Ava und die STADT des schwarzen Engels - Andreas Dresen - E-Book

Ava und die STADT des schwarzen Engels E-Book

Andreas Dresen

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Beschreibung

Ein Golem mitten in der Stadt, am helllichten Tag - Fahrat traut seinen Augen nicht. Normale Menschen können das Lehm-Wesen nicht sehen, aber selbst für den jungen Schwertler ist das ein besorgniserregender Anblick. Obwohl er normalerweise einen guten Wein jedem Abenteuer vorzieht, folgt er dem Ungeheuer. Und stößt auf Ava. Die junge Frau ist offenbar ein gewöhnlicher Mensch. Aber verstört behauptet sie, ein schwarzer Engel habe ihre neugeborenen Zwillinge geraubt. Doch was sollte ausgerechnet Morton, Vizekanzler des STADTrates und Veranstalter des Hexensabbats, mit zwei Menschenkindern anfangen? Haben die Vorfälle etwas mit dem Grauen zu tun, das außerhalb der STADT lauert? Fahrats Gutmütigkeit und sein Schwertler-Stolz lassen ihn nicht mehr von Avas Seite weichen. Doch bald weiß der junge Abenteurer nicht mehr, für wen sich eine neue Welt auftut - für die Menschenfrau Ava, die auf der Suche nach ihren Kindern fluchenden Hexen, LKW-Chimären und lauernden Waldwürgern begegnet - oder für Fahrat, dessen Welt nicht die zu sein scheint, für die er sie immer gehalten hat.

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Andreas Dresen

Ava

und die STADT des schwarzen Engels

Ein STADTRoman

Dresen, Andreas: Ava und die STADT des schwarzen Engels,

Hamburg, ACABUS Verlag 2011

1. Auflage

ISBN: 978-3-86282-003-0

Die Buch-Ausgabe dieses Titels trägt die ISBN 978-3-86282-002-3

und kann über den Handel oder den Verlag bezogen werden.

Lektorat: Annika Braatz, ACABUS Verlag

Umschlaggestaltung: Annika Braatz, ACABUS Verlag

Umschlagmotiv: © Banauke - Fotolia.com

Der ACABUS Verlag ist ein Imprint der Diplomica Verlag GmbH,

Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.

Bibliografische Information der Deutschen

Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© ACABUS Verlag, Hamburg 2011

Alle Rechte vorbehalten.

http://www.acabus-verlag.de

eBook-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmundwww.readbox.net

Für Kerstin

Prolog

„Verdammt, war die sauer. Aber ich werde es ihr schon noch zeigen.“ Fahrat stolperte über einen kleinen Stein und fluchte laut. „Dann wird sie sehen, was ich drauf habe. Dass ich genauso erfolgreich bin wie sie. Ich werde ihr etwas Großartiges, etwas Spektakuläres mitbringen! Eine Trophäe, einen Schatz, einen Ring …“

„Würdest du jetzt bitte ruhig sein?“ Foren hatte Schwierigkeiten, sich auf seine Aussprache zu konzentrieren. Vor seinen Augen verschwamm alles, der Wald lag wie unter einem dünnen Schleier. Oder war das tatsächlich Nebel? Er wusste es nicht und schwor sich, nie wieder so viel zu trinken. Das Gelage heute sollte eine Ausnahme bleiben. Aber sie hatten ja einen guten Anlass gehabt: Sie hatten seine Priesterweihe gefeiert.

„Vergiss nicht, warum wir hier sind!“, flüsterte er mit schwerer Zunge.

„Ich werde ihr beweisen, was ich drauf hab, darum bin ich hier.“ Fahrat fuchtelte ein wenig mit seinem Schwert in der Luft, dann hielt er plötzlich inne und grinste. „Wir haben es geschafft! Wir sind draußen.“ Diese Erkenntnis besserte seine Laune. Der junge Schwertler lachte und kniff die Augen zusammen, um in der Dunkelheit etwas erkennen zu können. „Wir haben es tatsächlich geschafft“, murmelte er. „Abenteuer, hier kommt Fahrat.“

Foren schüttelte den Kopf. „Ich glaube immer noch nicht, dass ich mich darauf eingelassen habe. Nur weil du deiner Amazone etwas beweisen willst, haben wir uns strafbar gemacht. Es ist verboten, die STADT zu verlassen, und es gibt einen guten Grund dafür.“

„Ich weiß, ich weiß …“, Fahrat winkte ab. Er zog eine Flasche aus seiner Hosentasche und bot sie Foren an. „Selbstgebraut, nach Familienrezept.“

Foren schüttelte erneut den Kopf. „Du und deine Familie. Danke, aber mir ist schon schlecht.“ Fahrat zuckte mit den Schultern und nahm einen tiefen Zug aus der Bierflasche.

