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Spielten autistische Diagnosen noch vor 20 Jahren außerhalb der Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie kaum eine Rolle, so sind sie inzwischen nicht nur in der Erwachsenenpsychiatrie und -psychotherapie angekommen, sondern in zunehmendem Maße auch in der Psychosomatik und der psychologischen Psychotherapie. Umso erstaunlicher ist es, dass auch heute noch im klinischen Alltag v.a. die hochfunktionalen Varianten von ASS oft nicht als Ursache für die vielfältigen, damit verknüpften Symptome erkannt werden. Stattdessen werden nur die sekundären Depressionen, Angsterkrankungen, Anpassungsstörungen, Persönlichkeitsstörungen oder Konfliktkonstellationen gesehen, wegen derer die Betroffenen vorstellig werden. Erst die korrekte Diagnose einer ASS erklärt jedoch, weshalb Betroffene immer wieder in schwer verständliche zwischenmenschliche Konflikte geraten. Dies ist oft der erste Schritt in Richtung Verständnis und Akzeptanz des So- und Anders-Seins durch den autistischen Menschen selbst und sein Umfeld. Gleichzeitig nimmt die Zahl derjenigen Menschen zu, die bei sich selber einen Autismus sehen, aber an anderen strukturellen Besonderheiten ihres physischen oder mentalen Körpers leiden oder allenfalls an sehr leichten Formen einer autistischen Persönlichkeitsstruktur (»broader autism phenotype«). Dieses Buch weist den Weg zur sicheren Diagnose einer hochfunktionalen Autismus-Spektrum-Störung und behandelt mögliche Komorbiditäten, die das Erkennen der ASS erschweren können. Therapeutische Interventionen bis hin zu stationärer und medikamentöser Therapie bilden einen zweiten Schwerpunkt. Zudem bereichern betroffene autistische Experten und Angehörige das Werk um wertvolle Einblicke in ihre Erfahrungen mit ASS im täglichen Leben. Die vierte Auflage wurde komplett überarbeitet, aktualisiert und zudem um Themen wie z.B. „Autismus und Traumatisierung“ oder „IT-basierte Therapiemethode“ erweitert.
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Seitenzahl: 1026
Veröffentlichungsjahr: 2025
Ludger Tebartz van Elst (Hrsg.)
Autismus-Spektrum-Störungen im Erwachsenenalter
in Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie
4. Auflage
mit Beiträgen von
M. Biscaldi-Schäfer | B. Brehm | I. Ditrich | R. Döhle | K. Domschke | D. Ebert | M. Eltgen | D. Endres | T. Fangmeier | C. Hanisch | R. Hartmann | V. Haser | A. Isaksson | L. Klom | A. Lichtblau | Y. Lieb | S. Lipinski | M. Mannherz | S. Matthies | S. Nedjat | K. Nickel | M. Paschke-Müller | J. Peters | A. Philipsen | K. Pitsch | C. Preißmann | M. Radtke | R. Rauh | J. Rausch | H. Richter † | A. Riedel | U.M. Schaller | C.E. Scheidt | M.A. Schiele | M. Schlatterer | H. Seng † | U. Sünkel | L. Tebartz van Elst | K. Winter | A. Zeeck
Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft
Der Herausgeber
Prof. Dr. med. Ludger Tebartz van Elst
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
Medizinische Fakultät
Universitätsklinikum Freiburg
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Sektion Experimentelle Neuropsychiatrie
Hauptstr. 5
79104 Freiburg
MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG
Unterbaumstraße 4
10117 Berlin
www.mwv-berlin.de
ISBN 978-3-7753-0029-2 (eBook: ePDF)
ISBN 978-3-7753-0030-8 (eBook: ePub)
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Zuschriften und Kritik an:
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Ich freue mich, dass wir schon so schnell die 4. Auflage unseres Buches zu den Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) im Erwachsenenalter präsentieren dürfen. Dies ist natürlich dem regen Interesse der Leserschaft an dieser Thematik geschuldet, wofür alle Beteiligten sehr dankbar sind.
Die Erstauflage dieses Buches erschien 2013, als sogar in vielen Universitätsklinika noch keine besonderen Angebote im Autismusthemenfeld vorgehalten wurden – zumindest im Erwachsenenbereich. Die erneute Formulierung eines Vorworts für eine Neuauflage ist für mich als Herausgeber auch eine Gelegenheit, alle drei bis vier Jahre darauf zu reflektieren, was sich getan hat.
Die mediale Popularität des Autismusthemas ist ungebrochen. In Film und Fernsehen, auf Youtube, Netflix und in den sozialen Medien stößt es auf unverändet hohes Interesse. Klassifikatorisch wurde die Thematik des Autismus und der Entwicklungsstörungen stark aufgewertet, indem sie im DSM-5 und ICD-11 an die erste Stelle der Störungsentitäten gesetzt wurde. Im klinischen Bereich der Erwachsenenpsychiatrie und -psychotherapie scheint das Thema überwiegend angekommen zu sein oder gerade anzukommen. Die meisten Universitätsklinika bieten inzwischen diagnostische Spezialsprechstunden an.
Dennoch ist es für Betroffene unverändert sehr schwer, in zumutbarer Zeit einen Diagnostiktermin zu bekommen. Besonders schlecht sieht es aber im therapeutischen Bereich aus. Auch wenn die psychotherapeutischen Ausbildungsinstitute zunehmend die ASS in ihrer Relevanz für die Psychotherapie entdecken, ist es nach wie vor in den meisten Regionen unseres Landes schwer bis unmöglich, therapeutisches Personal mit spezifischer Kompetenz zu finden. Auch im stationären Bereich der psychiatrischen Versorgung gibt es kaum Fachkrankenhäuser, die spezifische Angebote für Menschen mit ASS und komorbiden Depressionen, Angsterkrankungen, Zwangsstörungen oder Psychosen anbieten. Die hohe Prävalenz der ASS (wahrscheinlich im Bereich von 1–2%) und die Chronizität dieser Strukturdiagnose lassen diese Diskrepanz z.B. zum Themenfeld der Psychosen umso dramatischer erscheinen. Hier gibt es also nach wie vor viel zu tun.
Zunehmend entdeckt wird das ASS-Thema auch im Bereich der Psychosomatik, psychotherapeutischen Medizin und psychologischen Psychotherapie. Typischerweise sind es eher Personen aus dem sehr hochfunktionalen ASS-Spektrum, bei denen sich aufgrund der Besonderheit der autistischen Persönlichkeitsstruktur chronische, musterhafte, zwischenmenschliche Konflikte und Probleme entwickeln. Häufig stellen sie sich dann wegen dieser Probleme oder daraus resultierender Depressionen, Angstzuständen oder Anpassungsstörungen z.B. in Konstellationen wie Chefwechseln oder Partnerschaftskonflikten im psychotherapeutischen Versorgungssystem vor. Um das Autismusthema in diesem Ausschnitt des Spektrums richtig zu fassen, ist der Störungs- bzw. Krankheitsbegriff oft unangemessen. Hier bieten sich Begriffe wie Strukturdiagnose oder das in der Wissenschaft gebräuchliche Konzept des „broader autism phenotypes“ an. Personen aus diesem Ausschnitt des ASS-Spektrums sind nicht selten selber erfolgreich tätig in Wissenschaft, Bildung und Technik. Zunehmend wird gerade aus diesem Bereich betroffener Personen auch eine Teilhabe am klinischen und wissenschaftlichen Diskurs eingefordert.
Alle angeschnittenen Themen wurden auch in der 4. Auflage dieses Buches intensiv bearbeitet. Die Nachauflage wurde völlig neu überarbeitet und aktualisiert. Immerhin 10 Kapitel des Buches wurden von autistischen Personen bzw. aus der Angehörigenperspektive geschrieben, was mich persönlich sehr freut. Auch in dieser Neuauflage wurden nicht nur die bestehenden Kapitel umfassend aktualisiert, sondern auch wieder neue Themen aufgegriffen wie Autismus und Traumatisierung, computer- und webbasierte Übungsmethoden zur sozialen Kompetenz, Gesundheits- und Versorgungsforschung sowie partizipative Forschung. Unverändertes Ziel des Buches ist es dabei, die Position eines Standardwerks in diesem Themenbereich weiter zu erarbeiten und zu behaupten.
