Eine Herde Schafe, ein Paar Gummistiefel und ein anderer Blick aufs Leben - Bärbel Schäfer - E-Book
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Eine Herde Schafe, ein Paar Gummistiefel und ein anderer Blick aufs Leben E-Book

Bärbel Schäfer

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Beschreibung

Von der Landlust einer Stadtfrau

Endlich mal wieder raus aus dem Büro, in der Natur sein, mit den Händen arbeiten: das ist eine Sehnsucht, die viele teilen. Auch Bärbel Schäfer. Doch träumen allein hilft ja nichts, und so beschließt sie, einen Selbstversuch zu wagen. Ein Jahr lang begleitet sie einen Schäfer bei seiner Arbeit, um selbst herauszufinden, was Hirten im Jahrtausendelangen Miteinander von Mensch, Tier und Natur gelernt haben.

Bärbel Schäfer tauscht ihre weißen Sneakers gegen schlammige Gummistiefel und packt bei Wind und Wetter auf dem Hof und auf der Weide mit an. Dabei lernt sie nicht nur eine Menge über das faszinierende Wesen der Schafe, gelebten Umweltschutz und das Landleben, sondern auch über sich selbst. Denn es kann ein großes Glück darin liegen, etwas völlig Neues zu wagen.

»Ich bin mit Schafen aufgewachsen. Die sterbende Welt von Schäfern und ihren Herden in diesem Buch neu zu entdecken, ist ein Abenteuer für den Geist und für die Seele.« (Dirk Steffens, Wissenschaftsjournalist und Moderator)

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Seitenzahl: 310

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Von der Landlust einer Stadtfrau

Endlich mal wieder raus aus dem Büro, in der Natur sein, mit den Händen arbeiten: Diese Sehnsucht kennen viele, auch Bärbel Schäfer. Und so beschließt sie, einen Selbstversuch zu wagen.

Ein Jahr lang begleitet sie einen Schäfer bei seiner Arbeit, um selbst herauszufinden, was Hirten im jahrtausendelangen Miteinander von Natur, Tier und Mensch gelernt haben. Und dabei lernt sie nicht nur eine Menge über Schafe, sondern auch für das eigene Leben.

BÄRBEL SCHÄFER

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.Die Ereignisse in diesem Buch sind größtenteils so geschehen, wie hier wiedergegeben. Für den dramatischen Effekt und aus Gründen des Personenschutzes sind jedoch einige Namen und Ereignisse so verfremdet worden, dass die darin handelnden Personen nicht erkennbar sind.

Copyright © 2023 Kösel-Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München

Umschlagmotive: Nicci Kuhn Photography; FinePic®, München

Fotos innen: Nicci Kuhn Photography

Schaf-Illustrationen: czibo/stock.adobe.com

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-29861-6V002

www.koesel.de

Inhalt

Prolog

Zurück zur Natur

oder wie ich aufs Schaf kam

Frühling

Mission Schaf startet

Der erste Besuch beim Schäfer

Einsatz am Limit

Umzug mit Herde

Weidefrieden in einer brodelnden Welt

Gute Gründe für die Sehnsucht nach Idylle

Care-Arbeit auf der Weide

Von SUPERMOMS, Biestmilch und Ego-Böcken

Die Schäfer und die anderen Schäfer, Teil 1

Gespräch mit Hobbyschäferin und PR-Managerin Bianca

Sommer

Es geht an die Wolle

Vom Schafescheren

Fürsorge für Maschinen und Suchtrupps für Kitze

Die Erntezeit beginnt

Meine Gurus haben Fell

Lektionen im Entschleunigen

Die Schäfer und die anderen Schäfer, Teil 2

Gespräch mit Annette von Pappenheim, Landwirtin, Tierheilpraktikerin und Schafbesitzerin

Klauen schneiden und Wunden heilen

Gesundheitsfürsorge für Schafe

Herbst

Schützen, was wir lieben

Es braucht mehr Menschen wie Herrn Keil

Führen wie ein Hirte

Was Schafe uns über Teamwork lehren können

Mein Partner mit der feuchten Schnauze

Was ich von Hunden übers (Be-)Hüten gelernt habe

Ruhig öfter zickig sein

Über Ziegen und Freundschaft auf der Weide

Winter

Wer hat Angst vor Isegrim?

Über die Rückkehr der Wölfe

Festgefahren und zwiegespalten

Ein Traktor in Not und ein Weide-Azubi mit Gewissensbissen

Wenn die Schäferschippe trendet

Über altes Handwerk und neue Landlust

Wenn das Leben dir Brennnesseln gibt

Fast doch noch ein Sieg für den inneren Schweinehund

Vom Töten

Über Respekt und Tierwohl beim Schlachten

Epilog

Das Jahr geht zu Ende

Quellenangaben

Dank

Für M. und S. und O.

Prolog

Der letzte Haken schließt den Pferch. Geschafft. Meine Finger sind steif vor Kälte. Alle Schafe und die wenigen Ziegen stehen dicht gedrängt zusammen. Der Wind pfeift uns um die Ohren und meine Oberarme schmerzen, weil wir zuvor noch die schweren Batterieblöcke über die Wiese geschleppt haben. Die brauchen wir, damit Strom durch den Draht fließt, wenn wir die Weide verlassen. Damit die Herde sicher ist. Ich lehne mich auf den Zaun und warte. Der Morgentau liegt noch selbstbewusst auf den Grashalmen, meine Atemwolken tanzen über den Köpfen der Schafe. Ich entspanne mich, spüre die schwere Erde unter meinen Füßen.

Den Pferch haben wir heute aus alten Holzgattern gebaut, gemischt mit neuen Elementen aus Metallgittern. Die Gatter lagen auf dem Anhänger, ehrlich gesagt haben sie nicht mehr alle Latten korrekt am Zaun. Doch der Schäfer wollte sie noch mal benutzen, obwohl die Witterung und die Jahre sie an den Kanten haben splittern und morsch werden lassen. Ich lehne vorsichtshalber lieber an einem der neuen Stahlgitter und lasse den Blick über die Tiere schweifen. Reibe meine behandschuhten Hände aneinander. Atme einen Hauch Wärme in die dünnen Fingerlinge.