„Ich werde es schaffen“, schwafelte Fahrat weiter. „Mein Vater nervt langsam. Ich solle endlich anfangen Geld zu verdienen. In meinem Alter hätte er schon den Schatz unter dem Dom entdeckt und allein nach Hause gebracht.“

„Ich weiß, ich weiß“, sagte jetzt Foren. „Du hast mir die Geschichte schon so oft erzählt.“

„Und jetzt fängt sie auch noch damit an. Ich stehe kurz vor meiner Prüfung! Wie soll ich da Zeit fürs Geld verdienen finden? Sag mir das mal. Sie behauptet doch tatsächlich, ich wäre nur zu faul. Pah!“ Fahrat spuckte auf die Erde.

„Bist du ja auch“, murmelte Foren und bemerkte entsetzt, dass seine neue Robe, die er für die Zeremonie gekauft hatte, bereits deutlich sichtbare Flecken bekommen hatte. Fahrat schien ihn nicht gehört zu haben.

„Ich sollte es so machen wie mein Großvater“, redete er weiter. „Einfach abhauen.“ Er lachte wieder. „Draußen sind wir ja schon mal.“ Jetzt lief er johlend zwischen den dünnen Birkenstämmen hindurch, die zusammen mit einer Vielzahl von Sträuchern den dichten Teil des Waldes bildeten, in dem sie sich nun befanden. Foren lief hinterher und bat ihn, endlich ruhig zu sein. Als sie nach einigen Metern stehen blieben, sahen sie sich um. Der Nebel war dichter geworden. In dieser mondlosen Nacht konnten sie keine fünf Meter weit sehen. Foren begann sich zunehmend unwohl zu fühlen. „Und jetzt? Wohin? Hier ist doch nichts.“

„Schau, da vorne!“ Fahrat zeigte in die Dunkelheit. Foren meinte in dieser Richtung ein schwaches, rotgrünes Glühen zu sehen, das langsam durch die Finsternis auf sie zu schwebte. Etwas knackte im Unterholz hinter ihnen. Sie fuhren herum, die Flasche fiel auf einen Stein und zerbarst mit einem viel zu lauten Knall in tausend Scherben.

„Hast du das gehört?“ Fahrat umklammerte sein Schwert mit beiden Händen. Foren nickte, den Blick starr nach vorne gerichtet. „Wir sollten beten. Die Göttin kann uns Beistand geben.“

„Zu spät!“ Fahrat zitterte jetzt. Mit einem lauten Krachen brach etwas aus der Dunkelheit des Waldes und kam auf sie zu. Foren glaubte, Hörner zu erkennen, riesige in sich verdrehte Hörner, und feurige Augen, die ihn durch die Dunkelheit anstarrten. Und es war nicht alleine. Foren drehte sich um und rannte.

Wo war Fahrat, durchfuhr es ihn nach wenigen Metern. Er war doch eben noch neben ihm gewesen. Foren drehte sich im Laufen um und sah, dass sein Freund ausgerutscht war und nun am Boden liegend vor Schreck wie am Spieß schrie. Ihre Verfolger schienen immer näher zu kommen. Foren lief zurück, half Fahrat auf die Beine und zog ihn mit sich, zurück in Richtung STADT. Fahrat hatte seine Augen weit aufgerissen, rannte an Foren vorbei. Er war am Ende seiner Ausbildung zum Schwertler und schon deshalb gut trainiert, doch das Bier und die Angst schienen ihm nun Flügel zu verleihen. Foren hörte ein Brüllen hinter sich und mit einem ohrenbetäubenden Krachen fielen die Bäume links und rechts von ihm zu Boden.

Die beiden Freunde rannten wie die Hasen, Foren immer einige Schritte hinter Fahrat, und erreichten keuchend die Grenze. Die graue Barriere wuchs wie eine Mauer vor ihnen empor und erstreckte sich wie eine Kuppel über der STADT. Fahrat zwängte sich bereits durch das kleine, nicht sichtbare Loch, das sie gemeinsam hineingearbeitet hatten. Es war kein richtiges Loch, vielmehr eine Stelle, in der die Magie weniger dicht zu sein schien und deshalb durchlässig wurde.

