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Beschreibung

Autoritäres Regieren erscheint als massive Gefährdung auch traditionsreicher Demokratien. Wie ausgeprägt ist der Wunsch nach starken Führungspersonen? In welchen Formen zeigt sich Autoritarismus in religiösen und gesellschaftlichen Strukturen und in welchem Verhältnis stehen Religion und Autoritarismus? Heft 4/25 widmet sich dem komplexen Themenfeld "Autoritarismus" aus interdisziplinären Perspektiven.

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Seitenzahl: 243

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhalt

Schwerpunktthema Autoritarismus

Editorial

Helena Stockinger

Hierarchie, Autorität und (Un-)Gleichheit als Prinzipien der Religion in der (il)liberalen Demokratie

Oliver Hidalgo

Autoritarismus als Dogma?Das Papstamt auf dem I. Vatikanum: Politische Hintergründe und Konsequenzen einer dogmatischen Definition

Klaus Unterburger

Autorität und gerechte Herrschaft Betrachtungen zur Einführung des Königtums in 1 Sam 8

Thomas Naumann

Zum Umgang mit Autoritarismen im Bereich des Religiösen

Sonja Angelika Strube

Strukturelle Macht, geistliche Autorität und stille Macht. Gefahren geistlichen Missbrauchs im kirchlichen Kontext

Hannah Schulz

Autorität revisited.Von Beziehungskraft, Resonanzmodus und spiritueller Haltung

Stefan Ofner

Abhandlungen

Religionskritik im Religionsunterricht?Theoretische Überlegungen und qualitativempirische Beobachtungen

Bernd Ziegler

Illusion Europa?Biografisch geprägte Überlegungen zur Gegenwart und Zukunft

Ladislav Nemet SVD

Literatur

Das aktuelle theologische Buch

Ansgar Kreutzer

Besprechungen

Ausgewählte Neuerscheinungen

Katholische Privat-Universität LinzUniversitätsnachrichten Studienjahr 2024/2025

Register

Impressum

Liebe Leser:innen!

Russland, Türkei, Venezuela, Belarus – die Liste könnte fortgeführt werden. Die Situationen in den benannten Ländern sind unterschiedlich, allerdings ähneln sie sich in der Tendenz: Die an den politischen Hebeln der Macht sitzenden Personen sind demokratisch legitimiert, wollen an der Macht bleiben und versuchen, ein Meinungsmonopol aufzubauen, indem sie jeden anderen Anspruch auf Wahrheit bekämpfen und der Gegenseite Lügen unterstellen. Sie setzen ihre Macht gezielt für ihre Interessen und Trägergruppen ein, verfolgen das Ziel, nachfolgende Wahlen entsprechend zu manipulieren und dadurch einen demokratischen Wechsel zu verhindern. Zum Machterhalt setzen sie politisch auf klientelorientierte Zuwendungen, Ausschaltung oder Diskreditierung kritischer Medien bis hin zum Umbau von Justiz und Bildungssystemen sowie dem Aufbau eines repressiven Sicherheitsapparates.

Autoritarismus bezeichnet somit in politischer Hinsicht eine hybride Form der Herrschaft, die sich nach demokratischen Wahlen verselbstständigt hat. Dass dies ein ernstzunehmendes Phänomen ist und sich die Demokratiequalität in den letzten zwanzig Jahren kontinuierlich verschlechtert hat, verdeutlicht der Transformationsindex der Bertelsmann Stiftung 2024 (online unter https://bti-project.org/de/presse). Damit autoritaristisches Führungsverhalten Erfolg hat, braucht es Personen, die solche politischen Systeme befürworten und sich Autoritäten fraglos-unkritisch unterwerfen. Die Sozialpsychologie belegt mit dem Terminus Autoritarismus bestimmte Einstellungsmuster, Persönlichkeitsstrukturen sowie krisenbedingte Reaktionsweisen, die mit vermehrten Vorurteilen, Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und rechtsextremen Einstellungen einhergehen.

Verbunden mit dem Thema Autoritarismus ergeben sich Fragen danach, wie ausgeprägt der Wunsch nach starken Personen in der Führung und gleichzeitig die Bereitschaft zur Unterwerfung ist, in welchem Verhältnis Religion und Autoritarismus zueinander stehen und wie mit Autorität in religiösen und gesellschaftlichen Strukturen umgegangen wird. Das vorliegende Heft eröffnet anhand politikwissenschaftlicher, geschichtlicher, biblischer, sozialpsychologischer und pädagogischer Schwerpunktsetzungen Perspektiven auf das komplexe Thema des Autoritarismus.

