Axis - Robert Charles Wilson - E-Book

Axis E-Book

Robert Charles Wilson

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Beschreibung

Aufbruch in eine neue Zeit

Eines Tages legt sich ein gigantischer Energieschirm um die Erde. Als er Jahre später wieder verschwindet, hat sich die Welt radikal verändert: Riesige Tore verbinden die Erde mit anderen, Lichtjahre entfernten Planeten. Wie groß ist dieses Netzwerk aus Welten? Und zu welchem Zweck wurde es geschaffen? Eine Expedition bricht auf, um das Geheimnis zu lüften …

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Das Buch

Etliche Jahre sind vergangen, seit der Spin – ein mysteriöser Energieschirm, der sich um die Erde gelegt hatte – wieder gelüftet wurde. Zurück blieb ein riesiger Torbogen, der den Planeten mit einer anderen, Lichtjahre entfernten Welt verbindet. Zug um Zug beginnen die Menschen, diese andere Welt zu besiedeln. Doch nach wie vor wissen sie nicht, wer für den Spin verantwortlich war, wer diese Verbindung zwischen den Sternen geschaffen hat – und zu welchem Zweck. Und es gibt Gruppen, die dieses Nicht-Wissen als geradezu unerträglich empfinden: Sie wollen mit der unbekannten Intelligenz in Kontakt treten – und schrecken dabei vor keinem Mittel zurück …

Mit »Axis« setzt Robert Charles Wilson das große Abenteuer fort, das mit seinem preisgekrönten Bestseller »Spin« begann – ein Abenteuer, das in der Science Fiction seinesgleichen sucht.

Der Autor

Robert Charles Wilson, geboren 1953 in Kalifornien, wuchs in Kanada auf und lebt mit seiner Familie in der Nähe von Toronto. Er zählt zu den bedeutendsten Autoren der modernen Science Fiction und wurde mehrfach für seine Romane ausgezeichnet, unter anderem mit dem Hugo Award, dem Philip K. Dick Award und dem John W. Campbell Award. Zuletzt sind bei Heyne erschienen: Die Chronolithen, Spin und Quarantäne.

Mehr zu Autor und Werk unter: www.robertcharleswilson.com

Inhaltsverzeichnis

Das BuchDer AutorWidmungInschriftERSTER TEIL - DER 34. AUGUST
Kapitel 1Kapitel 2
Copyright

Zum Gedenken an Dr. Albert Goldharund Ella Beautone (Bootie) Goldharsowie an die Familie,die sie schufen und in die siemich so großmütig aufnahmen.

Woraus aber das, was ist, entsteht, darin vergeht es auch wieder mit Notwendigkeit, denn die Dinge leisten einander Buße und Vergeltung für ihr Unrecht nach der Ordnung der Zeit.

ANAXIMANDER

ERSTER TEIL

DER 34. AUGUST

1

Im Sommer seines zwölften Lebensjahres – dem Sommer, in dem die Sterne vom Himmel fielen – stellte Isaac fest, dass er Ost und West mit geschlossenen Augen unterscheiden konnte.

Er lebte auf dem Kontinent Äquatoria, am Rande der großen Binnenwüste, auf dem Planeten, der der Erde von jenen unergründlichen Wesen hinzugefügt worden war, die als die Hypothetischen bezeichnet wurden. Man hatte diesem Planeten eine ganze Palette von grandios mythologischen und nüchtern wissenschaftlichen Namen verliehen, doch die meisten Leute nannten ihn, in einer der über hundert existierenden Sprachen, einfach die Neue Welt oder schlicht Äquatoria, nach dem am stärksten besiedelten Kontinent. Derlei Dinge hatte Isaac in einer Einrichtung gelernt, die man mehr oder weniger als Schule bezeichnen konnte.

Er wohnte in einem Gebäudekomplex aus Backstein und Adobeziegeln, weit entfernt von der nächsten Stadt. Er war das einzige Kind in der Siedlung. Die Erwachsenen, bei denen er lebte, wahrten zwischen sich und der übrigen Welt eine gehörige Distanz. Sie waren anders, etwas Besonderes, auf eine Weise, über die sie nicht gern sprachen. Auch Isaac war etwas Besonderes. Das jedenfalls hatten sie ihm gesagt, immer wieder. Er wusste jedoch nicht, ob er ihnen das glauben konnte – er fühlte sich in keinster Weise wie etwas Besonderes.

Hin und wieder fragten die Erwachsenen, vor allem Dr. Dvali und Mrs. Rebka, ob Isaac sich einsam fühle. Tat er nicht: Er hatte Bücher und eine große Sammlung von Videos, mit denen er sich beschäftigen konnte. Er war Schüler und lernte in seinem eigenen Tempo – nicht übermäßig schnell, aber stetig. In dieser Hinsicht, so Isaacs Verdacht, war er eine Enttäuschung für seine Aufsichtspersonen. Doch die Bücher, die Videos und die Lektionen gaben ihm etwas zu tun, und wenn sie nicht zur Verfügung standen, war da immer noch die Natur, die ihm eine Art stummer, gleichmütiger Freund geworden war: die Berge, die sich – grau, grün und braun – auf die trockene Ebene herabsenkten, das Wüstenhinterland, eine erstarrte Welt aus Fels und Sand. Hier wuchs wenig, denn Regen fiel nur in den ersten Monaten des Frühlings und selbst dann spärlich. In den ausgetrockneten Bachbetten behaupteten sich plumpe Pflanzen mit prosaischen Namen: Tonnengurken, Lederranken. Im Hof der Wohnanlage war ein Garten mit einheimischen Gewächsen angelegt worden: gefiederte Kakteen mit purpurroten Blumen, hochgewachsene Nimmergrüns mit netzartigen Blüten, die Feuchtigkeit aus der Luft zogen. Ein Mann namens Raj bewässerte manchmal morgens den Garten mit einer Pumpe, die tief in die Erde hinabreichte. Dann roch die Luft, noch im Umkreis von einigen Kilometern, nach mineralreichem, eisenhaltigem Wasser. An Bewässerungstagen gruben sich auch Felsmäuse unter dem Zaun hindurch und wuselten putzig über den gepflasterten Hof.

Im Frühsommer seines zwölften Jahres verliefen Isaacs Tage in sanfter Gleichförmigkeit, so wie sie es immer getan hatten, doch dieser schläfrige Friede endete, als die alte Frau eintraf.

Bemerkenswerterweise kam sie zu Fuß.

Isaac hatte die Anlage an diesem Nachmittag verlassen und war ein Stück ins Vorgebirge hinaufgeklettert, auf einen granitenen Sockel, der aus dem Hang hervorsprang wie der Bug eines Schiffes aus einem steinernen Meer. Die Sonne hatte den Fels schön aufgeheizt. Isaac, mit breitkrempigem Hut und weißem Baumwollhemd als Schutz vor dem brennenden Licht, saß unter dem Rand des Hügelkamms, wo er noch Schatten fand, und beobachtete den Horizont. Backofenglut stieg in sich kräuselnden Wellen aus der Wüste auf. Gleichsam in der Hitze schwimmend, ein Schiffbrüchiger auf einem trockenen Floß aus Stein, saß er dort und rührte sich nicht, als die Frau auftauchte. Erst war sie nur ein kleiner Punkt auf der unbefestigten Straße, die zu den fernen Orten führte, an denen Isaacs Aufsichtspersonen Nahrung und sonstige Vorräte kauften. Sie bewegte sich langsam, so schien es jedenfalls. Beinahe eine Stunde verging, bis er sie als Frau identifizieren konnte, dann als alte Frau, schließlich als eine alte Frau mit einem Rucksack, O-Beinen und einem entschlossenen, ja verbissenen Gang. Sie trug ein langes weißes Kleid und einen weißen Sonnenhut.