Es musste ein Glücksgriff gewesen sein, dachte Foren nun, denn der Stadtrat hatte diese Grenze nach dem Krieg errichtet, damit man eben nicht hindurch kam. Vor allem, damit von außen nichts nach innen gelangte. Er sah, wie sein Freund langsam mit der grauen Mauer verschmolz. Langsamkeit war der Schlüssel. Wer gegen die Grenze anlief, holte sich eine blutige Nase. Wer aber mit der Geduld eines Betrunkenen dagegen fiel, der kam hindurch. Foren spürte wie hinter ihm etwas näher kam, der Boden bebte und Fahrat war immer noch nicht durch die Wand verschwunden.

Das GRAUEN, dachte er. Es ist schlimmer, als ich es mir vorgestellt habe. Ein eisiger Hauch fuhr ihm in den Nacken, ein Grollen donnerte durch die Nacht. Jetzt ist es aus, schoss es Foren durch den Kopf. Mit jeder Faser zwang er sich zur Ruhe, als er sich endlich gegen das graue magische Bollwerk fallen ließ. Weich und kalt umgab ihn die Grenze, fing ihn auf, nahm ihn mit und führte ihn durch die meterdicken Schichten. Wie beim Hinweg rechnete Foren fest damit zu ersticken. Die dickflüssige graue Masse waberte um ihn herum, drang in seine Nase ein, so dass er fürchtete, beim nächsten Atemzug müsse er darin ertrinken.

Dann war es vorbei. Er fiel auf die Knie und fand sich auf dem Kopfsteinpflaster der alten Gasse wieder, die an die Mauer grenzte. Er hörte das Gepolter, mit dem die Stühle in den Kneipen auf die Tische gestellt wurden. Sie hatten es geschafft!

Erst jetzt spürte er, dass es nieselte. Foren blickte auf, doch Fahrat war verschwunden. Er schloss die Augen und sein Kopf sank auf die Erde.

„Wen haben wir denn hier?“ Die schneidende Stimme des Wächters ließ Foren wieder zu sich kommen. Zu jeder Seite schienen zwei besonders große und starke Exemplare der Stadtwächter aus dem Nichts gewachsen zu sein. Und vor ihm stand plötzlich ein Hauptmann der Wache.

„Ich bin auf dem Heimweg“, haspelte Foren schnell, denn er wusste, dass es nicht gern gesehen wurde, wenn man sich in der Nähe der Grenze herumtrieb.

„Ach, auf dem Weg nach Hause. Ein Priester, nicht wahr? Das sehe ich an deiner Robe.“ Der Hauptmann schien nicht ganz so helle zu sein, dachte Foren. Das würde es nur noch schlimmer machen. Der Wächter fuhr süffisant fort: „Das wird den Tempel interessieren. Du hast nicht zufällig versucht, die Barriere zu überschreiten?“ Foren schüttelte schnell den Kopf.

„Dann steh mal auf, mein Freund.“ Der Wächter vor ihm lächelte freundlich. Foren versuchte einen Schritt nach vorne zu machen, fiel jedoch sofort der Länge nach hin. Er blickte zurück und sah, dass sein rechter Fuß in der grauen Mauer feststeckte. Seine Bewegung nach vorne war zu schnell gewesen, er hatte sich verfangen. Langsam, ganz langsam zog er mit hochrotem Kopf sein Bein aus der Barriere.

„Nehmt ihn fest“, donnerte der Wächter. „Mitkommen.“ Foren wusste, dass er verloren hatte.

Fahrat saß versteckt in dem dunklen Eingang eines Hauses und versuchte seinen Atem zu beruhigen. Er hörte von fern, wie die Wächter Foren anbrüllten und gegen seinen Willen durch die Gasse schleiften. Er hörte ihn rufen, seinen Namen schreien. Doch es gab nichts, was Fahrat hätte tun können. Er öffnete noch eine Flasche Selbstgebrautes, um sich zu beruhigen. Morgen früh würde er Kopfschmerzen haben.

Die Kobolde

Ich muss hier raus, dachte Fahrat. Ich brauche dringend eine neue Wohnung. Er wünschte sich jetzt, dass er sich nicht mit der Hexe aus dem zweiten Stock angelegt hätte, dann wäre er nun nicht in dieser misslichen Lage.