Oliver Hidalgo verweist ausgehend von einer Verhältnisbestimmung von Religion und modernen Demokratien darauf, dass Religion in modernen Demokratien liberal oder illiberal in Anspruch genommen wird. Er stellt fest, dass Religion besonders von illiberalen, autoritären Formen der Demokratie zur Rechtfertigung herangezogen wird, um einen höheren Grad an Autorität und Legitimität für sich zu beanspruchen. Klaus Unterburger geht mit Blick auf das I. Vatikanum den Fragen nach, ob das Papstamt auf diesem absolutistisch-autoritär umgedeutet wurde und inwiefern ein päpstlicher Autoritarismus innerkirchlich begründet ist oder sogar als Modell für autoritäre Regime nach dem ersten Weltkrieg in katholisch geprägten Ländern fungiert hat. Thomas Naumann verdeutlicht, dass in 1 Sam 8 die Unzufriedenheit an der hierokratischen Herrschaftsform zum Wunsch nach einem König führte, dem Gott und Samuel letztlich entsprachen. Biblisch findet sich hier ein Diskurs über die Grundlagen von politischer Autorität und Gestaltungsmacht sowie die Vorzüge und Mängel der Monarchie als Herrschaftsform, der auch für heutige Debatten anschlussfähig ist. Eine sozialpsychologische Sicht auf die Autoritarismusforschung eröffnet Sonja Angelika Strube, indem sie unterschiedliche Formen des Autoritarismus sowie Gründe für diese differenziert und Parallelen zu religiösem Fundamentalismus anführt. Dass Autorität und Macht zusammenhängen verdeutlicht Hannah Schulz im Rahmen der Gefahren des Missbrauchs im kirchlichen Kontext und plädiert für klare und transparente Rahmenbedingungen bei hierarchischen Strukturen. Damit Leitung ihre dienende Qualität entfalten kann, gilt es das Wohl der anvertrauten Menschen in den Mittelpunkt zu stellen sowie eine Selbstbegrenzung der Machtausübenden zu vollziehen. Stefan Ofner betont abschließend, dass Autorität nicht per se negativ ist, sondern dass eine richtig verstandene Autorität eine Rahmensetzung für gemeinsames Handeln und dementsprechend Orientierung, Sicherheit und Handlungsfähigkeit ermöglicht, was er am Konzept der Neuen Autorität darlegt.

Das Heft wird von zwei freien Beiträgen abgerundet. Kardinal Ladislav Nemet SVD thematisiert in seinen Ausführungen, die im Rahmen der Thomas-Akademie der Katholischen Privat-Universität vorgetragen wurden, wie ein gemeinsames Europa gelingen kann und welche Rolle Glaube und Kirche in diesem Zusammenhang spielen können. Er wirft einen biografisch geprägten Blick auf die Gegenwart und Zukunft Europas und betont die Bedeutung der Integration von Minderheiten, Friedensförderungen, Respekt für Verschiedenheit, Bildung, die Förderung der Einheit der Kirchen sowie den wertschätzenden Dialog auf Augenhöhe. Bernd Ziegler thematisiert sowohl theoretisch als auch empirisch, wie Religionskritik im Religionsunterricht vorkommt und stellt dar, dass politische Bildungsprozesse im Religionsunterricht einen Raum zur Kritik entsprechender Glaubensaussagen benötigen und gleichzeitig Schüler:innen motivieren können, sich ernsthaft mit Religion auseinanderzusetzen.

Liebe Leser:innen der ThPQ!

Die vorliegenden Überlegungen zum Autoritarismus möchten einen Beitrag dazu leisten, das gesellschaftlich relevante Thema aus unterschiedlichen Perspektiven theologisch zu eröffnen. Zentrale Aspekte des Heftes sind für mich, dass Theologie die Aufgabe hat, Verschränkungen von Religion und Autoritarismus im Blick zu behalten und kritisch auf eine Inanspruchnahme von Religion in autoritaristischen Herrschaftsformen hinzuweisen. Zudem kann Theologie autoritaristische Tendenzen sowohl in politischen als auch in kirchlichen Systemen verändern, Autoritarismus als Haltung beziehungsweise Disposition von Menschen bewusst wahrnehmen und pädagogische Umgangsformen entwickeln. Ich wünsche eine anregende Lektüre und eine kritische Auseinandersetzung mit dem komplexen Phänomen des Autoritarismus.

Ihre Helena Stockinger

Im Namen der Redaktion

Oliver Hidalgo

Hierarchie, Autorität und (Un-)Gleichheit als Prinzipien der Religion in der (il)liberalen Demokratie

Der vorliegende Beitrag rekonstruiert den Gegenstand der Religion als ideengeschichtliches Paradigma der Legitimation von Autorität, Hierarchie und (Un-)Gleichheit. Zugleich verdeutlicht er die fließenden Grenzen zwischen liberalen und illiberalen Inanspruchnahmen der Religion in der modernen Demokratie. Solche Ambivalenz resultiert primär aus dem Umstand, dass die (christliche) Religion traditionell die offenkundig widersprüchlichen Konzepte der (illiberalen) Hierarchie und der (liberal-demokratischen) Gleichheit zu einem scheinbar konsistenten Wertekanon zu verbinden weiß. Wie zu zeigen sein wird, prädestiniert dies die Religion heute verstärkt zur Rechtfertigung von illiberalen, autoritären Formen der Demokratie, wie sie vor allem von rechtspopulistischer Seite propagiert werden. (Redaktion)