Das Autismusthema ist vielfältig. Es begegnet einem in der klinischen, psychotherapeutischen Praxis aber auch in der Pädagogik im Sinne echter neuropsychiatrischer Krankheiten, als Persönlichkeitsstruktur, aus der Leid bei den Betroffenen oder Angehörigen resultiert, oder auch nur als persönlichkeitsstrukturelle Besonderheit im Sinne einer Normvariante. Das vorliegende Buch will helfen, diese verschiedenen Facetten zu differenzieren. Die Autorinnen und Autoren dieses Buches wollen einen Beitrag dazu leisten, die Besonderheiten, Eigenschaften, Symptome, Schwierigkeiten, aber auch Stärken und Faszinosa autistischer Menschen zu beschreiben und fassbar zu machen. Denn ein differenziertes Verständnis dessen, was Autismus ist, aber auch nicht ist, ist nach klinischer Erfahrung Voraussetzung dafür, mit dieser besonderen Seinsweise menschlicher Existenz kreativ, gelassen, optimistisch und dankbar umzugehen und zu leben. Das heißt, es geht wie immer im Leben autistischer und nichtautistischer Menschen um Akzeptanz des eigenen So-Seins und Änderungsbereitschaft problematischer Verhaltensweisen. Voraussetzung dafür ist aber die Fähigkeit zur Unterscheidung. Was ist Struktur, die kaum verändert werden kann, sondern akzeptiert werden muss, allenfalls kompensiert werden kann? Was sind Zustände wie Depressionen, die ihrem Wesen nach vorübergehend sind und behandelt werden sollten? Was sind Probleme: Problemverhaltensweisen der einzelnen, die lernend gelöst werden sollten oder Problemverhaltensweisen der anderen oder der Gesellschaft, an deren Veränderung wir alle arbeiten sollten?
Wenn dieses Buch dabei helfen kann, die beschriebene Fähigkeit zur Unterscheidung und die erhoffte Gelassenheit, Zuversicht und vor allem Freude am Leben zu fördern, so hat es sein Hauptziel erreicht.
Freiburg im November 2025
Ludger Tebartz van Elst
Noch vor etwa 10 Jahren war die Diagnose eines Asperger-Syndroms oder anderer hochfunktionaler Autismus-Spektrum-Störungen an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Freiburg so gut wie inexistent. Das hat sich nach Einführung des Schwerpunkts Autismus-Spektrum-Störungen im Jahr 2004 entscheidend geändert. Nun werden im klinischen Alltag Autismus-Spektrum-Diagnosen endlich adäquat erkannt, wo zuvor nur atypische Depressionen, Angsterkrankungen, schizoide Persönlichkeitsstörungen oder Anpassungsstörungen im Zusammenhang mit schwer zu verstehenden sozialen Konflikten gesehen wurden. Aber auch bei sich nicht klassisch präsentierenden Zwangsstörungen oder psychotischen Krankheitsbildern, etwa im Sinne einer Schizophrenia simplex, werden inzwischen immer wieder Patienten identifiziert, deren Symptome und Leidensgeschichten erst nach Diagnose der hochfunktionalen Autismus-Spektrum-Störung sowohl für die Patienten als auch für die Behandler adäquat verstehbar werden.
Der in den letzten Jahren an unserer Klinik gewachsene Eindruck, dass derartige hochfunktionale Autismus-Spektrum-Störungen durchaus häufig sind und auch gegenwärtig schon im Kontext der Psychiatrie und Psychotherapie behandelt werden ohne unbedingt als solche erkannt zu werden, wird durch jüngste populationsbasierte epidemiologische Studien, die eine entsprechende Prävalenzrate von über 1% nahelegen, unterstützt.
Dabei erscheint es wahrscheinlich, dass der Blick auf die Autismus-Spektrum-Störungen aus der Perspektive der Erwachsenenpsychiatrie und -psychotherapie ein anderer sein kann, als der aus der Perspektive der Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie. Denn viele der im Erwachsenenalter diagnostizierten Patienten können auf gute individuelle Kompensationsmöglichkeiten bzw. eine sehr gute psychosoziale Unterstützungsstruktur zurückgreifen, die es ihnen ermöglicht hat, lange Zeit erfolgreich mit den primären Autismus-spezifischen Problemen und Schwächen umzugehen. Die genaue biografische Analyse zeigt aber auch in diesen Fällen, dass sich dennoch eine lebenslange, oft stille Leidensgeschichte hinter dem eigenen Anders-Sein verbirgt.
Gerade deshalb ist die Identifikation der Autismus-Spektrum-Störung in diesem Zusammenhang so wichtig. Denn sie bietet für Patienten wie auch für Behandler ein angemessenes und überzeugendes Verstehensmodell der klinischen Symptomatik und Problematik. Damit ist sie auch Voraussetzung für eine den Patienten angemessene Therapieplanung und -gestaltung.
Vor diesem Hintergrund freue ich mich, dass die Autoren dieses Buches ein Werk vorlegen, in dem die besondere Problematik der Autismus-Spektrum-Störungen im Erwachsenenalter ins Zentrum des Interesses gerückt wird. Besonders hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang auch die Tatsache, dass ein erstes gruppenpsychotherapeutisches Therapieprogramm entwickelt wurde – und aktuell evaluiert wird – welches auf die spezifischen Symptome und Probleme erwachsener Menschen mit hochfunktionalem Autismus zugeschnitten ist (FASTER-Konzept, s. Kap. IV.7).
Ich verbinde mit dieser Buchpublikation die Hoffnung, dass eine umfassende Aufklärung und Weiterbildung im Hinblick auf dieses Störungsbild es zukünftig allen Ärztinnen und Ärzten sowie Psychologischen Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten erleichtern wird, die klinische Symptomatik nicht nur angemessen zu erkennen, sondern auch spezifische und für die Patientengruppe zugeschnittene therapeutische und insbesondere psychotherapeutische Interventionen in die Wege zu leiten.
Freiburg, November 2012
Mathias Berger
IGrundlagenwissen
1Asperger-Syndrom, Autismus-Spektrum-Störungen und Autismusbegriff: historische Entwicklung und moderne NosologieLudger Tebartz van Elst, Monica Biscaldi-Schäfer und Andreas Riedel
2Symptomatik und Klassifikation von Autismus-Spektrum-Störungen in der Kinder- und JugendpsychiatrieMonica Biscaldi-Schäfer und Bettina Brehm
3Autismus-Spektrum-Störungen im Erwachsenenalter – Symptomatik und PräsentationLudger Tebartz van Elst
4Spezifische mit Autismus-Spektrum-Störungen vergesellschaftete SyndromeAndreas Riedel
5Pathogenetische ModelleThomas Fangmeier
6Ätiologie der Autismus-Spektrum-StörungenUlrich Max Schaller und Yanick Lieb
7Verlauf und PrognoseMonica Biscaldi-Schäfer und Andreas Riedel
8Ist das Asperger-Syndrom eine Krankheit?† Hajo Seng
9Die Bedeutung der Autismus-Spektrum-Störungen für die Erwachsenenpsychiatrie und -psychotherapieLudger Tebartz van Elst
10Autismus-Spektrum-Störungen in der psychosomatischen MedizinCarl Eduard Scheidt und Almut Zeeck
11Autismus-Spektrum-Störungen bei Mädchen und FrauenChristine Preißmann
IIDiagnostik
1Klinische DiagnostikAndreas Riedel
2Neuropsychologische UntersuchungenThomas Fangmeier und Reinhold Rauh
3Psychometrische UntersuchungenReinhold Rauh und Thomas Fangmeier
4ZusatzuntersuchungenLudger Tebartz van Elst
IIIKomorbiditäten und atypische Präsentationen
1Autismus-Spektrum-Störungen und die Schizotype StörungKlaas Winter
2Autismus-Spektrum-Störungen und DepressionenMartina Radtke
3Autismus-Spektrum-Störungen und AngsterkrankungenMartina Radtke und Katharina Domschke
4Autismus-Spektrum-Störungen und Aufmerksamkeitsdefizit-HyperaktivitätsstörungAlexandra Philipsen und Swantje Matthies
5Autismus-Spektrum-Störungen und Tic-StörungenLudger Tebartz van Elst und Kathrin Nickel
6Autismus-Spektrum-Störungen und schizophreniforme PsychosenLudger Tebartz van Elst und Klaas Winter
7Autismus-Spektrum-Störungen und Borderline-PersönlichkeitsstörungLudger Tebartz van Elst, † Harald Richter und Alexandra Philipsen
8Autismus-Spektrum-Störungen und verändertes Essverhalten bzw. EssstörungenKathrin Nickel, Alexandra Isaksson und Almut Zeeck
9Zwangsstörungen bei Patienten mit Autismus-Spektrum-StörungenDominique Endres, Karoline Pitsch, Alexandra Isaksson, Andreas Riedel und Miriam A. Schiele