Fahrat saß am Frühstückstisch und schüttete Kaffee in sich hinein. Hinter ihm in der Küche stapelten sich leere Umzugskartons. Im Wohnzimmer lief der Fernseher, doch Fahrat war in seine Tageszeitung vertieft. Auf der Titelseite prangte die Schlagzeile:

„Neuer Vertreter der Menschen in den Stadtrat gewählt“ Daneben war ein Foto abgebildet, unter dem stand:

„Vizekanzler Morton überreicht dem frisch ernannten Stadtratsmitglied Rashid Rangoon die Ernennungsurkunde.“

Aber Fahrat interessierte sich nur für die Kleinanzeigen. Gestern hatte er endlich nach langem Suchen ein Apartment in einem anderen Stadtviertel gefunden, das nicht zu klein und nicht zu teuer gewesen war. Aber das Beste war, dass er sofort hätte einziehen können. Keinen Tag länger als nötig wollte er in seiner alten Wohnung bleiben. Guten Mutes war er daher nach der Besichtigung zur Bank gegangen, um einen Kleinkredit für die Provision aufzunehmen.

„Tut mir leid“, hatte der zuständige Sachbearbeiter der Bank gesagt, „aufgrund Ihrer momentanen beruflichen und finanziellen Situation, können wir Ihnen leider keinen Kredit in dieser Höhe gewähren.“

„Sie meinen, ich bekomme kein Darlehen, weil ich kein Geld habe?“, fragte Fahrat erstaunt.

„So könnte man es ausdrücken.“ Der Bankangestellte nickte mitfühlend, doch seine Augen blieben kalt.

„Aber wenn ich Geld hätte, dann bräuchte ich keinen Kredit für die Provision!“

„Es tut mir wirklich leid, mein Herr.“ Man sah Fahrats Gegenüber mehr als deutlich an, dass er weit davon entfernt war, Mitleid zu empfinden.

Jetzt saß Fahrat wieder in seiner alten Wohnung am Küchentisch ohne Aussicht auf die neue Bleibe und war mit den Nerven am Ende. Wenn dieser Mensch nur annähernd wüsste, wie es war, in einer verfluchten Wohnung zu hausen, dann hätte er vielleicht anders reagiert. Aber was wussten die normalen Menschen schon von der wirklichen Welt.

Es wurde Zeit, dass er doch noch ein paar Schätze hob, dachte er missmutig. Aber Fahrat mochte keine Abenteuer.

Es krachte im Wohnzimmer. Er sprang auf und lief laut schimpfend hinüber.

„Ihr verdammten Lichtkobolde! Macht, dass ihr hier raus kommt!“ Seitdem Baddha, die Hexe aus dem zweiten Stock ein Loch in die magische Barriere um seine Wohnung geflucht hatte, wurde Fahrat jeden Tag von diesen zwei Nervensägen heimgesucht. Die kleinen Lichtkobolde rannten laut schreiend durch das Wohnzimmer. Fahrat stöhnte auf.

„Nein! Nicht Tante Sarahs Vase“, rief er. Er hechtete über das Sofa. „Das ist ein Erbstück!“ Doch er kam zu spät. Mit einem lauten Scheppern ging die Vase zu Bruch. Seine Mutter würde ihn umbringen! Tante Sarah war eine alte Fee gewesen mit einem ausgeprägten Faible für Blumen. Alle Schnittblumen, die in dieses Gefäß gestellt wurden, verblühten nicht, und Fahrats Mutter hielt sie für furchtbar praktisch. Leider war die Vase aber auch furchtbar hässlich, daher hatte Fahrat sie bisher immer sicher hinter dem Sofa aufbewahrt. Wenigstens bin ich das alte Ding nun los, dachte er.

Lichtkobolde waren eigentlich ganz harmlos, wenn man von ihrem Drang absah, überall Spaß und Chaos zu verbreiten. Aber Fahrat war es leid, jeden Tag aufs Neue seine Wohnung aufzuräumen, weil die kleinen Biester seine Unterlagen aus dem Schrank rissen und alles, was nicht niet- und nagelfest war, auf einen Haufen türmten.

Die Kobolde johlten wie kleine Äffchen und hingen an der Lampe und in den Vorhängen.

„Hey!“, rief Fahrat und hielt einen kleinen Beutel mit bunten Kugeln in die Luft.

„Wollt ihr Kaugummi?“

Die Kobolde verstummten kurz.

„KAUGUMMI!“

Mit diesem Schrei stürzten sie sich auf Fahrat. Der wich zurück und lief in die Küche. Dort holte er aus und wollte den Beutel aus dem offenen Fenster schmeißen. Doch dann hielt er inne und überlegte es sich anders. Mit der schnellen Reaktionsfähigkeit des Schwertlers, der er letztlich eben doch war, drehte er sich um und warf die Kugeln in einen bereits aufgebauten Umzugskarton. Die Kobolde sprangen hinterher und balgten sich unter lautem Getöse um die bunten Kugeln.