Religion und moderne Demokratie: Zwei Denktraditionen

In der Geschichte des politischen Denkens existieren zwei gegenläufige Narrative im Hinblick auf die Verhältnisbestimmung von Religion und moderner Demokratie. Das erste besagt, dass eine antireligiöse „Revolution des Geistes“1 durch die zunächst mentale, später faktische Trennung zwischen Staat und Kirche sowie den sukzessiven Ausschluss der Religion aus dem politischen Bereich die großen Revolutionen in Europa zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert und somit die Entwicklung der säkularen Volksherrschaft vorbereitete. Als Zeugnisse dieser ideengeschichtlichen Position können unterschiedliche Schriften herangezogen werden. Hierzu zählen etwa die strikte Unterordnung der geistlichen unter die weltliche Souveränität im „Leviathan“ von Thomas Hobbes, die historische Kritik am politischen Einfluss der Bibel in Baruch de Spinozas „Tractatus Theologico-Politicus“ (1670), Pierre Bayles Anklage gegen die katholische Kirche als Institution der Intoleranz in der Schrift „Ce que c’est que la France toute catholique sous le règne de Louis le Grand“ (1686) oder Lord Bolingbrokes „Letters on the Study and the Use of History“ (1752). Darin zieht Bolingbroke die Rolle der Religion als ebenso ausschließliche wie notwendige Garantie für politische Einheit und soziale Harmonie sowie für die Dauerhaftigkeit von Herrschaft, Autorität und Souveränität massiv in Zweifel.2 Auch die atheistisch-materialistischen Enzyklopädisten Denis Diderot und Baron d’Holbach werden von Jonathan Israel als Stichwortgeber demokratischer Prinzipien wie Volkssouveränität, Freiheit, Pluralismus, Toleranz, wechselnde Mehrheiten und intellektuelle Offenheit interpretiert. Sie richten sich zugleich entschieden gegen die Logik der (christlichen) Religion mit ihren universellen Ansprüchen, ihrem Glauben an absolute Normen und Autoritäten sowie ihren Idealen der sozialen Harmonie, Einheit und Stabilität.

Das zweite Narrativ, dem etwa Denker wie Montesquieu, Rousseau, Kant, Tocqueville und viele andere zuzuordnen sind, würde zwar ebenfalls eine klare Demarkationslinie zwischen Religion und Politik, Staat und Kirche in der modernen Demokratie ziehen. Seine Vertreter schlugen jedoch vor, dass in einem Gemeinwesen oder einer politischen Körperschaft, die auf dem Prinzip der Freiheit beruht, die Religion als moralische Autorität nicht fehlen sollte. Infolgedessen stellten sie in Aussicht, dass es der modernen Demokratie sogar zum Vorteil sein könnte, wenn Religion und Politik dort im Grunde unterschiedlichen Prinzipien folgen. Da die Demokratie ihre eigenen Defizite ausbilde, könne die Religion als eine Art Medizin gegen die dunklen Seiten der Demokratie wie Individualismus, politische Apathie oder eine unkontrollierte Volkssouveränität fungieren, indem sie Maßnahmen und Ressourcen der moralischen Selbstverpflichtung, des sozialen Kapitals und der politischen Verantwortung anbietet.3

Diese beiden Narrative dominieren auch die zeitgenössische Diskussion über Religion und Politik im 20. und 21. Jahrhundert. So sind etwa die Argumente des österreichischen Rechtspositivisten Hans Kelsen über die unvermeidliche Verbindung zwischen einer metaphysisch-absolutistischen Weltanschauung und einer autokratischen Gesinnung sowie umgekehrt einer kritisch-relativistischen Weltanschauung und einer demokratischen Gesinnung unschwer unter dem ersten Narrativ zuzuordnen. Diesbezüglich schrieb Kelsen: „[W]as könnte es für einen Sinn haben, über eine Maßnahme, deren Richtigkeit über allem Zweifel erhaben feststeht, abstimmen und die Mehrheit entscheiden zu lassen? Was könnte es gegenüber der [religiösen] Autorität des absolut Guten anderes geben als den dankbaren und bedingungslosen Gehorsam?“4 Mit ähnlichen Argumenten forderten Liberale wie Bruce Ackerman oder Richard Rorty, dass religiöse Argumente aus dem öffentlichen Diskurs in liberalen Demokratien ausgeschlossen werden, und schlugen eine moralische Pflicht für jeden Einzelnen vor, als Bürger zu handeln, ohne Rücksicht auf die persönliche religiöse Überzeugung.5

Doch auch die zweite Traditionslinie, die Demokratie und Religion konstruktiv aufeinander bezieht, wurde wiederbelebt. Zu nennen sind diesbezüglich Autoren wie Ernst-Wolfgang Böckenförde und Robert D. Putnam, die die Notwendigkeit eines religiösen und sozialen Kapitals für die Demokratie betonten,6 Robert N. Bellah und Hermann Lübbe, die religiöse Grenzen für die demokratische Verfügungsgewalt unterstrichen,7 oder Robert Audi, Nicholas Wolterstorff und Jürgen Habermas, die die Beziehungslinien zwischen Religion und öffentlicher Vernunft sowie die Möglichkeiten der Integration religiöser Argumente in deliberative Diskurse in Betracht zogen.8

