Tierarzt. Er sprach mit stimmhaftem alveolaren Vibranten, dem spanischen Zungenspitzen-R, sehr sexy.

Mit dem Stock war das Unternehmen lebensgefährlich; ohne wäre es selbstmörderisch gewesen. Ein unerwartetes Loch im Sand konnte die Subjects ihr Leben kosten. Griffin konnte sie doch aufhalten! Warum griff er denn nicht ein?

Als ihm das Wasser bis zur Brust reichte, verharrte das Alphamännchen, ratlos. Und auch die Kamera schien nicht zu wissen, wohin mit sich, zoomte heraus, zeigte See und Insel im Panoramablick, zoomte wieder rein, langsam auf das Gesicht des Anführers dieser Gruppe. Ich suchte nach vertrauten Zügen, aber wer auch immer er war, er war rasant gealtert in den letzten sieben Jahren. Breite Lücken klafften zwischen den gebleckten, teils schwarzen Zähnen. Das Leben in der Natur hatte seine Spuren hinterlassen, und dann waren die Subjects schließlich auch keine Kinder mehr. Am besten konzentrierte ich mich auf den einzigartigen, unveränderlichen Nasenabdruck. Der hier hatte auffällig asymmetrische Falten auf den Nasenflügeln, rechts drei Berge und links ein Tal, seine Nase war leicht nach links gezogen, und es traf mich wie ein Schlag: Das war Yeh-teh. Sieben Jahre lang war nichts auf der Welt so sicher gewesen wie die Tatsache, dass ich ihn nie wiedersehen würde.

Im selben Moment sah er es ein: Sie mussten ans Ufer zurückkehren. Vorsichtig trat er den Rückzug an. Ich wartete auf Zeichen von Enttäuschung, Wut oder Frust, aber er schleuderte nicht einmal den Ast weg, legte ihn nur ordentlich auf den Boden, für später vielleicht. Scheinbar unbewegt schüttelte er sein Fell aus und setzte sich zum Trocknen in die Sonne. Die Weibchen taten es ihm nach. Die Große, Kräftige – war das Elly? Sie folgte Yeh-teh als Erste, als der sich zurück in den Urwald aufmachte. Kurz bevor er im Unterholz verschwand, drehte er sich zur Kamera um, rollte die Finger der Rechten zur Faust und legte die Fingernägel an die Lippen: Nägelkauerin. Beziehungsweise: Marina. Ich spulte zurück, sah mir die Szene ein paar Mal in Zeitlupe an. Die Geste war hastig und dauerte nur eine Sekunde; das konnte keine Absicht gewesen sein.

»Hoffentlich bauen sie sich nicht auch noch ein Floß«, sagte Griffin aus dem Off, ein paar Männer lachten, und ich, Montagnacht allein in meinem dunklen Büro, lachte mit vor lauter Erleichterung. Sie dachten, sie hätten es geschafft, und ich dachte es auch. Ich spulte ein letztes Mal zurück und streckte Yeh-teh meinen Daumen entgegen: Morgen. Dann malte ich einen Kreis in die Luft: Alles. Zuletzt machte ich den Kreis aus Daumen und Zeigefinger. Alles wird gut.

Aber die Einlage mit dem Bad im See war ein Kinderspiel gewesen gegen das, was dann kam. Schon ab Tag 3 hörte Yeh-teh auf, Nahrung aufzunehmen. Zwei Tage später traten auch die Weibchen in den Hungerstreik. Sie tranken ein bisschen Wasser, aber nicht genug. Dann ging es schnell bergab mit ihnen. Tag 7 zeigte Yeh-teh schutzlos im Regen hockend, apathisch vor sich hin starrend, ab und an Selbstgespräche führend: Warum bin ich hier? Tag 15, und die Subjects schliefen auf dem nackten Boden. Dr. Diaz deponierte mit Antibiotika versetzten Fruchtsaft an den Futterplätzen. Das brachte nichts, aber mehr konnte er unter den gegebenen Umständen nicht tun. Nicht, wenn er sich nicht mit dem Chef anlegen wollte, mit Griffin.

