24,99 €
Kim Hyesoons Virtuosität liegt in ihrer Fähigkeit, einzigartige poetische, überraschende und doch zugängliche Bilder zu schaffen und sich gleichzeitig tief in der weiblichen Erfahrung und Erzähltradition zu verwurzeln. »Autobiographie des Todes« besteht aus neunundvierzig Gedichten, jedes steht für einen einzelnen Tag, an dem der Geist nach dem Tod umherwandert, bevor er in den Kreislauf der Reinkarnation eintritt. Die Gedichte geben nicht nur denjenigen eine Stimme, die während der gewaltsamen Zeitgeschichte Koreas einen ungerechten Tod fanden, sondern setzen sich auch zu einem Mosaik des individuellen Schmerzes und der Meditation zusammen. Sie werden zu einer ungehörten, seltsam fesselnden Echokammer unkonventioneller Stimmen, die nahe rücken, zu einem Gelächter werden, zu einem Ort der Trauer, des Trostes und des Lebens. Mit Zeichnungen von Fi Jae Lee
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 95
Veröffentlichungsjahr: 2025
Kim Hyesoon
Gedichte
»Autobiographie des Todes« besteht aus neunundvierzig Gedichten, jedes steht für einen einzelnen Tag, an dem der Geist nach dem Tod umherwandert, bevor er in den Kreislauf der Reinkarnation eintritt. Die Gedichte geben nicht nur denjenigen eine Stimme, die während der gewaltsamen Zeitgeschichte Koreas einen ungerechten Tod fanden, sondern setzen sich auch zu einem Mosaik des individuellen Schmerzes und der Meditation zusammen. Sie werden zu einer ungehörten, seltsam fesselnden Echokammer unkonventioneller Stimmen, die nahe rücken, zu einem Gelächter werden, zu einem Ort der Trauer, des Trostes und des Lebens.
Kim Hyesoons Virtuosität liegt in ihrer Fähigkeit, einzigartige poetische, überraschende und doch zugängliche Bilder zu schaffen und sich gleichzeitig tief in der weiblichen Erfahrung und Erzähltradition zu verwurzeln.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Kim Hyesoon, 1955 in Uljin geboren, ist Lyrikerin, Essayistin und Kritikerin. Sie studierte koreanische Literatur. Themen wie Emanzipation und Freiheit und immer wieder Bezüge zu historischen und gesellschaftspolitischen Fragen sind zentral in ihren unkonventionellen Arbeiten. Sie gehört zu den bedeutendsten modernen Lyrikerinnen Koreas, wurde als erste Autorin mit dem Midang Award ausgezeichnet und lehrt Kreatives Schreiben am Seoul Institute of the Arts.
Uljana Wolf, geboren 1979 in Berlin, lebt zurzeit als Lyrikerin, Übersetzerin und Dozentin in Berlin und New York. Ihre Gedichte wurden in mehr als 15 Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Peter-Huchel-Preis 2006, dem Erlangener Preis für Poesie als Übersetzung 2015 und dem Adelbert-von-Chamisso-Preis 2016.
Sool Park, geboren 1986 in Südkorea, studierte Philosophie, Mathematik und Komparatistik in München. Seit 2023 ist er Juniorprofessor für Interkulturelle Philosophie an der Universität Hildesheim. Er forscht vor allem zur deutschen und ostasiatischen Philosophie und ist als Übersetzer philosophischer und literarischer Werke tätig, u.a. von Wittgenstein, Nietzsche und Hölderlin ins Koreanische.
