Avas Geheimnis - Bärbel Schäfer - E-Book
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Avas Geheimnis E-Book

Bärbel Schäfer

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Beschreibung

Der Spiegel Bestseller von Bärbel Schäfer

»In diesem Buch kann man Bärbel Schäfer zutiefst menschlich erleben. Dabei entsteht ein berührendes Bild der Einsamkeit, die wir alle kennen, aber vielleicht selten so tief und gleichzeitig auch hoffnungsvoll erlebt haben.« Manfred Lütz

»(...) Dieses Buch ist ein sanfter Trost. Für Ava. Für jeden. Denn ich kenne niemanden, der nicht einsam ist.« Ildikó von Kürthy

Zwei Frauen, deren Wege sich eher zufällig wieder kreuzen. Die eine steht mitten im Leben, hat Arbeit, Mann, Kinder, Freunde. Die andere lebt völlig zurückgezogen, wie auf ihrem eigenen Planeten. Denn Ava ist einsam. Ein Zustand tiefer Verlassenheit, wie ihn immer mehr Menschen erfahren, Experten sprechen schon von einer „Einsamkeitsepidemie“. Bärbel Schäfer geht in diesem Buch einem Gefühl nach, das fast alle von uns auf die ein oder andere Weise kennen, auch sie selbst. Aber was beutet Einsamkeit wirklich und wann macht sie uns krank? Und was kann man tun für jemanden, der aus der Welt gefallen scheint? Ein warmherziges, einfühlsames Buch.

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Seitenzahl: 293

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Über das Buch

Eines Tages bekommt Bärbel Schäfer einen Anruf mit unerwarteten Konsequenzen: Eine Freundin bittet sie, sich kurzfristig um deren Schwester Ava zu kümmern, die einen Unfall hatte. Schon bald zeigt sich, dass Ava an mehr als ein paar äußerlichen Verletzungen leidet: Die junge Frau umgibt eine schwer greifbare, tiefe Einsamkeit.

Nach und nach versucht Bärbel Schäfer die dicken Mauern, die Ava um sich errichtet hat, zu durchdringen. Dabei wird sie auch selbst mit ihren Lebensrissen konfrontiert. Anhand vieler Begegnungen und auch ihrer eigenen Geschichte zeigt Bärbel Schäfer, dass dieses häufig tabuisierte Thema uns früher oder später alle angeht – und dass es Wege gibt, der Einsamkeit die Hand zu reichen.

Ein offenes, berührendes und tröstendes Buch, das viel über Einsamkeit und die Zerbrechlichkeit des Ichs erzählt und zeigt, was das Leben ausmacht.

BÄRBEL

SCHÄFER

AVAS

GEHEIMNIS

MEINE BEGEGNUNG

MIT DER

EINSAMKEIT

Kösel

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Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Die Ereignisse in diesem Buch sind größtenteils so geschehen, wie hier wiedergegeben. Aus Gründen des Personenschutzes sind jedoch einige Namen und Orte so verfremdet worden, dass die darin handelnden Personen nicht erkennbar sind.

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird bei der Nennung von Personen- und Berufsbezeichnungen meist auf eine Differenzierung der Geschlechter verzichtet. Bei der Verwendung entsprechender Begriffe sind im Sinne der Gleichbehandlung jedoch ausdrücklich alle Geschlechter angesprochen.

Copyright © 2022 Kösel-Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung: zero-media.net, München

Covermotiv: FinePic®, München

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-641-28786-3V004

www.koesel.de

Inhalt

1 Planet Einsamkeit

2 Crocs

3 Schwaches Herz

4 Supalonely

5 Valentinstag

6 Zwergplankton

7 Diagnose Einsamkeit

8 Über das Verfrosten

9 Geldtaubheit

10 Kissenschlacht

11 Monstera Deliciosa

12 Mikro-Demütigungen

13 Kondensstreifenfrei

14 Lockdown

15 Kaugummitage

16 Traurige Mädchen bleiben traurige Mädchen

17 Freundinnen

18 Schöner Tag

19 Verwaiste Schwester

20 Null Gefühl für Staub

21 Klettig

22 Mission Trost

23 Kannst du Englisch, Frau Helling?

24 Das Bröckeln der Schutzmauern

Falls Sie einsam sind oder einen einsamen Menschen kennen

Dank

Literaturliste

Für Michel

Vorwort

Sie schleicht sich auf leisen Sohlen in dein Leben. War sie schon immer da? Sie drückt bleischwer auf deine Brust und Seele. Sie lässt dich verstummen oder zutiefst alleine. Sie kann ein schwerer Rucksack sein, du glaubst, damit nicht einen Schritt in deinem Leben weitergehen zu können. Sie dämpft alles um dich herum ab. Gerade noch genug Kraft zu atmen, mehr ist nicht möglich, mehr ist nicht denkbar. Nicht einmal eine Sehnsucht, kaum ein Erinnern. An das Leben, bevor sie dich als Geisel genommen hat. Einsamkeit.

Kapitel 1

Planet Einsamkeit

Manchmal stürzen ungeahnte Herausforderungen kometenhaft auf uns zu. Dein Leben kann sich von einer Sekunde auf die andere ändern und du kommst an Grenzen, Abgründe tun sich auf, von denen du nicht mal ahntest, wie nah du ihnen bist. Themen kommen an die Oberfläche, die du so tief unter deinem Alltagskorsett vergraben hattest, dass sie schon verarbeitet schienen.