Die Straße führte dicht an seinem Felsen vorbei, fast direkt unterhalb davon, und Isaac, der nicht gesehen werden wollte, obwohl er nicht hätte sagen können, warum, kroch hinter einen größeren Stein, als die Frau sich näherte. Er schloss die Augen und stellte sich vor, er würde die Masse und das Gewicht der Erde unter sich spüren und die Schritte der alten Frau auf der Haut der Wüste, kitzelnd, wie ein Käfer auf dem Körper eines schlafenden Riesen. (Und noch etwas anderes, etwas tief unten in dieser Erde, ein stiller Behemoth, der sich, weit im Westen, nach langem Schlaf zu regen begann …)

Als hätte sie ihn in seinem Versteck erblickt, blieb die alte Frau unter dem Felsvorsprung stehen. Isaac merkte es daran, dass der Rhythmus ihrer schlurfenden Schritte aussetzte. Vielleicht machte sie aber auch nur eine Pause, um zwischendurch einen Schluck Wasser zu trinken. Jedenfalls sagte sie nichts, und Isaac verhielt sich seinerseits mucksmäuschenstill, etwas, was er perfekt beherrschte.

Dann setzten die Schritte wieder ein. Die Frau ging weiter und verließ die Straße schließlich an der Stelle, an der ein Pfad zu dem umzäunten Gelände abzweigte. Isaac reckte den Kopf und sah ihr nach. Das Licht des Nachmittags zog ihren Schatten neben ihr her wie eine langbeinige Karikatur. Plötzlich blieb sie erneut stehen, drehte sich um, und für einen Moment schien es, als würden sich ihre Blicke treffen, sodass Isaac sich hastig wegduckte. Erschrocken darüber, wie genau sie in seine Richtung gesehen hatte, verharrte er so lange in seinem Versteck, bis das Sonnenlicht schräg in die Bergpässe hineinfiel. Er versteckte sich sogar vor sich selbst – still wie ein Fisch in einem Tümpel der Erinnerung, der Gedanken.

Die alte Frau gelangte zum Tor und betrat das Gelände, und bevor der Himmel vollständig dunkel wurde, folgte Isaac ihr. Er fragte sich, ob man sie ihm vorstellen würde, beim Abendessen vielleicht.

Es kamen nur sehr wenige Außenstehende hierher. Und die meisten von denen, die kamen, blieben.

Nachdem Isaac gebadet und sich saubere Sachen angezogen hatte, ging er in den Speisesaal.

Hier versammelte sich jeden Abend die gesamte Gemeinschaft, alle dreißig Erwachsenen. Die Morgen- und Nachmittagsmahlzeiten waren jedem Einzelnen überlassen, konnten jederzeit eingenommen werden, sofern man gewillt war, sich selbst in der Küche zu versorgen, doch das Abendessen war eine gemeinschaftliche Angelegenheit mit stets großem Auftrieb und unvermeidlich laut.

Für gewöhnlich machte es Isaac Spaß, den Erwachsenen zuzuhören, obwohl er selten verstand, wovon die Rede war, wenn es nicht gerade um ausgesprochen Triviales ging: Wer an der Reihe war, Vorräte in der Stadt zu besorgen, wie ein Dach repariert oder ein Brunnen verbessert werden könnte. Da die Erwachsenen jedoch überwiegend Wissenschaftler und Theoretiker waren, wandte sich ihr Gespräch häufiger abstrakten Dingen zu. Beim Zuhören schnappte Isaac zwar nur wenig von den Details ihrer Arbeit auf, aber einiges von ihrem allgemeinen Gehalt: Immer wieder war von der Zeit die Rede, den Sternen und den Hypothetischen, von Technologie und Biologie, von Evolution und Transformation. Und obwohl diese Gespräche meistens um Begriffe kreisten, die ihm absolut nichts sagten, hatten sie für sein Gefühl etwas Bedeutungsschweres. Oft wurden die Diskussionen  – war es angemessen, die Hypothetischen als mit Bewusstsein begabte Wesen zu bezeichnen, oder waren sie vielmehr ein bewusstloser Prozess? – sehr erregt geführt, wurden Thesen oder Grundüberzeugungen angegriffen beziehungsweise verteidigt wie ein militärisches Ziel. Es war, als würde in einem nahe gelegenen, aber unzugänglichen Raum das ganze Universum auseinandergenommen und wieder zusammengesetzt.

An diesem Abend allerdings herrschte ein eher gedämpftes Murmeln. Es gab einen Neuankömmling: die alte Frau von der Straße. Isaac warf verstohlene Blicke in ihre Richtung, während er zwischen Dr. Dvali und Mrs. Rebka Platz nahm. Sie erwiderte diese Blicke nicht, ja schien seine Anwesenheit am Tisch gar nicht wahrzunehmen. Als sich die Gelegenheit ergab, betrachtete Isaac ihr Gesicht genauer.

Sie war noch älter, als er vermutet hatte. Ihre Haut war dunkel und von Falten durchzogen. Die Augen, hell und glänzend, blickten aus knochigen Höhlen hervor. Messer und Gabel hielt sie in langen, zerbrechlich wirkenden Fingern. Die Handinnenflächen waren blass. Sie hatte die Wüstenkleidung abgelegt und Sachen angezogen, die denen der anderen Erwachsenen ähnelten: Jeans und ein blassgelbes Baumwollhemd. Sie hatte dünne, sehr kurz geschnittene Haare. Sie trug keinerlei Ringe oder Ketten. In einer Armbeuge war ein mit Pflaster befestigter Baumwolltupfer: Offenbar hatte Mrs. Rebka, die Ärztin der Gemeinschaft, ihr bereits eine Blutprobe entnommen. Das war bei allen Neuankömmlingen üblich. Isaac fragte sich, ob Mrs. Rebka wohl Mühe gehabt hatte, in diesem schmalen, sehnigen Arm eine Vene zu finden. Er fragte sich auch, welchem Zweck die Blutprobe diente und ob Mrs. Rebka das gefunden hatte, was sie suchte.

Während des Essens wurde der Neuen keine spezielle Aufmerksamkeit gewidmet. Sie nahm am Gespräch teil, doch dieses blieb an der Oberfläche, als wollte niemand irgendwelche Geheimnisse preisgeben, bevor die Fremde nicht vollständig anerkannt, aufgenommen und ihr Anliegen verstanden war. Erst als das Geschirr abgeräumt war und mehrere Kannen Kaffee auf dem langen Tisch standen, machte Dr. Dvali Isaac mit ihr bekannt.

»Isaac«, sagte er, »dies ist Sulean Moi – sie kommt von weit her, um dich kennenzulernen.«

Der Junge starrte verlegen auf die Tischplatte. Von weit her? Was hatte das zu bedeuten? Und – um ihn kennenzulernen?

»Hallo, Isaac«, sagte die Frau. Ihre Stimme war nicht das raue Krächzen, das er erwartet hatte. Nein, es war eine durchaus angenehme, nur leicht kratzige Stimme … und sie war, ohne dass er dies näher bestimmen konnte, irgendwie vertraut.

»Hallo«, erwiderte er, noch immer ihren Blick meidend.

»Bitte nenne mich Sulean.«

Er nickte vorsichtig.

»Ich hoffe, wir werden Freunde sein«, sagte Sulean.

Natürlich erzählte er ihr nicht gleich von seiner neu entdeckten Fähigkeit, die Punkte des Kompasses mit geschlossenen Augen zu unterscheiden. Davon hatte er noch niemandem erzählt, nicht einmal dem strengen Dr. Dvali oder der verständnisvolleren Mrs. Rebka. Er hatte Angst vor der Untersuchung, die darauf folgen würde.

Sulean Moi, die jetzt auf dem Gelände wohnte, machte es sich zur Gewohnheit, ihn jeden Vormittag nach dem Unterricht und vor dem Mittagessen zu besuchen. Zuerst fürchtete Isaac diese Besuche. Er war schüchtern, und Sulean Mois hohes Alter und ihre Gebrechlichkeit waren ihm einigermaßen unheimlich. Doch sie war unbeirrbar freundlich. Sie respektierte sein Schweigen, und die Fragen, die sie stellte, waren selten unangenehm oder aufdringlich.

