Chronos - Robert Charles Wilson - E-Book

Chronos E-Book

Robert Charles Wilson

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Beschreibung

Das abgeschiedene Haus auf dem Land ist genau die Zuflucht, die Tom Winter nach seiner Scheidung sucht. Doch dann entdeckt er den Gang hinter der Kellerwand, der sein Leben für immer verändern wird. Denn als er am anderen Ende herauskommt, ist er im New York des Jahres 1962. Und er ist hier nicht der einzige Mensch aus der Zukunft …

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Seitenzahl: 526

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Das Buch

Was ist Zeit? Für Tom Winter stellt sich diese Frage auf geradezu existenzielle Weise. Denn in dem abgeschiedenen Haus auf dem Land, in dem er nach seiner Scheidung zur Ruhe kommen will, befindet sich eine mehr als mysteriöse Vorrichtung: eine Art Zeittunnel, die ihn in das New York des Jahres 1962 führt. Zuerst sieht er es als einzigartige Möglichkeit, von vorne anzufangen, sein bisheriges Leben ganz und gar hinter sich zu lassen. Doch es gibt noch jemanden, der den Tunnel durch die Zeit kennt. Und dieser jemand kennt nur ein Ziel: Tom Winter muss sterben …

Mit »Chronos« legt Robert Charles Wilson einen einzigartigen Zeitreise-Roman vor. Der preisgekrönte Autor von »Spin« stellt damit einmal mehr unter Beweis, dass seine Romane zum Besten gehören, was die Science Fiction derzeit zu bieten hat.

Der Autor

Robert Charles Wilson, geboren 1953 in Kalifornien, wuchs in Kanada auf und lebt mit seiner Familie in der Nähe von Toronto. Er zählt zu den bedeutendsten Autoren der modernen Science Fiction und wurde mehrfach für seine Romane ausgezeichnet, unter anderem mit dem Hugo Award, dem Philip K. Dick Award und dem John W. Campbell Award. Zuletzt sind bei Heyne die Romane »Spin«, »Axis« und »Die Chronolithen« erschienen.

Mehr zu Autor und Werk unter: www.robertcharleswilson.com

Inhaltsverzeichnis

WidmungPROLOG: APRIL 1979TEIL EINS - DIE TÜR IN DER WAND
Kapitel 1
Copyright

Für Paul … für den die Zukunft mehr alstheoretisch ist

Woe is me, woe is me! The acorn’s not yet fallen from the tree That’s to grow the wood That’s to make the cradle That’s to rock the babe That’s to grow a man That’s to lay me to my rest.

ANONYMUS, »The Ghost’s Song«

PROLOG: APRIL 1979

Schon bald würde der Zeitreisende mit der Notwendigkeit seines eigenen Todes konfrontiert werden.

Er hatte diese Entscheidung nicht getroffen oder auch nur begonnen, über ihre Notwendigkeit nachzudenken, an jenem kühlen Frühlingsmorgen, als Billy Gargullo durch die Küchentür in den Garten stürzte, schwer bewaffnet und in goldfarbener Rüstung.

Der Zeitreisende – sein Name lautete Ben Collier – hatte die langwierige Aufgabe in Angriff genommen, hinter der Wiese einen Garten anzulegen. Er hatte kleine Pflöcke eingeschlagen und die Begrenzung mit Schnur markiert. Neben die mit Gras und Unkraut bewachsene Fläche hatte er eine Schaufel, einen Rechen und ein Gartenwerkzeug namens »Gartenhexe« gelegt. Er hatte alles in einem Eisenwarenladen in der Harbor Mall gefunden.

Ben freute sich auf das Abenteuer Gartenpflege. Er hatte niemals zuvor einen Garten gehabt. Er begriff die Grundlagen und Voraussetzungen, aber er wusste nicht genau, was dieser sonnige, feuchte Flecken Erde hervorbringen würde. Daher hatte er sich eine Kollektion an Samen aus dem Drehständer des Eisenwarenladens zusammengesucht. Darunter befanden sich Mais, Radieschen, Sonnenblumen und die nur nachts blühende Aloe. In der rechten Hand hielt er ein Paket Purpurwinden, die für einen freien Streifen am Zaun reserviert waren, wo sie etwas fanden, an dem sie sich hochranken konnten.

Er lebte jetzt seit fünfzehn Jahren allein auf diesem Anwesen  – zwei Morgen ungerodeten Waldes und ein Holzhaus mit drei Zimmern. Ein vergleichsweise winziger Zeitabschnitt, aber durchaus bedeutsam, wenn man ihn an einem Stück durchlebte. Er war im August des Jahres 1964 an diesem Außenposten angekommen und hatte seitdem kein längeres Gespräch mehr geführt, bis auf das notwendige Hallo und Danke zu Ladenverkäufern und Lieferanten. Gelegentlich zog ein neuer Mieter in das Haus unten an der Straße und stieg den lang gestreckten Hügel herauf, um sich vorzustellen. Der Zeitreisende reagierte immer freundlich … aber in seinem Verhalten lag irgendetwas Seltsames, das die Nachbarn von einem zweiten Besuch abhielt. Er wirkte wie ein durchschnittlicher junger Mann mit rundem, freundlichem Gesicht – nicht so jung, wie er aussah, natürlich nicht, ganz im Gegenteil –, der lächelte und eine Levi’s und ein kariertes Hemd trug, kurz geschnittene Haare hatte und, wenn man Fantasie besaß, einen an etwas äußerlich Angenehmes, aber gleichzeitig irgendwie Beunruhigendes erinnerte. An einen Wassertümpel auf einer Waldlichtung zum Beispiel, aus dem jeden Moment etwas Altes und Fremdartiges aufsteigen konnte.