Wie damals in meiner Mittagspause, als das Handy klingelte. Wenn du stehen bleibst, so wie ich an diesem Tag, als ich den Anruf von Carolin annahm, dann kann es dir passieren, dass du mitten in einem Kometenhagel landest. Erst merkst du gar nicht, wie tief die Einschläge sind, wie sehr es dich trifft. Aber nach dem ersten Aktionismus rutschst du immer tiefer hinein in eine Aufgabe, die zur Verantwortung wird. Du bist nett und höflich. Du bist sozial. Du versuchst einfach nicht wegzurennen. So wie ich auch. Ich versuche zu verstehen, was mir damals Unbekanntes begegnete. Ich fühlte in mich hinein. Hörte zu, versuchte zu spüren, um was es genau ging. Ich erkannte mich in diffusen Sprenkeln wieder und konnte nicht einfach weiterlaufen. Nicht weggehen. Versuchte zu helfen, wie vielleicht viele versuchen, einem Einsamen eine Hand zu reichen.

Aber erstmal zurück zum Anruf von Carolin.

Damals, als wir dauernd zwischen gemeinsamen Kochabenden, Kino und Radtouren durch Frankfurt hin und her titschten. Als die Tage für uns mit Freundschaft, Lachkrämpfen, kaltem Bier, Seelengesprächen, Umarmungen, Hula-Hoop-Reifen und Glücksmomenten angefüllt waren. Als die Kinder schon so groß waren, dass sie sich alleine anziehen und mit dem Bus zur Schule fahren konnten oder mit uns Frisbee spielten. Es waren Wochen, in denen wir vor Nähe und Liebe zum Leben fast platzten.

Dann klingelte mittags mein Telefon. Aus dem Döner tropfte die Joghurtsoße langsam über meinen Handrücken auf den Frankfurter Bürgersteig. Carolins Nummer auf dem Display. Wieso rief sie mich aus New York an?

»Caro. Klar, ich habe zwei Minuten Zeit. Schieß los, ich freue mich, deine Stimme zu hören. Wie spät ist es bei euch?« Ich zog die linke Schulter etwas höher, klemmte mein Handy ans Ohr und biss in den Döner.

»Früh am Morgen. Bärbel, du weißt doch, ich bin noch immer an dem Personal-Projekt dran, die strukturieren hier mehr um, als ich gedacht habe. Die Coachings laufen super, das Team wächst langsam zusammen. Ich komme voran, bin aber erst in zwei Wochen zurück.« Ein Polizeiwagen fährt mit lautem Sirenengeheul an mir vorbei. »Meine Schwester Ava hatte einen blöden Unfall. Sie liegt im Bürgerhospital.«

»What? Ist es was Schlimmes?«

»Ich kann erst am späten Nachmittag mit dem Arzt sprechen. Sie ist wohl irgendwo unglücklich runtergefallen. Wollte dich aber fragen, ob du die nächsten Tage ab und zu mal bei ihr vorbeischauen kannst, ein bisschen reden und so. Fragen, ob sie was braucht. Da sein. Du weißt schon.«

»Klar, Carolin, mache ich. Für dich immer. Kein Problem. Ava und ich kennen uns doch noch aus Köln, sie hat doch eine Zeitlang bei der Gästebetreuung in meinen Sendungen mitgemacht. Mann, was hat deine Schwester immer gestrahlt. Sie war gut im Beruhigen der aufgeregten Talk-Gäste vor ihren TV-Auftritten. Jetzt beruhige ich eben sie. Wie alt ist sie jetzt eigentlich?«

»Achtunddreißig.«

»Hast du schon mit ihr sprechen können?« Ich beiße noch einmal in den triefenden Krautsalat und das fein geschnittene Fleisch, wische mir die Soße aus den Mundwinkeln, schaue auf die Uhr. Ich muss noch für meine Mutter zum Supermarkt, ihr die schweren Sachen und eine Kiste Wasser einkaufen und in die Wohnung stellen.

»Ja. Sie hat sich ein wenig verändert, Bärbel. Aber du kannst ja mit jedem reden. Wenn du irgendwelche Auslagen hast, sag mir Bescheid, ich zahle dir die Kohle dann zurück, okay? Ich bin übernächsten Freitag wieder in Frankfurt. Avas Mobilnummer schicke ich dir gleich. Quatsch ihr ruhig eine Sprachnachricht drauf. Sie geht eh nie ran.«

Schnell rechne ich meine Radiodienste durch, denn die Klinik ist ja in der Nähe des Hessischen Rundfunks. Okay, ich habe einige Lesungen in den nächsten Tagen, die Moderation einer Preisverleihung nächste Woche, das wird alles ganz schön viel. »Carolin, wenn ich es nicht mache, wer macht es dann?«

»Niemand.«

»Hat sie keinen Freund?«

»Nein. Und rede bitte mit ihr nicht darüber. Da war mal jemand, ist aber übel geendet. Vielleicht gelingt es dir, ein Band zwischen euch zu knüpfen. Sie redet kaum. Anders als ich.« Carolin lacht ihr raues, lautes Lachen.

»Vielleicht will sie gar nicht, dass ich sie in der Klinik sehe. Du solltest sie vorwarnen.«

»Ja, mache ich. Du, Grüße aus Brooklyn, ich muss das Meeting nochmal durchgehen. Ava mochte immer deine offene Art, mach dir keine Sorgen, ihr werdet euch verstehen. Danke dir und fühle dich gedrückt, Bärbel, du hast einen gut bei mir.«

Ich wäre jetzt auch gerne an der amerikanischen Ostküste auf dem Rücksitz eines gelben Taxis. Diese Stadt war immer mein Traum. Heute frage ich mich, warum ich meinen Traum, dort zu leben, nicht ernst genommen habe und an den Hudson River gezogen bin? Während eines RTL-Drehs von Bärbel goes to Hollywood war ich in L. A. Gast in einer Morning-Show und hatte so viel Spaß mit den amerikanischen Moderatoren, dass mich nach meinem Fernsehauftritt eine amerikanische Agentur kennenlernen wollte. Die amerikanische Agentur CAA called Bärbel from Germany, Talkshow-Gastgeberin bei einem privaten Sender. Wenn ich darüber nachdenke, macht es mich heute noch sprachlos. CAA vertrat nur Stars, die ich entweder von der Wetten, dass…-Couch kannte oder von der Kinoleinwand. Ich lief tagelang mit einem fetten Grinsen durch die Gegend. Ja, unsere Chemie hatte im Studio gestimmt. Aber werden solche Träume nicht nur in Filmen wahr? Ich sah mich schon in New York arbeiten, Geld verdienen und mit einem Coffee-to-go-Becher in der Hand durch Manhattan rennen, weil eben alle in New York schnell gehen.