»Gefällt dir dein Zimmer?«, fragte sie eines Tages.

Weil er am liebsten allein war, hatte man ihm ein eigenes Zimmer gegeben, eine kleine Kammer im zweiten Stock des Ostflügels des größten Gebäudes. Es hatte ein Fenster mit Blick auf die Wüste, und vor dieses Fenster hatte Isaac Schreibtisch und Stuhl gestellt, während das Bett an der hinteren Wand stand. Nachts ließ er die Fensterläden gern offen, damit der Wind seine Bettdecke, seine Haut berühren konnte. Er mochte den Geruch der Wüste.

»Ich bin in einer Wüste aufgewachsen«, erzählte Sulean. Das durch das Fenster fallende Sonnenlicht ließ ihre linke Seite erstrahlen, den Arm und die Pergamentstruktur von Wange und Ohr. Ihre Stimme war fast nur ein Flüstern.

»In dieser Wüste?«

»Nein, nicht in dieser. Aber in einer, die nicht viel anders war.«

»Warum bist du von da weggegangen?«

Sie lächelte. »Ich musste weggehen. Oder jedenfalls habe ich das gedacht.«

»Und dann bist du hierhergekommen?«

»Letzten Endes, ja.«

Weil er sie mochte und weil er sich stets bewusst war, was zwischen ihnen unausgesprochen blieb, sagte Isaac: »Ich habe nichts, was ich dir geben kann.«

»Ich erwarte nichts.«

»Die anderen tun es.«

»Tatsächlich?«

»Ja, Dr. Dvali und die anderen. Früher haben sie mir immer viele Fragen gestellt – wie ich mich fühle, was für Gedanken ich habe und was bestimmte Sachen in den Büchern bedeuten. Aber meine Antworten haben ihnen nicht gefallen.« Schließlich hatten sie aufgehört, ihm Fragen zu stellen, so wie sie auch aufgehört hatten, ihn Bluttests, psychologischen Tests und Wahrnehmungstests zu unterziehen.

»Ich bin zufrieden mit dir, so wie du bist«, sagte die alte Frau.

Er wollte ihr glauben. Aber sie war neu hier, sie war mit der Gleichmütigkeit eines sich auf einem Fels sonnenden Insekts durch die Wüste gewandert, ihre Absichten waren unklar, und Isaac zögerte noch immer, ihr seine beunruhigendsten Geheimnisse anzuvertrauen.

Alle Erwachsenen waren seine Lehrer, wenn auch einige geduldiger und zugewandter waren als andere. Mrs. Rebka lehrte ihn die Grundzüge der Biologie, Ms. Fischer die Geografie der Erde und der Neuen Welt und Mr. Nowotny erzählte ihm vom Himmel, den Sternen und dem Verhältnis von Sonnen und Planeten. Dr. Dvali unterrichtete ihn in Physik: schiefe Ebenen, das inverse Quadrat, Elektromagnetismus. Isaac erinnerte sich noch an sein Erstaunen, als er zum ersten Mal gesehen hatte, wie ein Magnet einen Löffel vom Tisch hob. Ein ganzer Planet, der alles nach unten zieht – und ein kleiner Stein, der die Kraft besitzt, diesen universellen Fluss umzukehren! Wie ging das vor sich? Er bemühte sich, Dr. Dvalis Antworten zu verstehen.

Letztes Jahr hatte Dr. Dvali ihm einen Kompass gezeigt. Der Planet, so Dr. Dvali, war ebenfalls ein Magnet – er besaß einen rotierenden Eisenkern, also Kraftlinien, einen Schild gegen aufgeladene Partikel, die von der Sonne kamen, und eine Polarität, die Nord und Süd unterschied. Isaac hatte darum gebeten, den Kompass, ein auf der Erde hergestelltes Militärmodell, ausleihen zu dürfen, und Dr. Dvali hatte ihm großzügig erlaubt, ihn zu behalten.

Später am Abend, allein in seinem Zimmer, legte Isaac den Kompass so auf seinen Schreibtisch, dass die rote Spitze der Nadel sich auf den Buchstaben N ausrichtete. Dann schloss er die Augen und drehte sich einige Male um sich selbst. Leicht schwindelig, die Augen noch immer geschlossen, fühlte er, was die Welt ihm mitteilte, erspürte seinen Platz in ihr, fand die Richtung, die seine innere Spannung linderte. Dann streckte er die rechte Hand aus und öffnete die Augen, um zu sehen, in welche Richtung er deutete.

Dieses Experiment führte er an drei aufeinander folgenden Abenden durch. Jedes Mal stellte er fest, dass er fast haargenau auf das W auf dem Kompass ausgerichtet war.

Dann wiederholte er das Ganze noch einmal. Und noch einmal. Und noch einmal.

Es war kurz vor dem alljährlichen Meteorschauer, als er sich schließlich doch entschloss, Sulean Moi diese beunruhigende Entdeckung anzuvertrauen.

Der Meteorschauer kam stets Ende August – in diesem Jahr am 34sten. (Die Monate in der Neuen Welt waren nach den terrestrischen Monaten benannt, hatten jedoch jeweils einige Tage mehr als ihre Namensvettern.) An der Ostküste von Äquatoria läutete der August den Anfang vom Ende eines milden Sommers ein: Die Boote verließen die reichhaltigen Fischgründe im Norden mit ihren letzten Fängen, um rechtzeitig nach Port Magellan zu gelangen, bevor die Herbststürme einsetzten. Hier in der Wüste bedeutete er wenig mehr als das langsame Abkühlen der Nächte. In der Wüste, so schien es Isaac, machten sich die Jahreszeiten vornehmlich nachts bemerkbar: Die Tage waren weitgehend immer gleich, doch die Nächte im Winter konnten bitterkalt werden.

Nach und nach hatte Isaac es zugelassen, dass Sulean Moi seine Freundin wurde. Nicht dass sie über bedeutsame Dinge gesprochen oder überhaupt viel miteinander geredet hätten. Sulean schien ebenso schweigsam zu sein, wie Isaac es oft war. Aber sie begleitete ihn auf seinen Spaziergängen durch die Hügel, und sie war dabei gewandter, als man es ihr angesichts ihres Alters zugetraut hätte: Zwar ging sie langsam, doch sie konnte genauso gut klettern wie Isaac, und sie konnte auch stundenlang bewegungslos dasitzen, wenn er es tat. Sie erweckte nie den Eindruck, dass es ihr eine Pflicht war oder eine Strategie oder irgendetwas anderes als eben ihre Art, bestimmte Freuden mit ihm zu teilen, Freuden, von denen er immer geglaubt hatte, sie seien einzig und allein die seinen.

Sulean konnte den alljährlichen Meteorschauer noch nicht gesehen haben, da sie Isaac erzählt hatte, sie sei erst vor einigen Monaten in Äquatoria eingetroffen. Isaac war ein erklärter Fan dieses Ereignisses und sagte ihr, sie müsse es unbedingt von einem guten Aussichtspunkt aus erleben. Also führte er sie – mit der zögerlichen Erlaubnis von Dr. Dvali, der gewisse Vorbehalte gegen Sulean Moi zu hegen schien – am Abend des 34. zu dem flachen Fels im Vorgebirge, demselben Fels, von dem aus er sie vor einiger Zeit am in der Sonne zitternden Horizont hatte auftauchen sehen.