An Tag 17 starb das erste Subject. Die Audiokommentare lauteten jetzt: »Ach du dicker Hund« und »Holy shit«. Mein Herz schlug bis zum Anschlag. Ich ging vom Schlimmsten aus. Es dauerte eine Ewigkeit, bis die Kamera den Körper der Toten zeigte, deutlich kleiner als der eines Männchens. An Tag 18 brach Griffin das Experiment endlich ab. Aus Mitleid wohl kaum. Niemand sollte später sagen können: Die Tiere starben wie die Fliegen. Ich war ihm trotzdem dankbar.

Ein zweites Subject, nicht Yeh-teh, starb auf dem Weg zum Flughafen in Douala. Die vier anderen schafften es. Schon auf dem Rückflug beobachteten sie ihre Umgebung wacher und interessierter. An Tag 25, 22:15 Uhr, einen Tag nach ihrer Rückkehr nach Leipzig, nahmen sie wieder Nahrung zu sich. An die Adresse des UNEP schloss das Voice-Over: »Medizinische Untersuchung und Autopsie blieben ohne Ergebnisse. Eine kausale Verbindung zum Versuchsort ist den Ergebnissen der ökotoxologischen Untersuchung zufolge auszuschließen.«

Die Kälte kriecht vom Metall der Heizung in meine Beine; sie verstärkt das Gefühl der Schwere, vom Schlafmangel herrührend. Mein Blick bleibt an Griffins dickem Sakko hängen. Ich greife unter mich und drehe am Thermostat. Sind wir eigentlich noch in der Heizperiode?

»Es kann nicht an der Insel gelegen haben«, sagt Griffin. Väterlich lächelt er von seinem Sitzmöbel de jour zu mir herab, und ich greife kurzentschlossen neben mich und ziehe die Perlenschnur herunter. Die Vorrichtung ist ein bisschen eingerostet; zweimal hakt der Mechanismus, sodass ich manuell nachhelfen muss. Seit Jahren werden die Lamellen nur noch zum Fensterputzen geöffnet. Jeder Angestellte mit einem modernen, voll verglasten Büro im Erdgeschoss kennt sowohl das Bedürfnis nach Isolation als auch die Furcht, geschlossene Lamellen könnten als Zeichen des Müßiggangs genommen werden. Die wenigsten haben wie ich Glück und einen einsichtigen Grund, sich zu verstecken: die Mondscheinkrankheit oder Migräne oder eben Demonstranten vorm Fenster.

Die einbrechende Sonne wärmt mir den Rücken und blendet Griffin. Wenn er weiter auf mich herabsieht, wird er Kopfschmerzen bekommen. Er wendet den Blick ab, lässt ihn durch mein erhelltes Reich schweifen. Durch seine Augen sehe ich Berge bedruckten Papiers in Regalen aus Kiefer massiv, die Ordner ordentlich beschriftet, die Bücher zerlesen und mit einem Kamm aus Post-its versehen. Seine Werke stehen auf einem der mittleren Bretter. Weiter unten verstauben meine eigenen Bücher: die Doktorarbeit, eine vergleichende Studie der Gebärdenproduktion bei Hörenden und Gorillas, und die Festschrift für meinen Vater.

Zwischen zwei Ordner geklemmt, die Visitenkarten-Mappe, weiches Nappaleder und exklusives Design für den gehobenen Anspruch, beschriftet in Großbuchstaben: ARBEIT. Die hochwertig verschweißten Sichthüllen gefüllt mit etwa zwanzig Visitenkarten, bedruckt mit den klangvollen Namen der großen Institute, der Koryphäen der Gebärdensprachforschung. Das Heft ist so schmal, so unauffällig, dass Griffin es nicht bemerken kann, es hat schon lange keinen Zuwachs mehr bekommen, und trotzdem fühle ich mein Gesicht warm werden, und trotzdem nehme ich mir vor, es noch heute mit nach Hause zu nehmen – falls ich denn heute zur Abwechslung mal zu Hause schlafen sollte. Gesammelt habe ich die Karten nur aus Gewissenhaftigkeit, nur für den Fall. Ich wollte nie irgendwo anders hin. Nicht, nachdem mich im dritten Semester in den Stellenanzeigen, die ich seit Studienbeginn jede Woche durchforstete, dieses eine Wort angesprungen hatte: Primatenforschungszentrum.