Ich liebe es, auf den Feuertreppen am Abend ein Bier zu trinken. New York hat von allem zu viel. Zu viel Power, Aggressionen, Unterschiede. Ein 24/7-Überangebot von einfach allem. New York ist wie ein Dauertrip für die Pupille, ein Farbrausch an Menschen, Lebensgeschichten, Eindrücken. Niemals hätte ich mir vorstellen können, was mit dieser vitalisierenden, rauschhaften Stadt während der Corona-Zeit passieren sollte: Die überfüllten Krankenhäuser, die Kühlwagen vor den Kliniken. Die ausgehobenen Gräben für die Pandemie-Toten im Central Park. Ein ehemaliger Präsident, der das alles lange leugnete und nichts dagegen tat. Der hetzte und log. Eine Stadt, die sich über Monate selbst nicht wiedererkannte, verwaiste, als wäre ihr globaler Hot-Spot- Magnet ermattet. Wer hätte gedacht, dass New York einmal so verlassen wirken könnte, als hätte man der Stadt den Stecker gezogen?

Ich wollte immer Teil dieser Stadt sein. Meine deutsche Agentin buchte damals aber ungefragt einen deutschen Schauspieler aus ihrer Kartei mit in meinen Termin bei der CAA-Agentur hinein. Plötzlich standen wir zu dritt in der Lobby. Eigentlich, um meine mögliche US-Karriere zu besprechen, so dachte ich jedenfalls nach meiner TV-Morning-Show-Performance. Und dann war ich es, die nach zwanzig Minuten wieder vor der Tür des Besprechungsraums stand, während der Schauspieler bald nach Amerika zog. Jahre später habe ich mein Lebensglück im Big Apple geheiratet, so wurde die Stadt doch noch zu einem Glücksort.

Manchmal stelle ich mir vor, einfach ein Ticket zu kaufen und wegzufliegen. Neu anzufangen. An einem Ort, der mir guttut, wie eben diese durchgeknallte Stadt. Jetzt ist Carolin da, fährt U-Bahn, läuft durch die Häuserschluchten, ist in einem internationalen Team. Dabei war sie immer diejenige, die ihren geregelten Alltag leben wollte, in Frankfurt.

Ohne Tom, der so gut organisiert ist mit ihren zwei gemeinsamen Kids und Carolin unterstützt, wäre es schwerer. Anfänglich wirkte er ein wenig lahm auf unsere Mädelsclique. Garantiert glamfrei. Und auch noch aus Bielefeld. Er passte eigentlich gar nicht zu Carolins Beuteschema. Anfänglich haben wir versucht, ihm den Mittelscheitel auszureden, aber die Neunziger waren eben Mittelscheiteljahre. Jeder Promi-Herzensbrecher bis zur Grunge-Szene trug einen. Irgendwann waren nicht mehr genug Haare für einen Scheitel in der Mitte da, und er rasierte sich sein Resthaar raspelkurz. Tom entpuppt sich als fantastischer Mann, auf den zweiten Blick. Er kann kochen und zuhören. Ob Carolin ihm treu ist an der Ostküste? Früher hat sie die Typen nach spätestens einer Woche wieder aus ihrem Bett gekickt. Sie hat immer bekommen, was sie wollte.

Wir sind in den letzten Jahren hier in Frankfurt durch die Kids und das Teilen des Alltags wirklich nah zusammengerückt. Mal bestelle ich für ihre Kinder die Schulbücher mit, sie nimmt meinen Sohn mit zum Training oder ich nehme ihren Hund mit auf eine Runde Gassi, wenn sie zu lange arbeitet. Ich mochte sie schon während unseres Germanistikstudiums in Köln. Carolin war die Einzige von uns, die immer das Auto ihrer Eltern nutzen konnte, die selbst auf der Party um zwei Uhr nachts noch fantastisch aussah. In ihrer WG war dauernd Party, und trotzdem hatte sie immer alle Hausarbeiten für die Seminare rechtzeitig fertig.

Wir haben oft auf Messen zusammen gejobbt und uns das Geld für die Miete und den Alltag verdient. Noch heute kreischen wir uns weg über den Messejob, zu dem wir beide von einer Münchner Firma gebucht wurden und Dirndl tragen sollten. Sogar ein Dirndl-Casting gab es vorab. Als Carolin aus der Umkleidekabine trat, wippten ihre Brüste im Ausschnitt wie zwei Enten bei starkem Wellengang auf der Wasseroberfläche. Bei jedem ihrer Schritte dachten wir, eine der beiden springt ihr direkt aus der Bluse, um den vollen Ausblick zu genießen. Für Carolin als Westfälin und mich als Norddeutsche waren das keine richtigen Kleider, sondern schlimme Verkleidungen. Dazu diese weißen Strümpfe, was haben sich die Bayern nur dabei gedacht? Wer trägt bitte solche Strümpfe? Frisch Operierte, die eine Thrombose vermeiden wollen, klar. Meine kräftigeren Waden sahen aus wie zwei weiße Warnpoller an der Landstraße. Aber der Ausblick auf den letzten Messetag und die Bezahlung ließen uns durchhalten und jeden Morgen wieder Tränen lachen, wenn wir uns an der Kundentheke des bajuwarischen Messestands trafen. »Servus« ist noch immer unsere Lieblingsbegrüßung. Bis heute muss ich googeln, wo die Schleife am Dirndl bei Verheirateten oder Unverheirateten sitzen muss. Links? Rechts? Egal.