Im Hinblick auf die beiden Traditionen der politischen Theorie zum Verhältnis von Religion und Politik fällt indes auf, dass sie offensichtlich etwas gemein haben: Unabhängig davon, ob der Religion ein negativer (1. Tradition) oder positiver Einfluss (2. Tradition) auf die moderne Demokratie zugeschrieben wird, teilen beide Lager die Diagnose, dass Religion und Demokratie im Prinzip gegensätzliche Konzepte sind. Jene gemeinsame Diagnose ist eine intellektuelle Innovation, die der Aufklärung sogar vorausgeht. Schon Niccolò Machiavelli (1469–1527) lehnte alle religiösen und ethischen Vorgaben für die Politik ab und forcierte eine Emanzipation der politischen Macht von diesen, eine Sichtweise, die die Gestaltungsfreiheit des Politischen unterstrich und von Hans Baron als „Bürgerhumanismus“9 tituliert wurde. Gehen wir noch weiter zurück, lassen sich auch einige antike Denker als Beleg für den tiefen Gegensatz heranziehen, der zwischen Religion und (demokratischer) Politik anzunehmen ist. Dies zeigt sich beispielsweise in der von Augustinus eingeführten Trennung zwischen geistlicher und weltlicher Bürgerschaft, der civitas Dei und der civitas terrena, die während des saeculum – der Epoche der Menschheitsgeschichte – allerdings vermischt sind. Auch die aristotelische Unterscheidung zwischen Theorie (Theologie, Mathematik, Naturwissenschaften) und Praxis (Politik, Ethik, Ökonomie), die auf der eigenständigen Wissensart der menschlichen Angelegenheiten insistiert, bietet ein Zeugnis in diesem Sinne. Generell kann die begriffliche Entstehung des Politischen und Demokratischen im antiken Griechenland als ein grundlegender Emanzipationsprozess des menschlichen Handelns von der Religion angesehen werden, indem die Menschen sich dort als aktives Kollektiv, das heißt als Subjekt, nicht Objekt der Geschichte verstanden, ein Subjekt, das jenseits der traditionellen Theogonien und Kosmogonien eigene Regeln zur Organisation des Gemeinschaftslebens entwirft.10

Abgesehen davon gibt es zahlreiche weitere Beispiele in der westlichen politischen Ideengeschichte, die das Verhältnis zwischen Religion und Demokratie beziehungsweise Politik bevorzugt als Antagonismus interpretieren. Wie insbesondere Hannah Arendt hervorgehoben hat, befinden sich demokratische Merkmale und Werte wie Volkssouveränität, Mehrheitsherrschaft, Freiheit, Gleichheit, Pluralismus und säkulare Politik in einer ständigen Spannung zu den Dogmen der Offenbarungsreligionen, die von der Allmacht Gottes oder der absoluten Autorität ethischer Prinzipien als göttlichem Naturgesetz jenseits aller menschlichen Maßnahmen und Verfahren ausgehen.11

Religion, Autorität und (il)liberale Politik

Auch zeitgenössische Ansätze, die zum Beispiel an die Tradition von Rousseau oder Tocqueville anknüpfen und der Religion eine positive Wirkung auf die Demokratie zugestehen, müssen unter der Perspektive subsumiert werden, dass Religion und Demokratie zumindest idealtypisch gegensätzlichen Prinzipien folgen. Fraglich bleibt dabei lediglich, ob jene Opposition fordert, die Demokratie von religiöser Autorität fernzuhalten oder im Umkehrschluss demokratische Unzulänglichkeiten mit Hilfe der Religion zu kompensieren. Indem die Religion folgerichtig als ‚autoritäres‘ Gegengewicht zur liberalen Demokratie zu begreifen ist, wird zugleich ein negatives Potenzial beziehungsweise eine politische Ambivalenz der Religion evident. Sobald Religionen oder religiöse Akteure etwa das demokratisch-pluralistische Prinzip der Religionsfreiheit nicht vollständig akzeptieren und versuchen, mehr als eine politische und soziale Kraft unter vielen zu sein, beginnt eine solche Religion unweigerlich, einen antipluralistischen, illiberalen Einfluss auf die Demokratie auszuüben. Die zentrale Herausforderung aller religionsaffinen Demokratien, egal ob christlich, jüdisch, islamisch, buddhistisch oder konfuzianisch geprägt, besteht demzufolge darin, eine hegemoniale Rolle der Religion zu vermeiden und stattdessen eine tragfähige Basis für ein Arrangement zwischen religiösen und säkularen Gruppen zu finden.12 Gemäß dem Argument der „twin tolerations“13 verlangt die Demokratie deshalb von religiösen Akteuren, die politische Autorität gewählter Amtsträger zu akzeptieren, während die staatlichen Behörden im Gegenzug sowohl die Freiheit der Religionsausübung als auch die demokratische Beteiligung religiöser Gruppen an der zivilen und politischen Gesellschaft zulassen. Alle Ansätze, die der Religion eine soziale und politische Funktion für die Demokratie zuschreiben, stehen dabei vor einem besonderen Legitimationsproblem: Die positiven Effekte, die von der Autorität der Religion im Hinblick auf Sozialkapital und Eingrenzung der demokratischen Verfügungsgewalt zu erwarten sind, hängen von der befähigenden Macht ab, welche die Menschen aus ihrem Vertrauen in die Wahrheit der Offenbarung beziehen. Dementsprechend hat es diese Art von Macht mit Kräften und Motivationen zu tun, deren Legitimationsgründe von Nichtgläubigen oder Anhängern alternativer religiöser Gruppen performativ oder konkret in Frage gestellt werden. Daher muss die politische Rolle der Religion in liberalen Demokratien stets einen ergänzenden Charakter behalten. Vor allem aber müssen religiöse Akteure dort respektieren, dass religiöse Autorität niemals einen direkten Transmissionsriemen für politische Macht bedeutet. Unter diesen Bedingungen kann die Religion in der Tat als ‚autoritäres‘ Gegengewicht zur Logik der Demokratie wirken, deren fundamentale Prinzipien der Freiheit und Gleichheit jedwede (religiöse) Autorität im Grunde genommen herausfordern.