Im Gegensatz zu damals war es jetzt dunkel. Der Mond der Neuen Welt war kleiner und schneller als der Mond der Erde und er hatte den Himmel bereits vollständig abgeschritten, als Sulean und Isaac an ihrem Ziel ankamen. Beide hatten sie Handlaternen zur Orientierung mit, beide trugen sie hohe Stiefel und dicke Überhosen, um sich vor den Sandbandfischen zu schützen, die sich oft auf den Felsvorsprüngen aalten, während das Gestein noch die Hitze des Tages ausatmete. Isaac suchte den Platz gründlich ab, ohne irgendwelche Fauna auszumachen. Dann ließ er sich im Schneidersitz auf dem Stein nieder. Unter einigen Mühen, doch ohne sich zu beklagen, nahm Sulean die gleiche Stellung ein. Auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck ruhiger Erwartung. Sie schalteten die Lampen aus und ließen sich von der Dunkelheit umfangen. Die Wüste war schwärzer als der Himmel – der Himmel war voller Sterne. Diese Sterne hatten keine offiziellen Namen außer den Katalognummern, die ihnen von den Astronomen zugewiesen worden waren. Sie waren so dicht am Himmel verteilt wie ein Insektenschwarm. Jeder Stern war eine Sonne, wie Isaac wusste, und viele von ihnen warfen ihr Licht auf unzugängliche, unerforschliche Landschaften, womöglich auf Wüsten wie diese. Es lebten Dinge zwischen diesen Sternen, wie er ebenfalls wusste. Dinge, die ein langsames, kaltes Leben lebten, in dem das Vergehen eines Jahrhunderts nicht mehr war als das Blinzeln eines fernen Auges.

»Ich weiß, warum du hierhergekommen bist«, sagte Isaac. In der Dunkelheit konnte er das Gesicht der Alten nicht sehen, was ihm die Unterhaltung erleichterte, die Ungeschicktheit der Worte linderte, die ihm wie Backsteine im Mund steckten.

»Ach ja?«

»Um mich zu studieren.«

»Nein. Nicht, um dich zu studieren. Ich studiere eher den Himmel im Allgemeinen als dich im Besonderen.«

Wie die anderen Erwachsenen in dem Komplex interessierte sie sich für die Hypothetischen – die unsichtbaren Wesen, die den Himmel und die Erde umgestaltet hatten.

»Aber wegen dem, was ich bin.«

Sie legte den Kopf zur Seite und sagte: »Nun ja, das ist richtig.«

Er erzählte ihr von seinem Richtungssinn. Zunächst etwas stockend, dann immer selbstsicherer, vertrauensvoller. Er versuchte, den Fragen vorzugreifen, die sie vielleicht stellen wollte. Wann hatte er diese Begabung zuerst bemerkt? Er wusste es nicht mehr genau, nur dass es in diesem Jahr gewesen war, vor einigen Monaten und zuerst nur ganz undeutlich: Zum Beispiel hatte er gern in der Bibliothek gearbeitet, weil sein Schreibtisch dort in die gleiche Richtung wies wie der Tisch in seinem Zimmer, obwohl es kein Fenster zum Hinausblicken gab. Im Speisesaal saß er immer auf der Seite des Tisches, die der Tür am nächsten war, selbst wenn niemand sonst anwesend war. Und er hatte sein Bett so verstellt, dass er leichter schlafen konnte, nämlich ausgerichtet auf – auf, nun ja, was?

Er konnte es nicht sagen. Ganz gleich, wo er war, immer gab es, wenn er still stand, eine Richtung, in die er lieber blickte als in die anderen. Es war nichts Zwanghaftes, eher ein sanftes Drängen, das man auch ignorieren konnte. Es gab eine gute Richtung, in die man blickte, und es gab weniger gute.

»Und blickst du jetzt in die gute Richtung?«, fragte Sulean.

So war es in der Tat. Es war ihm nicht bewusst gewesen, bevor sie gefragt hatte, aber es fühlte sich richtig an, auf diesem Fels zu sitzen, von den Bergen abgewandt, und in das dunkle Hinterland zu blicken.

»Westen«, sagte Sulean. »Du blickst gern nach Westen.«

»Ein bisschen nördlich von Westen.«

Da. Das Geheimnis war heraus. Es gab weiter nichts zu sagen. Er hörte in der Stille, wie Sulean Moi ihre Sitzhaltung veränderte, und fragte sich, ob es schmerzhaft war, auf hartem Stein zu sitzen, wenn man so alt war. Falls dem so war, ließ sie es sich jedenfalls nicht anmerken. Sie sah zum Himmel hinauf.

»Du hattest recht mit den fallenden Sternen«, sagte sie nach langem Schweigen. »Sie sind wirklich bezaubernd.«

Der Meteorschauer hatte begonnen.

Dr. Dvali hatte Isaac von den Meteoren erzählt, die eigentlich gar keine Sterne waren, sondern brennende Bruchstücke aus Stein oder Staub, die Überreste von Kometen, die über Jahrtausende um die Sonne der Neuen Welt gekreist waren. Doch diese Erklärung hatte Isaacs Faszination nur noch verstärkt. Es war, als könnte er in diesen vergänglichen Lichtern die Ausführung uralter Baupläne spüren, Vektoren, in Bewegung gesetzt, lange bevor sich der Planet gebildet hatte (oder von den Hypothetischen konstruiert worden war), Rhythmen, die sich über eine Lebenszeit oder mehrere oder gar die Lebenszeit einer Spezies hinweg entfalteten und verfeinerten. Funken flogen über den Zenit, von Osten nach Westen, während Isaac zufrieden dem Gemurmel der Nacht lauschte.

Bis Sulean sich plötzlich erhob und in Richtung der Berge spähte. »Sieh mal – was ist das?«, sagte sie. »Es sieht aus, als würde etwas herunterfallen.« Wie leuchtender Regen, als sei ein Sturm über die hohen Pässe der Wasserscheide gezogen – das kam manchmal vor, doch dieses Leuchten hatte nichts mit Blitzen zu tun, es war diffus und dauerhaft. »Ist das normal?«

»Nein«, erwiderte Isaac.

Nein. Das war überhaupt nicht normal.

»Dann sollten wir vielleicht zurückgehen.«

Isaac nickte unbehaglich. Er hatte keine Angst vor dem heraufziehenden Sturm – falls es denn einer war –, aber dieser trug eine Bedeutung mit sich, die er Sulean nicht erklären konnte, eine Beziehung zu dem, was still unter der Rub al-Khali lebte, dem »Leeren Viertel« im äußersten Westen, und worauf sein privater Kompass ausgerichtet war. Rasch gingen sie zum Gebäude zurück, wenn auch nicht ganz im Laufschritt, weil Isaac sich nicht sicher war, ob jemand, der so zerbrechlich wirkte wie Sulean, überhaupt rennen konnte. Währenddessen erschienen immer neue Wellen des seltsamen, wolkigen Lichts, das die Bergspitzen im Osten aus dem Dunkeln treten und dann wieder darin verschwinden ließ, und als sie das Tor erreichten, war der Meteorschauer von diesem neuen Phänomen vollkommen verdeckt: Eine Art Staub hatte aus dem Himmel zu fallen begonnen, und der Ausschnitt, den Isaacs Lampe aus der Dunkelheit schnitt, wurde zusehends enger. Isaac meinte, dass es sich bei dieser Substanz um Schnee handeln könnte  – er hatte Schnee in Videos gesehen –, aber Sulean sagte, das sei kein Schnee, das sei mehr wie Asche. Der Geruch war streng, schwefelig.

Wie tote Sterne, dachte Isaac, die herabstürzen.

Mrs. Rebka erwartete sie am Haupteingang des Gebäudekomplexes. Sie zog Isaac mit so festem Griff ins Innere, dass es ihm wehtat. Er sah sie schockiert an, vorwurfsvoll – Mrs. Rebka hatte ihm noch nie wehgetan, keiner der Erwachsenen hatte ihm je wehgetan. Sie ignorierte seinen Blick, hielt ihn in fester Umklammerung, sagte ihm, sie habe Angst gehabt, er würde sich in dieser, dieser …

Ihr fehlten die Worte.