10Autismus-Spektrum-Störungen und körperliche BelastungsstörungenMarion Eltgen, Andrea Lichtblau und Martina Radtke
11Autismus-Spektrum-Störungen und SuchterkrankungenIsmene Ditrich und Swantje Matthies
12Entwicklungsstörungen und geschlechtsspezifische Abweichung/GeschlechtsdysphorieDieter Ebert
13Autismus-Spektrum-Störungen und TraumatisierungIsmene Ditrich und Jördis Rausch
IVTherapie
1Von Strukturen, Problemen und Zuständen – ein heuristisches Modell zur Klärung von TherapiezielenLudger Tebartz van Elst
2Die Organisation der NischeLudger Tebartz van Elst
3Medikamentöse Therapie im ErwachsenenalterLudger Tebartz van Elst
4PsychotherapieJulia Peters, Dieter Ebert, Thomas Fangmeier, Andrea Lichtblau, Monica Biscaldi-Schäfer und Ludger Tebartz van Elst
5EinzelpsychotherapieAndreas Riedel
6Therapeutische Ansätze und Interventionen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapieMonica Biscaldi-Schäfer, Mirjam Paschke-Müller und Bettina Brehm
7Das Freiburger Autismus-Spezifische Therapiekonzept für ErwachseneManon Mannherz, Julia Peters, Thomas Fangmeier und Ludger Tebartz van Elst für die Freiburger Autismus Studiengruppe
8Stationäre Therapie von Autismus-Spektrum-StörungenMartina Schlatterer, Marion Eltgen, Klaas Winter, Martina Radtke und Ludger Tebartz van Elst
9Ambulante Therapie von Autismus-Spektrum-Störungen in der psychiatrisch-psychotherapeutischen PraxisSchide Nedjat
10SelbsthilfekonzepteRainer Döhle
11Computergestützte und webbasierte Trainingsverfahren der sozialen KompetenzJördis Rausch
VAutismus-Spektrum-Störungen im sozialen Umfeld
1Autismus-Spektrum-Störungen und die ArbeitsweltUlrike Sünkel
2Zwischenmenschliche Beziehungen bei Autismus-Spektrum-StörungenLeonie Klom und Andrea Lichtblau
3Partnerschaftskonflikte und PaartherapieMarion Eltgen und Andreas Riedel
4Autismus und Kreativität† Hajo Seng
5Autismus-Spektrum-Störungen und SpracheVerena Haser, Ismene Ditrich und Andreas Riedel
6Forensische AspekteDieter Ebert und Andreas Riedel
7Gesundheitsversorgung für Menschen im Autismus-SpektrumRegina Hartmann, Silke Lipinski, Manon Mannherz und † Hajo Seng
8Die Diagnose Asperger-Autismus bei einer 17-jährigen Frau – aus Sicht der MutterCarola Hanisch
9Patient and Public Involvement und partizipative Forschung in der AutismusforschungSilke Lipinski
Sachwortverzeichnis
Die Autorinnen und Autoren
Nach der 2022 in Kraft getretenen ICD-11 werden die Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) verstanden als heterogene Gruppe von Störungsbildern, die charakterisiert sind durch qualitative Einschränkungen der sozialen Interaktion, Probleme in der zwischenmenschlichen Kommunikation, einem eingeschränkten Verhaltensrepertoire, dem Hang zu repetitiven stereotypen Verhaltensmustern, eingeschränkten, stark fokussierten Interessensgebieten sowie sensorischen Besonderheiten. Dabei wurden die autistischen Subtypen des frühkindlichen Autismus (Kanner-Syndrom), des atypischen Autismus und des Asperger-Syndroms, die in der noch immer in Deutschland zur Anwendung kommenden ICD-10 beschrieben werden, in der ICD-11 abgeschafft. Hans Asperger (1906–1980) selber sprach von der „autistischen Psychopathie“, Grunja E. Ssucharewa (1891–1981) von einer „schizoiden Psychopathie“ und Leo Kanner (1894–1981) von einem „frühkindlichen Autismus“. Sie beschrieben dabei ähnliche Phänotypen. Seit DSM-5 und ICD-11 wird der Begriff ASS favorisiert. Diese Vielfalt an unterschiedlichen Begriffen für inhaltlich sehr ähnliche gemeinte Sachverhalte zeigt, wie sehr das Denken über psychische Besonderheiten immer auch in die Konzepte der Zeitgeschichte eingebunden ist. Sie machen auch klar, dass die Annahmen der Gegenwart auf einer Ideengeschichte und Theoriebildung der Vergangenheit aufbauen. Diese soll Gegenstand dieses einleitenden Kapitels sein.
Als Hans Asperger 1944 in seiner Habilitationsschrift das später nach ihm benannte Asperger-Syndrom ausführlich beschrieb, benutzte er dafür den Begriff der „autistischen Psychopathie“. Grunja E. Ssucharewa beschrieb bereits 1926 ein recht ähnliches klinisches Bild und nannte es „schizoide Psychopathie“. Hier klingen die zentralen Begriffe der Psychopathie, des Schizoiden und des Autismus an, die zunächst verstanden werden müssen.
Der Begriff Autismus (aus dem Griechischen von αὐτός „selbst“) wurde von dem Schweizer Psychiater Eugen Bleuler (1857–1939) geprägt und beschreibt den sozialen Rückzug und ein Zurückweichen in die eigene Gedankenwelt bei immer spärlicherer Kommunikation bei Menschen mit schizophreniformen Störungen.
Der Begriff der Schizoidie geht auf Ernst Kretschmer (1888–1964) zurück. Im Rahmen seiner Theorie führte er den Begriff des schizoiden Temperamentes ein, wobei er eine Nähe zur Schizophrenie postulierte (Kretschmer 1921).
Der Begriff der Psychopathie hat in den letzten Dekaden einen Bedeutungswandel erlebt. Ursprünglich in der von Asperger gebrauchten Bedeutung ist er nach heutigem Sprachgebrauch am ehesten als Persönlichkeitsstörung zu übersetzen. Gemeint sind damit zeit- und situationsstabile Eigenschaften einer Person wie etwa Extrovertiertheit, Introvertiertheit, emotionale Stabilität, Impulsivität, Ängstlichkeit, Fähigkeit zur sozialen Wahrnehmung und Anteilnahme etc. (vgl. Tebartz van Elst 2008). Das Konzept der Persönlichkeitsstörungen geht davon aus, dass sich solche Merkmale als erkennbare, träge Eigenschaftscluster in der Kindheit oder Jugend herausbilden, im Weiteren stabil sind und aufgrund charakteristischer und immer wiederkehrender Verhaltens- und Erlebensmuster zu relevanten Beeinträchtigungen und zu Leiden bei den Betroffenen und/oder Dritten führen.
Zu Zeiten Aspergers war der Begriff der Persönlichkeitsstörungen in dieser Form noch nicht üblich und wurde konzeptuell am ehesten durch den Psychopathiebegriff repräsentiert. Unter Psychopathie wurden also, ebenso wie heute unter dem Begriff der Persönlichkeitsstörung, zeit- und situationsstabile Muster im Wahrnehmen, Erleben, Denken und Handeln von Menschen verstanden (Aschoff 1968).
Ähnlich wie heute im Zusammenhang mit Persönlichkeitsstörungen die Abgrenzung von Normalität oder nicht, reaktiver Psychogenese oder schicksalhafter organischer Verursachung intensiv diskutiert wird (Tebartz van Elst 2008, 2018, 2022), war dies auch beim Psychopathiebegriff in der Vergangenheit der Fall (Remschmidt u. Kamp-Becker 2006).
Der heutige alltagssprachliche, wissenschaftliche und kriminologisch-forensische Psychopathiebegriff hat dagegen einen Bedeutungswandel erfahren. Nun versteht man darunter besonders schwere Formen der dissozialen und antisozialen Persönlichkeitsstörung, die mit reduzierter sozialer Angst, antisozialen oder kriminellen Verhaltensweisen in einen Zusammenhang gebracht werden.
Werden die Texte Aspergers oder Ssucharewas mit diesem modernen Psychopathiebegriff im Kopf gelesen, so kann es durchaus zu Missverständnissen kommen.
Übersetzt in die moderne Sprache kann man also pointiert festhalten, dass Asperger mit seiner Begriffswahl eine Art autistische Persönlichkeitsstörung mit Beginn im frühen Kindesalter beschrieb.
Entscheidend für die Entwicklung des Autismusbegriffs waren auch die Fallbeschreibungen von Hans Asperger und Leo Kanner (1894–1981).
Asperger beschrieb 1944 in seiner Habilitation vier Jungen im Alter von 6–8 Jahren, die deutliche Kontaktschwierigkeiten hatten, sich sozial in die Bezugsgruppen nicht integrieren konnten, Kommunikationsprobleme aufwiesen und im emotionalen Erleben und Ausdrucksverhalten auffielen. Ebenso fielen eine motorische Ungeschicklichkeit und ein seltsames Sprachverhalten sowie ein eigenartiger Umweltbezug auf. Die Gemeinsamkeiten dieser vier Kinder fasste Asperger unter sechs Kategorien zusammen, die die wesentlichen Kriterien des später nach ihm benannten Syndroms beinhalteten.