Er hatte die ganze Zeit allein gelebt. Für Ben war das nicht besonders schlimm. Er war wegen seiner Vorliebe zum Einzelgängertum ausgesucht worden, und er verfügte über geheime Hilfsmittel, die der jeweils gegenwärtigen Technologie weit voraus waren: ein weitreichendes Gedächtnis, taktile Erinnerung, ein ganzes Arsenal winziger kybernetischer Helfer. Er war nicht einsam. Nichtsdestotrotz war er, in einem sehr realen Sinn, allein. Er war ein aufmerksamer und pflichtbewusster Wächter. Aber die Ruhe des Hauses und des gesamten Anwesens verführten ihn manchmal dazu, in seiner Wachsamkeit nachzulassen. Es kam vor, dass er sich beim Tagträumen ertappte.

Zum Beispiel jetzt. Während er auf das Unkrautdickicht blickte, stellte er sich einen Garten vor. Einen Garten zu bearbeiten ist eine Art Zeitreise, dachte er. Man investiert Arbeit in die Erwartung einer veränderten Zukunft. In nackte Erde, die Blumen hervorbringt. Ein raffiniertes Werk von Zeit und Wasser und Stickstoff und pflegenden Händen. Diese Samen enthielten ihre eigene Blüte.

Er betrachtete das Päckchen in seiner Hand. Himmelblau lautete die Aufschrift. Das Bild war übertrieben bunt, ein Wirbel in Technicolor, türkisblau und purpurrot. Als Pflanzenart war die Purpurwinde schon Jahre vor seiner Geburt vom Aussterben bedroht gewesen. Er stellte sich vor, wie diese Blumen sich an den alten, duftenden Kiefernlatten des Zauns (die Kiefer: ein weiteres Opfer) emporrankten. Er stellte sich ihre Blüte im sommerlichen Sonnenschein vor. Er würde im letzten Licht eines heißen, trockenen Tages auf die Gartenveranda hinaustreten und diesen hellblauen Filigranschmmuck bewundern.

In der Zukunft.

Er starrte auf das Päckchen – hing seinen idyllischen Träumen nach –, als der Räuber durch die Küchentür brach.

Er hatte eine Warnung erhalten, unterschwellig und ganz kurz nur, ausreichend, sodass er sich zum Haus umwandte. Er spürte es als eine Unruhe unter seinen kybernetischen Helfern und dann als ihr abruptes Schweigen.

Der Räuber trug etwas, das Ben als militärische Rüstung des späten einundzwanzigsten Jahrhunderts identifizierte. Es war eine Rüstung, die tief im Körper wurzelte, eine prothetische Rüstung, die ins Nervensystem eingebunden war. Der Räuber wäre sehr schnell und absolut tödlich.

Ben war nicht ganz ohne eigene Hilfsmittel. Sobald die äußere Erscheinung registriert und erkannt war, begannen für den Notfall vorgesehene Hilfseinrichtungen zu arbeiten. Er tauchte in die dürftige Deckung eines Fliederstrauchs, der am Rand der Wiese stand, ein paar Meter vom Waldrand entfernt. Er hatte genug Zeit für den stummen Wunsch, dass er die Blüte des Flieders noch erleben möge.

Er hatte Zeit für eine ganze Reihe von Gedanken. Seine Reflexe waren bis an die rein physikalischen Grenzen von Nerven und Muskeln beschleunigt. Sein Bewusstsein arbeitete schnell und mühelos. Die äußeren Ereignisse verlangsamten sich bis auf Kriechtempo.

Er betrachtete den Eindringling. Was er sah, war eine verschwommene goldfarbene Bewegung, der kurze Eindruck einer Handgelenkwaffe, die gezückt und in Anschlag gebracht wurde. Ben konnte sich nicht erklären, was den Mann hierhergebracht hatte, aber seine feindselige Haltung war offensichtlich, die Bedrohung stand außer Frage.

Ben war waffenlos. Es gab Waffen, die im Haus versteckt waren, aber er hätte an dem Räuber vorbeigelangen müssen, um an sie heranzukommen.

Er stand auf und wich nach links aus, rannte auf einem Zickzackkurs, der ihn zur Seitenfront des Hauses und weiter zur Vorderseite führen würde, zu einem Fenster oder einer Tür. Als er kurz stehen blieb, feuerte der Eindringling seine Waffe ab.

Es war eine primitive, aber absolut tödliche Strahlenwaffe, ein typisches Instrument ihrer Zeit. Ben erinnerte sich, Fotos von verbrannten und bis zur Unkenntlichkeit zerfleischten Körpern auf einem Schlachtfeld weit in der Zukunft gesehen zu haben. Der Strahl versengte die Luft nur wenige Zentimeter von seinem Kopf entfernt. Er glaubte, die grelle, säuerliche Ionisation schmecken zu können.

Dennoch, die richtige Rüstung hätte ihn geschützt. Und so etwas besaß er – im Haus.