Fahrat schloss blitzschnell den Pappdeckel des Kartons und verklebte ihn mit dem magisch verstärkten Packband, das er sich bereits für den nun wohl doch nicht stattfindenden Umzug besorgt hatte.

Der Bankangestellte, der am Tag zuvor Fahrat gegenüber gesessen hatte, öffnete das an ihn adressierte Packet mit größter Vorsicht. Ein Kurierfahrer hatte es heute Morgen in der Bank abgegeben. So schwer wie die Sendung war, enthielt es bestimmt die neuen Ordnungssysteme, die er in der Hauptstelle bestellt hatte – und Ordnung musste sein! Der Sachbearbeiter war der festen Überzeugung, dass er die Verantwortung trug, auch das Leben seiner Kunden in Ordnung zu halten und sie vor sich selbst und der Überschuldung zu retten. Kredite bewilligte er so gut wie nie.

Mit einer geschickten Handbewegung riss er das festsitzende Klebeband ab und blickte in den Karton. Er war leer. Aus den Augenwinkeln meinte er etwas kleines Grünes durch die Schalterhalle huschen zu sehen. Er blickte noch einmal in den Karton und entdeckte, dass in der Ecke etwas lag. Er griff hinein und zog angeekelt seine Hand direkt wieder zurück. Nasser, weicher Kaugummi klebte an seinen Fingern. Und damit begann der schlimmste Tag seines Lebens.

Der Golem

Fahrat lachte. Er malte sich das Gesicht des Sachbearbeiters aus, der in diesem Moment sicherlich vor einem Haufen aus dem Schrank gerissener Kundenakten stand. Er würde Tage brauchen, um dort wieder Ordnung zu schaffen.

Plötzlich bekam er ein schlechtes Gewissen. Da kein normaler Mensch die Kobolde sehen konnte, würde man das Chaos wohl dem Angestellten der Bank anlasten.

Fahrat blickte aus dem Fenster seines Wagens. Wahrscheinlich hatte der Mann gar keine andere Wahl gehabt, als ihm den Kredit zu verweigern. Er hatte ja auch seine Vorschriften. Zögernd griff er zum Handy. Er würde das Kriseninterventionsteam anrufen. Die würden die Kobolde fangen und die Menschen von diesen Plagegeistern befreien. Fahrat dachte erneut an das überhebliche Gesicht des Sachbearbeiters.

„Arroganter Typ“, dachte er sich. Sollte er ein wenig schmoren.

Er warf das Handy auf den Beifahrersitz und blickte wieder auf die Straße.

Und machte eine Vollbremsung. Auf dem Zebrasteifen vor ihm auf der Straße schwankte ein Golem.

Fahrat traute seinen Augen nicht. Groß und grau stampfte der lehmige Riese durch die Menge. Mit seinen großen, steifen Armen schob er die Menschen aus seinem Weg. Und die Menschen schienen nichts zu merken.

Die Menschen sahen nur das, was sie sehen wollten. Und das war eine, wenn nicht die Grundlage dafür, dass Leute wie Fahrat unerkannt unter den Menschen leben konnten. Für die Menschen war die Welt ganz normal. Aber in der Grauzone, direkt neben ihrer eigenen Wirklichkeit, existierte der Rest. Schwertträger, Krieger, Hexen und Drachen. Magier, Kobolde und Götter. Aber die Menschen sahen sie nicht. Ihr Verstand wollte diese Welt nicht sehen und daher konnten es auch ihre Augen nicht.

So war es möglich, dass ein Golem durch die belebte Einkaufstraße wankte, ohne Aufsehen zu erregen. Er sah aus, als hätte ein Kind mit Knetgummi gespielt und ein Monster geschaffen. Der offene Mund wirkte wie ein schwarzes Loch in dem grauen, ausdruckslosen Gesicht. Eine Nase fehlte. Dafür glühten seine Augen wie kleine rote Feuerbälle.

Donnernd setzte er einen Fuß vor den nächsten, während sich um ihn herum eine Lücke in der Menschenmenge bildete. Die Leute ignorierten ihn. Blickten an ihm vorbei, machten automatisch einen Bogen um ihn und gingen ihm aus dem Weg. Aber sie würden sich den Rest des Tages unwohl fühlen, schreckhaft und ängstlich. Denn ihre Augen hatten etwas gesehen, was ihr Verstand nicht wahrnehmen wollte. Und dieser Zwist würde ihren Geist entzünden, wie ein Stachel im Fleisch oder eine schmutzige Wunde.