Warten habe ich gelernt in den letzten Monaten. Nicht drängeln, nichts dazwischenrufen, es hat seinen Grund, wenn etwas länger dauert. Langsam fühle ich mich sicherer im Umgang mit der Herde. Der Schäfer bückt sich noch immer tief über den Batterieblock. Der schneidende Wind zerrt an den ausgeleierten T-Shirts und Socken am Zaun, die Wildtiere abschrecken sollen.

Doch dann, plötzlich: Ohne Vorwarnung bricht Hektik aus. Die Herde wird auf der eng zusammengedrängten Fläche von einer Sekunde auf die andere unruhig. Die Schafe heben ihre Köpfe, recken die Hälse, wollen sich Platz verschaffen, einige bäumen sich auf. Ich versuche zu verstehen, was hier gerade passiert. Ist eine Nutria aus dem benachbarten Bach über die Weide geschossen und zwischen die Beine der Tiere gehuscht? Nichts dergleichen. Ich versuche die Tiere mit meiner Stimme zu beruhigen, einzelne Schafe zu streicheln, und gehe einige Meter um die Absperrungen herum. Das Holzgatter spannt sich gefährlich, wenn die Herde so unruhig bleibt, wird es dem Druck nicht standhalten.

Ich entdecke einen Spalt zwischen den Holzplanken und dem Metallgatter. Auch eines der Schafe hat ihn entdeckt. Es drückt dagegen und mäht so laut, als wollte es den anderen davon berichten. Die Atmung des Tieres geht schnell. Hinter ihm schiebt sich mit ganzer Körperkraft ein zweites Schaf gegen die Holzlatten. Alle wollen plötzlich raus. Das erste Tier quetscht sich durch den Spalt und der Rest der Truppe versucht ihm zu folgen. Bocksprünge und Herdentrieb. Der Druck, der vereinte Wille der Herde wird so stark, dass ich als einzelnes Gegenüber machtlos bin. Sie entwickelt eine solche Dynamik und Kraft, dass innerhalb von wenigen Sekunden drei große Elemente des Zauns zerborsten vor mir liegen. Ich versuche mit weit ausgestreckten Armen die Herde zurückzudrängen, keine Chance. Meine Arbeit von einer Stunde ist innerhalb von Sekunden dahin. Wie ein wolliger Tsunami fegen, drücken, drängeln alle Schafe an mir vorbei, als stünde der Boden des Pferchs unter Strom. Keines bleibt im Rondell zurück.

Ich sammele die zerbrochenen Latten ein und werfe sie auf einen Haufen, achte auf rostige Nägel im morschen Holz. Jetzt muss ich den Pferch erneut aufbauen. Wir können die Weide erst verlassen, wenn die Arbeit getan ist. Werden die Schafe auf uns hören, wenn wir sie wieder dort versammeln wollen, um endlich ihre Klauen zu kontrollieren? Auf die Uhr schaue ich nicht mehr. Zeit ist relativ. Aufgewühlt stehen die Tiere einige Meter entfernt auf der Weide. Nach und nach beginnen sie in kleinen Grüppchen zu grasen.

Was war das für eine Aktion? Der Schäfer dreht sich um, schüttelt stumm den Kopf. So viele Monate bin ich nun schon dabei, ich dachte ich könnte es besser. Die Tiere und die Natur fordern mich immer wieder neu heraus. Aber ich wollte es ja nicht anders …

Zurück zur Natur

oder wie ich aufs Schaf kam

Liebe Leser und Leserinnen, naturnahe Landbewohner*innen und betonerfahrene Stadtbewohner*innen. Ich mag das Draußensein. War mal ein frischluftgefülltes Deichkind, Wattkind und Matschkind. Ich stromerte stundenlang über Wiesen, stand mit Gummistiefeln in Bächen, um Stichlinge zu keschern, hämmerte Baumhäuser zusammen, zog Steckrüben mit den Bauern und verfolgte schleimige Spuren im feuchten Gras, um den Schnecken ein neues Zuhause auf dem Balkon unserer Dreizimmerwohnung im ersten Stock eines Mehrfamilienhauses einzurichten. Ich war ein Vorortkind.

Unbestritten – das ist sehr lange her.

Dann kamen Jahre in Klassenzimmern, Umzüge in verdichtete Innenstädte, Hörsäle, Redaktionsräume. Konstant umhüllten mich Wände von WGs, Büros oder TV-Studios. Ich parkte in Tiefgaragen, trainierte in Fitnessstudios und erholte mich zu Hause in meinen vier Wänden. Wenig Draußensein. Kaum Zeit, Wolken zu betrachten, für Vogelschwärme oder blühende Wiesen.

Stattdessen war ich umgeben von meterlangen mehrfarbigen Kabelrollen, unterarmdicken Ladekabeln und Ü-Wagen-Technik. In all den On-air-Jahren meiner täglichen Talkshow und während des Aufbaus meiner Produktionsfirma hätte ich bestimmt nicht ein einziges Mal frischen Sauerstoff in die Lungenflügel bekommen, wäre da nicht Arni gewesen, meine flatulenzfreudige, fawn-farbige französische Bulldogge.

Zugegeben, Arni war alles andere als ein feingliedriger, langbeiniger Langstreckenläufer. Mehr der Typ Couch-Potato. Gemütlich eben. Wollte man selbst den entspanntesten Platz auf dem Sofa einnehmen, musste man erst den Hund vertreiben. Aber auch der kurzbeinigste Dauerschläfer muss Gassigehen. Ohne Arni hätte sich mein Leben ausschließlich zwischen Wohnung-Studio-Hotel-Produktionshallen-Redaktionskonferenzen-Wohnung-Studio-Hotel abgespielt.

Ich wusste kaum noch, wie sich Jahreszeiten anfühlen und konnte eine Distel nicht von einem Löwenzahn unterscheiden. Das sollte Jahrzehnte so bleiben. Die Natur und ich, wir entfernten uns, wurden uns fremd und fremder, bis wir uns aus den Augen verloren. Uns sogar nicht einmal mehr vermissten.