Es sei aber noch einmal darauf hingewiesen, dass schon 1926 von Grunja E. Ssucharewa ein ähnliches klinisches Bild bei sechs Kindern im Alter von 10–12 Jahren beschrieben worden war (Ssucharewa 1926). Ihrer in deutscher Sprache veröffentlichten Schrift erging es ähnlich wie der von Hans Asperger und Leo Kanner: sie wurden über Jahrzehnte ignoriert. Während Aspergers Arbeit erst nach einer Referenz in einer Fallserie von Lorna Wing (1981) international beachtet wurde, geschah dies im Falle von Ssucharewas Beschreibung erst durch eine späte Übersetzung ins Englische von Susan Wolff (1996).
Leo Kanner beschrieb 1943 acht Jungen und drei Mädchen, bei denen ihm schon sehr früh in der Entwicklung die fehlende Fähigkeit, emotionale Beziehungen aufzunehmen, aufgefallen war (Kanner 1943). Drei der Kinder sprachen gar nicht und die meisten der anderen wiesen Auffälligkeiten der Sprache auf. Beziehungen wurden eher zu Objekten, aber weniger zu Menschen aufgenommen. Die meisten Kinder waren geräuschempfindlich, konzentrierten ihre Aufmerksamkeit auf kleine Teile oder Teilaspekte von komplexeren Dingen. Ihre Verhaltensweisen waren rigide und stereotyp und sie erwiesen sich als extrem empfindlich im Hinblick auf Veränderungen der Umwelt und Tagesabläufe. Schon Kanner (wie auch Asperger) bemerkte, dass auch einige der Eltern teilweise verwandte Eigenschaften aufwiesen.
Damit war in Form dreier vergleichsweise kleiner Fallserien im Wesentlichen der Rahmen gesteckt für die konzeptuelle Entwicklung des Autismus bzw. der Autismus-Spektrum-Störungen der heutigen großen Klassifikationssysteme DSM und ICD.
Im Kapitel 84 der ICD-10 werden sechs Formen der tiefgreifenden Entwicklungsstörungen beschrieben, von denen drei (frühkindlicher Autismus F84.0, atypischer Autismus F84.1, Asperger-Syndrom F84.5) bei der Differenzialdiagnose hochfunktional-autistischer Syndrome von besonderer Bedeutung sind. Bei den übrigen Formen handelt es sich um das Rett-Syndrom, die desintegrative Störung des Kindesalters und die hyperkinetische Störung mit Intelligenzminderung und Bewegungsstereotypien (s. Tab. 1). Letztere spielt insbesondere im Kontext hochfunktional-autistischer Syndrome keine wesentliche Rolle.
Tab. 1 Kurzcharakterisierung anderer tiefgreifender Entwicklungsstörungen, die mit autistischen Syndromen einhergehen
In der seit Mai 2013 gültigen fünften Version des DSM (DSM-5) ergeben sich folgende Änderungen (APA 2013, 2015, 2018):
Im DSM-5 werden folgende Störungsbilder unter der Kategorie „neuronale Entwicklungsstörungen“ zusammengefasst: i. Intelligenzminderung, ii. Kommunikationsstörungen inklusive Sprachstörungen und Störung der sozialen (pragmatischen) Kommunikation, iii. Autismus-Spektrum-Störung, iv. Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung, v. spezifische Lernstörungen, vi. Störungen der Motorik inklusive Tic-Störungen und Tourette-Syndrom. Hier wird also der frühe Beginn eines klar identifizierbaren symptomatischen Musters in der ersten Dekade als gemeinsames Merkmal der genannten Störungsbilder konsequent zur Definition der Störungsgruppe herangezogen (Tebartz van Elst et al. 2023).
Da sich die autistischen Hauptkategorien „Frühkindlicher Autismus“ und „Asperger-Syndrom“ nicht valide voneinander trennen ließen (Lord et al. 2012), wurde im DSM-5 der seit Langem erkennbare Trend aufgegriffen, diese kategoriale Unterscheidung zugunsten eines dimensionalen Ansatzes fallen zu lassen (APA 2013, 2015; 2018, http://www.dsm5.org). Dieses Vorgehen wurde unterstützt durch die klinische Beobachtung fließender Übergänge zwischen den bisherigen Unterkategorien des Autismus, zwischen den verschiedenen neuronalen Entwicklungsstörungen insgesamt, zwischen typischer und atypischer Entwicklung und schlussendlich auch zwischen psychischer Gesundheit und psychiatrischer Erkrankung (Rutter 2011, Tebartz van Elst 2018, 2022). So konnte nachgewiesen werden, dass nicht erkrankte Verwandte autistischer Patienten ähnliche aber weniger stark ausgeprägte autistische Persönlichkeitsmerkmale aufwiesen (Constantino 2011). Dies ist wahrscheinlich einer gemeinsamen, komplexen genetischen Prägung für „autistische Persönlichkeitsmerkmale“ von Gesunden ebenso wie von Erkrankten geschuldet (Robinson et al. 2011). Zur Abgrenzung von nicht krankheitswertigen Zuständen dienen im DSM-5 die Kriterien der Domäne C (Symptome müssen seit früher Kindheit vorhanden sein – aber können erst dann offensichtlich werden, wenn soziale Anforderungen die Kompensationsmöglichkeiten überschreiten) – und der Domäne D (Symptome begrenzen und beeinträchtigen insgesamt das alltägliche Funktionieren) (s. Tab. 3).
Da sich die beiden Hauptkriterien der ICD-10, soziale Interaktion und Kommunikation, nicht valide voneinander trennen ließen, wurden die beiden zu einem Kriterium „fusioniert“. Dieses wird wie folgt definiert:
„Andauernde Defizite der Kommunikation und sozialen Interaktion in mehreren Kontexten, die aktuell oder anamnestisch vorhanden sind und nicht durch eine generelle Entwicklungsverzögerung besser erklärt werden können.“
Unter dem neuen B-Kriterium werden nicht nur die klassischen repetitiven und stereotypen Verhaltensweisen und Interessenmuster geführt, sondern auch sensorische Besonderheiten wie etwa eine Empfindlichkeit gegenüber Reizüberflutung, welche im alten Autismus-Konzept gemäß DSM-IV noch unberücksichtigt blieben (s. Tab. 2). Im Sinne einer Verschärfung der Diagnosekriterien werden nun mindestens zwei Symptome (und nicht nur ein einziges Symptom) aus diesem Bereich gefordert, um die Diagnose stellen zu können.
Der Unterschiedlichkeit der individuellen Fälle im klinischen Alltag kann nach DSM-5 dadurch besser Rechnung getragen werden, dass eine größere Breite von Zusatzdiagnosen zugelassen wird. Dies trifft insbesondere für eine ADHS-Diagnose zu, die nach DSM-IV und ICD-10 bei Autismus bislang ausgeschlossen war (Rommelse et al. 2011). Insbesondere für den kinder- und jugendpsychiatrischen Bereich ist dies sehr zu begrüßen, da der wechselseitige Ausschluss beider Diagnosen in der Vergangenheit häufig zu Problemen führte.
Tab. 2 Definition der Autismus-Spektrum-Störung nach DSM-5 und ICD-11 (modifiziert nach Tebartz van Elst u. Ebert 2024)
Dem Konzept eines dimensionalen Krankheitsmodells folgend wurde die diagnostische Einordnung um eine Einteilung in Schweregrade erweitert (s. Tab. 3).
Die Diagnose einer sozialen Kommunikationsstörung (social [pragmatic] communication disorder) wurde als neue Kategorie eingeführt. Sie ist weitgehend in Analogie zum A-, C- und D-Kriterium der ASS konzipiert, wobei Symptome im Sinne des B-Kriteriums nicht gefordert werden und eine ASS ausgeschlossen sein soll.
Tab. 3 Schweregrad der ASS (modifiziert nach APA 2013, 2015, 2018)
Seit Januar 2022 ist die ICD-11 in Kraft getreten und hat damit offiziell die ICD-10 abgelöst, die allerdings in Deutschland noch bis auf weiteres zur Anwendung kommt. Dabei ergeben sich auch für die Psychiatrie einige Neuerungen (First et al. 2021; WHO 2025; Tebartz van Elst u. Ebert 2024). Im Hinblick auf das Autismus-Thema folgt die ICD-11 dabei weitgehend den Grundentscheidungen des DSM-5. Wie dort werden die großen Störungsbilder der Autismus-Spektrum-Störungen, der ADHS und Intelligenzminderungen aus verschiedenen Kapiteln der ICD-10 nun zum ersten Kapitel der Störungen der „neurodevelopmental disorders“ zusammengefasst (wohingegen die Tic-Störungen wiederum bei den neurologischen Störungen klassifiziert wurden). Auch hier werden die Unterscheidungen der ICD-10 in frühkindlichen Autismus, atypischen Autismus und des Asperger-Syndroms zugunsten des dimensionalen Begriffs der Autismus-Spektrum-Störungen fallengelassen. Aus dem A- und B- Kriterium des DSM-5 werden nun das 1. und 2. Hauptkriterium nach ICD-11 (s. Tab. 2). Bei der Ausformulierung der diagnostischen Algorithmen ist die ICD-11 aber weniger streng als das DSM-5. So werden bei letzterem etwa für die Erfüllung des A-Kriteriums alle der folgenden Symptome A.1–3 gefordert (s. Tab. 2), während die ICD-11 weniger scharf operationalisiert in Form der diagnostischen Vorschrift „Manifestationen können folgende Symptome beinhalten“ („manifestations may include the following“), wobei eine Liste mit verschiedenen Symptomen folgt (vgl. First et al. 2021).