Fahrat parkte seinen Wagen in einer Einfahrt und lief hinter dem Riesen her. Nur ein sehr mächtiger Zauberer konnte ein derart starkes Geschöpf erschaffen, dachte er. Das Lehmwesen war bestimmt doppelt so groß wie die meisten Menschen um ihn herum.

Der Golem schien ein Ziel zu haben und schritt unerbittlich darauf zu. Fahrat musste laufen, damit er den großen Schritten folgen konnte. Dabei ließ er seine Gedanken kreisen.

Wer hatte heutzutage noch die Macht und vor allem die Kraft, so einen Zauber zuwege zu bringen? Und welchen Zweck sollte er haben? Die meisten Arbeiten, für die man ursprünglich Golems erschaffen hatte, wurden in der Welt der Menschen längst von Maschinen erledigt, die präziser arbeiten konnten als ein grobschlächtiger Lehmklumpen. Allerdings waren Golems äußerst ausdauernd, da sollte man sich nicht täuschen. Ein Golem verfolgte sein Ziel so lange, bis seine Aufgabe erledigt war. Was auch immer das sein mochte.

Fahrat wandte wieder den Kopf, um zu sehen, ob noch jemand dem Golem folgte. Doch keiner schien sich für ihn zu interessieren. Und niemand war zu sehen, der den Lehmriesen kontrollierte. Der Magier musste sich seiner Sache sehr sicher sein, wenn er seine Schöpfung ohne Aufsicht in die Öffentlichkeit ließ.

„Hey, Fahrat!“, erklang eine Stimme neben ihm.

Colvin, der kleine, alte Mann im Zeitungskiosk stemmte sich auf seine Ärmchen und blickte sowohl den Golem, als auch Fahrat ungläubig an.

„Was ist heute nur los? Zuerst sieht man eine ganze Weile niemanden von uns, und dann taucht plötzlich so ein Ding auf und ein Schwertler ist ihm auf den Fersen?“

Fahrat winkte ihm kurz zu und zuckte die Schultern. „Keine Ahnung, Colvin“, rief er atemlos. „Ich schau mir das mal an.“

Colvin war ein alter Barde, der mit seinen Geschichten zaubern konnte. Er war in der Lage, durch seine Erzählungen neue Welten zu erschaffen. Der Zuhörer konnte darin nach Belieben wandeln und leben. Es hieß sogar, dass die Welt, in der Colvin lebte, auch nur eine seiner Geschichten war.

Eine schöne Art der Magie, dachte Fahrat, während er dem Riesen nachhetzte. Aber nutzlos. Er wird mir bei dem Golem nicht helfen können.

Kurz darauf stoppte das Lehmungetüm vor einem alten Stadthaus. Die Schatten der mächtigen Platanen am Straßenrand fielen auf das schlammige Grau des Lehmwesens und schienen es in einen gefleckten Tarnumhang zu hüllen.

Fahrat blieb in einiger Entfernung stehen und schnappte keuchend nach Luft. Als Mitglied der Schwertträgergilde sollte ich eigentlich besser trainiert sein, dachte er zähneknirschend. Doch der lange Sprint forderte nun seinen Tribut. Er war wirklich nicht mehr in Übung.

Was tut er da?, fragte sich Fahrat. Es sah aus, als ob der Golem seine Nase in die Luft halten und schnuppern würde.

Doch das war nicht möglich, denn er konnte weder seinen Kopf drehen, da er keine beweglichen Halsgelenke hatte, noch konnte er ohne Nase riechen. Dennoch schien er einen Geruch wahrzunehmen, eine Fährte. Und so drehte er seinen massigen Körper hin und her und versuchte die Witterung, die er offenbar verloren hatte, wieder aufzunehmen.

Fahrat fragte sich, was er nun tun sollte. Konnte er den Golem einfach angreifen? Aber dazu gab es eigentlich noch keinen Grund. Obwohl ein Golem etwas Abartiges war, etwas Totes, das zum Leben erweckt wurde, und obwohl er selten dazu geschaffen wurde Gutes zu tun, konnte Fahrat ihn nicht einfach attackieren. Wie sollte er ihn überhaupt bekämpfen? Wie besiegte man einen Golem?

Fahrat kramte tief in seiner Erinnerung. Er dachte daran, was er in seiner Ausbildung und an der Seite seines Schwertmeisters gelernt hatte. Er war sicher, dass er etwas über diese Dinger gehört hatte. Er war auch sicher, dass sie eine Schwachstelle hatten.