Ich schwamm zufrieden in Hallenbädern, nicht mehr im See. Keine grünen Schlingpflanzen, kein modriger Untergrund. Naturvermeidungsstrategie. Mir fehlte nichts, noch nicht. Mit viel zu PS-lastigen allradangetriebenen Autos habe ich Parkplätze in der Innenstadt gesucht, wie andere beim Rubbellos den Hauptgewinn. War kaum mit dem Rad unterwegs. Benutzte einen Regenschirm beim ersten Tröpfeln und sprang zum Schutz vor dem feuchten Frisur-Zerstörer schneller in einen Hauseingang als Ex-Prinz Harry nach der Eheschließung Schloss Windsor verlassen hat.

So verpasste ich viel. Das Glück, auf einer Wiese zu liegen und tief einzuatmen, das Summen der Insekten im Ohr, den Duft von Wildblumen. Mein Gesicht in das regennasse Prasseln zu halten. Statt Sonnentage im hessischen Umland zu genießen, flog ich Langstrecke, um in fernen Ländern in der Sonne zu liegen. Ich wollte mir die Schuhe nicht versauen, lief nicht mehr durch den matschigen, herbstfeuchten Wald. Ein naturnaher Alltag und mein tatsächliches Leben waren so weit voneinander entfernt wie Elon Musk und die Sorge um den Sozialversicherungsschutz seiner Mitarbeitenden.

Eigentlich genoss ich Natur nur noch beim Kochen, der Spinat sollte dann doch Bio sein. Über das Leben auf dem Land machte ich mir wenig Gedanken. Mein Biotop war die Innenstadt. 24/7 Tankstelle. Energydrinks. Urban. Altbau, Fahrstuhl, dritter Stock mit Balkon und WLAN. Kein Garten, kein Hochbeet, kein Rasenmäher in der Garage, keine Gummistiefel im Schrank. Ich weiß, wie man online seinen Lieblingstisch im Restaurant bestellt, seinen Insta-Feed pflegt. Zu »Wolken« fällt mir als Erstes die Speicherkapazität meiner Cloud ein. Sonntags bewege ich die Regler an meinem Hörfunkstudiopult, das aussieht, als könnte ich damit problemlos ein Kleinflugzeug starten. Ich treffe Musiker*innen, Schauspieler*innen und Autor*innen für meine zahlreichen Interviews, oft online, mittels Zoom oder Teams. Das Leben ist immer technischer, immer digitaler geworden.

Und dann kam dieser Dezembermorgen. Es begann mit einer letzten Warnung, bevor wir getrennt wurden. Ursache: niedriger Batteriestatus. Einen halben Satz noch gesprochen, dann Funkstille. Mein Telefon gab energielos auf und mein Ladekabel lag zu Hause. Ein schwarzes Display. Mein geliebtes Schaf: verschwunden. Das Schaf ist mein Hintergrundbild, der Fotograf Walter Schels hat es 1984 aufgenommen, das war mein Abiturjahr in Bremen. Das Schaf blickt offen und unverstellt ins Objektiv, es wirkt wie eine Erinnerung aus einer anderen Zeit. Diese Fotografie begleitet mich seit Jahren. Das Schaf will nicht gefallen. Es schaut mich an, wenn ich den Geheimcode eingebe, wenn ich auf dem Handy nach der Uhrzeit schaue. Ein stiller Alltagszeuge und Wegbegleiter. Der eindringliche, wissende Blick des Tieres beruhigt mich, beschützt mich. Es ist ein zauberhaftes Rätsel, eine Erinnerung, dieses Tier.

Schafe faszinieren mich seit frühester Kindheit. Sie sind mir auf vielen Spaziergängen mit meinen Großeltern in der Lüneburger Heide begegnet. Wir waren Wochenendspaziergänger, und in der Wacholderheide kam uns oft ein Schäfer mit seiner großen Herde entgegen. Durch alle Jahreszeiten liefen sie über sandige Wanderwege und saftige Wiesen. Vielleicht fünfhundert, sechshundert Tiere hatte er bei sich. Die Hunde trieben die Herde unter Gebell manchmal auch in unsere Richtung. Auf diesen Augenblick wartete ich bei jedem Ausflug sehnsüchtig: dass sich die Wege der Herde und die unserer Familie wieder kreuzten.

Manchmal hatte ich Glück, dann kribbelte in mir die aufgeregte Vorfreude. Die winzigen Glöckchen der Schafe bimmelten, die Hunde wendeten ihren Blick kaum vom Schäfer ab. Dieser ging beständig voran. Gab ihnen versteckte Zeichen, schnalzte. Er vertraute den Hunden, die mal den Abschluss bildeten und mal die Seiten flankierten. Ab und zu ein kurzer Befehl, ein Schulterblick. Kein Lehrer hatte unsere Klasse so im Griff. Die Tiere waren wie ein kraftvoller Schwarm, der zusammenhielt und ständig die Form veränderte. Mal breiter, mal schmaler wurde, an den Rändern ausfranste, dann wieder wie ein längliches dünnes Rinnsal wirkte. Sie kamen auf uns zu wie eine riesige Welle aus Wolle.

In den Sommermonaten kündigte eine Staubwolke ihr Kommen an. Dann bremste der Schäfer das Tempo der Herde ein wenig ab, nur durch ein leichtes Anheben des Arms. Meine Großmutter nahm mich fest an die Hand. Wir standen ganz still seitlich des Wanderwegs. Der Schäfer grüßte freundlich und ging an uns vorbei. Einige Tiere fraßen noch schnell im Gehen etwas vom Wegrand, rupften hastig an herabhängenden Ästen. Und wie das Wasser im Fluss einen Stein umschließt, stand ich mit meiner Oma plötzlich mitten in der Herde. Die Heidschnucken umspülten uns. Sie berührten uns nicht, schauten höchstens kurz hoch und liefen weiter. Ich streckte die Hand aus und ließ sie über die Schafsrücken gleiten. Zu kurz mein Glück. Ich wollte mehr davon.