Im Gemeinschaftsraum lauschte Dr. Dvali einem Audio-Feed aus Port Magellan, der großen Stadt an der Ostküste von Äquatoria. Das Signal wurde von Areostaten über die Berge geleitet und erreichte sie nur mit Unterbrechungen, wie Dr. Dvali den versammelten Bewohnern berichtete, doch hatte er immerhin in Erfahrung bringen können, dass die Hafenstadt das gleiche Phänomen verzeichnete – flächendeckende Niederschläge von etwas Ascheähnlichem – und dass es dafür keine unmittelbare Erklärung gebe. In der Stadt seien einige Menschen in Panik geraten. Dann fiel die Übertragung – oder der Aerostat, der das Signal übermittelte  – endgültig aus.

Auf Mrs. Rebkas Drängen hin ging Isaac auf sein Zimmer, während die Erwachsenen diskutierten. Er konnte jedoch nicht schlafen, ja konnte an Schlaf nicht einmal denken. Stattdessen saß er am Fenster, wo es nichts zu sehen gab als das tunnelartige Grau, das die Außenlampe in den Ascheregen grub, und lauschte dem Klang der Stille – einer Stille, die zu ihm zu sprechen schien, einer von Bedeutung durchdrungenen Stille.

2

Als Lise Adams am Nachmittag des 34. August zu dem kleinen, abgelegenen Flugplatz fuhr, fühlte sie sich verloren, fühlte sie sich frei.

Es war ein Gefühl, das sie nicht einmal sich selbst erklären konnte. Lag es vielleicht am Wetter? Ende August war es an der Küste von Äquatoria oft unerträglich warm, doch heute wehte ein sanfter Wind vom Meer her, und der Himmel zeigte sich in jenem Indigoblau, das sie automatisch mit der Neuen Welt assoziierte: tiefer, echter als die verschmierten Pastellhimmel auf der Erde. Frei, dachte sie, ja, frei: Eine Ehe lag hinter ihr, das vorläufige Scheidungsurteil war frisch ausgestellt, eine unkluge Entscheidung rückgängig gemacht … und jetzt die Begegnung mit dem Mann, der bei diesem Rückgängigmachen eine Rolle gespielt hatte. Aber da war noch so viel mehr. Eine von ihrer Vergangenheit abgetrennte Zukunft, eine schmerzliche Frage, die im Begriff stand, beantwortet zu werden.

Und verloren, ja, beinahe buchstäblich: Sie war erst wenige Male in dieser Gegend gewesen. Südlich von Port Magellan, wo sie sich eine Wohnung gemietet hatte, flachte die Küste zu einer Schwemmebene ab, die einigen landwirtschaftlichen Betrieben und der Leichtindustrie überlassen worden war. Zu großen Teilen aber war sie noch wild, eine Art Prärie, von fedrigen Gräsern überwachsen, Wiesen, die sich wie Wellen an den Gipfeln der Küstenkette brachen. Es dauerte nicht lange, da sah sie kleine Flugzeuge, die auf dem Arundji-Airfield starteten oder landeten. Es waren Propellermaschinen, Buschflugzeuge – für Größeres waren die Rollpisten des Arundji nicht lang genug. Die Flugzeuge, die hier aufstiegen, waren entweder das Hobby von Reichen oder der Broterwerb von Ärmeren. Wenn man einen Hangar mieten, sich als Tourist einer Exkursion auf die Gletscherpässe anschließen oder eilig nach Bone Creek oder Kubelick’s Grave gelangen wollte, kam man zum Arundji-Flugplatz. Und wenn man schlau war, wandte man sich in solchen Fällen an Turk Findley, der ermäßigte Charterflüge anbot.

Lise war schon einmal mit Turk geflogen. Aber jetzt war sie nicht hier, um einen Piloten zu engagieren. Turks Name war im Zusammenhang mit dem Foto aufgetaucht, das sie im Handschuhfach ihres Wagens in einem braunem Umschlag aufbewahrte.

Sie parkte auf dem Schotterplatz vor dem Flughafen, stieg aus dem Wagen und hielt kurz inne, um den in der Nachmittagshitze summenden Insekten zu lauschen. Dann trat sie durch die Tür auf der Rückseite des überdimensionalen Blechdachschuppens, der als Abfertigungshalle diente. Turks Charterbetrieb war hinten in einer Ecke angesiedelt, im Einvernehmen mit Paul Arundji, dem Eigentümer des Flugplatzes, der dafür einen Anteil von Turks Einnahmen beanspruchte. Turk hatte ihr das einmal erzählt, damals, als sie viel Zeit zum Reden hatten.

Es gab keine Sicherheitsschleuse, die zu durchqueren war. Turk Findleys Büro war eine am nördlichen Ende des Gebäudes aufgestellte Kabine, und anstatt zu klopfen, spazierte sie einfach hinein und räusperte sich. Turk saß am Schreibtisch und füllte irgendwelche offiziellen Formulare aus – Lise konnte das blaue Logo der von der UN eingesetzten Provisorischen Regierung oben auf der Seite erkennen. Nachdem er eine letzte Unterschrift auf das Papier gesetzt hatte, sah er auf. »Lise!« Sein Grinsen war entwaffnend. Und ganz und gar echt. Keine Vorwürfe, kein Warum-hast-du-nicht-Zurückgerufen.

»Äh, bist du gerade beschäftigt?«, erwiderte sie.

»Seh ich so aus?«

»Na ja, es sieht jedenfalls so aus, als hättest du zu tun.« Sie war sich ziemlich sicher, dass er alle nicht unbedingt lebenswichtigen Angelegenheiten hintanstellen würde, um sich ihr widmen zu können – eine Möglichkeit, die sie ihm lange Zeit nicht mehr gewährt hatte. Er kam um den Schreibtisch herum und umarmte sie. Sanft, herzlich. Ihn so von Nahem zu spüren, seinen Geruch einzuatmen, machte sie etwas nervös. Turk war fünfunddreißig, acht Jahre älter als Lise und ungefähr einen Kopf größer. Sie versuchte, sich davon nicht einschüchtern zu lassen.

»Bloß Papierkram«, sagte er. »Gib mir einen Grund, ihn beiseite zu legen. Bitte.«

»Na ja …«

»Dann sag mir wenigstens, ob du geschäftlich oder zum Vergnügen hier bist.«

»Geschäftlich.«

Er nickte. »Okay. Alles klar. Nenn mir dein Reiseziel.«

»Nein, ich meine – ich bin in geschäftlichen Angelegenheiten unterwegs, die mich betreffen, aber ich will keinen Flug buchen. Es gibt da etwas, worüber ich mit dir sprechen möchte. Vielleicht beim Abendessen? Meine Einladung?«

»Ich gehe gerne mit dir essen. Aber ich lade dich ein. Allerdings kann ich mir nicht vorstellen, wie ich dir bei deinem Buch behilflich sein könnte.«

Es freute sie, dass er sich daran erinnerte, was sie ihm über ihr Buch erzählt hatte. Obwohl es gar kein Buch gab. In diesem Moment rollte ein Flugzeug zu einem Hangar in der Nähe, und der Lärm drang durch die dünnen Wände wie durch eine offene Tür. Lise betrachtete die Tasse auf Turks Schreibtisch, sah, wie die ölige Oberfläche eines offenbar schon einige Stunden alten Kaffees konzentrische Wellen warf. Als das Dröhnen nachließ, sagte sie: »Du kannst mir sogar sehr behilflich sein. Vor allem, wenn wir irgendwohin gehen könnten, wo es ruhiger ist …«

»Klar. Ich hinterlege meine Schlüssel bei Paul.«

»Einfach so?« Sie war immer wieder erstaunt darüber, wie die Leute im Grenzland die Dinge handhabten. »Hast du keine Angst, einen Kunden zu verpassen?«