Am vorletzten Tag musste ich im Laufe des langen Dienstes kurz auf die Toilette. Der Messestand war voll, ich beeilte mich. Auf dem Rückweg erntete ich so viele Blicke wie noch nie für mein Outfit. Pfiffe und Lacher gab es noch obendrauf. Ich war ein wenig irritiert, genoss aber den Zuspruch. Erwog sogar kurzfristig, doch nach Bayern zu ziehen, bei so viel Resonanz. Ich hatte meinen knallroten Lippenstift frisch aufgetragen, aber das führte normalerweise nicht zu diesen Reaktionen. Ich änderte meinen Gang, schaltete von hektisch auf locker lässig schlendernd um. Schwang die Hüften etwas einsatzfreudiger und erreichte mit dieser hohen Aufmerksamkeitsdichte und sich nach mir umdrehenden und grinsenden Männern im Rücken wieder unseren Messestand. Carolin sah mich an. Ihr Mund stand offen. Sie sagte: »Bärbel! Äh… was… du… hast da…«. Ich schaute sie erwartungsvoll an und versuchte den Satz aus den Buchstabenfetzen zusammenzusetzen.

»Äh, also, Bärbel, deinen Einsatz für den Job finde ich toll! Aber so gut ist die Bezahlung nun auch nicht. Vielleicht nimmst du das Dirndl jetzt aus deiner Strumpfhose raus.«

Ich drehe mich erschrocken um, fuhr mir über die Oberschenkel, um das Kleid zu spüren. Nichts. Nur eine überdimensionale Stoffbeule an meinem Hintern.

»Schöner String übrigens.« Das war Carolins trockener Humor, für den ich sie heute noch liebe. Nie, nie wieder habe ich ein Klo verlassen, ohne vorher zu prüfen, ob die Netzstrumpfhose meine Klamotten frisst. So viele Jahre haben sich nach und nach in unsere Gesichter eingegraben, Karriereschritte haben funktioniert, wir haben diese gefeiert, zusammen über Kündigungen getrauert. Uns über gescheiterte Lieben hinweggetröstet, die sich als keine Lieben entpuppten. Wir teilen unseren Alltag. Mit Carolin ist das Leben leichter. Sie ist da, auch wenn ich zwischendurch einfach nur in die Excel-Tabelle heulen will. Sie weiß, wann ich wieder eine meiner traumatischen Wurzelbehandlungen beim Zahnarzt habe, und fragt, ob sie mich hinfahren und warten soll. Sie ist die Schwester, die ich immer gerne gehabt hätte. Anpackend, warmherzig, zielstrebig. Sie kann sich allerdings schwer fallen lassen oder einfach mal entspannen. Sie weint selten und macht Probleme eher mit sich aus. Da sind wir uns sehr ähnlich.

Carolins Schwester habe ich irgendwann aus den Augen verloren. Ava. Die kleine Ava war oft in ihrem Schlepptau, weil die Mutter viel in ihrem Supermarkt arbeitete. Sie blieb auch mit dreizehn noch immer die Kleine. Ab und zu übernachtete sie bei uns in Köln, das war für einen Vorort-Teenager ein Abenteuer. Carolin oder ich holten sie dann am Hauptbahnhof ab. Immer reiste sie mit einem roten Rucksack. Wir nahmen sie mit ins Kino, zum Döneressen und einmal mit auf eine Party im Kölner Kunstverein, wo sie im Gewusel der Vernissage auf einer Couch einschlief. Sie hatte es schwer, neben Carolin ihren Raum und Gehör zu finden. Auch später, als sie älter wurde. Fragte ich Ava direkt etwas, antwortete Carolin oft vorschnell für ihre Schwester. Seltsamerweise hing Ava gerne mit uns Älteren ab. Enge Freundinnen von ihr habe ich nie kennengelernt. Ich weiß nicht, wem sie damals nah war. Sie war noch zu jung, um eine Haltung zu den Themen zu entwickeln, die wir an unseren Küchentischen diskutierten.

Ich werfe die Papierserviette in den Mülleimer, setze mich auf die kleine Mauer neben dem Imbiss. Meine frühe Mittagspause ist immer knapp. Michel holt heute die Jungs zum Glück von der Schule ab und geht mit ihnen zum halbjährlichen Zahncheck.

Ich warte auf Carolins Nachricht und speichere Avas Nummer.

Das Telefon liegt in meiner Hand. Seltsam, ich habe Scheu, Ava anzurufen. Als würde ich vorsichtig einen Vorhang zurückziehen und in einen intimen Raum eindringen. Ob Ava immer noch gerne abends auf dem Balkon ein Glas Wein trinkt, noch immer inlineskatet wie damals am Rhein? Wie hatte Carolin gesagt: Sie hat sich ein wenig verändert, aber du kannst ja mit jedem reden, Bärbel. Das stimmt. Ich komme gerne mit Menschen ins Gespräch. Mit prominenten und weniger prominenten, die eine Geschichte zu erzählen haben. Das ist mein Beruf als Journalistin und Moderatorin, Fragen zu stellen, Antworten einzuordnen, nachzufragen. In fremde und vertraute Welten einzutauchen und zuzulassen, dass sich Begegnungen entwickeln. Neugierig sein.