Dieser Gedanke beherrschte ihn. Doch das Haus war zu weit entfernt, und die Wiese war ein ungeschütztes Todesfeld. Er sah, wie der Räuber sich duckte, um zu zielen. Er ließ sich fallen und machte eine Rolle vorwärts – zu spät. Der Strahl schnitt in sein linkes Bein und durchtrennte es dicht unterhalb des Knies.

Er spürte einen kurzen, aber furchtbaren Schmerz … dann nur noch Taubheit, als die beschädigten Nerven sich selbst ausschalteten. Angeschlagen, verkrüppelt, stützte Ben sich auf einen Birkenstumpf, der aus dem Gras ragte. Schon seit Jahren hatte er immer wieder daran gedacht, den Baumstumpf auszugraben. Das abgetrennte Bein – nun ein kaum identifizierbarer Zylinder toten Fleisches – rollte an ihm vorbei. Er verspürte den absurden Wunsch, es zu ergreifen und festzuhalten. Aber das Bein war verdorben – nicht mehr wiederherstellbar. Er brauchte wohl ein neues.

Er fühlte eine kurze Benommenheit, als offene Arterien sich schlossen. Der aus der geschwärzten Wunde pulsierende Blutstrom reduzierte sich zu einem Tröpfeln.

Kluge Programme waren in die freien Bereiche seiner DNS eingefügt worden. Für Ben war dies keine tödliche Verletzung. Eine ernsthafte Behinderung war es jedoch ganz gewiss.

Er war hier hilflos. Der Birkenstumpf bot überhaupt keine Deckung, und der Eindringling traf Vorbereitungen für einen weiteren Schuss. Ben humpelte vorwärts, drückte seinen blutigen Kniestumpf in die Erde, hüpfte zwei Schritte weit und rollte sich dann wie ein Betrunkener weiter. Er hätte damit Erfolg haben können, wenn der Räuber nach Sicht gezielt hätte. Doch die Waffe war mit einer Zielsuchvorrichtung ausgestattet, und der Strahl traf Bens Körper zweimal. Zuerst schnitt er seine rechte Hand am Handgelenk ab, und dann brannte er sich tief in seine Bauchhöhle. Blut und Flammen tanzten über sein Hemd, das er bei Sears in der Harbor Mall gekauft hatte.

Nun begann Ben an den Tod zu denken.

Wahrscheinlich war er unvermeidbar. Ihm war klar, wie ernsthaft er beschädigt war. Wieder wallte Benommenheit in ihm hoch, als wichtige Arterien sich verschlossen oder ausdehnten in dem vergeblichen Bemühen, den Blutdruck zu erhalten. Ein taubes Gefühl stieg von seiner Hüfte bis zu seinem Schlüsselbein hoch. Es war, als ließe er sich allmählich in ein warmes Bad gleiten. Er lag im Gras, wohin sein eigener Schwung ihn befördert hatte, konnte seine Gliedmaßen nicht bewegen und drohte ohnmächtig zu werden.

Er drehte den Kopf.

Der Räuber stand über ihm.

Seine Rüstung war goldglänzend und blendete ihn im Sonnenlicht.

Der Eindringling blickte auf Ben mit einem Ausdruck herab, der so gleichgültig, so emotionslos war, dass er totale Überraschung auslöste. Es ist ihm fast gleichgültig, dass er mich getötet hat, dachte Ben.

Der Räuber brachte seine Handgelenkwaffe erneut in Anschlag und zielte diesmal auf Bens Kopf.

Die Waffe war eher unauffällig und in eine seltsam insektenhaft anmutende Konstruktion der Rüstung integriert. Ben blickte an ihr vorbei, sah die Andeutung eines Lächelns.

Der Räuber feuerte seine Waffe ab.

Der Kopf des Zeitreisenden verschwand fast vollständig in einer Dampfwolke aus Knochen und Fleisch.

Billy Gargullo betrachtete die Leiche des Zeitreisenden mit plötzlicher Abscheu. Dies war kein Feind mehr, sondern etwas, was weggeschafft werden musste. Eine schmutzige Angelegenheit.

Er ergriff den heilen Arm der Leiche und begann, sie in das Wäldchen hinter dem Haus zu schleifen. Es war ein langwieriges, schweißtreibendes Unterfangen. Die Luft war kühl, aber die Sonne brannte gnadenlos herab. Billy folgte einem schmalen Pfad mehrere Meter weit und fühlte sich von der Üppigkeit des Waldes bedrängt. Er blieb dort stehen, wo der Pfad nach links abbog. Rechts von ihm befand sich eine Lichtung. Auf dieser Lichtung stand ein Bretterschuppen, von Efeu überwuchert und seit Jahren nicht mehr benutzt.

Er öffnete vorsichtig die Tür des Schuppens. Ein Scharnier fehlte, und die Tür sackte schief zur Seite weg. Sonnenstrahlen drangen in das muffige Innere. Sie fielen auf Stapel halb vermoderter Zeitungen, ein paar verrostete Gartengeräte, eine im Licht tanzende Mückenwolke.

Billy schob und zerrte den Zeitreisenden – das versengte Fleisch seines Körpers – in den säuerlich und nach Erde riechenden Schatten der Hütte. Seine Aktion bewirkte, dass ein Stapel Zeitungen über die Leiche kippte. Die Zeitungen fielen mit einem klatschenden Geräusch nach unten, und Billy verzog bei dem plötzlich aufwallenden Modergestank angeekelt das Gesicht.