Inhalt
Autobiographie des Todes
Auf dem Weg zur Arbeit
Kalender
Fotografie
Lehn dich ans Wasser
Weiße Nacht
Wenn du gehst
Tibet
Waise
Tag für Tag für Tag
Namensvetterin
Schmetterling
Mondfinsternis
Kleid aus Stein
Nest
Laufzauber des Todes
Nackt
Grabloch
Schwarze Netzhandschuhe
Winterlächeln
Ich will auf die Insel
Gestank
Seoul, Buch der Toten
Luftmenschen
Autopsie
Tage
Mama des Todes
A E I O U
Schon
Abendessen
Geschenk
Schluckauf
Lüge
Am Fluss Formalin
Kreuch Fleuch Tod
Den Sarg niederlassen
Nichtherr
Wiegenlied
Eine Krähe flog über das Kuckucksnest
Eiszapfenbrille
Schmerzhafte Halluzination
Blaues Haar
Name
Fratze
Puppe
Unterwelt
Ersticken
Exil des Herzens
Mondmaske
Bitte nicht
Gesicht des Rhythmus
Ein Dichten namens »Wahrnehmungsuniversum«
Ein Dichten namens »Wahrnehmungsuniversum«
Anmerkungen der Übersetzer:innen
Dank
Autobiographie des Todes 9
Auf dem Weg zur Arbeit Tag Eins 11
Kalender Tag Zwei 14
Fotografie Tag Drei 15
Lehn dich ans Wasser Tag Vier 17
Weiße Nacht Tag Fünf 19
Wenn du gehst Tag Sechs 21
Tibet Tag Sieben 23
Waise Tag Acht 26
Tag für Tag für Tag Tag Neun 28
Namensvetterin Tag Zehn 30
Schmetterling Tag Elf 31
Mondfinsternis Tag Zwölf 33
Kleid aus Stein Tag Dreizehn 35
Nest Tag Vierzehn 37
Laufzauber des Todes Tag Fünfzehn 39
Nackt Tag Sechzehn 41
Grabloch Tag Siebzehn 43
Schwarze Netzhandschuhe Tag Achtzehn 44
Winterlächeln Tag Neunzehn 45
Ich will auf die Insel Tag Zwanzig 46
Gestank Tag Einundzwanzig 48
Seoul, Buch der Toten Tag Zweiundzwanzig 50
Luftmenschen Tag Dreiundzwanzig 52
Autopsie Tag Vierundzwanzig 53
Tage Tag Fünfundzwanzig 55
Mama des Todes Tag Sechsundzwanzig 57
A E I O U Tag Siebenundzwanzig 58
Schon Tag Achtundzwanzig 59
Abendessen Tag Neunundzwanzig 61
Geschenk Tag Dreißig 63
Schluckauf Tag Einunddreißig 64
Lüge Tag Zweiunddreißig 66
Am Fluss Formalin Tag Dreiunddreißig 67
Kreuch Fleuch Tod Tag Vierunddreißig 70
Den Sarg niederlassen Tag Fünfunddreißig 71
Nichtherr Tag Sechsunddreißig 74
Wiegenlied Tag Siebenunddreißig 77
Eine Krähe flog über das Kuckucksnest Tag Achtunddreißig 78
Eiszapfenbrille Tag Neununddreißig 79
Schmerzhafte Halluzination Tag Vierzig 81
Blaues Haar Tag Einundvierzig 83
Name Tag Zweiundvierzig 86
Fratze Tag Dreiundvierzig 89
Puppe Tag Vierundvierzig 90
Unterwelt Tag Fünfundvierzig 91
Ersticken Tag Sechsundvierzig 93
Exil des Herzens Tag Siebenundvierzig 94
Mondmaske Tag Achtundvierzig 95
Bitte nicht Tag Neunundvierzig 96
Gesicht des Rhythmus 99
Ein Dichten namens »Wahrnehmungsuniversum« 121
Anmerkungen der Übersetzer:innen 145
Danksagung 151
Tag Eins
In der U-Bahn verdrehen sich deine Augen weiß. Das ist deine Ewigkeit.
Eine ewige Augenverdrehung aus Weiß.
Man hat dich aus der U-Bahn geworfen. Es scheint, du stirbst jetzt.
Obwohl du stirbst, denkst du etwas. Obwohl du stirbst, hörst du etwas.