Tab. 4 Kriterien der „social communication disorder“ modifiziert nach DSM-5 (APA 2013, 2015)
A. Andauernde Schwierigkeiten im sozialen Gebrauch verbaler und nonverbaler Kommunikation, die sich in allen folgenden Merkmalen zeigen:
1. Defizite im Gebrauch von Kommunikation für soziale Zwecke, beispielsweise beim Grüßen oder beim Austauschen von Informationen in einer dem sozialen Kontext angemessenen Weise.
2. Beeinträchtigung der Fähigkeit, den Kommunikationsstil an den Kontext oder die Bedürfnisse des Zuhörers anzupassen, beispielsweise in unterschiedlicher Weise im Klassenzimmer oder auf dem Spielplatz zu sprechen, anders mit einem Kind als mit einem Erwachsenen zu reden oder die Anwendung übermäßig formaler Sprache zu vermeiden.
3. Schwierigkeiten, Regeln für Konversationen und beim Erzählen zu beachten, beispielsweise den Gesprächspartner bei Unterhaltungen auch zu Wort kommen zu lassen, bei Missverständnissen eine andere Formulierung zu wählen oder verbale und nonverbale Signale zur Regulation von Interaktionen einzusetzen.
4. Schwierigkeiten im Verständnis von nichtexpliziten Botschaften (z.B. Schlussfolgerungen zu ziehen) und von nicht wörtlicher oder mehrdeutiger Sprache (z.B. bei Redewendungen, Humor, Metaphern, mehrdeutigen Begriffen, deren Bedeutung vom Kontext abhängt).
B. Diese Schwierigkeiten führen zu funktionellen Beeinträchtigungen in der effektiven Kommunikation, bei der sozialen Teilhabe, in sozialen Beziehungen, in der schulischen oder beruflichen Leistungsfähigkeit (einzeln oder in jeglicher Kombination).
C. Der Beginn der Störung liegt in der frühen Entwicklungsphase (Schwierigkeiten können sich aber erst voll manifestieren, wenn die Anforderungen an die soziale Kommunikation die begrenzten Fähigkeiten überschreiten).
D. Die Symptome können nicht auf einen anderen medizinischen oder neurologischen Krankheitsfaktor oder auf zu gering ausgeprägte Fähigkeiten in der Wortbildung und der Grammatik zurückgeführt werden. Sie können nicht besser durch eine Autismus-Spektrum-Störung, eine intellektuelle Beeinträchtigung (Intellektuelle Entwicklungsstörung), eine allgemeine Entwicklungsverzögerung oder eine andere psychische Störung erklärt werden.
Beim B-Kriterium dominieren bei der Auflistung beispielhafter Symptome im DSM-5 solche, die bei Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen und gleichzeitiger intellektueller Beeinträchtigung häufig gesehen werden (z.B. stereotypier, repetitiver Gebrauch von Objekten, exzessives Beriechen oder Berühren von Objekten, Echolalie), während in der ICD-11 auch Symptome aufgelistet werden, die bei autistischen Menschen ohne geistige Behinderung häufig beobachtet werden (First et al. 2021). Während DSM-5 wieder mindestens zwei Symptome aus einer Liste von sieben Beispielen für eine Diagnose verlangt, stellt die ICD-11 eine Liste von sieben Auffälligkeiten nur als Beispiele vor.
Stärker hervorgehoben wird in der ICD-11 nun auch die Rolle der Kompensation. So wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Symptome verschleiert sein können, wenn die sozialen Anforderungen nicht hoch sind und erst später in der Entwicklung zum Vorschein kommen können, wenn die sozialen Anforderungen die Kompensationsmöglichkeiten überschreiten (Tebartz van Elst u. Ebert 2024). Die Kategorie der sozialen (pragmatischen) Kommunikationsstörung wird auch im ICD-11 unter dem Titel der „Pragmatischen Sprachentwicklungsstörung; (pragmatic) communication disorder“ aufgegriffen (Brehm et al. 2024). Hier wird sie konzeptuell nicht mehr den ASS zugeordnet, sondern als Unterkategorie der Sprachentwicklungsstörungen geführt. Außerdem wird sie deutlich unschärfer operationalisiert, weshalb hier die entsprechenden Kriterien nach DSM-5 präsentiert wurden (s. Tab. 4). Erstmals benennt die ICD-11 allerdings (wie bereits Kanner und Asperger) sprachpragmatische Symptome differenziert und detailliert als Symptome von ASS.
Die Besonderheiten des Intelligenzniveaus sowie der Entwicklung der Sprache werden klarer als eigene – kodierbare – Dimensionen beschrieben, wodurch alltagsrelevante Aspekte des Funktionsniveaus berücksichtigt werden. Auch werden Abgrenzungen zu anderen Entwicklungsstörungen, aber auch zu anderen psychiatrischen Störungen differenzierter behandelt. Schließlich wird auch das Thema des Autismus als Normvariante („broader autism phenotype“) thematisiert und Besonderheiten wie die autistischen Stressreaktionen beschrieben. Zu guter Letzt werden auch Phänomene wie die autistische Regression (d.h. dem plötzlichen Auftreten autistischer Besonderheiten vor dem Hintergrund einer bis dato unauffälligen Entwicklung), der Zusammenhang von Autismus und Epilepsie und andere denkbare Kausalursachen thematisiert, was einen Fortschritt zur ICD-10 und DSM-5 darstellt.
Die Weiterentwicklung des Begriffs der neuronalen Entwicklungsstörungen auf den Bereich von ADHS, Störungen der Lern-, Sprech- und Sprachentwicklung sowie motorischen Störungen erscheint sinnvoll und plausibel, nicht zuletzt weil diese Störungen das Charakteristikum des frühen Beginns einer qualitativ auffälligen Entwicklung gemeinsam haben und es zahlreiche Überlappungen und Grenzfälle gibt (Tebartz van Elst et al. 2023, Tebartz van Elst 2024). Ferner ist zu begrüßen, dass auch Doppeldiagnosen von ASS und ADHS möglich geworden sind, da dies der klinischen Erfahrung entspricht und Behandlungsversuche erleichtert. Auch die Vereinheitlichung der bislang kategorial gefassten autistischen Störungen zum dimensional gefassten Konzept eines „Autismus-Spektrums“ ist sinnvoll, da die bisherigen Subkategorien in der Tat fließend ineinander übergehen, prognostisch weitgehend bedeutungslos sind und auch therapeutisch weniger Bedeutung haben als z.B. die intellektuelle Leistungsfähigkeit oder der Gebrauch funktioneller Sprache (Cederlund et al. 2008; Howlin et al. 2004). Die Unterscheidung von sekundären Varianten von ASS (z.B. im Rahmen eines fragilen-X-Syndroms) und „primären“ ASS-Varianten (Aitken 2010; Tebartz van Elst et al. 2018, 2022) fand dagegen noch keinen Eingang in das DSM-5, während in der ICD-11 die sekundären autistischen Syndrome klarer abgegrenzt werden (Tebartz van Elst u. Runge 2024). Die in der Literatur verbreitete (dimensionale) Unterscheidung von niederfunktionalen (mit Störung der funktionellen/funktionaler Sprache und mit beeinträchtigter Intelligenz) und hochfunktionalen Formen wurde zumindest in der ICD-11 Klassifikation aufgegriffen. Eine Operationalisierung des Schweregrads des Funktionsniveaus findet sich dagegen nur im DSM-5.
Unabhängig von ihrer Klassifikation bleibt abschließend darauf hinzuweisen, dass momentan in Deutschland vor allem daran gearbeitet werden muss, dass auch leichtere Varianten des Autismus überhaupt erkannt und in ihrer Bedeutung für sich daraus entwickelnde sekundäre psychiatrische Störungsbilder richtig eingeordnet werden (Tebartz van Elst et al. 2013; Riedel und Clausen 2024; Tebartz van Elst 2018, 2022; Tebartz van Elst et al. 2023; Tebartz van Elst u. Ebert 2024). Denn dies ist Voraussetzung für ein adäquates, akzeptanzförderndes Krankheits- bzw. Strukturverständnis durch die betroffenen Personen und ihre Angehörigen und für eine angemessene Therapie- und Lebensplanung.