»Der Kunde kann eine Nachricht hinterlassen. Früher oder später komme ich ja wieder. Ist ohnehin nicht viel los diese Woche. Du kommst gerade zur rechten Zeit. Was hältst du vom Harley’s?«

Das Harley’s war eines der besseren amerikanischen Restaurants in der Stadt. »Das kannst du dir gar nicht leisten.«

»Geht auf Geschäftskosten. Übrigens habe ich auch eine Frage an dich. Quid pro quo.«

Was immer das bedeuten mochte. Ihr blieb nichts anderes übrig, als »okay« zu sagen. Ein Abendessen im Harley’s war sowohl mehr als auch weniger, als sie erwartet hatte. Sie war zum Flugplatz gefahren, weil sie fand, dass ein persönlicher Besuch verbindlicher war als ein Anruf, da seit ihrem letzten Gespräch doch einige Zeit vergangen war. Eine Art wortlose Entschuldigung. Allerdings ließ nichts in seinem Verhalten darauf schließen, dass er sauer war über die Unterbrechung ihrer Beziehung (und es war ja auch gar keine »Beziehung« mehr, vielleicht nicht einmal eine Freundschaft). Sie beschloss, sich auf die Arbeit zu konzentrieren. Auf den eigentlichen Grund, der sie hierhergeführt hatte. Der unerklärte Verlust, durch den ihr Leben vor zwölf Jahren einen Riss erlitten hatte.

Turk hatte sein eigenes Auto am Flugplatz stehen, also verabredeten sie, sich in drei Stunden, etwa bei Sonnenuntergang, im Restaurant zu treffen.

Falls es der Verkehr erlaubte. Wachsender Wohlstand in Port Magellan bedeutete mehr Autos, und zwar nicht mehr nur die kleinen südasiatischen Nutzfahrzeuge und Motorroller, mit denen bis vor Kurzem jeder gefahren war. Im Hafenviertel herrschte dichter Verkehr, und Lise war lange Zeit zwischen zwei Mehrtonnern eingeklemmt, schließlich kam sie aber doch rechtzeitig zum Restaurant.

Der Parkplatz vor dem Harley’s war voll, ungewöhnlich für einen Mittwochabend. Das Essen hier war durchaus passabel, aber wofür die Leute eigentlich zahlten, das war die Aussicht: Das Restaurant lag auf einem Hügel mit Blick auf Port Magellan. Die Stadt war aus einsichtigen Gründen an dieser Stelle angelegt worden, am größten natürlichen Hafen entlang der Küste, nicht weit entfernt von dem Bogen, der den Planeten mit der Erde verband. Doch das günstige Flachland war rasch überbaut worden, die Stadt hatte expandiert und zog sich jetzt die terrassenförmigen Hänge hinauf. Etliches war in großer Eile hochgezogen worden, ohne Rücksicht auf irgendwelche baugesetzlichen Vorgaben der Provisorischen Regierung. Das Harley’s, ganz aus Naturholz und Glas errichtet, war da eine Ausnahme.

Lise wartete etwa eine halbe Stunde an der Bar, bis Turks reichlich betagter Wagen auf den Parkplatz tuckerte. Sie beobachtete durch das Fenster, wie er ausstieg und in der Dämmerung auf den Eingang zuschritt. Er war eindeutig nicht so gut angezogen wie der durchschnittliche Gast im Harley’s, doch das Personal kannte ihn und hieß ihn willkommen: Er traf sich häufig mit Kunden hier, wie Lise wusste. Nachdem er sie begrüßt hatte, wurden sie von einem Kellner zu einer U-förmigen Nische am Fenster geführt. Alle anderen Fenstertische waren besetzt. »Ziemlich begehrter Laden«, sagte sie.

»Heute Abend, ja«, erwiderte er und fügte, als Lise ihn verständnislos ansah, hinzu: »Der Meteorschauer.«

Ach ja, richtig – das hatte sie ganz vergessen. Lise war seit weniger als elf Monaten (hiesiger Rechnung) in Port Magellan, sie hatte also den letztjährigen Meteorschauer verpasst. Sie wusste, dass es eine große Sache war, dass sich darum herum eine Art inoffizieller Mardi Gras entwickelt hatte, und sie konnte sich auch – aus der Zeit, die sie in ihrer Kindheit hier verbracht hatte – an den Vorgang selbst erinnern: ein Himmelsspektakel, das wie ein Uhrwerk ablief, ein perfekter Vorwand für eine Party. Doch seinen Höhepunkt erreichte der Schauer erst in der dritten Nacht. Heute war lediglich der Anfang.

»Und wir sind hier genau richtig, um zu sehen, wie es losgeht«, sagte Turk. »In einigen Stunden, wenn es ganz dunkel ist, schalten sie die Beleuchtung runter und machen die Terrassentüren auf, damit alle einen ungehinderten Ausblick haben.«

Der Himmel war tiefblau, klar wie Gletscherwasser, keinerlei Anzeichen von Meteoren, und die Stadt unterhalb des Restaurants leuchtete im Sonnenuntergang. Lise konnte die Feuer sehen, die aus den Schornsteinen der Raffinerien flackerten, die Silhouetten der Moscheen und Kirchen, die blinkenden Reklametafeln entlang der Rue Madagascar, die indische Filme, Kräuterzahnpasten (auf Farsi) und Kettenhotels anpriesen. Die Kreuzfahrtschiffe im Hafen schalteten eines nach dem anderen die Nachtbeleuchtung ein. Es war, wenn man die Augen zusammenkniff und positiv dachte, recht hübsch. Exotisch, hätte Lise früher gesagt, doch so kam es ihr jetzt nicht mehr vor.

Sie fragte Turk, wie die Geschäfte liefen.

Er zuckte mit den Achseln. »Ich zahle die Miete. Ich fliege. Ich lerne jede Menge Leute kennen. Das ist es mehr oder weniger. Ich habe keine Mission im Leben oder so etwas.«

Anders als du, schien er damit sagen zu wollen. Womit sie umstandslos bei dem Grund angelangt waren, weswegen sie mit ihm Verbindung aufgenommen hatte. Lise griff gerade nach ihrer Tasche, als der Kellner mit Eiswasser aufkreuzte. Sie hatte noch kaum einen Blick auf die Speisekarte geworfen, also bestellte sie spontan eine Paella mit hiesigen Meeresfrüchten und importiertem Safran. Turk orderte ein Steak, medium gebraten. Noch vor einigen Jahren war der Wasserbüffel das am weitesten verbreitete terrestrische Tier auf Äquatoria gewesen – jetzt konnte man problemlos frisches Rindfleisch kaufen.

Der Kellner trollte sich, und Turk sagte: »Du hättest ruhig anrufen können, weißt du.«

Nach ihrer Expedition in die Berge und einigen zögerlich eingegangenen Verabredungen hinterher hatte er sie ein paarmal angerufen. Lise hatte zuerst eifrig, dann nachlässig und schließlich, als das schlechte Gewissen einsetzte, gar nicht mehr zurückgerufen. »Ich weiß. Es tut mir leid, aber in den letzten Monaten hatte ich viel um die Ohren …«

»Ich meine heute. Du hättest nicht den ganzen Weg zum Flugplatz rausfahren müssen, nur um dich zum Abendessen zu verabreden. Du hättest anrufen können.«

»Ich dachte, wenn ich anrufe, dann wäre das, na ja, zu unpersönlich.« Er sagte nichts, also fügte sie hinzu: »Vermutlich wollte ich dich zuerst einfach mal sehen. Mich überzeugen, dass alles in Ordnung ist.«

»Andere Regeln hier draußen in der Wildnis. Mir ist das klar, Lise. Es gibt Zuhause-Geschichten und es gibt Auswärts -Geschichten. Wir waren wahrscheinlich …«

»Eine Auswärtsgeschichte?«

»Nun, ich dachte mir, dass du es so haben wolltest.«

»Das, was man haben möchte, ist nicht unbedingt das, was praktisch ist.«

»Wem sagst du das?« Er lächelte wehmütig. »Wie ist die Lage bei dir und Brian?«

»Es ist vorbei.«

»Tatsächlich?«

»Offiziell. Endlich.«

»Und das Buch, an dem du arbeitest?«

»Es sind die Recherchen, die so langsam vorangehen, nicht das Schreiben.« Sie hatte noch kein Wort geschrieben, würde nie ein Wort schreiben.