Je näher mein Abschluss gerückt war, umso weniger hatte ich mir vorstellen können, für die nächsten fünfundvierzig Jahre einen Kompromiss einzugehen, mit Lehre und Erforschung solch atemberaubender Angelegenheiten wie Kontrastiver Syntax, Genderaspekten der Gebärdensprache und frühkindlichem Spracherwerb. Erst recht konnte ich es mir beim besten Willen nicht mehr vorstellen, nachdem ich dem ersten Gorilla in die Augen geschaut hatte, ein Gefühl, wie wenn das Space Shuttle abhebt. Ich verließ Griffin nicht einmal, als ich mich selbst überflüssig gemacht hatte; kein Forschungsgegenstand der Welt würde es mit den Subjects aufnehmen können, hier nicht und woanders auch nicht. Eine einzige Bewerbung schrieb ich, und auch die nur bis zum zweiten Absatz, wo man üblicherweise seine Suche nach einer neuen beruflichen Herausforderung zum Ausdruck bringt. Mich forderte nichts mehr heraus.

»Nächstes Mal machen wir es auf einer vegetationslosen Insel, nur zur Sicherheit. Aber es lag nicht an der Insel selbst«, insistiert Griffin jetzt. »Die wollten zurück nach Hause und konnten nicht. Im Busch, in einem Käfig, wäre es genauso gelaufen.« War es nicht seine Aufgabe gewesen, dafür zu sorgen, dass die Subjects nicht nach Hause zurückwollten? Dass sie begriffen, dass ihr neues immer schon ihr richtiges Zuhause gewesen war? Ich werde nicht sagen: Vielleicht hat jemand manipuliert. Irgendein militanter Tierrechtler in unseren Reihen. Irgendein religiöser Fanatiker. Irgendeine weichherzige Diplomandin, Doktorandin vielleicht, Postdoktorandin, die glaubte, das Richtige zu tun. Und es immer noch glaubt. So leicht kann er sich seiner Verantwortung nicht entziehen.

Lange kann ich mich nicht mehr auf den Beinen halten. Ich stütze die Arme hinter mir auf, fasse Mut und hole Schwung. Es ist wie beim Pferdsprung im Sportunterricht: jede Menge Möglichkeiten, sich zu blamieren. Meine Schuhe poltern gegen das Metall der Heizung, doch mein Hintern landet sicher auf dem Fensterbrett.

»Neophobe Tiere umzusiedeln ist immer ein schwieriges Kapitel. Nimm Pseudoryx nghetinhensis«, seufzt Griffin und fügt erklärend hinzu: »Vu-Quang-Antilope.« In den Neunzigern habe kein Mensch mehr damit gerechnet, noch eine große Säugetierart entdecken zu dürfen. »Das Vietnamesische Waldrind«, verkündet er stolz, als habe er es höchstpersönlich dingfest gemacht, »war eine wissenschaftliche Sensation.«

Das war es damit. Dann reden wir jetzt also über etwas völlig anderes. »B-ravo«, murmele ich und verberge meine Enttäuschung mit einem Blick über die Schulter, auf die ungewohnte Aussicht, die gerade austreibende Hecke, die tschilpenden, flatternden, vor meinen Augen verschwimmenden Spatzen. B-ravo. Von einem bilabialen Verschlusslaut zu einem uvularen Vibranten kann man praktisch gar nicht übergehen, ohne einen Vokal einzufügen. Auch wenn die meisten Menschen glauben, das zu können.

»Seitdem wird ungefähr einmal im Jahr eins gefangen«, doziert er. »Diese vietnamesischen Bauern bringen es einem Zoologen, der macht ein paar Fotos davon, und Bang!, ein paar Tage später können sie das Sezierbesteck rausholen. Jedes Mal.«

»Kamman nichts machen«, nuschle ich, den Blick auf den Laminatboden gerichtet, täuschend echtes Kiefernimitat.

»Lässt sich nicht ändern«, stimmt er zu und fügt an: »Es sei denn, du sagst für die nächsten sechs Monate alles andere ab.«

Ich kann nicht verhindern, ihn entgeistert anzustarren, aber immerhin sage ich nicht einfach: Ja, klar, mach ich. Ich sage auch nicht: Ich mach hier normalerweise eh nur Kinderkram. Was ist mein Projekt schon gegen dein Projekt. Das bisschen Reputation, das ich mir allein aufgebaut habe, gegen die Gelegenheit, mich wieder im Abglanz deines Ruhms zu sonnen. Mein langsames Nicken signalisiert: Okay, red weiter.