Gott was ist mit der los? Menschen. An dir vorbei.
Du bist lappiger Abfall. Müll, man schaut weg.
Der Zug fährt ab und ein alter Mann nähert sich dir.
Er schiebt seine schwarzen Fingernägel in deine Hose.
Wenig später zerrt man deine Handtasche weg.
Zwei Schüler kommen, wühlen in deiner Hosentasche.
Tritte. Das Klicken einer Kamera.
Dein Sterbebild ruht jetzt in den Handys der Jungs.
Wie alle Toten vor dir siehst du das ganze Panorama vor dir aufgehen
Dein nach außen gewandter Blick wandert in die Weite, in dich hinein.
Tod ist etwas, das von außen eindringt. Der innere Kosmos ist größer.
Tiefer. Nach einer Weile schwebst du nach oben, von innen.
Da liegt sie nun. Wie eine Hose, die jemand weggeworfen hat.
Steigst du in das linke Bein, läuft das rechte Bein davon. Kleid ohne Nähte, ohne Reißverschlüsse, rollt herum. Im Untergrund, auf dem Weg zur Arbeit.
Wie erbärmlich. Einst umarmte ich sie, wie Knochen Mark
wie Büstenhalter eine Brust, umarmte ich diese Frau
und alles, was die schwarzen Haare fest umarmten. Dein einziges Kleid.
Aus ihrem Körper will jetzt ein Dinosaurier raus.
Kurz blitzen ihre Augen auf. Doch es gibt keinen Ausgang mehr.
Die Frau ist tot. Erloschen wie Abendsonne.
Jetzt darf man ihren Löffel wegwerfen.
Jetzt darf man ihren Schatten zusammenfalten.
Jetzt darf man ihr die Schuhe ausziehen.
Du fliehst vor dir selbst. Wie ein Vogel, der seinen Schatten scheut.
Du beschließt, das Unglück, mit dieser Frau zu leben, hat ein Ende.
Du schreist: Ich habe keine Gefühle mehr übrig für diese Frau.
Und du ahmst das Weiß ihres Blicks nach, als sie noch lebte
und gehst weiter deinen Weg zur Arbeit. Gehst ohne Körper.
Wirst du pünktlich sein? Du gehst zu einem Leben, das nicht leben wird.
Tag Zwei
Eine weiße Häsin stirbt und wird eine rote Häsin.
Sie verblutet noch im Tod.
Später wird aus der roten Häsin eine schwarze Häsin.
Sie verwest noch im Tod.
Weil sie tot ist, kann sie sich beliebig vergrößern, verkleinern.
Groß ist sie wie eine Wolke, klein wie eine Ameise.
Du führst dir die Ameisenhäsin ins Ohr ein.
Ameisenhäsin grast im Ohr den weiten Rasen leer,
wirft zwei Junge, größer als dunkle Gewitterwolken.
Rauschen im Ohr. Alle Laute rauschen. Dein Ohr stirbt. Die Häsin stirbt.
Manchmal wird die tote Häsin als blutige Monatsbinde wiedergeboren.
Dann kommt es vor, dass du eine tote Häsin aus der Unterhose ziehst.
Jeden Monat ziehst du tote Häsinnen hervor, hängst sie an die Wand.
Du hängst ein Weinen an die Wand, das riecht wie Hasenohren.
Tag Drei
Wie geht es deiner Puppe?
Ist sie gesund, deine Puppe?
Du flüsterst der Puppe ins Ohr: Das ist ein Geheimnis. Kein Wort, bis du tot bist.
Du zerkratzt der Puppe die Augen: Du mochtest es doch auch? Das ist doch so?
Du rasierst der Puppe die Haare: Stirb, du dreckige Schlampe.
Du setzt die Puppe in Brand: Dein voriges Leben hast du vergessen, ja?