Fahrat erinnerte sich an das Ritual, mit dem ein Golem zum Leben erweckt wurde. Man brauchte eine mächtige Person, die sowohl die Stärke als auch den Willen hatte, Leben zu erschaffen, zu welchem Preis auch immer. Es brauchte Lehm, Wasser und Feuer. Und das Wort.

Bei diesem Gedanken sah Fahrat, wie der Golem mit seiner mächtigen Faust ausholte und mit einem donnernden Schlag auf die Fassade des Hauses eindrosch. Immer und immer wieder schlug er zu. Steine brachen aus dem Gebäude und stürzten auf die Straße. Autos bremsten quietschend und fuhren danach langsam weiter, als sei nichts gewesen. Fahrat war immer wieder fasziniert von den Verdrängungskünsten der normalen Menschen in dieser Stadt.

Das Ungetüm prügelte immer noch auf die Hauswand ein.

Schließlich hatte es die Fassade vom ersten Stock bis zum Keller aufgerissen. Eingehüllt in eine Staubwolke bückte sich der Golem – soweit das ohne bewegliches Rückrat möglich war – und blickte mit seinen feurigen Augen in das Kellergewölbe, das er so brutal ans Tageslicht gerissen hatte.

Fahrat sah dort in einer Ecke jemanden kauern. Er begriff, dass der Golem jemanden gesucht hatte. Und nun würde er nicht zimperlich sein. Er würde sein Opfer ohne Umschweife töten.

Als der Golem seine Hand in den Keller streckte, nahm Fahrat seinen ganzen Mut zusammen. Er nahm Anlauf und sprang mit einem Satz auf den steinernen Rücken des Ungeheuers.

Der Riese schüttelte sich und versuchte ihn wie eine Fliege zu verscheuchen. Doch Fahrat kletterte immer höher hinauf, bis er sich von hinten am Kopf festhalten konnte. Der Riese brüllte auf, es krachte wie ein Erdbeben. Er warf seine Arme in die Luft und versuchte, Fahrat von seinem Rücken zu ziehen. Doch hatte sein Schöpfer seine ganze Kraft darauf verwendet, den Golem am Leben zu erhalten und ihm nur die wichtigsten Gelenke mitgegeben. Ellenbogen gehörten nicht dazu. So konnte sich Fahrat auf dem gefährlich schwankenden Kopf festhalten und ließ sich vor das Gesicht des Ungetüms fallen. Mit einer Hand hielt er sich am Rand des Mundes fest und mit der anderen fuhr er tief in dessen dunklen Schlund.

Er erwartete eigentlich kalte Feuchtigkeit. Doch fühlte er nur die raue Oberfläche der Zunge, die erstaunlich trocken und steinig war. Obwohl er wusste, dass sein Gegner den Mund nicht schließen konnte, fühlte Fahrat sich, als ob er seinen Arm in das Maul eines hungrigen Krokodils stecken würde. Der Golem schüttelte sich und Fahrat musste all seine Kraft aufwenden, um nicht zu Boden zu fallen. Langsam wurden seine Finger feucht und er begann den Halt zu verlieren. Seine rechte Hand fuhr über die Zunge des Monsters und dann an den Seiten der Zunge entlang. Endlich ertasteten seine Finger, was er gesucht hatte. Er schloss seine Hand.

Der Golem brüllte erneut und warf sich hin und her. In diesem Moment verlor Fahrat den Halt und wurde auf den Bürgersteig geschleudert, die Hand fest um das Stück Pergament geschlossen, das er unter der Zunge hervorgezogen hatte.

Als Fahrat sich stöhnend wieder aufrichtete, sah ihn der Golem an. Er starrte aus seinen feurigen Augen und schwankte merklich. Ein letztes Grollen entfuhr ihm, dann erlosch sein Blick. Zuerst bröckelten die Finger. Dann rutschten die äußersten Schichten lawinenartig an ihm herab und schließlich zerfiel auch der Rest des Golems.

Fahrat schloss die Augen zum Schutz vor der Staubwolke, die ihn einnebelte.

Als er sie kurz darauf wieder öffnete, war das Ding verschwunden. Übrig blieb ein Häufchen Sand und Lehm auf dem Bordstein. Der nächste Regen würde es fortspülen.

Ein Golem war ein Wesen, das durch reine, ursprüngliche Magie existierte. Zuerst schuf man aus Lehm den Körper. Dann schrieb der Zauberer das WORT auf ein Stück Pergament und schob es seiner Kreatur unter die Zunge. Somit erwachte der Golem zum Leben. Fahrat hatte, indem er das Pergament aus dem Maul des Golems gezogen hatte, dessen Lebensfunken gestohlen.