Er trat durch die Tür nach draußen. Er war zufrieden. Vermutlich würde die Leiche gefunden, aber sie würde zumindest für eine Weile Unruhe stiften. Er hatte nicht vor, sich an diesem Ort lange aufzuhalten.

Er stützte sich mit einer Hand gegen die von der Sonne angewärmte Wand des Schuppens.

Ein Geräusch erklang hinter ihm, ganz schwach, aber beunruhigend  – ein Rascheln und Schnattern in der Dunkelheit.

Mäuse, dachte Billy.

Ratten.

Nun, sie können ihn haben.

Er schloss die Tür.

Billys erster Schuss hatte das Päckchen Purpurwindensamen aus der Hand des Zeitreisenden geschlagen.

Ein Teil des Energiestrahls schnitt in das Päckchen und verstreute seinen Inhalt über die Wiese. Das verkohlte Papier – die Aufschrift Himmelblau war noch immer in braunen Lettern lesbar  – segelte nicht weit von dem Birkenstumpf entfernt, wo der Zeitreisende sein Bein verloren hatte, zu Boden. Die Samenkörner wurden auf einer weiten Fläche zwischen dem Baumstumpf und dem Zaun verstreut.

Die meisten Körner wurden von Vögeln und Insekten verspeist. Einige wenige trieben aus, bewässert vom Regen der darauffolgenden Nacht, wurzelten in der Wiese und wurden vom wuchernden Gras erstickt, ehe die Schösslinge die ersten Sonnenstrahlen sahen.

Vier Pflänzchen sprossen in der fruchtbaren Erde neben dem Holzzaun.

Drei hielten sich bis zum Sommer. Die wenigen Blüten, die sie hervorbrachten, entfalteten ihre Pracht im August, aber es war niemand da, der sie bewunderte. Das Gras war ungehindert in die Höhe geschossen, und das Haus war leer.

Es sollte noch für einige Jahre leer stehen.

TEIL EINS

DIE TÜR IN DER WAND

1

Es war ein bescheidenes Holzhaus mit drei Zimmern. Das Kellergeschoss lag etwas tiefer, als es in diesem Teil des Landes üblich war. Das Haus selbst war gemütlich, mit Efeu überwuchert, von dichten Büschen umgeben und kilometerweit von der nächsten Stadt entfernt.

Es stehe schon seit Jahren leer, sagte der Immobilienmakler, und das Grundstück grenze an einen kleinen Kiefernwald mit einem Sumpf. »Offen gesagt, betrachte ich das Ganze nicht als ein besonders lohnendes Objekt.«

Tom Winter war anderer Meinung.

Vielleicht lag es an seiner Stimmung, aber das Anwesen übte auf Anhieb einen großen Reiz auf ihn aus. Paradoxerweise gefiel es ihm wegen seiner Nachteile: seiner einsamen Lage, seiner Abgeschiedenheit in diesem feuchten Nadelwald  – seiner offensichtlichen Reizlosigkeit, ähnlich der offensichtlichen Hässlichkeit einer Bulldogge. Er fragte sich, ob er, wenn er dort lebte, irgendwann dem Haus ähnlich wurde, so wie Tierhalter sich angeblich ihren Lieblingen anglichen. Er wäre unauffällig. Allein. Vielleicht auch ein wenig verwildert.

Aber so, nahm Tom an, erschien er Doug Archer, dem Immobilienmakler, sicher nicht. Archer trug sein blaues Bell-Immobilien-Jackett, doch die saubere verwaschene Levi’s und seine zerzausten Haare verrieten seine Herkunft. Familie in der Gegend ansässig, vielleicht sogar immer noch in der Wildnis lebend. Dazu erzogen, Hosen mit Bügelfalten voller Misstrauen zu begegnen, wie Tom sie zufälligerweise trug. Aber der äußere Anschein konnte auch in die Irre führen. Tom hielt inne, als sie sich der schlichten Haustür aus glattem Kiefernholz näherten. »Hat das hier nicht früher mal den Simmons gehört?«

Archer schüttelte den Kopf. »Nicht ganz. Deren Anwesen liegt ein kleines Stück den Berg hinauf. Peggy Simmons wohnt noch immer dort – sie ist fast achtzig.« Er hob eine Augenbraue. »Sie kennen Peggy Simmons?«

»Ich habe früher immer Lebensmittel in die Post Road geliefert. Manchmal bin ich auch hier vorbeigekommen. Aber das ist schon lange her.«

»Ist das Ihr Ernst? Sagten Sie nicht …«

»Ich habe fast zwölf Jahre lang in Seattle gelebt.«

»Haben Sie irgendwas mit Tony Winter zu tun, oben bei Arbutus Ford?«

»Er ist mein Bruder«, sagte Tom.

»Hey! Zum Teufel! Das ändert wirklich alles!«

In der Stadt, dachte Tom, lernt man beizeiten, nicht so freundlich und einladend zu lächeln.

Archer schob den Schlüssel ins Schloss. »Wir haben einen Mann hierhergeschickt, als das Anwesen in unser Angebot aufgenommen wurde. Er sagte, es sei drinnen in einigermaßen gutem Zustand, aber ich nehme an, nachdem es so lange verrammelt war – nun, betrachten Sie alles unter diesem Vorbehalt.«

Im Immobilienjargon, dachte Tom, heißt das, es ist absolut unbewohnbar.