„Aspie“s, „Autisten“, „hochfunktionale Autisten“, „Menschen mit Autismus“, „Betroffene“, ...
Wie benennen wir, was wir meinen?
Noch vor kurzer Zeit war die Diagnose eines Autismus in der Erwachsenenpsychiatrie und -psychotherapie eine Seltenheit. Denn der Begriff war konzeptuell reserviert für sehr schwere Formen des frühkindlichen Autismus. Durch die Entdeckung der Bedeutung des Autismus als Basisstörung für viele sekundäre psychische Erkrankungen (s. Sektion III) hat sich diese Situation grundlegend geändert. Die autistischen Eigenschaften werden als zeit- und situationsstabile Persönlichkeitseigenschaften an sich und in ihrer ursächlichen Bedeutung für daraus resultierende sekundäre Probleme und Symptome mehr und mehr erkannt. Dies führt aber auch dazu, dass immer häufiger Menschen autistische Eigenschaften an sich selbst erkennen, die zwar überzeugend vorhanden sind, aber deutlich weniger schwer ausgeprägt sind als etwa bei klassischen, frühkindlich manifest werdenden Formen des Autismus. Wenn Betroffene zwar Eigenschaften aus allen Bereichen des Autismus im Sinne etwa der DSM-5 oder ICD-11 Definition aufweisen, aber ihr Leben erfolgreich leben, einen Beruf und Familie haben und in ihrer Lebensnische zufrieden sind, so kann eine Störungsdiagnose nicht gestellt werden, weil die allgemeinen Störungskriterien nicht erfüllt sind. Auch sollte die Symptomatik in solchen Konstellationen eher als Eigenschaftscluster bzw. als Strukturdiagnose ganz im Sinne einer Persönlichkeitsstruktur mit Stärken und Schwächen aufgefasst werden (Tebartz van Elst 2018, 2022; Tebartz van Elst u. Ebert 2024).
Die Frage, die sich dann aber auch für dieses Buch stellt, ist die, wie das Gemeinte dann benannt werden sollte. Manche Betroffene nennen sich „Aspies“, andere nennen sich „Autisten“ oder „hochfunktionale Autisten“, weil sie sich nicht von den schwerer betroffenen Menschen abgrenzen wollen. Andere Formulierungen sind „autistische Menschen“, „Menschen mit Asperger-Syndrom“, „Asperger-Autisten“, „Betroffene“ oder „Menschen mit hochfunktionalem Autismus“.
Für dieses Buch wurde überlegt, ob die Terminologie vereinheitlicht werden sollte, aber für jede Formulierung gab es ein Für und Wider und gänzlich unterschiedliche Sprachgefühle nicht nur der unterschiedlichen Autoren sondern auch der betroffenen Personen. Und so beschäftigen sich inzwischen wissenschaftliche Fachartikel mit der Frage, welche genaue Bezeichnung für das Gemeinte wohl die angemessenste sein könnte (Zajic u. Gudknecht 2024).
Schließlich wurde für dieses Buch vereinbart, die Terminologie in diesem Punkt offen zu lassen, was dazu führt, dass in den unterschiedlichen Buchbeiträgen alle der genannten Formulierungen für die gemeinte Gruppe – nämlich Menschen mit Autismus und einem variablen Grad an erfolgreicher psychosozialer Anpassung – teils sogar nebeneinander zur Anwendung kommen. Dies spiegelt in den Augen der Autoren die gelebte Sprachwirklichkeit am besten wider. Wichtig ist dabei, zu betonen, dass keine der gewählten Formulierungen in einem diskriminierenden, abwertenden oder einengend kategorialisierenden Sinne gemeint ist.
Das klinische Bild des Asperger-Syndroms wurde erstmalig 1926 von der russischen Ärztin Ssucharewa in einer Fallserie beschrieben. Der Namensgeber Hans Asperger beschrieb 1943 ebenso wie Leo Kanner kleine Fallserien von betroffenen Personen. Seit ICD-10 und DSM-IV werden autistische Syndrome als Entwicklungsstörungen zusammengefasst, womit der Beginn der Symptomatik in der frühen Kindheit, der stetige, nicht-fluktuierende Verlauf und die enge Bindung der Symptomatik an die Reifung des sich entwickelnden Gehirns betont werden. Die ursprüngliche klassifikatorische Trennung in einen frühkindlichen Autismus, einen atypischen Autismus und ein Asperger-Syndrom wird zuletzt im DSM-5 und ICD-11 zugunsten des Konzepts einer Autismus-Spektrum-Störung aufgegeben, weil eine valide und reliable Trennung der drei Unterformen nicht belegt werden konnte.
Dieser Text gibt in Teilen diesen Beitrag wieder: Tebartz van Elst L, Biscaldi M, Riedel A (2014) „Autismus als neuropsychiatrische Entwicklungsstörung und Basisstörung in Psychiatrie und Psychotherapie“. InFo Neurologie & Psychiatrie 2014(4), 50–59. Mit freundlicher Genehmigung der Springer Medizin GmbH.
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(abgerufen am 30.12.2024)
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Autistische Störungen werden in der Regel im Kindes- und Jugendalter diagnostiziert. Für diese Altersspanne gibt es eine gut etablierte, international anerkannte und zuverlässige Standarddiagnostik. Allerdings variiert das Alter des ersten Autismus-Verdachts je nach Ausprägung der Symptomatik, vor allem bei Individuen mit einer funktionellen, kommunikativen Sprache und mit guten intellektuellen Fähigkeiten. Hier ist eine Zunahme der diagnostischen Unsicherheit zu vermerken, die auch aufgrund der häufigen komorbiden Störungen, vor allem der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS), entstehen kann. Anderseits hat sehr wahrscheinlich gerade der verstärkte Blick auf die hochfunktionalen Formen von Autismus, auch von professioneller Seite, derzeit zu höheren Diagnoseraten geführt.
Die Klassifikation der autistischen Störungen befindet sich zurzeit im Wandel. Die neuen Klassifikationen ordnen autistische Störungen in die Gruppe der neuropsychiatrischen Entwicklungsstörungen ein und tragen somit der Bedeutung der Komorbiditäten sowie der Betrachtung als Kontinuum zwischen typischer und atypischer Entwicklung besser Rechnung. Es gibt Vorschläge für eine Verbesserung der Erkennungsrate bei Kleinkindern mit Risiko für Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) und/oder Entwicklungsverzögerung, damit spezifische Fördermaßnahmen sowie Psychoedukation und Training der Eltern rechtzeitig eingeleitet werden können.
Noch wird in Deutschland in der Praxis die ICD-10 (erstes Publikationsjahr: WHO 1992) verwendet. In der letzten aktualisierten Auflage der Multiaxiale Klassifikationsschema für psychische Störungen des Kindes- und Jugendalters nach ICD-10 (Remschmidt et al. 1996, 7. Auflage 2017), die im deutschen Sprachraum breite Verwendung findet, wird ein synoptischer Vergleich zu DSM-5 (APA 2013, Deutsche Ausgabe 2015) vorgenommen. In der ICD-10 werden autistische Störungen innerhalb des Komplexes der tief greifenden Entwicklungsstörungen (ICD-10: F84.x) klassifiziert (s. Kap. I.1). Darunter werden Formen von abweichender und nicht nur verzögerter Entwicklung verstanden. Alle tief greifenden Entwicklungsstörungen werden durch den Beginn in der frühen Kindheit charakterisiert. Ein kompletter Überblick der tief greifenden Entwicklungsstörungen nach ICD-10 wurde bereits in Kapitel I.1 gegeben. Frühkindlicher Autismus (F84.0), Asperger-Syndrom (F84.5) und atypischer Autismus (F84.1) bilden die drei Kategorien, die immer noch von der ICD-10 als Formen der autistischen Störungen beschrieben werden. Die Symptomatik wird in drei Hauptsymptomkomplexe zusammengefasst:
die qualitativen Auffälligkeiten der wechselseitigen sozialen Interaktion
die qualitativen Auffälligkeiten der Kommunikation und der Sprache
begrenzte, repetitive und stereotype Verhaltensmuster, Interessen und Aktivitäten (s.
Kap. I.1
)
Der „frühkindliche Autismus“ ist durch eine deutlich auffällige Entwicklung (v.a. der funktionellen Sprache) vor dem dritten Lebensjahr gekennzeichnet, wobei eine komorbide Intelligenzminderung als häufig beschrieben wird. Beim Asperger-Syndrom (AS) werden eine allgemeine kognitive Entwicklungsverzögerung (IQ ≥ 70) und eine abnorme Sprachentwicklung per Definition ausgeschlossen. Ansonsten entspricht das Erscheinungsbild des AS im Grunde denjenigen des frühkindlichen „hochfunktionalen“ (highfunctioning) Autismus (HFA), d. h. ebenfalls mit IQ ≥ 70 und einem guten Entwicklungspotential des adaptiven Verhaltens (Funktionsniveau beim Verrichten alltagspraktischer Tätigkeiten) (vgl. Kap. I.1). Der atypische Autismus (AA) wird nach ICD-10 dadurch unterschieden, dass die diagnostischen Kriterien nicht in allen drei Bereichen erfüllt sind. AA wird daher hauptsächlich durch Ausschluss von frühkindlichem Autismus und AS bei bestehenden autismustypischen Auffälligkeiten in der sozialen Interaktion definiert.