Unsere Route führte über endlose Wiesenwege und auch an den reetgedeckten, geklinkerten Höfen der Schäfereien vorbei. Die Schafe dort verfolgten uns mit Blicken, wir sahen uns an. Die Schafe auf der Weide und wir, die Sonntagsspaziergänger auf der anderen Seite des Zauns. Oft lagen die Tiere satt im Gras oder dösten im Schatten eines Baumes. Doch sie konnten sich auch ruckartig in eine vierbeinige Panikattacke verwandeln. Ohne erkennbaren Grund waren sie durch etwas gewarnt worden und stoben auf, vollführten Bocksprünge, bei denen selbst Fabian Hambüchen neidisch würde. Alle rannten in eine Richtung, gezogen von einem unsichtbaren Band.

Als wir auf einem dieser Sonntagsspaziergänge wieder an einem Gehöft vorbeikamen, unterhielten meine Großeltern sich mit dem Schäfer, der dort gerade Heu zusammenfegte. Er schaute auf und sprach mit ihnen, als wenn es nichts Wichtigeres auf der Welt gäbe als sich jetzt auf diese Städter zu konzentrieren. Sie lachten miteinander. Mein Opa wedelte mit den abgewinkelten Armen, als ob er abheben wollte. Erzählte von Hühnern im Garten seiner Kindheit, den damals üblichen Hausschlachtungen und deutete auf mich. Fragte, ob seine Enkelin ein Schaf aus der Nähe betrachten dürfte. Der Schäfer nickte mir freundlich zu und wir folgten ihm in den Stall.

Meine Augen brauchten einige Sekunden, um sich an das dämmrige Licht zu gewöhnen. Drinnen ruhten Mutterschafe mit ihren neugeborenen Lämmern. Es war angenehm warm und ganz still, wie in einer kuscheligen Höhle, die Außenwelt wie abgeschnitten. Friedlich wirkte es im Stall. Ich beugte mich langsam herunter, beobachtete die Tiere. Auf diesen wenigen Quadratmetern drehte sich alles nur um die Lämmchen. Planet Schaf. Die ersten wackeligen Schritte auf dem Weg ins Leben, Vorbereitung auf das Grünland. Durch die verstaubten Fenster fiel Sonnenlicht auf das plattgelegene Stroh. Ich kniete bei einem Lämmchen und schaute zu, wie es auf seinen dünnen Beinchen gierig trank. Stunden hätte ich so sitzen können, doch mein Opa stupste mich an die Schulter.

Diese behütete Szene trage ich seither in mir. Ich glaube, es war an diesem Nachmittag, dass ich die Schafe tief in mein Herz schloss. Vielleicht gibt es klügere Tiere als Schafe, zum Beispiel Orang-Utans oder Raben. Aber Schafe erobern die Herzen mit ihrem Blick, ihrer Sanftheit und schüchternen Wärme.

Unerschütterlich versuchte ich weiterhin freilaufende Schafe auf Nordseedeichen zu streicheln, aber die liefen immer wieder weg. Nicht nur vor mir, auch vor meinem Bruder und unseren Cousinen. Irgendwann nahmen wir Kinder es fast persönlich, doch selbst das geduldigste Schaf hat nicht immer Interesse daran, von Touristen am Hintern oder zwischen den Ohren getätschelt zu werden. Wir brauchten also einen Schafeplan. Wir atmeten tief durch und überlegten. Vielleicht könnten wir sie mit unseren legendären Deichrollen neugierig machen und anlocken? Wir legten uns ausgestreckt an den oberen Deichrand, einer packte die Füße des anderen und dann ging es deichabwärts. Nur nicht loslassen. Wir trugen weiße Shirts, rollten uns absichtlich über die Schafskötelhaufen. Hofften, dass uns die Herde mit dieser perfekten Tarnung akzeptieren würde. Olfaktorisch und farblich stimmte alles, nur die abschreckende Wirkung unseres aufrechten Gangs hatten wir unterschätzt.

Nach der strengen Standpauke meiner Mutter in der nahegelegenen Ferienpension begruben wir in diesen Sommerferien dann unseren Traum, einmal ein Schaf fest zu knuddeln. Wir packten die Koffer und bald hatte die Schule uns wieder im Griff.

Die Jahre vergingen und ich rollte keine Deiche mehr hinab. Nach dem Abitur arbeitete ich in den Sommerferien auf der Nordseeinsel Norderney und fuhr mit dem Hollandrad über die Deichrücken, durchquerte dabei die Weiden der frei laufenden wolligen Inselschafe. Mit meiner ersten eigenen Polaroidkamera fotografierte ich die Schafe in den weitläufigen Salzwiesen. Sie schauten mal ängstlich, gelangweilt oder abwartend. Aus der Distanz behielten sie mich im Auge.

Ihre Ruhe fasziniert mich bis heute, weil zu meiner Persönlichkeit auch immer wieder aufflammende Hektik, Nervosität oder überbordende Energie gehören. Schafe chillen. Ich leider zu selten. Und wenn Schafe nicht chillen, fressen sie. Wenn Schafe weder chillen noch fressen, folgen sie dem Schäfer. In der Nähe dieser Tiere fährt mein Puls regelmäßig runter. Schafe anzuschauen, entspannt. Definitiv.

An jenem Dezembertag, als mein Handy mich so sträflich im Stich gelassen hat und ich mit leerem Akku im Büro sitze, muss ich plötzlich an die Deichschafe denken. Mein Blick hebt sich vom toten Telefon. Ich lasse ihn langsam schweifen. Schaue von meinem Büro aus in den Innenhof des Radiosenders. Ich muss mich vorbeugen, um ein Stück Himmel zu erhaschen. Um mich herum im Studio ist viel Technik, der Raum von künstlichem Licht erhellt. Ich liebe meine Arbeit, und trotzdem … Was ist es, dass ich erst zaghaft, dann immer fordernder in mir wahrnehme? Ich blicke erneut aus dem Fenster, bemerke den Wind, der an den Büschen im Innenhof zerrt, keine Ahnung, wie die heißen.