Er holt eine dicke Papierrolle aus der Innentasche seines groben Professorenjacketts und wirft sie rüber zu mir aufs weiße Plastik, wo sie halb aufblättert. Wenn das hier vorbei ist, brauche ich erst einmal einen richtig heißen Kaffee. »Der Antrag«, sagt er und zitiert aus dem Kopf: »Wurzel des Problems ist das noch immer fehlende kognitive und emotionale Einverständnis der Versuchstiere in die Umsiedlung. Das beantragte Projekt setzt die explizite, verbalisierte Befürwortung der Umsiedlung durch die Versuchstiere voraus.«

Holla die Waldfee.

»Hast du dich verhört?«, fängt Griffin meinen ungläubigen Blick auf. »Ja, es ist ein ganz anderer Ansatz. Und ja, eine Wende um hundertachtzig Grad ist das Beste in unserer Situation.«

»Du willst sie überreden.«

»Ihn. Nur das dominante Männchen. Der Rest der Gruppe wird darauf vertrauen, dass der schon weiß, was er tut. Und nicht ich, du wirst ihn überreden, Dolittle. Du bist die Einzige, die das kann. Dich mögen sie.«

Er kann mir noch so schmeicheln, wenn ich Ja sage, dann nicht deshalb. »Wer? Welche Gruppe nimmst du?« Hoffentlich nicht dieselbe, hoffentlich nicht Yeh-teh, nicht bei dieser Todesrate. Aber wann ist der Tod kein Risiko, wenn es um die Freiheit geht? Und ist die Freiheit dieses Risiko nicht wert? Hoffentlich doch dieselbe Gruppe.

»Dieselbe natürlich. Konstante Bedingungen.«

Um ihm nicht um den Hals zu fallen, studiere ich das Muster, nach dem die künstlichen Jahresringe und Astlöcher auf dem Boden verteilt wurden. Komm zurück an Bord, sagt der Kapitän, und ich kratze mich am Kopf, die gebräuchliche Übersprungshandlung bei konfliktreichen Entscheidungen. Übereifer erregt nur Misstrauen. Aber was gibt es da zu überlegen. Er wird es so oder so machen, wenn nicht mit mir, dann eben mit jemand anderem. Ich bin die Beste; die Einzige bin ich nicht. Aber bin ich dabei, kann ich beim nächsten Notfall immerhin eingreifen, wenn schon Griffin es nicht für nötig hält. Dieses Mal wird keiner sein Leben lassen, Yeh-teh, das verspreche ich dir hiermit. Bald werde ich ihm das wirklich sagen können, von Angesicht zu Angesicht. Kaum zu fassen.

Griffin wischt sich das Lächeln aus dem Gesicht: »Du bringst dich auf den neuesten Stand. Liest den Antrag und gehst die Berichte durch. Schaust bitte die Videos. Morgen Abend gibst du mir Bescheid, spätestens.« Seufzend steht er auf und schlendert zu mir herüber. Seine Hand touchiert meinen Bizeps: »Oder sag einfach jetzt Ja. Der alten Zeiten wegen.«

Ich ziehe die Augenbrauen hoch, blinzele, verschränke die Arme, knete die Hände. Ein Ja muss den Eindruck erwecken, man habe sich die Sache gründlich durch den Kopf gehen lassen. Was die eigenen Prioritäten angeht, was für einen selbst drin ist bei der Sache. Als ich glaube, mich genug gewunden zu haben, gebe ich mir einen deutlichen Ruck und springe ebenfalls in den Stand, ebenfalls seufzend, dabei ist mir nach Schreien und Jubeln zumute. Ich bin aufgeregt wie eine Braut kurz vor ihrer Entführung.

»Wahn«, sage ich, den Vokal viel zu lang gezogen, sodass mir die Zungenspitze hinter den Zähnen gefriert, ratlos. Ich reiße mich zusammen und zwinge die Zunge nach hinten, für das F.

»Wahn«, frage ich, »fangen wir an?«

II. JAGEN

Der alten Zeiten wegen, wie Griffin so schön sagt. Die guten alten Zeiten. Übrigens ist er nicht nostalgisch. Früher war es wirklich besser als heute.