»Trotzdem ist es der Grund, warum du dich entschieden hast zu bleiben.«

In der Neuen Welt, meinte er. Sie nickte.

»Und wenn du fertig bist? Gehst du zurück in die Staaten?«

»Möglich.«

»Es ist komisch. Die Leute kommen aus allen möglichen Gründen nach Port Magellan. Einige finden Gründe zu bleiben, andere nicht. Ich glaube, man überschreitet eine gewisse Linie. Wenn man das erste Mal das Schiff verlässt, wird einem klar, dass man sich buchstäblich auf einem anderen Planeten befindet – die Luft riecht anders, das Wasser schmeckt anders, der Mond hat nicht die richtige Größe und geht zu schnell auf. Der Tag ist immer noch in zwölf Stunden eingeteilt, aber die Stunden dauern sehr lange. Nach einigen Wochen oder Monaten erleiden die Leute einen schweren Orientierungsverlust. Also packen sie ihre Sachen und fahren wieder nach Hause. Oder aber sie gewöhnen sich daran – und plötzlich fühlt sich alles ganz normal an. Dann überlegen sie es sich dreimal, bevor sie wieder zurückgehen in die Ameisenhügelstädte, die verseuchte Luft, die vergifteten Ozeane – all die Sachen, die ihnen früher ganz selbstverständlich erschienen.«

»Ist das der Grund, warum du hier bist?«

»Zum Teil, nehme ich an.«

Das Essen wurde serviert, und für eine Weile sprachen sie über nichts Bestimmtes. Der Himmel wurde dunkler, die Stadt glitzerte, der Kellner kam, um abzuräumen. Turk bestellte Kaffee. Und Lise fasste sich ein Herz und sagte: »Würdest du dir ein Foto ansehen? Bevor sie das Licht dimmen?«

»Klar. Was für ein Foto?«

»Ein Bild von einer Person, die eventuell einen Flug bei dir gechartert hat. Vor ein paar Monaten.«

»Du hast meine Passagierlisten eingesehen?«

»Nein. Ich meine, nicht ich … Du lässt die Listen bei der Regierung registrieren, stimmt’s?«

»Worum geht’s hier, Lise?«

»Ich kann es im Moment nicht erklären. Würdest du dir erst mal das Bild ansehen?«

Er runzelte die Stirn. »Zeig her.«

Lise zog den Umschlag aus der Tasche. »Aber du wolltest mich auch um einen Gefallen bitten …«

»Du zuerst.«

Sie schob den Umschlag über das Tischtuch. Er nahm das Bild heraus. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich nicht. Nach einer Weile sagte er: »Ich nehme an, es gibt eine Geschichte zu diesem Bild.«

»Es wurde Ende letzten Jahres von einer Überwachungskamera im Hafen aufgenommen. Das Bild ist vergrößert und bearbeitet worden.«

»Du hast also auch Zugang zu Überwachungskamera-Downloads?«

»Nein, aber …«

»Dann hast du es also von jemand anders. Einem deiner Freunde im Konsulat. Brian oder einer seiner Kumpel.«

»Dazu kann ich nichts sagen.«

»Du kannst mir wenigstens sagen, warum du dich so für …« Er deutete auf das Bild. »… eine alte Dame interessierst?«

»Wie du weißt, versuche ich seit einiger Zeit, mit Leuten zu sprechen, die Verbindung zu meinem Vater hatten. Sie ist eine von ihnen. Ich würde gerne mit ihr in Kontakt treten.«

»Gibt es einen speziellen Grund dafür? Ich meine, warum gerade diese Frau?«

»Na ja … auch dazu kann ich nichts sagen.«

»Der Schluss, den ich daraus ziehe, ist, dass hier alle Wege zu Brian führen. Was für ein Interesse hat er an dieser Frau?«

»Brian arbeitet beim Ministerium für Genomische Sicherheit. Ich nicht.«

»Aber es gibt da jemanden, der dir den einen oder anderen Gefallen tut.«

»Turk, ich …«

»Schon gut. So genau wollen wir’s gar nicht wissen, nicht wahr? Offenbar weiß also jemand, dass ich diese Person geflogen habe. Und das heißt, es ist außer dir noch jemand daran interessiert, sie zu finden.«

»Das könnte man so sehen. Aber ich bin nicht im Auftrag anderer hier. Was du irgendwelchen Konsulatsangehörigen sagen oder auch nicht sagen willst, das ist allein deine Entscheidung. Was du mir sagst, bleibt bei mir.«

Er sah sie an, als versuchte er den Wert dieser Erklärung abzuschätzen. Warum sollte er ihr trauen? Was hatte sie je getan, um sich sein Vertrauen zu verdienen, außer an einem ziemlich ungewöhnlichen Wochenende mit ihm zu schlafen?

»Ja«, sagte er schließlich. »Ich habe sie geflogen.«

»Okay. Kannst du mir irgendetwas über sie sagen? Wo sie ist, worüber sie gesprochen hat?«

Er lehnte sich zurück. Wie von ihm vorhergesagt, wurden die Lichter im Restaurant langsam abgedimmt, und die Glasfront, die den Speiseraum von der Terrasse trennte, wurde geöffnet. Der Himmel war von Sternen übersät, durch die Lichter im Hafen womöglich ein wenig verwaschen, aber trotzdem so gestochen scharf, wie Lise es in Kalifornien nie erlebt hatte. Hatte der Meteorschauer schon begonnen? Am Meridian schien es ein paarmal hell aufzublitzen.

Turk sah nicht hin. »Ich muss darüber nachdenken.«

»Ich bitte dich nicht, irgendwelche Vertraulichkeiten zu verraten. Einfach nur …«

»Ich weiß, worum du bittest. Und es ist auch nicht zu viel verlangt. Aber ich würde trotzdem gerne darüber nachdenken, wenn du nichts dagegen hast.«

»Natürlich.« Sie konnte ihn nicht weiter drängen. »Dann sag mir, was du von mir wissen möchtest. Quid pro quo, nicht wahr?«

»Nur eine Sache, die mich neugierig macht … Vielleicht hast du etwas darüber aufgeschnappt bei den Quellen, über die du nicht reden willst. Arundji hat heute Morgen ein Memo von der Luftkontrollabteilung der Provisorischen Regierung erhalten. Ich hatte einen Flugplan für den fernen Westen eingereicht und wäre wohl schon in der Luft gewesen, als du heute Nachmittag zu mir kamst. Aber der Flug wurde nicht genehmigt. Also habe ich ein bisschen herumtelefoniert, um herauszufinden, was los ist. Sieht aus, als dürfe niemand in die Rub al-Khali fliegen.«

»Und warum?«

»Das sagen sie nicht.«

»Ist dieses Flugverbot zeitlich begrenzt?«

»Auch darauf habe ich keine Antwort bekommen.«

»Wer hat es verhängt? Und mit welcher Befugnis?«

»In den Ämtern gibt es niemanden, der einem Auskunft erteilt. Ich bin von einer Abteilung zur nächsten verwiesen worden – so ist es allen betroffenen Piloten ergangen. Ich behaupte nicht, dass es da irgendwelche dunklen Machenschaften gibt, aber wundern tut es mich doch. Warum wird die westliche Hälfte des Kontinents zur Flugverbotszone erklärt? Der reguläre Flugverkehr von und zu den Ölfeldern findet weiter statt, und dahinter gibt es nichts als Felsen und Sand. Da zieht es nur Touristen hin, Abenteurer – und solche Leute wollten mich auch chartern. Ich verstehe es nicht.«

Lise wünschte, ihm wenigstens den Hauch einer hilfreichen Information anbieten zu können, aber sie hörte zum ersten Mal von diesem Flugverbot. Es stimmte, sie besaß Kontakte im US-Konsulat, vor allem natürlich ihr Exmann. Doch die Amerikaner waren lediglich beratende Mitglieder der Provisorischen Regierung. Und Brian war noch nicht einmal Diplomat, nur ein Beamter im Ministerium für Genomische Sicherheit.