Aber die Tür schwang an Scharnieren auf, die sich frisch geölt anfühlten, und gab den Blick auf einen hellbeigen, sauberen Teppichboden frei.

»Mich laust der Affe«, stieß Archer hervor.

Tom trat über die Schwelle. Er betätigte den Wandschalter, und eine Deckenlampe flammte auf, aber sie war eigentlich gar nicht nötig. Ein hohes, nach Süden gerichtetes Fenster ließ ausreichend wässrig-fahlen Sonnenschein herein. Das Haus war unter Berücksichtigung der klimatischen Verhältnisse gebaut worden. Es wäre noch nicht einmal bei Regenwetter düster.

Rechts ging der Wohnraum in eine Küche über. Auf der linken Seite verband ein Korridor die Zimmer und das Bad miteinander.

Eine Treppe führte in den Keller hinunter.

»Mich laust der Affe«, wiederholte Archer. »Vielleicht habe ich mich bei diesem Haus gründlich geirrt.«

Der Raum, in den sie blickten, war peinlich sauber, die Einrichtung alt, aber makellos. Eine mechanische Kaminuhr tickte – wer mochte sie aufgezogen haben? – unter einem Picassodruck. Etwas kitschig, dachte Tom, der Couchtisch mit Glasplatte, das niedrige Sofa in dänischem Möbeldesign. Der Stil der Sechzigerjahre, aber tadellos erhalten. Das Ganze hätte aus einer Zeitkapsel stammen können.

»Sehr gepflegt«, sagte er.

»Das kann man wohl sagen. Vor allem, wenn man bedenkt, dass es überhaupt nicht gepflegt wurde, soweit ich weiß.«

»Wer ist der Eigentümer?«

»Das Anwesen wurde schon vor langer Zeit vom Staat versteigert. Eine Holdinggesellschaft in Seattle hat es gekauft, hatte jedoch nichts weiter damit gemacht. Während des letzten Jahres haben sie hier eine Reihe Grundstücke verkauft.« Er schüttelte den Kopf. »Um ganz ehrlich zu sein, das Haus war völlig heruntergekommen. Wir haben einen Mann rausgeschickt, um alles zu begutachten, das Dach und das Fundament und so weiter, aber er hat nie erwähnt … Ich meine, wir nahmen an, dass diese alten Holzhäuser hier draußen …« Er vergrub die Hände in den Taschen und runzelte die Stirn. »Der Strom wurde erst letzte Woche nach Jahren wieder eingeschaltet.«

Für wie viele kalte Winter und heiße Sommer war dieser Raum verriegelt und verrammelt gewesen? Tom hielt inne und fuhr mit dem Finger über einen Endpfosten, wo die Treppe sich in der Dunkelheit verlor. Sein Finger blieb völlig sauber. Das Holz sah geölt und poliert aus. »Waren hier die Heinzelmännchen am Werk?«

Archer lachte nicht. »Jack Shackley ist dafür der zuständige Agent. Vielleicht war er hier, um alles auf Vordermann zu bringen. Auf jeden Fall hat hier jemand ein Wunder vollbracht. Im Angebot ist die Rede von Haus und Einrichtung, und es sieht so aus, als bekämen Sie hier ein paar schöne Stücke, wenn auch schon ein wenig veraltet. Sollen wir uns mal umsehen?«

»Ich denke schon.«

Tom ging zweimal durch das Haus – einmal mit Archer und einmal, »um alles auf sich wirken zu lassen«, während Archer seine Visitenkarte auf die Frühstücksbar legte und nach draußen ging, um eine Zigarette zu rauchen. Die Türen der Küchenschränke öffneten sich, ohne zu klemmen, und gaben den Blick auf ihr sauberes und einheitlich leeres Innenleben frei. Der Wäscheschrank war aus Kiefernholz, duftete würzig und war ebenfalls leer. Das Gleiche traf auch auf die Zimmer zu, nur im größten standen ein einfaches Bett, eine Schubladenkommode und ein Spiegel – alles ohne ein Staubkörnchen. Im Kellergeschoss sah man durch hohe Fenster hinaus auf die Wiese hinter dem Haus. Die Fenster waren mit weißen Rollos versehen, die durch das Sonnenlicht brüchig und gelb geworden waren. Die Zeit hinterlässt hier also doch ihre Spuren, dachte er.

Das Haus war solide, bewohnbar und sauber. Die grundlegende Frage war, konnte man sich hier auch heimisch fühlen?

Nein. Noch nicht, zumindest.

Aber das könnte sich ändern.

Wollte er, dass er sich hier heimisch fühlte?

Aber das war eine Frage, die er nicht zu seiner Zufriedenheit beantworten konnte. Vielleicht wollte er weniger ein Haus als eher eine Höhle, einen warmen, trockenen Ort, wo er seine Wunden pflegen konnte, bis sie geheilt waren – oder wenigstens bis der Schmerz erträglich geworden war.

Aber das Haus war ausgesprochen interessant.

Er strich mit der Hand über eine glatte Wand im Kellergeschoss und erschrak, als er … ja, was fühlte er eigentlich?