Der Schwertler wischte sich den Staub vom Mantel und die Krümel aus dem Gesicht. Dann kletterte er vorsichtig in den Keller.

Zitternd saß die Gestalt immer noch in der Ecke. Die junge Frau hatte die Beine an den Körper gepresst und eine Kapuze über die Stirn gezogen.

Fahrat kniete sich neben sie und sprach sie an.

„Ist alles in Ordnung bei dir? Hast du etwas abbekommen?“

Die Frau blickte auf. In ihrem staubverschmierten Gesicht bahnten sich zwei Tränen den Weg über die Wangen und hinterließen braune Spuren. Fahrat sah keine Anzeichen einer Aura oder andere Anhaltspunkte dafür, dass sie eine von ihnen war. Sie schien ein ganz normaler Mensch zu sein. Was hatte der Golem dann von ihr gewollt? Wieso hatte er einen gewöhnlichen Menschen gejagt?

„Du bist einer von denen.“ Ihre leise Stimme durchschnitt zitternd die Stille.

Fahrat erschrak. Woher wusste sie das? Hatte sie etwa den Golem sehen können? Sie war ein Mensch! Nur die wenigsten Menschen wussten von der Existenz seiner Welt. Er riss sich zusammen und überging die Frage.

„Wie heißt du?“

Die Frau blickte ihn an und schien überlegen zu müssen.

„Ava.“

Die Klinik

Schritte hallten durch die Räume der Klinik, als Morton dem Pfleger durch das Gebäude folgte. Die weißen Wände des gekachelten Flures spiegelten das fahle Gesicht des Besuchers wider. Der dunkle Anzug unterstrich seine blasse Gesichtsfarbe, schwarze Lederschuhe rundeten das elegante Erscheinungsbild ab.

Vor einer weißen, unscheinbaren Tür hielten sie an und der Pfleger klopfte leise. Dabei schien diese vorsichtige, sanfte Bewegung der massigen Hand so gar nicht zu seinem mächtigen Körper zu passen. Seine Arm- und Brustmuskeln spannten das weiße T-Shirt.

„Herein!“, drang es dumpf, aber energisch durch die Tür. Der Pfleger öffnete sie und ging voran.

Sie betraten einen Raum, der bis unter die Decke mit Büchern voll gestopft war. Durch das große Fenster schien die Sonne auf einen dunklen Eichenschreibtisch. Ein junger Mann stand aufrecht dahinter. In einer Ecke verkümmerte eine große Topfpflanze. „Herr Morton, Herr Direktor“, brummte der Pfleger und zog sich leise zurück.

Der Direktor lächelte Herrn Morton an und wies auf einen der Sessel.

„Bitte setzen Sie sich.“

Morton setzte sich, wobei er darauf bedacht war, seinen schwarzen Mantel glatt zu streichen. Nachdem auch der Direktor Platz genommen hatte, blickte er Morton an.

„Bitte entschuldigen Sie das Chaos“, sagte er und wies auf die Papierberge auf und neben seinem Schreibtisch.

„Aber seit dem plötzlichen Verscheiden meines Vorgängers hatte ich noch keine Zeit, hier Licht in die Angelegenheiten zu bringen.“

Er seufzte und ließ den Blick durch den Raum schweifen.

„Oder dem Raum eine persönliche Note zu geben. Was kann ich für Sie tun?“

Morton rutschte im Sessel bis er eine bequeme Position gefunden hatte. Dann schlug er die Beine übereinander und zog einen Zigarillo aus der Innenseite des schwarzen Jacketts.

„Ich komme wegen Ava.“ Seine rauchige, sanfte Stimme wollte nicht so ganz zu seinem herrischen Äußeren passen.

„Ich weiß nicht, ob ich Ihnen da Auskunft geben kann. Sind Sie ein Angehöriger? Mir ist nichts von Verwandten bekannt!“ In der Stimme des Direktors schwangen Zweifel mit. Um nichts in der Welt würde er vertrauliche Patienteninformationen herausgeben. Er zog die Brauen zusammen und blickte sein Gegenüber streng an. Trotz seiner Jugend ließ er an seiner Autorität keinen Zweifel.

Morton hob seine rechte Hand vom Knie und ließ die Finger einen kleinen Kreis beschreiben.

„Ja, ich kümmere mich um sie“, sagte er mit sanfter, betörender Stimme. Kaum hatten sich die Finger wieder gelegt, trübte sich der Blick des Direktors und sein Gesicht entspannte sich.

„Ach, das ist schön.“ Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und legte die Fingerspitzen aneinander.