Zugleich ist bereits an dieser Stelle die Tatsache bewusst zu machen, dass der liberale und der illiberale Diskurs über die Religion in der Demokratie leicht zusammenfallen. Da die Geschichte des politischen Denkens die Religion einerseits als eine der liberalen Demokratie ‚fremde‘ Angelegenheit offenbart, von der andererseits zu erwarten ist, dass sie die Schwächen und Unzulänglichkeiten der demokratischen Prinzipien und Verfahren kompensiert, droht die Grenze zwischen einer liberalen ‚Anpassung‘ (accommodation) und einer illiberalen Instrumentalisierung der Religion zu verschwimmen. Dies kann illiberalen politischen Akteuren in der Demokratie – zum Beispiel Rechtspopulist:innen, Rechtskonservativen oder auch Rechtsextremen – die Option geben, die soziale und moralische Autorität der Religion für ihre Programmatik zu nutzen, ohne notwendigerweise den Verdacht zu erwecken, gegen das liberale Prinzip der Demokratie zu verstoßen. Insofern ist die illiberale Besetzbarkeit der Religion ein perfektes Beispiel für die These, dass sich der illiberale Diskurs gemeinhin in der Lage zeigt, die intellektuellen Prämissen des politischen Liberalismus vordergründig zu übernehmen (etwa wenn Meinungsfreiheit für autoritäre Lösungen eingefordert wird), um parallel die Logik liberaler und demokratischer Werte und Institutionen von innen heraus zu untergraben.14

In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, was Tocqueville für eine moderne individualistische, pluralistische Gesellschaft konkret befürchtete: einen sanften demokratischen Despotismus. Mit diesem Begriff beschrieb er einen bürokratischen Staat, in dem die Bürgerinnen und Bürger ihre (religiöse) Motivation, Verantwortung für das Gemeinwesen zu übernehmen, verloren haben.15 Ohne Religion, so Tocqueville, würden die Menschen zumeist nicht den nötigen Mut und die Überzeugungskraft für kollektives Handeln und Engagement entwickeln und insofern politisch passiv bleiben. Jener sanfte, paternalistische Despotismus, der in dieses Vakuum hineinstößt und die Menschen in Unmündigkeit hält, entspricht dabei der Situation, die zeitgenössische Autoren – oftmals unter Rekurs auf Tocqueville – als „Postdemokratie“ bezeichnen.16 Dieselbe unpolitische „Postdemokratie“ hat Chantal Mouffe als perfektes Einfallstor für den aktuellen Aufstieg des Rechtspopulismus beschrieben.17 Letzterer weiß sich dabei häufig als scheinbar einziger Ausweg aus dem verbreiteten Gefühl der Ohnmacht zu inszenieren.

Der zentrale Gewährsmann für Mouffes Argument ist jedoch nicht Tocqueville, sondern Carl Schmitt. In dessen Werken avancieren Religion und Theologie bekanntlich zu einem allgemeinen Paradigma der politischen Autorität. Schmitts „Politische Theologie“ aus dem Jahr 1922 beleuchtet folgerichtig die theologischen Quellen jeder politischen Souveränität. Für Schmitt präfiguriert die Art und Weise, Religion und Theologie zu denken, die jeweilige Haltung zur politischen Ordnung abseits aller institutionellen Entwürfe des Staat-Kirche-Verhältnisses. Entsprechend verband Schmitt die Theologie des Theismus mit der traditionellen Monarchie (die Souveränität eines Gottes und eines Königs), den Katholizismus (wegen der Mittlerrolle der römischen Kirche zwischen Gott und den Christen) mit der politischen Form der Aristokratie und den Protestantismus mit Individualismus und Menschenrechten (da Protestanten gewissermaßen die theologische Autorität der Kirche in Frage stellen und eine direkte Beziehung zwischen Gott und dem Individuum postulieren). Darüber hinaus entspricht die Theologie des Deismus bei Schmitt der Rechtsstaatlichkeit, indem angenommen wird, dass der deistische Respekt des Schöpfers für die Naturgesetze der Bindung des politischen Souveräns an Recht und Gesetz entspricht. Demgegenüber sei der Pantheismus als theologisches Muster für die politische Demokratie zu verstehen, indem er Rousseaus Doktrin der Identität zwischen Herrschern und Untertanen folgt.18 Schließlich korrespondiert der Atheismus als Leugnung der Existenz Gottes intellektuell und konzeptionell mit der politischen Anarchie – ni dieu, ni maître.19 Für Schmitt lag es daher an der Affinität von Theologie und Religion zu einer bestehenden metaphysischen Ordnung, die die Menschen ihre Unterwerfung unter eine politische Autorität akzeptieren lässt. Ohne Religion oder Theologie sei hingegen die politische Anarchie vorprogrammiert. Die absolute politische Autorität – die ungebundene und unbegrenzte Souveränität des Staates/des politischen Körpers – aber werde durch den Ausnahmezustand repräsentiert. Da der Souverän derjenige ist, „der über den Ausnahmezustand entscheidet“,20 wird deutlich, warum für Schmitt nur ein theistischer Gottesbegriff das Maximum an politischer Autorität garantiert.