Das Summen irgendwelcher Maschinen, übertragen durch Gipsplatten und Zement – das sofort abbrach?

Ein feines elektrisches Kribbeln?

Oder überhaupt nichts.

»Alles dicht und stabil gebaut.«

Das war Archer, der von draußen hereinkam.

»Ich glaube, Sie haben hier ein Schnäppchen gefunden, Tom. Wir können gleich in mein Büro fahren, wenn Sie sich über ein Angebot unterhalten wollen.«

»Zum Teufel, warum eigentlich nicht«, sagte Tom Winter.

Die kleine Stadt Belltower erstreckte sich über die gesamte geschwungene Küstenlinie einer malerischen, nebligen pazifischen Bucht an der nordwestlichen Küste der Vereinigten Staaten.

Die Hauptwirtschaftszweige waren Fisch und Holz. Eine riesige Papierfabrik war während des Wirtschaftsbooms der Fünfzigerjahre am südlichen Ende der Stadt erbaut worden, und an feuchten Tagen, wenn der Wind über die Küste wehte, erstickte die Stadt schier in dem schwefeligen, bitteren Gestank der Fabrik. Heute hatte der Wind in Richtung Ozean geblasen, und die Luft war rein. Kurz vor Sonnenuntergang, als Tom Winter in sein Zimmer im Seascape Motel zurückkehrte, wanderten die Wolkenberge weiter, und die Sonne beschien die schönsten Punkte auf den Bergen, in der Stadt und in der Bucht.

Er aß im High Tide Diningroom zu Abend und gab der Serviererin ein viel zu großzügiges Trinkgeld, weil ihm ihr Lächeln echt und aufrichtig vorkam. Er kaufte eine Ausgabe der Newsweek im Andenkenladen und suchte sein Zimmer im zweiten Stock auf, als die Dunkelheit hereinbrach.

Fast unglaublich, dachte er, dass er wieder in diese Stadt zurückgekehrt war. Von hier wegzugehen, das war nach Toms Empfinden ein Akt der Zerstörung gewesen. Er war mit dem Bus nach Seattle im Norden gefahren und hatte so getan, als sei alles hinter ihm von der Landkarte radiert worden. Seltsam, die Stadt immer noch hier vorzufinden, die Läden geöffnet, die Boote lagen noch immer im Yachthafen vor Anker.

Das Einzige, was beschädigt wurde, ist mein Leben.

Aber das war Selbstmitleid, und er schalt sich deswegen. Das absolute Laster der Einsamkeit. Ähnlich wie Masturbation war es eine Parodie von etwas, das am besten im Einklang mit anderen Personen praktiziert wurde.

Er war sich auch bewusst, mit welchem Schmerz er sich noch auseinanderzusetzen hatte … aber nicht hier in diesem Zimmer mit den hässlichen Hafengemälden an den Wänden, den Hotelpostkarten in der Kommode, auf deren Platte helle Ringe von den Generationen kündeten, die ihre Cola-Flaschen aus dem Automaten dort abgestellt hatten, wo sie in der trockenen Hitze beschlugen und das Kondenswasser sich auf dem Holzfurnier sammelte. Hier wäre es einfach zu viel auf einmal.

Er tappte über den Teppichboden des Korridors, holte eine Flasche Coca-Cola, damit auch er seinen hellen Ring auf der Möblierung hinterließ.

Das Telefon summte, als er zurückkam. Er nahm den Hörer ab und öffnete mit der anderen Hand die Cola-Dose.

»Tom«, meldete sich sein Bruder.

»Tony. Hi, Tony.«

»Bist du allein?«

»Verdammt noch mal, nein«, antwortete Tom. »Die Party kommt gerade in Schwung. Hörst du es nicht?«

»Sehr lustig. Trinkst du gerade?«

»Limonade, Tony.«

»Ich dachte mir, du solltest nicht allein dort herumsitzen. Ich finde, das ist eine schlechte Angewohnheit. Du solltest dich nicht wieder volllaufen lassen.«

Volllaufen, dachte Tom amüsiert. Sein Bruder war ein unerschöpflicher Quell solcher altmodischer Ausdrücke. Es war Tony, der Brigitte Nielsen mal als »oberscharfe Torte« bezeichnet hatte. Barbara hatte die Bonmots ihres Bruders immer geliebt. Sie nannte es immer ihr »Besuchsyoga bei Tony« – sich zu unterhalten und stets eine Hand bereitzuhalten, um damit schnellstens ein Grinsen zu verbergen.

»Wenn ich mich volllaufen lasse«, sagte Tom, »dann bist du der Erste, der informiert wird.«

»Genau davor habe ich Angst. Ich habe um eine ganze Menge Gefallen bitten müssen, um dir diesen Job zu besorgen. Natürlich habe ich mich dabei auch ein wenig aus dem Fenster gelehnt.«

»Rufst du deshalb an?«

Eine Pause, ein Geständnis. »Nein. Loreen hatte die Idee. Na ja, wir beide dachten … Sie hat ein Huhn im Backofen, das gleich gar ist, und es ist mehr als genug da, also wenn du noch nicht gegessen hast …«

»Es tut mir leid. Ich habe gerade unten im Restaurant ausgiebig gespeist. Aber trotzdem vielen Dank. Und bedank dich für mich auch bei Loreen.«