Zurück ins Jahr 2005, und ich bin dreißig und das Deutsche Institut für Anthropologie und Genetik ist der Traum aller Evolutionsforscher. Die Haupthalle mit ihren atemberaubenden Dimensionen, vier Etagen hoch und hundert Meter lang, macht das Haus auch dem Äußeren nach zu einer Kathedrale der Wissenschaft. Gott ist Prof. Dr. Griffin Wilder, Direktor der Abteilung Vergleichende Psychologie. Wer von ihm eingestellt wird, hat es geschafft.

Wir alle sind erfüllt von sonnigem Optimismus, die Männer in Jeans mit ihren Siebentagebärten, die Frauen mit ihren zentimeterlangen Haaren unter den Achseln und an den Beinen, aus Mangel an Interesse und Zeit – nicht selten verbringen wir zwölf, vierzehn Stunden im Labor, im Büro –, die sie unter langen Hosen und weißen Laborkitteln verstecken. Leidenschaftliche, gut gelaunte Mitarbeiter ziehen durch die Flure der Abteilungen, die geschmückt sind mit Schautafeln voller Balken- und Blasendiagramme, Gorillafotos, grün und blau eingefärbten Landkarten, Schädelzeichnungen von Neandertaler und Homo sapiens. An den Türen der Büros hängen Karikaturen und Zitate. Alles ist kultiviert und ironisch-bescheiden. Unvorstellbar, hier dem Bürohumor der Ämter und Versicherungen zu begegnen: Kündigung zwecklos, Sklaven müssen verkauft werden. Bitte nicht hetzen – ich bin auf der Arbeit und nicht auf der Flucht.

Es gab ein Leben vor der Rente, wir waren der lebende Beweis dafür. Mit Lächeln auf den Gesichtern trafen wir uns mittags in den engen Teeküchen, jeder eine Pappschachtel in der Hand: Express Burger Classic, Nürnberger Rostbratwurst mit Sauerkraut und Kartoffelpüree, Nudeln in Tomaten-Käse-Soße. Die Zeit in der Warteschlange vor der Mikrowelle nutzten wir zur Pflege sozialer Kontakte, aber mit den dampfenden Tellern und Kartons kehrten wir zurück vor unsere Computer. Es gab viel zu tun.

Wenn man jeden Abend und jedes Wochenende arbeitet – die Daten müssen schließlich erst einmal erhoben werden –, wird Schlaf zu einer trostreichen Angelegenheit für Leute, die es nicht schaffen, ihre Träume zu leben. Erst gegen Mitternacht gingen wir nach Hause. In der Halle wünschten uns die beleuchteten Schaukästen mit den überlebensgroßen Porträts von Mendel, Darwin und Avery einen schönen, einen wohlverdienten Feierabend, bevor sie uns am nächsten Morgen in aller Frühe wieder begrüßten.

Wenn man sich dem hohen Qualitätsanspruch der Spitzenforschung stellt, wird Freizeit zu etwas, das andere Leute auf Messen besichtigen, unterteilt in Touristik, Haus & Garten, Outdoor und Caravaning.

Brauchten wir eine Stunde aktiver Erholungszeit zur Erhaltung der Leistungsfähigkeit, dann verabredeten wir uns vorm Kaffeeautomaten und redeten über fossile Zungenbeinknochen, unsere Top-Ten-Erlebnisse mit den Subjects oder über fünf Sekunden Film, die den Nachweis erbringen konnten für irgendwas.

Wir verpassten keine Gelegenheit zum Austausch mit Gleichgesinnten. Nicht die vierzehntäglichen Lab Meetings, nicht die Weihnachtsparty und keinen der Gastvorträge. Meetings fingen immer mit einer Viertelstunde Socializing an. Wenn man rund um die Uhr arbeitet, befriedigt man auch sein Zugehörigkeitsbedürfnis besser auf der Arbeit, mit Gleichgesinnten, ehe man depressiv wird, kriminell oder suizidal.

Der Große Hörsaal an jenem frostigen Abend kurz vor Weihnachten 05 war ein weiterer Beleg für unser Bedürfnis, uns aneinander zu wärmen. Obwohl die Sache erst in über einer Stun