Den Annahmen Schmitts zufolge musste die Entwicklung liberaler, rechtsstaatlicher und demokratischer Prinzipien mithin als prekärer Niedergang der politischen Autorität erscheinen. Gemeinsam mit der kategorialen Unterscheidung zwischen Freund und Feind als Schmitts Kriterium des Politischen sind diese Annahmen geeignet, eine politische Logik der Rückkehr zum radikalen Autoritarismus zu erklären: In tiefem Gegensatz zu Tocquevilles und anderer Vorstellungen von Religion als einem (nur) autoritären Gegengewicht zur liberalen Demokratie wird das Konzept der politischen Autorität bei Schmitt paradoxerweise von allen theologischen, moralischen oder institutionellen Grenzen losgelöst. Dies geschieht zum einen durch den Vergleich der Fähigkeit der politischen Souveränität, Recht und Ordnung zu schaffen, mit der Fähigkeit Gottes, die Welt ex nihilo zu erschaffen; zum anderen durch das Postulat, alle verfügbaren Kräfte zu bündeln und jede innere Pluralität und Zwietracht zu vermeiden, um dem politischen Feind zu widerstehen. Das Ergebnis dieser radikalen Autoritätslogik ist, dass wir in Schmitts politischem Denken weder Elemente der Mäßigung, der Vermittlung und des Kompromisses noch institutionelle Kontrollen und Ausgleiche finden. Schmitt geht stattdessen davon aus, dass die antagonistische Intensität der Politik selbst eine Art religiöse Wahrheit in der menschlichen Geschichte darstellt. Diese Annahme ähnelt dem, was Religion heute in den Augen von Rechtspopulist:innen zu einem höchst vielversprechenden politischen Instrument macht.

Religion, Hierarchie und (Un-)Gleichheit

Um am Schluss auf die Frage der Religion als autoritärem Bestandteil rechtpopulistischer Doktrinen zurückzukommen, ist zuvor in einem Zwischenschritt das ambivalente Verhältnis zwischen der (christlichen) Religion und der Idee der Gleichheit zumindest anzudeuten. Einerseits gibt es zahlreiche Belege dafür, dass die Idee der Gleichheit zu den wichtigsten moralischen und sozialen Prinzipien gehört, die im Alten und Neuen Testament begründet werden: Die Bibel sagt unmissverständlich, dass alle Menschen gleich geschaffen sind und jeder einzelne Mensch als Kind Gottes anzusehen ist. Sie fordert von uns, alle Menschen zu lieben und ihnen zu dienen, unabhängig von ihrem Alter, ihrer ethnischen Zugehörigkeit, ihrem sozialen Status, ihrer Hautfarbe oder ihrem Geschlecht. Diese Art von Gleichheit ist eine klare Konsequenz diverser christlicher (beziehungsweise jüdischer und islamischer) Dogmen: des Monotheismus, der Unparteilichkeit Gottes (Dtn 10,17; Röm 2,11), der Gottebenbildlichkeit (Gen 1,27), der Würde des Menschen, der Gebote der Demut, der Nächstenliebe (Mk 12,31; Joh 13,34; Phil 2,3) ohne jegliche Bevorzugung (Jak 2,1) und der Verurteilung von Feindseligkeit (Eph 2,14). Und da Gott der Schöpfer und Erschaffer aller Menschen ist, sind die Unterschiede zwischen Reich und Arm (Sprüche 22,2; Lk 14,13-14; Jak 2,1-4), Mann und Frau (Gal 3,26-29), Sklave und Freier (Kol 3,10-11) oder einheimischer und fremder Nationalität (Ps 67,4; Lev 19,33-34) ohne echte Bedeutung.

Andererseits bleibt die christliche Idee der Gleichheit ein theologisches und metaphysisches Konzept und führt nicht zwangsläufig zu einer sozialen oder politischen Agenda.21 Die theologische Gleichheit und Würde aller Menschen wurde (und wird) also nicht von allen Christ:innen als Widerspruch zu bestehenden sozialen Hierarchien und Ungleichheiten interpretiert, zumal es in der Bibel eine Reihe von Passagen gibt, die das Gegenteil nahelegen. So fordern mehrere Stellen beispielsweise die Unterordnung der Frauen (1. Kor 11:3-16; Eph 5:22-24; Kol 3:18; Petr 3:1-6). Überdies ist es zumindest umstritten, ob das christliche Gleichheitsdogma als Rechtfertigung einer sozialrevolutionären Doktrin angesehen werden kann oder politisch einen eher zaghaften Versuch beinhaltet, die Situation der Menschen auf der Erde zu verbessern. Nicht zufällig schränkte etwa Thomas von Aquin die sozialen Auswirkungen des christlichen Gleichheitsgedankens massiv ein.22 In seiner Bestätigung einer natürlichen sozialen Hierarchie, die dennoch als adäquate Referenz auf den christlichen Gleichheitsbegriff dargestellt wird, bezieht sich Thomas von Aquin zudem auf das erste Buch der Politik des Aristoteles, das die natürlichen Macht- und Herrschaftsverhältnisse des Haushalts (oikos) zwischen Mann und Frau, Vater und Kind, Herr und Knecht beschreibt. Nicht einmal die aristotelische Legitimation von Sklaven durch die Natur wird dabei von Thomas abgelehnt.23 Jener blinde Fleck beruht keineswegs ausschließlich auf der Trennung zwischen Himmel und Erde, weltlichen und geistlichen Autoritäten. Vielmehr ist die Aufmerksamkeit auf den besonderen Kontext der politischen Gemeinschaft zu lenken, für die die Unterordnung von Frauen, Sklaven und anderen Menschen sowohl bei Aristoteles als auch bei Thomas als entscheidend angesehen wird. Denn das Gemeinwohl sei nur durch den Einsatz der Untergebenen unter der Führung der Oberen zu erreichen.