Tonys Erleichterung war deutlich zu hören. »Du hast wirklich keine Lust vorbeizukommen?« Ein kurzer Wortwechsel im Hintergrund. »Loreen hat auch einen Blaubeerkuchen gebacken.«

»Sag Loreen von mir, mir läuft das Wasser im Mund zusammen, aber ich möchte heute mal früh ins Bett.«

»Na ja, wie du willst. Auf jeden Fall rufe ich dich nächste Woche an.«

»Gut. Prima.«

»Gute Nacht, Tom.« Eine Pause. Dann fügte Tony hinzu: »Und willkommen in der Heimat.«

Tom legte den Telefonhörer auf und wandte sich zu seinem Ebenbild um, das ihn trübsinnig aus dem Spiegel der Kommode ansah. Es war ein verhärmt aussehender Mann mit zurückweichendem Haaransatz, der, in diesem Moment jedenfalls, älter erschien als seine dreißig Jahre. Er hatte zugenommen, seit Barbara ihn verlassen hatte, und es war bereits zu sehen – eine gewisse Bauchwölbung und weichere Konturen in seinem Gesicht. Aber es war der Ausdruck, der das Bild im Spiegel so alt erscheinen ließ. Er hatte ihn bei alten Männern in Autobussen gesehen. Eine Düsternis, die Kapitulation signalisierte, die Bereitschaft, sich der Niederlage zu ergeben.

Wie sahen zur Zeit seine Alternativen aus?

Er konnte aus dem Fenster und in seine Vergangenheit schauen; oder in diesen Spiegel, und damit in seine Zukunft.

Beides traf hier aufeinander. Am Kreuzweg. In dieser regnerischen alten Stadt.

Er wandte sich zum Fenster um.

Willkommen zu Hause.

Am Morgen rief Doug Archer an, um Bescheid zu sagen, dass Toms Angebot für das Haus – der größte Teil seines sorgfältig gesparten Erbes in bar – angenommen worden war. »Die nötigen Papiere dürften bis heute Abend aufgesetzt und vorbereitet sein. Ein paar Unterschriften, und schon gehört das Prachtstück Ihnen.«

»Ist es möglich, schon heute den Schlüssel zu bekommen?«

»Das dürfte kein Problem sein.«

Tom fuhr zum Immobilienbüro neben der Harbor Mall. Archer half ihm bei der Bewältigung des Papierkriegs im öffentlichen Notariat, das im gleichen Haus ansässig war, dann lud er ihn im Restaurant auf der anderen Straßenseite zum Essen ein. Der Name des Restaurants lautete El Niño – es war neu, und wenn Tom sich richtig erinnerte, hatte es früher Kresge’s geheißen. Die Inneneinrichtung war im nautischen Stil gehalten, aber nicht aufdringlich kitschig.

Tom bestellte ein Lachssandwich. Archer lächelte die Kellnerin an. »Nur einen Kaffee, Nance.«

Sie nickte und erwiderte das Lächeln.

»Sie tragen ja gar nicht Ihre Maklerjacke«, sagte Tom.

»Eigentlich habe ich heute meinen freien Tag. Außerdem habe ich mit Ihnen ein gutes Geschäft abgeschlossen. Was soll’s, Sie stammen ja schließlich von hier, und in diesem Laden brauche ich bei niemandem Eindruck zu schinden.« Er lehnte sich auf der Kunstlederbank zurück. Das karierte Hemd unterstrich seine schlanke, sportliche Figur, und sein langes Haar wirkte noch etwas wilder als am Tag vorher. Er bedankte sich bei der Kellnerin, als der Kaffee gebracht wurde. »Übrigens habe ich mir mal die Geschichte des Hauses angesehen. Vorwiegend aus persönlicher Neugier.«

»Haben Sie etwas Interessantes gefunden?«

»Irgendwie schon, ja.«

»Etwas, das Sie mir nicht verraten wollten, ehe die Dokumente unterschrieben waren?«

»Es ist nichts, das Ihre Entscheidung beeinflusst hätte, Tom. Ich finde es nur etwas merkwürdig.«

»Und? Spukt es in dem Haus?«

Archer lächelte und beugte sich über seine Tasse. »Das nicht. Obgleich es mich nicht überraschen würde. Das Anwesen hat eine seltsame Vergangenheit. Das Grundstück wurde 1963 erworben, und das Haus wurde im darauffolgenden Jahr fertiggestellt. Von 1964 bis 1981 wurde es von einem Mann namens Ben Collier bewohnt. Er lebte allein, kam ab und zu in die Stadt, hatte keine feststellbaren Einkünfte, zahlte aber immer pünktlich seine Rechnungen. Er war freundlich, wenn man ihn traf, aber eigentlich nicht richtig entgegenkommend. Er war ein Einzelgänger.«

»Hat er das Haus verkauft?«

»Nein. Und das ist das Interessante. Er verschwand 1980, und das fiel auf, weil er keine Grundsteuer mehr zahlte. Niemand konnte ihn ausfindig machen. Er hatte keine Bankverbindung, keine Sozialversicherungsnummer, seine Geburt war nirgendwo gemeldet. Noch nicht einmal sein Automobil war angemeldet. Falls er gestorben ist, gab es noch nicht einmal eine Leiche.« Archer trank seinen Kaffee. »Ich finde, der Kaffee hier ist wirklich gut. Wussten Sie, dass sie ihn selbst mahlen? Es ist eine ganz spezielle Mischung. Kolumbien, Costa Rica …«