Bei meiner Arbeit als Journalistin beschäftige ich mich immer mal wieder mit den Themen Artenvielfalt, Erderwärmung, Biodiversität und Klimawandel, aber dabei ist stets etwas zwischen mir und dem Draußen: der Laptop, das Handy. Recherche am Schreibtisch. Ich bin keine aktive Klimaaktivistin, ich klebe mich nicht auf Startbahnen fest, ich war nur unregelmäßig auf den Fridays-for-Future-Demonstrationen und noch seile ich mich nicht von Autobahnbrücken ab, um ein Stück Wald zu retten. Obwohl ich natürlich mehr als nur besorgt bin, teilnehme am politischen Diskurs und versuche in meinem Umfeld vieles zu tun, um Energie zu sparen, Müll zu vermeiden, CO2 zu verringern.

Aber an diesem Tag, beim Blick in den Innenhof, spüre ich deutlich, dass mir etwas fehlt. In mir klopft eine tiefe Sehnsucht nach Luft und Weite an. Ich will mich wieder geerdeter, verbundener mit der Natur, lebendiger fühlen. Dieses Gefühl verlässt mich den ganzen weiteren Tag über nicht. Es drängt sich auch in den folgenden Tagen immer wieder in meine Gedanken, ich wache sogar öfter damit auf. Ein sich verzehrendes Sehnen nach Natur.

Ich muss dringend weg aus der gewohnten Umgebung. Ich will mich selbst überraschen, meine Komfortzone verlassen. Und das geht nicht ohne Natur. Ich will wieder raus, will Wind und Wetter und die Nähe zu Tieren spüren, den Tag mit dem Sonnenaufgang beginnen und mich selbst anders wahrnehmen. Ich denke an mein Handy-Schaf, wie gerne würde ich mal wieder einem echten Schaf in die Augen blicken. Wenn ich von Schafen umgeben war, habe ich mich glücklich, ruhig und geborgen gefühlt. Schafgedanken nisten sich bei mir ein. Wäre das immer noch so?

Wie wäre es, einmal anders zu leben, regelmäßig mit Tieren in der Natur zu sein? Könnte ich das? Und wie bringe ich das mit meinem Job, meiner Familie zusammen? Ich kenne die Geschichten von Freundinnen, die eine Alpenwanderung oder ihren Rettungsschwimmerinnenschein gemacht haben. Lang gehegte Träume, die zu Realität wurden. Wieso sollte das bei mir nicht gehen?

Als Teilzeitgärtnerin kann ich schlecht arbeiten, aber vielleicht wäre ein Wochenendjob auf dem Bauernhof eine Idee? Die tiefenentspannten Heideschäfer meiner Kindheit gehen mir nicht mehr aus dem Kopf. Vielleicht ist das nur Romantik-Kitsch, aber die Idee reizt mich. Auch in den folgenden Tagen zwingt mich meine neue Sehnsucht, darüber nachzudenken. Ich schaue auf dem Laufband und beim Kochen YouTube-Videos über Schäfer und Schäferinnen. Google Ausbildungswege, der Beruf der Schäferin lockt mich. Schafe sind immerhin die ältesten Nutztiere des Menschen! Ich bin fasziniert vom Leben im Rhythmus der Jahreszeiten und beginne bei Instagram, einer Schäferin in Irland zu folgen.

Langsam verfestigt sich der Gedanke: Ich möchte einen echten Schäfer kennenlernen. Warum bin ich nicht schon viel früher auf diese Idee gekommen? Wie blind ich war – dabei könnte fast um die Ecke ein Abenteuer auf mich warten!

Meine Internetrecherche beginnt. Die amtliche Berufsbezeichnung lautet Tierwirt, Fachrichtung Schäferei, und beinhaltet eine dreijährige Ausbildung. Ich suche, ich lösche, ich markiere und werde fündig. In der Nähe von Frankfurt sollte es sein, dann sind die Fahrtwege nicht so lang. Eine Schäferei im Rodgau, da bleibe ich hängen. Die Seite verspricht mir »die Idylle in der Region«. Ein Familienbetrieb. Da docke ich emotional direkt an. Vor meinem inneren Auge sehe ich mir drei Generationen zuwinken, wenn ich zum ersten Mal die Weide betrete. Gemäß der Website hat der Schäfer starkes Interesse an der Vermittlung von Wissen über Schafe und er führt immer wieder naturnahe Aktionen für alle Altersgruppen durch. Ich könnte, so wird mir auf der Homepage angeboten, auch eine Patenschaft für eines der Tiere übernehmen. Mein Schaf regelmäßig besuchen, beim Scheren und beim Zufüttern dabei sein. Klingt so, als ob dieser Schäfer der Richtige für mich ist, denn genau das will ich: Die Schafe besser kennenlernen und alles über ihr Zusammenleben und ihren Zusammenhalt erfahren.

Außerdem scheint es, als habe dieser Schäfer wenig Scheu und ist es gewohnt, Fragen zu beantworten. Stadtmenschenfragen – sicherlich sind viele dabei, die man als Schäfer nicht mehr hören kann. Ich nehme meinen Mut zusammen und tippe eine Mail. Etwas weniger Nervosität wäre sicherlich auch okay, schließlich bitte ich nicht Harry Styles um ein Duett. Doch es geht darum, sich etwas zu trauen. Nicht auf der Stelle zu treten, etwas zu wagen, mögen es andere für noch so abwegig halten. Es geht um meinen Traum. Mein Schafe-Wonderland. Mein Wunsch wäre, den Schäfer in seinem Alltag mit den Tieren zu begleiten, von ihm und vielleicht auch von den Tieren zu lernen. Kann ich überhaupt noch, in meinem multifunktionalen Alltag zwischen Homeoffice, Konferenzen, Moderationen, und Teamsitzungen, das Miteinander und die Ruhe einer Herde verstehen? Kann ich, von Sonnenstrahlen geblendet und mit Matsch an den Sohlen, auf das Leben im Wald und auf der Weide eingehen? Meinen Körper noch fordern, wenn er mit anpacken muss? Schon jetzt atme ich beim Rückenyoga in meine Schmerzpunkte, weil die unteren Lenden sich beim langen Sitzen am Schreibtisch immer wieder bemerkbar machen. Wie wird das erst sein, wenn ich stundenlang Schafe hüte? Vielleicht bin ich innerlich bereits zu weit entfernt von der Natur, durch die zahlreichen hochglanzpolierten, hoch technisierten Fortschrittsräume nicht mehr in der Lage, mich umzugewöhnen?