Wird Ava reden? Mit mir? Fünfzehn Jahre haben wir uns nicht gesehen. Zuletzt auf dem Begräbnis ihrer Mutter. Damals war sie gerade mit dem Studium auf Lehramt fertig. Die Beisetzung war an einem regnerischen Nachmittag in Burscheid, einem Vorort von Köln im Bergischen Land. Als wir am Abend schon den zweiten oder dritten Beerdigungs-Schnaps aus der elterlichen Bar intus hatten, sagte Ava zu mir: »Du wirst in eine Familie einfach so hineingeboren. Ungefragt. Ungeschützt. Du musst es schaffen, irgendwie. Endlich hab’ ich Ruhe vor ihr. Kann mich wieder aufbauen.« Damals klang sie erleichtert über den Tod ihrer Mutter. Anders als Carolin, die fast heulend dauernd Käse- und Salamischnitten mit winzigen Gewürzgürkchen auf großen Tellern hin und her trug. Ich habe es damals nicht so ernst genommen und zu Ava gesagt: »Weißt du, ich glaube, deine Mutter hat jetzt endlich Ruhe von der ganzen Schufterei im Supermarkt. Noch in der letzten Phase der Chemotherapie hat sie an der Kasse gesessen, Kartons geschleppt und Regale aufgefüllt. Sie muss doch irre Schmerzen gehabt haben, nachdem der Krebs so gestreut hatte.« Ava hatte nur stumm mit den Schultern gezuckt und sich langsam ihr Daumennagelbett blutig gepult.

Daran muss ich denken, wie sie da eingesunken auf dem Sofa ihrer Eltern saß. Ein zu groß gewachsenes, alleingelassenes Kind. Irgendwie verloren sah sie aus. Dieses Bild von Ava kam immer bei mir hoch, wenn ich Carolin ab und zu nach ihr fragte. Ich verdrängte es schnell, es machte mir Angst.

Wie beginne ich, ein neues Band zu knüpfen zwischen ihrer und meiner Welt? Wo verläuft das zarte Fadenende zwischen unseren Herzen, nach dem ich greifen kann? Vielleicht mache ich mir ja auch viel zu viele Gedanken. Vielleicht braucht Ava nur ihr Lieblingsduschgel und die Flipflops aus ihrer Wohnung.

Ich wähle ihre Nummer.

Kapitel 2

Crocs

Ich hasse Krankenhäuser.

Mir wird übel, schon auf dem Weg dahin. Spätestens bei der Parkplatzsuche dreht sich mir der Magen um. Ich bekomme einen trockenen Mund, wenn ich nur die Einfahrt zur Notaufnahme sehe. Am liebsten will ich den Rückwärtsgang einlegen und es mir zu Hause gut gehen lassen. Vor der Klinik sitzen die Raucher herum. Drücken sich mit ihren Gipsbeinen, Kopfverbänden und geschienten Schultern um den Aschenbecher. Der Anblick von verwaschenen Bademänteln in der Öffentlichkeit deprimiert mich. Die Blicke der Kranken auf uns Gesunde beim Betreten des Haupteingangs haben etwas Sehnsuchtsvolles. Nimm mich mit, ich bin nicht dauerhaft defekt, scheinen mir die frisch Operierten zuflüstern zu wollen. Ich beschleunige meine Schritte und versuche, längere Blickkontakte zu meiden. Die unsichtbaren Krankheiten machen mir noch mehr Angst. Die Krebstumore, Herzinfarkte oder Schlaganfälle. Sobald ich durch eine Schiebetür oder Drehtür eine Klinik betrete, versuche ich mich im Apnoetauchen. Nicht atmen, lautet die Kernkompetenz dieser Sportler. Spätestens an der Informationsscheibe presse ich Luft raus.

»Wohhh liehhhhhgt bittä Frauuu Ava Helling?« Kein bisschen Atem holen ist mein erklärtes Ziel, bloß nichts von der infektiösen Krankenhausluft in meinen Körper reinlassen. Aber schon beim Nachnamen muss ich prustend ausatmen, wie ein Taucher nach zehn Metern Strecke unter Wasser, und wechsle notgedrungen wieder in den normalen Atemrhythmus.

Ich kenne niemanden, dem es leichtfällt, Angehörige und Freunde im Krankenhaus zu besuchen. Weil es uns die Verletzbarkeit des Lebens bewusst macht? Die Angst vor einer schlimmen Diagnose, der letzte Blick über die Schulter, und zurück im Krankenbett bleibt ein geliebter Mensch, der Geruch nach Alleinsein hängt über allem. Zeugt vom Ausgeschlossensein aus der Normalität. Abgestanden und kränklich der Luftzug in den Gängen, vom zähen Kampf der Patienten zurück in ihr altes Leben. Davon ahnen wir Besucher nur Nuancen. Ich wollte immer im Team »gesund« sein. Auf dem Weg zum Fahrstuhl muss ich an meinen Vater denken. Wie auch er über viele Monate mit unterschiedlichsten Ärzteteams um sein Leben gerungen hat. Eine Klinik, dann umgebettet in eine spezielle Herzklinik, zurück in die erste Klinik. Nach Hause verlegt, erneute Einweisung in die Herzklinik, danach Reha. Und schließlich: Palliativstation. Wie viele Wochen er aus einem Bett nach draußen geschaut und auf Besserung gehofft hat. Immer wieder sprach er sie aus, die Hoffnung. Und auf Besuch hat er gewartet.

Dritter Stock links hatte der Pförtner gesagt. Ich suche die Zimmernummer. Vorbei an der Teamküche, Dienstplänen und einer Pinnwand mit Angeboten für Besuche der katholischen Messe, der grünen Damen und Friseurbesuche direkt im Krankenhaus. Pfleger in weißen Hemden und mit bunten Crocs an den Füßen grüßen freundlich und überholen mich mit winzigen Tablettentöpfchen auf kleinen Tabletts. Ich frage mich, warum die hier alle Crocs tragen? Auf den Gummischuhen kleben bunte Tierchen und Emojis, vielleicht hebt das die Patientenstimmung. Eigentlich kenne ich die breiten Schuhe eher von Stränden. Sie haben diesen Schlurfsound, wenn man die Füße nicht richtig anhebt. Hunderte Male habe ich meinen Kindern gesagt, Jungs, Füße hoch. Darf man auf dieser Station auch arbeiten, wenn man nein zu diesen Gummitretern sagt?

Zimmer 218. Hinter dieser Tür liegt Ava.