Wenn du nicht zu Hause bist, bleibt sie zurück, deine Puppe
Wenn du nicht zu Hause bist, wird sie lebendig, deine Puppe
Wenn du nicht zu Hause bist, schaut sie aus dem Fenster, deine Puppe
Wenn du nicht zu Hause bist, spielt sie Waisenkind, deine Puppe
Ein Ding, das vor anderen Menschen nichts essen kann
Ein Ding, das niemals stirbt
Ein Ding, das ganz leer ist
Ein Ding, in dessen Augen dein toter Geist weiterlebt
So geht deine Puppe, ihre armlosen Arme gehen ein und aus
Ihre beinlosen Beine gehen ein und aus
Wie jemand, der seine Beine im Bett gelassen hat
Aus ihren Beinen platzt Papier
Deine Puppe geht
Deine Puppe spricht
Sie rollt ihre Augen ins Körperinnere
Sie weint, bis ihr Kopf verdreht ist
Vielleicht kehrt sie zurück ins Leben, wenn du stirbst
Du kannst deine Puppe ohnehin nicht mehr zum Stehen bringen
Du kannst deine Puppe ohnehin nicht mehr zum Gehen bringen
Du kannst deine Puppe ohnehin nicht mehr zum Lachen bringen
Zwischen dir und deiner Puppe ist der Draht gerissen
Du schreibst einen Brief
Liebe Puppe: Du brauchst doch wen, der dich abends ins Bett legt, dir die Augen schließt
Tag Vier
Du hältst dich fest mit deinem ganzen Körper
Du hältst es nicht aus, du verdrehst dich
Du hältst die Finger des Wassers
Du trägst einen Mantel aus Wasserhaaren
Du kniest dich hin und bedeckst dein Gesicht
Lass uns zusammen schräg liegen
Lass uns umschlungen hinstürzen
Wenn ich hinunterspringe
bist du nach mir dran
Wenn ich die Angel werfe
komm herauf mit der Angel im Mund
Ich werds dir nachtun
Du flehst das Wasser an
Das Wasser führt mehr Selbstgespräche als du
Wenn du ganz lang bist und betrunken
bringst du den Regen nach Hause
Wasser das durch Fenster dringen will
Du willst dich
lehnen an dieses
Wasser das sich
an dich lehnt
Tag Fünf
Ein Brief wird kommen von dort, wohin du nicht zurückschreiben kannst
Dass du schon dort bist
Dass du dich schon verlassen hast
Ein heller Brief wird kommen aus einem Loch, das alles über dich weiß
Ein Brief wird kommen, glänzend wie das Gehirn eines Toten, das jetzt alles weiß
Ein weiter, breiter Brief, ohne Gestern und Morgen, wie die Zeit vor deiner Geburt
Wo Pferdewagen aus Licht leise mit Schellen klingen
Wo Mädchen in Hosen aus Licht kichernd an eine Welt ohne Nacht klopfen
Wo die letzte Bahn hoch an die Oberfläche fährt
Wo alle Züge gleichzeitig aufleuchten, dich im Schweigen vergessen
Wo du nicht hinkommst, weil du keine Beine mehr hast
Wo die Kinder deiner Kindheit schon angekommen sind
Wohin du nie zurückschreiben kannst mit deiner schwarzen Schrift
Ein Brief wird kommen von dort, aus diesem hellen Loch
Wo deine Kinder schon vor dir alt geworden sind
Wo du schon eingegangen bist in den Kreis der Wiedergeburten
Ein Brief wird kommen von dort, geschrieben in heller, heller Tinte
Wo keine Finsternis seit der Geburt
Wo ein Neugeborenes jetzt das gleißende erste Licht schaut
Ein Brief wird kommen von dort, ein großer, großer Brief
Tag Sechs
Wenn du gehst, ruf nicht geh nicht weg
Wenn du kommst, ruf nicht komm nicht
Als du gingst, schloss man deine Augen, faltete deine Hände, weinte geh nicht weg, geh nicht weg
Als du aber riefst macht auf, macht auf, riefen sie