Die Gleichheit als sozialer Wert beseitigt folglich auch nicht die hierarchische (und religiöse) Ordnung. Vielmehr schafft sie nur neue, subtile, meist verborgene Hierarchien, wie Louis Dumont in seinem Buch „Homo aequalis“ analysiert, das sich mit der modernen und säkularen westlichen Gesellschaftsform befasst.24 Hier wird in Anlehnung an Tocquevilles Konzept der égalité des conditions und unter Rekapitulation der ökonomischen Ansätze von Locke (die Emanzipation der Wirtschaft von der Politik) und Mandeville (die moralische Rechtfertigung individueller Interessen) bis hin zu Adam Smith (der Wert der Arbeit und der Reichtum der Nationen) die Gleichheit zwischen Menschen als ökonomische Kategorie identifiziert. Diese ermöglicht den sozialen Wettbewerb zwischen freien Individuen, den sozialen Aufstieg der unteren Schichten (beziehungsweise den sozialen Abstieg der oberen) und schließlich – als institutionelles Pendant zu diesem sozialen Wandel – den freien Markt, den Kapitalismus und die Wachstumsökonomie.25 In einer solchen modernen und dynamischen Gesellschaft der ‚Gleichen‘ ist die neu etablierte hierarchische Ordnung einerseits durch ihre Instabilität und andererseits durch den Niedergang der Gemeinschaft gekennzeichnet. Die moderne Ideologie der Gleichheit und des Individualismus setzt daher (als normative Hierarchie) die Vorherrschaft der Wirtschaft über die Politik, der materiellen Güter über die menschlichen Beziehungen und der individuellen/egoistischen Ziele über die Anforderungen der Gemeinschaft durch.26 Und wieder einmal wird die Religion (als Paradigma einer hierarchischen Ordnung) als autoritäres Gegengewicht zu dieser modernen demokratischen Ideologie der Gleichheit, der Ökonomie und des Individualismus vorgeschlagen – ein Gegengewicht, das notwendig sei, um Zusammenhalt, Solidarität und soziale Homogenität zu erzeugen und Desintegration, Egoismus und soziale Atomisierung zu verhindern.

Eine besondere Pointe ist mit Dumont schließlich im Hinblick auf das Thema Rassismus abzuleiten. Einmal mehr seine intellektuelle Nähe zu Tocqueville beweisend, der über die Sklaverei in den USA zu ganz ähnlichen Ansichten kam, bezeichnet Dumont den Rassismus als totalitäre Krankheit der Gleichheit und des Individualismus.27 Denn obwohl die egalitären Prinzipien der Religion beziehungsweise der Ökonomie auf den ersten Blick fundamentale Widersprüche zum Rassismus bilden, war es sicher kein Zufall, dass rassistisches Denken und rassistische Doktrinen nicht vor der (christlichen und ökonomischen) Idee der universalen Gleichheit aufkamen. Die christliche Perspektive der Menschenwürde und Gottähnlichkeit provozierte dabei zumindest indirekt den pseudowissenschaftlichen Rassismus des 19. und 20. Jahrhunderts als ‚adäquate‘ Hierarchielehre unter den Bedingungen der Gleichheit, frei nach dem Motto: Wenn das Christentum alle Männer und Frauen als gleich deklariert, droht es fraglich zu werden, ob subjektiv dennoch als ‚ungleich‘ eingestufte Individuen dann etwas anderes als ‚Untermenschen‘ sein können. Diese Perspektive weist dem Christentum zwar keine Verantwortung für Rassismus zu, verdeutlicht aber die Plausibilität, warum rechtsradikale Christ:innen, die mit der traditionellen Vorstellung von natürlicher Hierarchie und Ungleichheit sympathisieren, im Rassismus eine subjektiv überzeugende Ideologie finden können, sofern sie bestimmten Individuen (oder Gruppen) den religiös eigentlich gebotenen Status als gleichwertige Menschen absprechen wollen.

Religion und illiberal-autoritäre Politik in demokratischen Gesellschaften

In den bisherigen Abschnitten wurde bereits angedeutet, wie rechtspopulistische und rechtsradikale Akteure und Akteurinnen die Religion als Paradigma für Autorität, Hierarchie und Gleichheit programmatisch nutzen können, um bestehende Widersprüche in ihrer eigenen politischen Ideologie zu kompensieren. Dazu ist an dieser Stelle vorauszuschicken, dass zeitgenössische rechtspopulistische Ideologien in der Regel vor der Herausforderung stehen, ihre Ziele wenigstens vordergründig im Einklang mit den Prinzipien der Demokratie artikulieren zu müssen. Gerade die von illiberalen und populistischen Akteurinnen und Akteuren üblicherweise proklamierte, vereinseitigte Form der Demokratie enthüllt hier Legitimationsdefizite, für die religiöse Argumente und Strategien als Lückenfüller dienen könnten: Zum einen, um Gleichheit nicht nur als demokratisches Prinzip im Allgemeinen, sondern zumindest bis zu einem gewissen Grad auch als authentisches Ziel des rechtspopulistischen Lagers zu vertreten; und zum anderen, um das einseitige populistisch-illiberale Beharren auf genuin demokratischen Prinzipien wie Volkssouveränität, Mehrheitsherrschaft, soziale Einheit oder Gemeinwohl von dem Verdacht zu reinigen, dass Rechtspopulist:innen nur eine traurige Karikatur der Demokratie im Sinn haben.