Ich bin aufgeregt. Lieber hätte ich sie in einer Frankfurter Äppelwoi-Kneipe getroffen als jetzt hier am Krankenbett. So wie im Sommer vor fast zwanzig Jahren. Es war heiß. Sie saß im Innenhof, als ich mein Hollandrad außen anschloss, winkte mir zu. Strahlte. Carolin war noch im Büro, Überstunden. Ava und ich hatten Durst, wollten uns nicht noch später verabreden. Es war eines der wenigen Treffen ohne Carolin. Sie zog die dünne hellgrüne Strickjacke vom Stuhl, mit der sie ihn mir freigehalten hatte, und sagte: »Ich dachte schon, du kommst nicht. Hier, für dich.« Schöne Landrosen waren das in dem knisternden Papier.

»Für mich?«

»Ja. Als Dank, dass du mir den Tipp für das Zimmer in der neuen Frankfurt-WG gegeben hast.« Die Kellnerin brachte uns eine Vase und wir redeten über Avas Uniseminare, bei denen zwar Anwesenheitspflicht herrschte, es aber eigentlich egal war, ob sie erschien oder nicht. Ava war damals genervt von einer Lehramts-Kommilitonin, die sie immer wieder fragte, ob sie ihren Namen mit in die Liste eintragen könne, obwohl sie am Baggersee lag. Ava titschte durch das Frankfurter Nachtleben, ohne feste Beziehung, in wechselnden Wohngemeinschaften, jobbte in einem Café und träumte von den langen Sommerferien, in denen sie die Welt bereisen wollte.

An diesem Sommerabend erinnerten wir uns an einige Kandidaten in meinen Talkshows. Gäste, die so aufgeregt waren, dass sie nicht auftreten wollten, die Prominenten, die bei uns ihren Durchbruch starteten, das Gewimmel in den Gängen zwischen Maske und Gästeräumen, Verkabeln der Kandidaten, Warm-up, Publikumseinlass, letzte Details, die mit der Redaktion zu klären waren. Zwischen all dem immer meine französische Bulldogge Arni, die sich ihre Streicheleinheiten abholte oder so heftig furzte, dass wir schon vor der Corona-Pandemie das Stoßlüften kannten. Kandidatinnen, deren Ex-Mann, aktueller Lover oder Steuerfahnder als Überraschung nach der Live-Show vor der Studiotür den Sendungsgast erwartete. Und die fantastische Teamreise zu den Super-Quoten. Ava wusste, wovon ich sprach, kannte das Produktionsumfeld. Eine stille junge Frau, die rasch Zugang zu den aufgeregten Gästen fand. Manchmal nur durch kleine Gesten.

Es war schön mit Ava an diesem Abend in Frankfurt. Sie genoss ihr Leben in der neuen Stadt, schien zufrieden. Ich genoss dieses leichte Gleiten in den Abend mit ihr. Wir tranken sauer Gespritzten und bestellten Salatteller mit gegrilltem Ziegenkäse. Sie hatte diesen Tick, sich mit Schwung die langen Haare zu einem Knoten im Nacken zusammenzudrehen. Nach einigen Kopfbewegungen zerfiel der Knoten und die dunklen Haare rutschten ihr wieder über die Schulter, fielen ins Gesicht. Energisch strich sie sich ein Bündel hinters Ohr, bis die Knotenphase von vorne begann. Ich war fast ein wenig traurig, als Carolin doch noch abgekämpft aus dem Büro dazukam und mich von hinten kurz mit einem leichten Schubsen erschreckte. Fast zwanzig Sommer ist das her. Seitdem haben Ava und ich uns mal kurz zugewunken, wenn ich mit Carolin skypte und sie im Hintergrund herumlief. An welcher Schule sie in der Stadt unterrichtete, welche Fächer ihr am Herzen lagen, das alles wusste ich nicht. Wie sie mit ihrer zurückhaltenden Art wohl mit den Schülern und Eltern zurechtkam?

Ängstlich klopfe ich an Tür 218. Keine Antwort. Ich klopfe erneut. In die Stille hinein drücke ich zaghaft die Türklinke hinunter. Ich stecke den Kopf in das Zimmer. Abgestandene Krankenzimmerluft schlägt mir entgegen.

»Ava?«

Zwei, drei kleine Schritte gehe ich ins Zimmer, lasse die Tür einen Spalt offen stehen. Erneut spreche ich den mir zugedrehten Rücken an: »Ava, hier ist Bärbel. Schläfst du?«

Langsam zieht eine bandagierte Hand die Bettdecke hoch zur Schulter. Leichtes Stöhnen. Zart berühre ich ihren Rücken, streichele über das Klinikhemd: »Carolin hat mich angerufen. Wie geht es dir denn?« Schritt für Schritt gehe ich um sie herum. Meine Hände gleiten über den Bettrahmen. Die Nachmittagssonne scheint durch die Vorhänge. Müde sieht sie aus und ein bisschen wie ihre Mutter. Wie jemand, der lange nicht mehr an der frischen Luft war. Von der linken Schläfe bis weit unter das zugeschwollene linke Auge zieht sich ein dunkelblauer Fleck. Färbt auch das linke Lid und den Wangenknochen in dieser fiesen Prügelfarbe ein.

»Bist du in eine Schlägerei geraten?«

»Wieso?«

»Sieht übel aus.«

Sie schließt die Augen und atmet genervt aus. »Und was geht dich das an?«

»Ähmm … Ich meine ja nur. Wenn es mir schon wehtut, das zu sehen, hoffe ich, dein Gegner hat auch was abbekommen.«

»Wenn, dann verletze ich mich eher selbst.«

»Hast du Schmerzen?«

Ava lacht gequält. »Nein. Ich bin gedimmt, vollgepumpt mit Chemie. Was willst du hier? Musst du nicht moderieren oder so was?«

Ich ziehe mir einen Stuhl an ihr Bett und schlage die Beine übereinander.