Die vorgestellte diagnostische Einteilung der ICD-10 in verschiedene Formen von Autismus wurde in den neuen Klassifikationssystemen DSM-5 (APA, Deutsche Ausgabe 2015) und ICD-11 (WHO, seit 01/2022 in Kraft getreten; First et al. 2021) aufgegeben. Diverse wissenschaftliche Studien sind beim Versuch gescheitert, die verschiedenen Autismus-Diagnosen nach validen und konsistenten Kriterien zu differenzieren. Daher wird in der gegenwärtigen klinischen Praxis hauptsächlich von Autismus-Spektrum-Störung (ASS) gesprochen (s. Kap. I.1). Es wird damit ein umfassenderer Begriff gewählt, der die bislang kategorial unterschiedenen Autismusformen als ineinander übergehende Ausformungen eines Spektrums auffasst. Das DSM-5 und die ICD-11 tragen dieser Entwicklung Rechnung, indem auf die Unterscheidung verschiedener Autismuskategorien verzichtet und die Bezeichnung ASS für alle Formen verwendet wird. ASS wird nun gemeinsam mit den intellektuellen Beeinträchtigungen, den Kommunikationsstörungen, der ADHS, den motorischen Entwicklungsstörungen und den spezifischen Lernstörungen in der Gruppe der „Störungen der neuromentalen Entwicklung“ (aktuelle vorläufige Übersetzung der BfArM 2025), zusammengefasst. Die individuellen Variationen der ASS werden über Zusatzkodierung (z.B. mit/ohne intellektuelle Behinderung und mit/ohne Sprachstörung) im DSM-5 (APA, 2013, Deutsche Ausgabe 2015) angegeben bzw. mit verschiedenen Sub-Kodierungen in Bezug auf Intelligenzentwicklung und Beeinträchtigung der funktionellen Sprache in der ICD-11 näher definiert (WHO 2025; BfArM 2025). Folgende Eigenschaften haben alle diese Störungen gemeinsam (Biscaldi-Schäfer et al. 2023):
die Evidenz eines starken und teilweise gemeinsamen „genetischen Hintergrunds“ (z.B. nur etwa 10–15% der phänotypischen Varianz des Autismus können durch Umweltfaktoren erklärt werden)
Überwiegen des männlichen Geschlechts
häufige Komorbiditäten wie externalisierende (z.B. Störungen des Sozialverhaltens) und/oder emotionale Störungen (z.B. Angststörungen, Depression, spezifische Phobien, Zwänge)
häufige Komorbidität bzw. Überlappung zwischen den verschiedenen neuromentalen Entwicklungsstörungen (z.B. bei ASS sehr häufige Komorbidität mit einer Störung der motorischen Koordination, häufig mit ADHS sowie Störungen der Lern- oder Intelligenzentwicklung)
Kontinuität zwischen typischer und atypischer Entwicklung
Tendenz zu Kompensation mit Verbesserung der Symptomatik im Verlauf, jedoch mit einem gewissen Grad an Funktionsbeeinträchtigung bis ins Erwachsenenalter
Die im DSM-5 und in der ICD-11 angegebenen diagnostischen Kriterien wurden bereits im einleitenden Kapitel I.1 vorgestellt. Beeinträchtigungen der sozialen Interaktion und der Kommunikation werden in den neuen Klassifikationen in einem einzigen Symptomkomplex zusammengefasst. Die Einteilung in unterschiedliche Schweregradstufen der Symptomatik, wie im DSM-5 angegeben, ist eine hilfreiche Grundlage für die Einleitung von unterstützenden und Fördermaßnahmen.
Es besteht eine deutliche Evidenz dafür, dass der Übergang von klinisch relevanten autistischen Symptomen zu „autistischen Zügen ohne Krankheitswert“ fließend ist, v.a. bei Personen mit guten kognitiven und sprachlichen Fähigkeiten (Constantino 2011). ASS können bei manchen Individuen lange Zeit (auch bis zum Erwachsenenalter) unbemerkt oder undiagnostiziert bleiben, weil sie unterschwellig sind (bei Anwendung von diagnostischen Verfahren gibt es nur unzureichende Hinweise für das Vorliegen einer Störung), können jedoch irgendwann zu Leidensdruck oder Einschränkungen bei der Bewältigung von entwicklungstypischen Lebensaufgaben vor allem in Transitionsphasen mit gesteigerten sozialen Anforderungen führen (s. Kap. I.1). Für die Vergabe der Diagnose legen die neuen Klassifikationen folgerichtig das zusätzliche Kriterium der psychosozialen Beeinträchtigung fest. Diese beinhaltet die Feststellung von „in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder Beeinträchtigung in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen“ (APA, DSM-5, Deutsche Ausgabe 2015) bzw. in der Übersetzung der BfArM: „Die Defizite sind so schwerwiegend, dass sie zu Beeinträchtigungen in persönlichen, familiären, sozialen, ausbildungsbezogenen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen führen“ (WHO 2024).
In Bezug auf die Symptome im Bereich der wechselseitigen sozialen Interaktion und Kommunikation zeigen sich Kinder mit ASS meistens unzureichend dem Gegenüber zugewandt und richten häufiger ihre Aufmerksamkeit auf Objekte und Gegenstände. Kinder und Jugendliche mit „hochfunktionaler“ ASS konzentrieren sich oft auf Sachverhalte und weniger auf emotionale Aspekte von Situationen. Eine unzureichende Modulation der sozialen Interaktion durch nonverbale Signale (mimischer Ausdruck, beschreibende und emotionale Gestik) ist charakteristisch, allerdings ist die Ausprägung dieser Einschränkungen sehr unterschiedlich und sie kann im Laufe der Zeit, vor allem bei Individuen mit guter bis sehr guter Intelligenzentwicklung, teilweise kompensiert werden. Die fehlende Integration bei Gleichaltrigen, vor allem in der Sozialisierung innerhalb der Peer-Group, ist möglicherweise oft eine Konsequenz der Schwierigkeiten im sozialen Bereich und nicht immer Ausdruck mangelnder sozialer Motivation. Auch die unzureichende sozio-emotionale Gegenseitigkeit resultiert aus den Schwierigkeiten, soziale und emotionale Signale bei anderen korrekt und rechtzeitig wahrzunehmen. Eine Störung des empathischen Empfindens ist nicht per se charakteristisch der ASS, sondern kann in Fällen mit komorbiden Störung des Sozialverhaltens vorkommen. Es kommt bei betroffenen Kindern zu unpassendem Verhalten in kritischen Situationen oder zu inadäquaten verbalen Ausdrücken und Bemerkungen. Beispielweise sind autistische Kinder nicht dazu in der Lage, zu merken, wann ein Scherz oder ein scherzhaft oder spielerisch gemeinter Streich zu Ende ist und können z.B. durch unangepasste Reaktionen die Gruppe verärgern.
Bei ca. der Hälfte der Kinder, bei denen sich die ASS sehr früh manifestiert (frühkindlicher Autismus nach ICD-10), liegt eine Störung der funktionellen Sprache im Sinne einer Unfähigkeit spontan Wörter und Sätze, auch wenn vorhanden, funktional zu verwenden, vor, z.B. um Wünsche auszudrücken oder etwas mitzuteilen. Bei manchen Individuen bleiben diese Charakteristiken ein Leben lang bestehen, in einigen Fällen bleiben die Menschen non-verbal. Auch werden diese mangelnden Sprachfähigkeiten nicht mit Mimik, Gestik oder spontanem Imitieren von Handlungen kompensiert. In diesen Fällen hat die Sprache – wenn überhaupt vorhanden – eher einen stereotypen, repetitiven oder idiosynkratischen Charakter. So vertauschen Kinder mit frühkindlichem Autismus beispielsweise die Personalpronomina, neigen zu Echolalien und Wortneubildungen, und nur selten findet ein sprachlicher Austausch im Sinne einer informellen Konversation statt (z.B. fehlende Fähigkeit zum „Small Talk“). In der ICD-11 werden das erste Mal Schwierigkeiten in der pragmatischen Sprache als Kernsymptome der ASS beschrieben, die selbst bei Kindern mit unauffälliger Entwicklung funktionaler Sprache charakteristisch vorhanden sind. Solche qualitativen Auffälligkeiten der Sprache, wie eine auffällige Prosodie, Stimmhöhe oder Betonung und eine situationsinadäquate Lautstärke, wurden bereits von Hans Asperger (1944) beschrieben. Er bemerkte treffend, dass seine Patienten „wie kleine Professoren“ sprechen würden: also einen übergenauen, erwachsen anmutenden Duktus aufweisen.