Für sie gibt es nämlich eine fundamentale programmatische Unstimmigkeit: Als Angehörige des rechten Lagers treten sie in der Regel für politische Ziele und Inhalte ein, die das betonen, was Menschen ungleich macht.28 Dazu gehören beispielsweise Prämissen wie die Unumkehrbarkeit sozialer und ökonomischer Stratifikation, die Unvereinbarkeit kultureller und ethnischer Unterschiede, eine hierarchische Geschlechterordnung und der Vorrang (oder gar die Überlegenheit) der eigenen Nation.29 Populistische Strategien fordern in der Regel allerdings das Gegenteil: die Zurschaustellung einer signifikanten anti-elitären Haltung und die radikale Bejahung der demokratischen Gleichheit zusammen mit dem Prinzip one person, one vote, das gegen alle verfassungsrechtlichen Einschränkungen der Volkssouveränität gesetzt wird. Um dieses programmatische Manko zu beheben, könnten religiöse Argumente sehr geeignet sein. Als nicht knappes und daher nicht ökonomisches Gut30 bietet Religion ihre potenziellen Vorteile – Sinn, göttliche Gnade, Trost, moralische Orientierung, Erlösung – völlig unabhängig vom sozialen Status und jenseits aller bestehenden sozialen Unterschiede an. Diese Fähigkeit macht Religion nicht nur besonders geeignet, reiche und arme Menschen gemeinsam auf kollektive Ziele einzuschwören, sondern verschafft rechtspopulistischen Führern wie Donald Trump, Victor Orbán, Recep Tayyip Erdoğan und anderen, die in ihren Ländern zu den einkommensstarken Eliten gehören, auch eine gehörige Portion Glaubwürdigkeit, dass sie nicht nur egoistische Ziele verfolgen, sondern tatsächlich für das Gemeinwohl arbeiten.

Darüber hinaus bietet die selektive Berufung auf die Bibel (wie auch auf den Koran oder das indische Kastensystem) zusammen mit einer patriarchalischen, anti-emanzipatorischen Interpretation der theologischen Quellen und des religiösen Erbes Rechtspopulist:innen eine willkommene Hilfe bei der Rechtfertigung der Unterordnung von Frauen in einer Weise, die nicht nur die angebliche Ungleichheit der Geschlechter, sondern auch die gleiche Unterwerfung von Männern und Frauen unter eine höhere sakralisierte Ordnung bestätigt – beide als Teile eines größeren Ganzen.31 In dieser Hinsicht zeigen die Trennung zwischen Himmel und Erde bei Augustinus und Dumonts Konzept der Hierarchie, das eng mit den Ideen der Gemeinschaft und der sozialen Homogenität verbunden ist, wie diese religiöse Umfassung von Ungleichheit und Gleichheit funktioniert und im Allgemeinen zu einer einigermaßen kohärenten Ideologie führt.

Bei der potentiellen Verquickung von Religiosität und Rassismus als typische Bestandteile (rechts-)radikaler Positionen ist hier zudem zu ergänzen, dass beide Phänomene – Rassismus und Religion – jeweils Formen der Gleichheit und Ungleichheit kombinieren. Wie wiederum Carl Schmitt dargelegt hat, gewährleistet die Gleichheit der Ethnie als (möglicher) Grund für die kollektive Identität und Einheit eines politischen Körpers sowohl eine klare Abgrenzung zu einem ‚ungleichen‘ (und untergeordneten) Außen als auch eine gewisse Reminiszenz an das demokratische Gleichheitsprinzip.32 Schmitts „Verfassungslehre“ (1928) legt zusätzlich nahe, dass jene rassistische Verschränkung von Gleichheit und Hierarchie zu der Annahme führt, dass die politischen Herrscher in modernen repräsentativen Demokratien nicht vom, sondern nur durch das Volk unterschieden werden.33 Mit diesem Ansatz will Schmitt in erster Linie alle wesentlichen Gegensätze zwischen egalitärer Demokratie und autoritärer Diktatur nivellieren – was bereits in seinen früheren Schriften „Die Diktatur“ (1921) und „Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarischen“ (1923) sein zentrales Projekt war. Das ursprüngliche Paradigma für eine solche (paradoxe) Kombination von Hierarchie und Gleichheit, Identität und Repräsentation, Rassismus und Demokratie und damit der Schlüssel zum Verständnis der (möglichen) Kohärenz und Konsistenz rechtspopulistischer politischer Agenden muss jedoch erneut aus Schmitts religiösen Schriften „Politische Theologie“ (1922) und „Römischer Katholizismus und politische Form“ (1923) gewonnen werden. Darin lässt sich veranschaulichen, zu welcher Sicht der internationalen Beziehungen eine rechtspopulistische Verquickung von Religion und Rassismus, Hierarchie und Gleichheit in der Regel tendiert, nämlich zu einer Ideologie des Ethnopluralismus.34