Ich schreibe dem Schäfer, dass ich ihm Löcher in den Bauch fragen, mit ausmisten und anpacken will. Schicke die Mail aufgeregt ab und warte. Es ist wie bei einem Blind Date, ich bin gespannt, ob er meinen Wunsch ernst nimmt und wann er antwortet. Ich fühle mich plötzlich so schüchtern, als hätte ich eine unsichtbare Linie überschritten. Es war richtig, ihm zu schreiben, denn versuchen muss man alles im Leben. Nur male ich mir nun aus, was er wohl von mir denken wird.

Ich google Schäfer*innen und schafige Produkte, da gibt es ja nicht nur die, die aus der Wolle der Schafe hergestellt werden. Ich warte und checke dazwischen mein Mail-Eingangskonto. Ich google Lammkotelett-Rezepte und checke wieder mein Mail-Eingangskonto. Ich google Autositzbezüge aus Schaffell und checke meine Mails im Eingangskonto. Ich bin richtig nervös. Bin mir unsicher, ob ich mit meiner Mail zu selbstbewusst behauptet habe, dass es für uns beide eine Win-Win-Situation sein könnte. Bestimmt hat der Schäfer viel zu tun. Ich kann warten. Braucht er wirklich noch eine Städterin, die ihn Löcher in den Bauch fragen will und einem Kindheitstraum nachjagt? Jetzt habe ich Jahre auf die Schafe gewartet, da kommt es auf ein paar Wochen mehr auch nicht an. Ein Buddha kann noch von mir lernen, ich bin die Geduld in Person, versuche ich mir einzureden. Checke zur Sicherheit aber noch mal kurz mein Mail-Eingangskonto.

Immer wieder öffne ich die Homepage »meines« Schäfers, der im regionalen Artenschutz und der Landschaftspflege aktiv ist, aber kein Wanderschäfer. Gut, denke ich, dann bin ich abends auch wieder in meinem Bett.

Ich denke viel über die uralte Tradition und Technik des Hütens nach, des verantwortungsvollen Schauens. Vielleicht kommen wir alle beim Thema Klimawandel nicht schnell genug voran, weil wir uns so weit entfernt haben von den heimischen Mooren, Wiesenlandschaften und Wäldern? Weil wir verlernt oder vergessen haben, uns runterzubeugen, um Gräser zu bestimmen oder Maulwurfshügel zu bestaunen oder die Arbeit eines Regenwurms zu schätzen? Wer kann schon noch die verschiedenen Vogelarten, Libellen, Froscharten oder Grashüpfer benennen?

Vier Tage später bekomme ich eine Antwort:

Sind Sie die Bärbel Schäfer? Oder hat ihr Account einfach so einen bescheuerten Namen? Wurde Ihr Konto nicht gehackt, und davon gehe ich jetzt mal aus, dann klingen Sie zumindest so direkt wie die Bärbel Schäfer. Ob Sie anpacken oder besser reden können, kann ich jetzt nicht beurteilen, ich freue mich jedenfalls, wenn wir uns nächsten Samstag um 15.00 Uhr persönlich kennenlernen, dann besprechen wir alles Weitere. Den Google-Maps-Link für den Treffpunkt maile ich Ihnen noch zu.

Mit schafigen Grüßen!

Er hat geantwortet. Ich freue mich von Herzen und lese die Mail mehrfach durch. Das könnte der Beginn eines Abenteuers sein oder zumindest einer intensiven Erfahrung oder gar eines lebensverändernden Ereignisses, wir werden sehen. Er ist mir jetzt schon sympathisch. Es riecht nach Aufbruch.

Aber wie sieht der Alltag eines Schäfers heute überhaupt aus? Kann man davon noch gut leben? Ich weiß wenig über die Tagesstruktur eines Schäfers oder einer Schäferin, einiges davon ist vielleicht eher romantische Schwärmerei. Mich fasziniert, dass Schäfer an die fünf bis sechs Kilometer pro Tag mit ihrer Herde über das Land ziehen. Dabei muss man gut allein sein können. Alleinsein macht vielen Menschen Angst, das ist keine Seltenheit. Schnell den Laptop aufklappen, den Fernseher oder das Radio einschalten, die Stimmen der Morningshow-Moderatorinnen hören, liken, swipen oder in die gefilterten Leben der anderen eintauchen. Damit bloß nicht das Gefühl von Alleinsein in uns hochkriecht.

Die Mail hat mich meinem Traum ein Stückchen nähergebracht, doch in die Freude mischt sich auch Sorge, mich in eine neue zeitliche Abhängigkeit zu begeben. Ich habe mein Privatleben, meinen Beruf, die Kinder, den Hund, mein Ehrenamt, meine Mutter, Freundinnen, Yogastunden, Veranstaltungen … und meine Konzertliebe. Das ist zeitlich alles engmaschig austariert. Werde ich es tatsächlich schaffen, neben allen weiteren Alltagsherausforderungen den Schäfer in mein Leben zu integrieren, mich ihm und der Herde vom Zeitplan her unterzuordnen, für ein Reinschnuppern in seinen Alltag mit Schafen?

Unter der Woche werde ich es realistischerweise nicht schaffen, auf der Weide zu stehen. Die Kinder haben Schule, ich arbeite und habe eigentlich jetzt schon zu viel auf der täglichen To-do-Liste. Sonntags habe ich immer Sendung und Podcast-Produktion, der Tag fällt also auch flach. Am Samstag sind die Kinder oft bei Sportveranstaltungen, da schaue ich gerne zu. Sollte der Schäfer meine Nähe, meinen Schulterblick auf seinen Alltag zulassen, werde ich ihm dennoch den Samstag als regelmäßigen Tag anbieten. Ein Jahr lang die Samstage freizuschaufeln, wird eine Herausforderung für mein Zeitmanagement. Doch meine Sehnsucht ist stärker, die Sehnsucht nach Innehalten, Versorgen und Fürsorge, körperlicher Betätigung und danach, sich einzugliedern in die jahreszeitlichen Kreisläufe. Ich will den verschollenen grünen Faden in mir nicht loslassen, nicht aufgeben. Die Sehnsucht nach Draußensein und Verbundensein wieder wachküssen und erneut ankommen in der Natur. Und damit vielleicht auch ankommen bei mir, als Teil eines Ganzen.