»Mach es dir hier erst gar nicht gemütlich. Und Caro kannst du sagen, ich brauche keinen Babysitter, ich bin okay.«

Ich nicke etwas dümmlich und blicke auf ihre ausgelatschten Turnschuhe, die unter ihrem Bett stehen. Wir sind beide schweigsam. Irgendwann unangenehm lange.

»Vorgestern haben sie mich eingeliefert und die Schnitte am linken Handgelenk gleich genäht. Alles gut. Ich habe nur versucht, einen Glastisch in meine Wohnung zu schleppen, und der ist mir blöde aus den Händen geglitten.«

»Carolin sagt, du bist irgendwo runtergefallen.«

»Nö. Eher draufgefallen. Meine Schwerkraft und die der Glasplatte haben uns zu Boden gerissen. Siehst du ja. Im Dunklen habe ich nicht gesehen, dass die eine Ecke eine abgebrochene Kante hatte, an der ich mich blöd geschnitten habe. Na und! Bleibt eben eine fiese Narbe. Auch egal.«

Sie drückt vorsichtig an ihrem Verband.

»Ich brauche hier keinen Aufpasser. Ich brauche auch keine Unterhaltung. Klappst du noch bitte das Fenster auf, bevor du gehst?« Sie rollt sich wieder ein und nimmt eine abweisende Schlafposition ein.

»Und wieso schleppst du nachts Glasplatten in deine Wohnung?«

Schweigen unter der Bettdecke, die sich regelmäßig hebt und senkt.

»Und wieso stellst du so viele Fragen? Hängt hier ein Mikro? Du bist hier nicht bei der Arbeit, Bärbel. Geht dich nichts an«, blafft sie mich aus der Bettdecke an.

Ich schaue auf die Uhr. Poliere das Ziffernblatt mit meinem Ärmel. Nach acht Stunden Arbeit hätte ich auch mehr Lust, mit einem Kaffee in der Wintersonne am Main zu sitzen. Ich versuche, ruhig zu atmen. Mein Blick schweift über Avas Nachttisch. Kein Ladekabel, kein Handy. Weder Buch noch Blumen. Nur eine Flasche Sprudelwasser und ein Glas. Ich bin müde. Die Stille der Klinik drückt auf meine Lider. Nach einigen Minuten fasse ich Mut, hole Luft und frage den mir zugewandten Rücken: »Brauchst du irgendwas?«

»Komm’ schon klar.«

Ich schreibe meine Handynummer auf eine leere Ecke in meinem Kalender. Reiße die Seite langsam raus und lege sie auf den Nachttisch.

Dieser Klinikkosmos, das Abgeschnittensein vom Alltag ziehen mich runter. Ich helfe gerne, aber ein bisschen netter könnte Ava schon sein. Was geht mich Carolins Schwester eigentlich an? Wieso hocke ich hier noch rum? Ava ist alt genug, um selbst zu wissen, was sie braucht. Liegt es daran, dass ich immer helfe, wenn mich jemand um etwas bittet?

Wenn sich beim Elternabend niemand zum Elternsprecher wählen lassen will, alle die Köpfe in den Handtaschen vergraben, sage ich viel zu voreilig: »Okay, dann mache ich es.« Auf dem Sommerfest der Schule verkaufe ich Grillwürstchen, ich führe Geburtstagslisten und rufe pünktlich an, räume in der Teamküche die abgestellten Kollegenteller ein und ärgere mich dabei ab und zu über mich selbst. Nichts Weltbewegendes, ich helfe, ich packe an. Manchmal muss man mich nicht bitten, und ich tue es trotzdem. Vielleicht muss ich lernen, öfter nein zu sagen.

»Ava, weinst du?«

Kapitel 3

Schwaches Herz

Langsam surrt der Klinikfahrstuhl Richtung Erdgeschoss.

Ich fühle mich erschöpft. Abperlen hat Ava mich lassen. Wie Tropfen an einem Regenmantel bin ich an ihr abgerutscht. Kein Kontakt. Nicht den winzigsten Türspalt hat sie geöffnet. Ich hätte gerne ein wenig länger bei ihr gesessen. Als die Tränen aus ihrem grün-blau angelaufenen Auge liefen, hat Ava mich für wenige Sekunden fixiert. Ihre Augen geschlossen. Mich erneut fixiert. Verloren sah sie aus. Ein Blick, wimpernrandvoll mit hoffnungsloser Trauer. Weder ihre lebenshungrige Sehnsucht, Neugier oder das schiefe Ava-Lächeln aus früheren Kölner Zeiten waren darin zu finden. Eine tiefe, ausgrenzende, sich schützen wollende Traurigkeit.

Zuletzt habe ich diesen Blick in den Augen meines Vaters auf der Palliativstation gesehen. Bis in meine Fingerspitzen schießt mir die Erinnerung an die überfordernde Anstrengung, als mein Vater vor einigen Sommern begann, Abschied zu nehmen. Während seine Welt immer mehr zusammenschrumpfte, unsere gemeinsame Welt. Im Wenigerwerden seines Lebens veränderten sich auch seine Augen. Ich fuhr oft in solchen Fahrstühlen zu ihm rauf in die Bremer Herzklinik. Die Tür öffnete sich mit einem saugenden Schmatzen und ich blickte ängstlich auf mein vertrautes Leben, das zerbröselte wie eine Hinterhofmauer. Der alte Kalk rieselte aus den Lebensritzen. Die Nieren meines Vaters machten nicht mehr mit, selbst eine Nierendiät sorgte nicht für Besserung. Sein Körper blähte sich auf, das Wasser in den Beinen, am Bauch wurde regelmäßig abgepumpt. Der Körper fiel danach zusammen wie ein Luftballon und pumpte sich wieder auf, ohne Filterfunktion für all die Medikamente. Dazu sein schwaches Herz.