»Ich kann nicht mehr tun, als nachzufragen«, sagte sie.

»Wäre ich dir dankbar für. Also, das Geschäftliche erledigt? Jedenfalls fürs Erste?«

»Fürs Erste.«

»Was hältst du dann davon, wenn wir unseren Kaffee mit raus auf die Terrasse nehmen, solange wir dort noch ein freies Plätzchen finden?«

Vor drei Monaten hatte sie Turk engagiert, um sich über die Mohindar Range zu einem Pipeline-Außenposten namens Kubelick’s Grave fliegen zu lassen. Eine rein geschäftliche Angelegenheit. Sie wollte einen alten Kollegen ihres Vaters aufspüren, einen Mann namens Dvali, doch sie kam erst gar nicht in Kubelick’s Grave an: Eine Sturmbö zwang das Flugzeug zur Landung auf einem der Hochgebirgspässe. Turk setzte die Maschine auf einem namenlosen See auf, während nördlich und südlich von ihnen weiße Wolken wie Kanonenrauchschwaden zwischen den granitenen Gipfeln aufstiegen. Er machte das Flugzeug an dem steinigen Strand fest und schlug ein erstaunlich komfortables Lager unter einer Gruppe von Bäumen auf, die für Lise wie knollige Fichtenmutanten aussahen. Drei Tage lang pfiff der Wind über den Pass, und die Sicht war praktisch null. Hätte man einen Fuß vor das Segeltuchzelt gesetzt, wäre man schon nach wenigen Metern verlorengegangen. Aber Turk war ein passabler Outdoor-Überlebenskünstler, er war für Notfälle gerüstet, und ein Essen aus der Dose konnte köstlich sein, wenn man gegen die Unbilden der Natur geschützt war und einen Campingkocher sowie eine Sturmlaterne zur Verfügung hatte. Unter anderen Umständen hätte sich die Angelegenheit zu einer dreitägigen Belastungsprobe entwickeln können, doch Turk erwies sich als angenehme Gesellschaft. Sie hatte nicht die Absicht gehabt, ihn zu verführen, und glaubte, dass auch er es nicht auf sie abgesehen hatte. Die gegenseitige Anziehung kam ganz plötzlich – und war leicht zu erklären.

Sie hatten sich Geschichten erzählt und aneinander gewärmt, als der Wind kälter wurde. In diesen Momenten wäre Lise damit zufrieden gewesen, sich Turk Findley wie eine Decke umzuwickeln und den Rest der Welt für immer auszusperren. Und hätte man sie gefragt, ob sie sich hier auf etwas Ernsthafteres einließ als ein unerwartetes Abenteuer, hätte sie möglicherweise gesagt: Ja, vielleicht.

Sie wollte die Beziehung aufrechterhalten, als sie nach Port Magellan zurückkehrten. Doch die Hafenstadt hatte eine Art, die besten Absichten zunichte zu machen. Probleme, die im Innern eines Zelts auf einem Gebirgspass ausgesprochen leichtgewichtig schienen, erlangten hier ihre Masse und Trägheit zurück. Die Trennung von Brian war zu diesem Zeitpunkt bereits eine vollendete Tatsache, jedenfalls aus ihrer Sicht, während Brian immer mal wieder Vorstöße unternahm, es »doch noch einmal zu versuchen«, gut gemeint, wie sie annahm, aber demütigend für sie beide.

Sie erzählte ihm von Turk, und wenn damit auch Brians Versöhnungsversuchen ein Riegel vorgeschoben war, so machte sich gleichzeitig ein ganz neuartiges Schuldgefühl bemerkbar: Sie verdächtigte sich, Turk nur als Mittel zu benutzen, als eine Art emotionale Brechstange gegen Brians Bemühungen, ein erloschenes Feuer wieder anzufachen. Also hatte sie die Beziehung nach ein paar angespannten Treffen auslaufen lassen – besser, eine ohnehin schon komplizierte Situation nicht noch komplizierter zu machen.

Nun aber lag ein vorläufiges Scheidungsurteil im Handschuhfach ihres Autos – ihre Zukunft war ein leeres Blatt, und sie war sehr versucht, darauf das eine oder andere Wort zu schreiben.

Durch die Menge lief ein leises Raunen. Als Lise aufsah, zogen gerade drei gleißend weiße Linien über den Meridian. Die Meteore gingen von einem Punkt deutlich oberhalb des Horizonts aus und flogen beinahe direkt nach Osten. Weitere kamen – zwei, dann einer, dann eine spektakuläre Fünfergruppe.

Lise musste an einen Sommer in Idaho denken, als sie mit ihrem Vater nach draußen gegangen war, um die Sterne zu betrachten – sie war damals bestimmt nicht älter als zehn. Ihr Vater war in der Zeit vor dem Spin aufgewachsen, und er sprach zu ihr immer von den Sternen, »wie sie früher waren« – bevor die Hypothetischen die Erde ein paar Milliarden Jahre in die Zukunft gerissen hatten. Er vermisse die alten Sternbilder, sagte er, die alten Namen. Aber es gab Meteore in jener Nacht, Dutzende, der größte von ihnen wurde von der unsichtbaren Barriere aufgefangen, die die Erde vor der geschwollenen Sonne schützte, der kleinste verbrannte in der Atmosphäre. Sie beobachtete, wie sie über den Himmel schossen, ihre Geschwindigkeit, ihr Strahlen verschlugen ihr den Atem.

So wie jetzt auch. Das Feuerwerk Gottes. »Wow«, sagte sie etwas lahm.

Turk zog seinen Stuhl auf ihre Seite des Tisches, sodass sie beide in Richtung Meer saßen. Er machte keinerlei Annäherungsversuche, und sie rechnete auch nicht damit. Über hohe Bergpässe zu fliegen, war im Vergleich zu diesem Manöver wohl ein Kinderspiel. Auch sie achtete darauf, ihm nicht zu nahe zu kommen, und doch spürte sie die Wärme seines wenige Zentimeter entfernten Körpers. Sie trank ihren Kaffee, ohne ihn zu schmecken. Wieder gab es einen Sternenschauer. »Ob wohl irgendetwas davon bis auf den Erdboden gelangt?«, fragte sie.

»Es ist nur Staub«, erwiderte Turk. »Jedenfalls sagen das die Astronomen. Überreste eines Kometen.«

»Und was ist damit?« Lise deutete nach Osten, dorthin, wo der dunkle Himmel auf das noch dunklere Meer traf. Es sah so aus, als würde dort tatsächlich etwas herabfallen – keine Meteore, sondern helle Punkte, die in der Luft hingen wie Leuchtkugeln. Ihr auf dem Wasser sich spiegelndes Licht tauchte den Ozean in ein schlieriges Orange. »Gehört das dazu?«

Turk stand auf. Ebenso einige der anderen Gäste auf der Terrasse. Verwirrte Stille löste die fröhliche Unterhaltung ab. Hier und da begannen Telefone zu summen.

»Nein«, sagte Turk. »Das gehört nicht dazu.«

Titel der Originalausgabe

AXIS

Deutsche Erstausgabe 5/08 Redaktion: Alexander Martin

Copyright © 2007 by Robert Charles Wilson Copyright © 2008 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH

www.heyne.de

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München Satz: C. Schaber Datentechnik, Wels

eISBN 978-3-641-09397-6

www.randomhouse.de

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