Frühling

Mission Schaf startet

Der erste Besuch beim Schäfer

Dreißig Kilometer südlich des Frankfurter Stadtgebiets habe ich das achtspurige Frankfurter Autobahnkreuz hinter mir gelassen. Ich passiere eine Autobahnausfahrt mit achtlos aus dem Fenster geschleuderten Plastikflaschen. Massenhaft liegen sie dort im Graben. Wer fährt sein Fenster runter und wirft Müll in die Natur?

Die Strecke führt mich über Landstraßen, ich verlasse das Großstadtgebiet und erreiche die Rhein-Main-Gegend um Groß-Gerau. 25 000 Einwohner, Kreisstadt und Ökomodellregion Süd. Ich fahre durch Vororte, Neubaugebiete mit Fertighäusern. Vorbei an Carports, Wäschespinnen und Trampolinen in Vorgärten. Pendlerregion mit gerade noch bezahlbarem Wohnraum. Der Traum von den eigenen Wänden ähnelt sich in Reihenhaus an Reihenhaus. Alteingesessene mischen sich mit Neuzugezogenen. Plakate für den Faschingsball neben Plakaten für Monstertruck-Events in der nächstgrößeren Stadt. Eigentümerträume fressen sich in die Landschaft. Der Platz für einheimische Pflanzen und Tierarten schrumpft.

Ausgerechnet hier, wo die Priorisierung des Wohnbedarfs der Menschen der Natur schon so viel Land genommen hat, soll ein Schäfer mit seiner Herde leben? »Die Idylle in der Region«, heißt es in seinem Logo. Skepsis macht sich in mir breit. Wo sollen hier Schafe und Ziegen grasen, lammen und Futterplätze finden?

Ich parke meinen Wagen, stelle den Motor ab. Stille.

Außentemperatur sechs Grad, Region Rodgau, Samstagnachmittag. Der Boden der winterbraunen Weide wirkt jetzt im Januar müde. Die Schneedecke ist weg, das Gras noch grau. Die Äste der Bäume sind kahl. Weder Blätter, die im Wind rascheln, noch Knospen an den Zweigen. Kein Blühen nirgends. Als hätte eine Mütze schwerer Müdigkeit sich über die Winterlandschaft gelegt. Nichts müssen müssen. Die Natur hat die Stopptaste gedrückt.

Ich lasse den Blick über die Weide schweifen. Nur dank Google Maps habe ich hierher gefunden. Bis eben wusste ich nicht, dass es eine Funktion gibt, die auch landwirtschaftliche Zufahrtswege anzeigt, sonst wäre ich schon an der vorletzten Kreuzung kurz hinter dem kleinen Bahnübergang verloren gewesen. Jetzt bin ich da. Mein Schafabenteuer geht genau hier und heute an diesem kalten Samstag los.

Ich operiere nicht am offenen Gehirn, ich werde weder in einer Raumkapsel ins All katapultiert, noch sitze ich Günther Jauch bei Wer wird Millionär auf dem Kandidatenstuhl gegenüber. Und dennoch, ich bin aufgeregt. Ich starte den Motor und drehe die Heizung auf volle Leistung auf. Das Gebläse erwärmt den Innenraum des Wagens. Wo bleibt denn der Schäfer? Ich bin pünktlich, wie so oft auch jetzt etwas zu früh am verabredeten Treffpunkt. Soll ich aussteigen? Ich überlege. Hier ist ja niemand, ich checke Seitenspiegel und Rückspiegel. Kein Mensch weit und breit. Was soll ich da draußen herumstehen wie eine zurückgelassene Eckfahne? Ich öffne die Tür und verlasse mein Auto, drehe mich im Weggehen immer wieder nach ihm um. Als ob mir jemand die ungewaschene Karre auf dem Feldweg klauen würde. Ich gehe einige Meter.

Hinter einer winterlich laublosen Hecke entdecke ich die Tiere. Wie süß sind die denn? Ich halte meine Hände vor den Mund und ersticke einen kleinen Aufschrei. Achtung: mein erster Shaun das Schaf-Moment. Zig Schafsaugenpaare schauen mich groß an. Dann senken sie wieder ihre Köpfe. Die Herde grast friedlich weiter, nur einzelne wollige Vierbeiner lassen kauend den Kopf erhoben und behalten mich im Blick. Von Unruhe keine Spur, obwohl ich mich langsam der Absperrung nähere. Warum hängen da Herrensocken am Zaun? Ich strecke den Arm aus und versuche ein Schaf zu mir zu locken. Beuge mich vor, rufe und pfeife leise. Autsch! Im Zaun fließt Strom und jetzt auch durch mich. Ich reibe mir den Ellenbogen, schade, dass ich das Warnschild nicht früher gesehen habe. Oder wie mein Papa immer gesagt hat: »Erst lesen, dann schauen, danach denken und handeln.«

Sind diese Tiere wirklich so ohne Arg? Gutgläubig gehen sie davon aus, dass man ihnen nichts Böses will. Gefahr scheinen sie bei mir jedenfalls nicht zu wittern, oder hören die nur schlecht? Aber bei den Ohren? Kaum vorstellbar. Kein Schaf läuft auf mich zu. Kauendes Desinteresse. Hier und da ein vereinzeltes, müdes Mäh. Das schwache Läuten eines Glöckchens. Etwas mehr Enthusiasmus hatte ich schon erwartet.

Nach zwei Minuten an der frischen Luft beginne ich bereits zu frieren. So ohne Lenkrad- und Sitzheizung ist es unangenehm kühl. Worauf habe ich mich hier eingelassen? Ich könnte gerade gemütlich auf der Couch liegen. Samstag ist der einzige Tag in der Woche, an dem ich länger ausschlafen, mit meinem Mann ins Kino gehen oder für unsere Freunde etwas Schönes kochen kann. Ist das wirklich ein guter Plan, für die nächsten 52 Wochen so gut wie jeden Samstag dem Schäfer und der Herde zu widmen? Nicht, dass die Schafe mich am Ende meine Ehe kosten.