Mit kleinen Stürzen, dem Angewiesensein auf eine Gehhilfe, dem unvermeidlichen Bordsteinstolpern, Platzwunden und Sich-Ausschließen aus der Wohnung fing es an. Sein Rückzug aus dem selbstbestimmten Leben. Nachts konnte er nicht mehr auf der Autobahn fahren, vergaß die EC-Karte an der Supermarktkasse und fiel aus dem Bett. Immer öfter. Er entfernte sich von sich selbst, wurde ängstlicher. Wie das wohl ist, wenn man das Zutrauen in sich verliert? Ich fuhr, sooft es neben meinem Familienalltag und den Jobs ging, hoch in den Norden. Manchmal nur, um ihm den Joghurtbecher zu öffnen, die Bettdecke aufzuschütteln oder ihm beim Schlafen in der Klinik zuzuschauen. Um Momente einzufangen mit meinem Erinnerungskescher. Für das Danach. Festhalten, was nicht mehr festzuhalten war.

Es waren Wochen und Monate zwischen den Zeiten. Die Klinikgegenwart mit ihren Kanülen, blau unterlaufenen Handrücken, den Altersflecken, der schweren Müdigkeit des Körpers. Der Versuch, wieder zu funktionieren, in die Senkrechte zu kommen, und die flach gelegenen Haare am Hinterkopf. Es waren Tage, an denen mein Vater es oft nur schaffte, in den hellen Bademantel zu schlüpfen, um auf der Bettkante sitzend schon wieder erschöpft zusammenzusacken. Es gab Tage, an denen er sich nicht mehr anziehen oder selbst waschen konnte. Die Scham vor dem Nichtmehrkönnen wurde mehr. Der Wille, es schaffen zu wollen, selbst zu schaffen, schrumpfte. Sein Lebenswille ballte nur noch schwach die Faust. Er war bereit aufzugeben. Zum ersten Mal, nach Herzinfarkt, Stent-Operationen, Darmeingriffen und Nierenproblemen. Die langen Stunden alleine im Krankenbett. Das sehnende Warten, den nächsten Frühling noch einmal zu erleben. Die Enkelkinder zu umarmen.

Unsere Stunden am Krankenbett mit Unterschriften, Vollmachten und Erinnerungen. An die gemeinsamen Nordseeurlaube, als die Liebe meiner Eltern noch hielt. Milchreisessen im Strandkorb, warmgerubbelt werden in einem übergroßen Handtuch nach dem Schwimmen in eiskalten Wellen. Unsere Gespräche kosteten ihn Kraft. Kraft, die er nun kaum noch hatte. Ein vorvorletztes und noch ein vorletztes Beisammensein, sich mit Worten berühren, die vertraute Stimme hören, Abschiednehmen und dabei säuerliche Braeburn-Äpfel in dünne Schnitze schneiden.

Vielleicht war er in diesen zarten Vater-Tochter-Augenblicken stundenweise weniger einsam. Wir nannten die strittigen Geister der Enttäuschung, der Vergangenheit nicht beim Namen. Wir mieden Geschichten, die nicht gut zwischen uns ausgegangen waren, und kratzten nicht an biographischen Wunden. Wir saßen einfach zusammen in diesem anonymen Zimmer, an dessen Fenster seine Freundin Papierblüten geklebt hatte. Glanzpapieroptimismus. Stattdessen hörten wir Musik von Rod Stewart. Mein Vater war ein spießiger Mensch, der gerne seine hanseatische Prinz-Heinrich-Mütze in Marineblau trug und weder wie Rod Stewart auf langbeinige Blondinen stand noch dessen alkoholgetränktes Rockstarleben führte. Für meinen Vater war es schon ein abgedrehter Nachmittag, wenn er in seinem weißen Volvo-Kombi nach Worpswede fuhr, sich ein Ticket für die Paula-Modersohn-Becker-Ausstellung kaufte und hinterher Apfelkuchen mit Schlagsahne aß. Ich habe mir immer mehr Rockstar in ihm gewünscht. Dafür war er verlässlich und hat Menschen in Norddeutschland mit Duschkabinen versorgt.

Ich glaube, er war oft einsam. Auf seinen Verkaufstouren zu den Kunden saß er alleine im Auto, als Handlungsreisender musste er in den Geschäften oft lange warten, bis die Inhaber Zeit für die Bestellungen hatten, dazu die einsamen Nächte in einfacheren Garni-Hotels, das Nachhausekommen in ein leeres Haus. Nach der Scheidung meiner Eltern saß er nach Feierabend alleine in der gelben Küche mit der bräunlich-orangefarbigen Tapete und schmierte sich seine Abendstullen mit Gewürzgürkchen. Allein. Die Worte für das Alleinsein fand er nie, vielleicht aus Scham. Ein Mann Ende vierzig nach einem Herzinfarkt, geschieden, alleinlebend. Als Mini-Macho seiner Generation suchte er sich jemanden, der da war, Wäsche wusch, kochen konnte. Alltag und Urlaube teilte. Konnte mein Vater lieben? Konnte er sein Herz öffnen und wirklich reden, sagen, was ihm fehlte? Liebe schenken? Er war oft kontrolliert, im Versprühen von Zuneigung hatte er richtige Ladehemmungen. Wärme zu geben hatte er von meinen Großeltern nicht gelernt. Papa gab uns Kindern lieber die ausgestreckte Hand zur Begrüßung.

Heute würde ich gerne von ihm wissen, wie sich seine Einsamkeit angefühlt hat. Alleine unterwegs auf den Landstraßen. Dienstreisen. Am Wochenende, nach der Scheidung, alleine zu Hause. Wir Kinder waren im Aufbruch, Studium, erste Lieben, erste eigene Zimmer in WGs, Wohnortwechsel, die neue Stadt erobern. Abgrenzung vom Kindsein, und wenn wir nach Hause fuhren, wollten wir unsere Freunde sehen und nicht in das Netz der Traurigkeit und Einsamkeit unseres Vaters eingewickelt werden.

Ob Ava auch in diesem Netz zappelt?

Kapitel 4

Supalonely