Außerdem weisen die meisten Kinder mit Autismus eine deutliche Verzögerung der Imitationsfähigkeit sowie des „So tun als ob“- und Fantasie-Spieles auf. Wenn diese Kinder andere imitieren, wirken sie dabei oft steif, unnatürlich oder übertrieben. Kreativität und Variationen fehlen bei diesen Imitationsversuchen. Manche Kinder mit sehr guten formal sprachlichen Fähigkeiten entwickeln beim Spielen ein ausgeprägt dominantes Verhalten: Sie versuchen, ihre Defizite in der gegenseitigen sozialen Interaktion dadurch zu kompensieren, dass sie Art, Ablauf und Ausgang des Spieles bestimmen. Manche Kinder zeigen ein übertriebenes, starres Bedürfnis für Regeln und manchmal entwickeln sie z.B. beim Spielen eigene Regeln, die von allen befolgt werden sollen.
Im Bereich der eingeschränkten, sich wiederholenden und unflexiblen Verhaltensmustern, Interessen oder Aktivitäten gibt es häufig die Tendenz sich mit stereotypen, ungewöhnlichen Handlungen und eng begrenzten Spezialinteressen zu beschäftigen. Je nach Alter und kognitiver Entwicklung kann eine sehr intensive Beschäftigung mit speziellen Inhalten z.B. wie mit Straßenfahrzeugen, Fahrplänen, elektrischen Geräten, mit dem Sammeln ungewöhnlicher Gegenstände oder ein intensives und über das normale Maß hinausgehendes Interesse an naturwissenschaftlichem, mathematischem oder lexikalischem Wissen, beobachtet werden. Mädchen können abweichende Interessen aufweisen, die eher den sozialen Bereich betreffen. Es kann teilweise eine inadäquate, manchmal bizarre, intensive Beschäftigung mit Beziehungen, Freundschaften oder Heiraten beobachtet werden, die im sozialen Miteinander paranoid anmutende Züge annehmen oder zu extremen Stresssituationen führen kann. Auch motorische Manierismen, wie z.B. das Flattern mit den Händen bei Freude oder rhythmische Schaukelbewegungen sowie die Beschäftigung mit Teilobjekten und ihren sensorischen Qualitäten (z.B. wie sie riechen oder sich anfühlen) zählen hierzu und sind in der Qualität und Intensität von der Intelligenzentwicklung abhängig. Überhaupt sind Hyper- und Hyposensibilität für sensorische Stimulationen (z.B. akustische Hypersensitivität, Unempfindlichkeit für Kälte oder Wärme, taktile Empfindlichkeit für bestimmte Materialien und für eine bestimmte Konsistenz von Speisen) und sensorische Interessen (insbesondere für visuelle Stimulationen) oft vorhanden und haben nun Eingang in die Symptombeschreibung der neuen Klassifikationen gefunden. Letztendlich besteht das im Englischen eindrücklich als „insistence on sameness“ beschriebene Phänomen darin, dass viele Kinder mit einer autistischen Störung bemüht sind, eine strikte Ordnung in Form von Gleichförmigkeit der Umwelt und festen Tagesabläufen in ihrem Leben zu etablieren. Kleinste Abweichungen können als bedrohlich erlebt werden und zu Anspannungszuständen und Wut führen.
Die globale Prävalenz von Autismus, die von Fombonne et al. in ihrem systematischen Review von 2009 auf 62,6/10.000 (ca. 1 von 150 Kindern) geschätzt wurde, beträgt gemäß der aktuellen Veröffentlichung 100/10.000 also etwa 1% (Zeidan et al. 2022). Zeidan et al. (2022) vermerken, dass die Anzahl der Studien aus in der Vergangenheit unterrepräsentierten Regionen der Welt stetig steigt. Weiterhin wird eine höhere Prävalenz von männlichen Individuen mit einem Verhältnis zu weiblichen Individuen von 4,2:1 festgestellt, wobei die Angaben zwischen Studien erheblich variieren. Eine komorbide intellektuelle Beeinträchtigung wurde mit einem Prozentwert von 33% angegeben, was der geschätzten Prävalenz in einer aktuellen Meta-Analyse von Micai et al. (2023) aus einer gemischten Population von Kindern und Erwachsenen entspricht.
Bei allen Studien wird eine höhere Erkennungsrate der ASS als Grund für die gestiegenen Prävalenzen vermutet. Eine frühere Feldstudie in Südkorea hatte in der Tat eine Prävalenz von 2,64% in einer gesamten Population von Schulkindern (im Alter von 7 bis 12 Jahren) gefunden, nachdem diese auf eine ASS nach diagnostischen Standards untersucht wurde (Kim et al. 2011). Die Prävalenzrate teilte sich auf 1,89% für die generelle Population und 0,75% für die Kinder, die bereits klinisch auffällig geworden waren, auf. Die hohe Prävalenz entstand daher durch bis dahin nicht erkannte Fälle in der weiblichen Population und in der Gruppe von Kindern mit höheren intellektuellen Fähigkeiten.
Im Kindes- und Jugendalter gilt weiterhin der einheitliche und international anerkannte „Gold-Standard“ der Autismus-Diagnostik, der das Autism Diagnostic Interview-Revised (ADI-R) und die Autism Diagnostic Observation Scale (ADOS-2). In Kombination mit einer sorgfältigen Anamnese sowie Differentialdiagnostik in Bezug auf Störungen, welche überlappende Symptome zur ASS aufweisen können (s. ICD-11, WHO 2024) liefern diese Instrumente eine ausführliche und sehr zuverlässige Diagnose. Screeningverfahren werden bei einem beginnenden Verdacht auf ASS angewendet, sollen jedoch nicht die standardisierte Diagnostik ersetzen. Zu den am häufigsten verwendeten und am besten abgesicherten Screeningverfahren zählt der Fragebogen zur Sozialen Kommunikation (FSK; in der deutschen Übersetzung von Bölte u. Poustka 2005). Als weiterer Fragebogen in deutscher Sprache ist die Marburger Beurteilungsskala zum Asperger-Syndrom (MBAS) (Kamp-Becker et al. 2005) zu nennen. Die Skala zur Erfassung sozialer Reaktivität (SRS; in der deutschen Übersetzung von Bölte u. Poustka 2008) bietet als einziger Fragebogen eine dimensionale Diagnostik der Symptomatik in allen drei Symptomkomplexen und eignet sich daher vor allem für die Evaluation von Therapien, zur Verlaufskontrolle und zum Einsatz in der Forschung. Sie bietet eine klinische Status- und Prozessdiagnostik sowie allgemeine Persönlichkeitsdiagnostik und eignet sich für Kinder und Jugendliche zwischen 4 und 18 Jahren. Eine zweite Auflage (SRS-2, Costantino 2012) ist momentan auf Englisch erhältlich und wurde auf das Vorschulalter (ab 2,5 Jahre) erweitert, die deutsche Übersetzung und Normierung befindet sich gerade in Vorbereitung (Rauh et al.). Das ADI-R (Diagnostisches Interview für Autismus-Revidiert, in der deutschen Übersetzung von Bölte et al. 2006) wird als Interview mit der/den Bezugsperson/en durchgeführt. Die ADOS (Diagnostische Beobachtungsskala für autistische Störungen, seit 2015 in der überarbeiteten Version der ADOS-2, in der deutschen Übersetzung von Poustka et al. 2015) ist eine standardisierte Verhaltensbeobachtung, die aus vier verschiedenen Modulen (angepasst an Alter und Sprachentwicklung) und aus verschiedenen Aufgaben, Aktivitäten, Konversations- und Befragungselementen besteht. Die Bewertung der überarbeiteten Version von 2015 ist an die DSM-5-Kriterien für ASS angepasst (außer Modul 4). Sie wird sowohl kategorial (mithilfe von klinischen Grenzwerten für Autismus-Spektrum oder Autismus) als auch dimensional mit Vergleichswerten (Symptomlevel) angegeben.
Bei der klinischen Beobachtung von Kleinkindern mit Verdacht auf Autismus und allgemeiner Entwicklungsverzögerung sollte der diagnostische Blick insbesondere auf die qualitativen (und nicht nur quantitativen) Auffälligkeiten der sozial-emotionalen Entwicklung gerichtet werden. Beispiele dafür sind:
Orientierung an Objekten und deutlich weniger an Personen
Personen werden quasi als Werkzeuge „benutzt“
vorhandene sprachliche Fertigkeiten werden kaum kommunikativ eingesetzt
es fehlt eine Kompensierung durch nonverbale Kommunikationsmittel wie Mimik und Gestik
es fehlt ein Verständnis für „So-tun-als-ob“-Spiele