Diese Kälte ist keine normale Januarkälte, sie ist wie ein aggressiver Pitbull, kriecht hungrig über die Knöchel hoch bis in die Kniekehlen. Warum habe ich mich gegen die Thermoleggings entschieden? Weil die auftragen mit ihrer doppelt dicken Struktur? Will ich ernsthaft mit Ende fünfzig einen Schäfer aus der Region Rodgau mit einer schlanken Beinsilhouette beeindrucken?

Das Komfortlevel ist noch nicht ganz das richtige für mich als langjährige Städterin. Zu zugig. Kein echter Windschutz nirgends. Ich drücke meine Fäuste tiefer in die gesteppte Jackentasche und fühle mich fremd in dieser Umgebung. Als würde die Natur merken, dass ich keine Ahnung von ihr habe. Mich Lichtjahre von ihr entfremdet habe. Mit dem Hund auf einem Waldweg laufen, das erledige ich noch lässig. Das Knarzen der Zweige gleicht einem höhnischen Lachen, während ich da so herumstehe und zitternd nach dem Schäfer Ausschau halte. Bin ich wirklich bereit für ländliche Eindrücke und eine Dosis Natur? Zurückzukehren? Ich bin hier, um herauszufinden, wo und ob ich naturtechnisch wieder andocken kann, will nicht nur kurz gucken und dann wieder weg sein. Eine Heizung wäre jetzt aber schon schön.

In der Pandemie haben sich viele Großstädter Patentiere angeschafft. Freunde hatten plötzlich einen Bienenstock auf der Dachterrasse, andere pflegten enge Verbindungen zu Alpakas. Aber darum geht es mir nicht: Ich will nicht nur ein bisschen Natur, sondern wirklich Eintauchen in die Arbeiten, die mit dem Zyklus der Jahreszeiten verbunden sind. Ich will das traditionelle das Leben des Schäfers und die Herde kennenlernen, beobachten, anpacken und mir die Hände schmutzig machen. Mein Ziel ist, regionalen Naturschutz zu erleben und zu begleiten. Ich könnte es mir selbstverständlich auch einfacher machen und eine Mitgliedschaft beim 1. FC Köln beantragen, um als Fan dem Geißbock Hennes IX. nah zu sein, jedenfalls bei Heimspielen. Bei Auswärtsspielen darf er nicht mit und lebt, gut betreut, im Kölner Zoo. Aber mein Herz gehört schon Werder Bremen, die haben nun mal kein lebendes Clubmaskottchen. Bliebe noch die Frankfurter Eintracht mit Attila dem Adler – doch mein Herz schlägt für Paarhufer.

Ich gehe den Bärbel-Weg. Wenn, dann richtig! Wenn ich den Schäfer und seine Herde ein Jahr lang begleite, werde ich einiges mitbekommen. Das hessische Land ist nicht unbedingt unberührte Wildnis, schon klar. Mein Schäfer lebt auch nicht wie ein Nomade im Zelt bei seinen Tieren, er fährt abends nach Hause mit Fernsehen und gemütlichem Bett. Mir geht es ja auch nicht um Extreme, ich habe weder die Stadt grundlegend satt, noch will ich als einsame Selbstversorgerin auf dem Land leben. Ich wäre einfach gerne für ein Jahr eine Azubi-Schäferin. An einem Ort in der Natur, an dem Gedanken wieder Platz haben und offen sind für Neues.

Der Schäfer hat die unglaubliche Lebensentscheidung getroffen, Schäfer zu sein. Kein Wochenende frei, Arbeitsstunden nicht nach Stechuhr, viel Verantwortung. Er reiht sich ein in die jahrhundertealte Tradition dieses Berufs. Was kann ich wohl alles von ihm lernen? Ich machte mir im Kopf schon mal eine Bucketlist, was ich gerne erleben würde: Ich möchte Lämmer auf die Welt kommen sehen, die Schur und wie die Herde über Land geführt wird. Ich will die Arbeit des Hütehundes verstehen, Weidewissen aufbauen und Krankheiten der Tiere erkennen können. Dafür bin ich bereit, jeden Samstag in die Gummistiefel zu steigen, die Ärmel hochzukrempeln und von Januar bis Dezember draußen zu sein, soweit mein Dienstplan und meine Jobs es zulassen. Nun muss nur noch der Schäfer wollen. Wo bleibt der denn?

Langsam spüre ich meine eiskalten Füße nicht mehr. Der Schäfer sollte mich und meine Fragen im Schlepptau aushalten können, hoffentlich spricht er gerne. Was das wohl für ein Typ Mensch ist, der sich einen Alltag aussucht, in dem er so viel auf sich allein gestellt ist? Schaffe ich es, dass er wirklich zustimmt, dass ich ihn begleiten darf? Was ist, wenn er heute nicht kommt? Ich kann keine Monate auf einem Biohof mit Schafzucht in Bayern oder bei den Sylter Deichschafen verbringen, das ist einfach nicht familienkompatibel. Wir haben ausgemacht, dass wir es erst einmal miteinander versuchen. Uns probeweise beschnuppern. Ob ich mich hier und heute irgendwie beweisen muss? Vielleicht fragt er mich gleich Schafrassen ab oder ich muss spontan alle Futterarten aufsagen können? Bärbel, das hier ist kein Casting, beruhige ich mich. Der Schäfer und ich müssen uns nur annähern, zaghaft kennenlernen, Vertrauen aufbauen.

Ich habe einiges über ihn herausgefunden. Er ist Gründungsmitglied im Landschaftspflegeverband Südhessen, Teil der NABU Eingreiftruppe Herdenschutz und Mitglied bei der Bundesarbeitsgemeinschaft Lernort Bauernhof e.V. Zu seiner Herde gehören die widerstandsfähigen Merinoschafe, aber auch die vom Aussterben bedrohten seltenen Zackelschafe. Bei wem sollte ich besser lernen können als bei ihm? Doch manchmal klaffen Plan und Wirklichkeit auseinander, denke ich nervös und schaue auf die Uhr.