Tom sagte: »Die Geschichte scheint Ihnen zu gefallen.«

»Na klar. Ihnen etwa nicht?«

Tom stellte fest, dass er sich tatsächlich dafür erwärmte. Sein Interesse war geweckt. Er musterte Archer über den Tisch hinweg – dann runzelte er die Stirn und kniff die Augen zusammen. »Oh nein, jetzt weiß ich, wer Sie sind! Sie waren der Junge, der unten an der Küstenstraße die Autos immer mit Steinen bewarf!«

»Sie waren eine Klasse unter mir. Tony Winters kleiner Bruder.«

»Sie haben damals bei einem Buick die Windschutzscheibe zertrümmert. Es gab sogar einen Artikel in der Zeitung. Jugendkriminalität auf dem Vormarsch und so weiter.«

Archer grinste. »Es war ein rein ballistisches Experiment.«

»Und jetzt verkaufen Sie Spukhäuser an ahnungslose Stadtsäcke.«

»Ich glaube, von einem ›Spukhaus‹ zu reden, wäre etwas melodramatisch. Aber ich habe eine andere seltsame Geschichte über das Haus gehört. George Bukowski hat sie mir erzählt  – George ist Cop bei der Highway Patrol und besitzt unten am Bootshafen einen großen Wohnwagen. Er sagte, er sei im vergangenen Jahr über die Post Road gefahren und habe im Haus Licht gesehen. Dabei war es seines Wissens unbewohnt, da er schon mal dort gewesen war, als er nach Ben Collier suchte. Er hielt an, um nachzusehen. Es stellte sich heraus, dass ein paar Teenager im Kellergeschoss eine Scheibe eingeschlagen hatten. Sie hatten eine Sturmlaterne in der Küche aufgestellt, dazu einen Kasten Kokanee und einen Ghettoblaster; sie wollten wohl eine Party feiern. Er nahm sie mit und fand beim ältesten Jungen, Barry Lindell, eine Achtelunze Dope. Er schickte sie alle nach Hause zu ihren Eltern. Am nächsten Tag fuhr George noch einmal hin, um sich das Ausmaß der Schäden anzusehen – und es stellte sich heraus, es war überhaupt nichts kaputt. Es sah aus, als seien die Kids nie dort gewesen. Keine Streichhölzer auf dem Fußboden, keine leeren Dosen, alles picobello sauber und aufgeräumt.«

Tom schüttelte ungläubig den Kopf. »Und das Fenster, durch das sie reingekommen waren?«

»Es war nicht mehr zerbrochen.«

»Quatsch«, sagte Tom.

Archer hob die Hände in einer hilflosen Geste. »Sicher. Aber George beschwört es. Er sagt, das Fenster sei nicht einmal mit frischem Kitt repariert worden, denn das hätte er sofort bemerkt. Es war nicht angerührt – es war einfach nicht zerbrochen.«

Die Serviererin brachte das Sandwich. Tom schnitt ein Stück davon ab und schob es sich nachdenklich in den Mund. »Das scheint aber ein geradezu krankhaft ordentliches Gespenst zu sein, mit dem wir es hier zu tun haben.«

»Das universelle Heinzelmännchen.«

»Ich kann nicht behaupten, dass mir das Angst macht.«

»Ich glaube auch nicht, dass Sie dazu einen Grund haben. Dennoch …«

»Ich halte die Augen offen.«

»Und halten Sie mich auf dem Laufenden«, sagte Archer. »Natürlich nur, wenn es Ihnen nichts ausmacht.« Er schob seine Visitenkarte über den Tisch. »Meine Privatnummer steht auf der Rückseite.«

»Sind Sie so neugierig?«

Archer schaute in die Runde, um sich zu vergewissern, dass niemand sie belauschte. »Ich hab verdammte Langeweile.«

»Sehnen Sie sich nach der guten alten Zeit? Nach einem sonnigen Nachmittag, einem Stein in der Hand und dem Abgasgestank eines heißen Kabrio?«

Archer grinste. Und das Grinsen verkündete, zum Teufel, ja, ich bin noch immer ein großes Kind, und ich gebe es offen zu.

Dieser Mann genießt das Leben, dachte Tom.

Es tröstete einen, glauben zu können, dass das noch möglich war.

Ehe er zu dem Haus hinausfuhr, machte Tom in der Harbor Mall halt, um Lebensmittel und andere Vorräte zu kaufen. Im A & P-Markt holte er einen Wochenvorrat an Nägeln und Heftklammern und eine ganze Kollektion dessen, was Barbara Junggesellenverpflegung nannte: tiefgefrorene Vorspeisen, Kartoffelchips, Coladosen in Plastik-Packs. Im Radio Shack suchte er sich ein Telefon aus, das er einfach einstöpseln konnte, und bei Sears zahlte er dreihundert Dollar für einen tragbaren Farbfernseher.

Derart für das nackte Überleben ausgerüstet, fuhr er über die Post Road zum Haus.

Die Sonne ging bereits unter, als er eintraf. Sah das Haus verflucht aus? Nein, dachte Tom. Das Haus wirkte ländlich, vorstädtisch. Die Holzwände waren etwas verwittert, der ganze Bau erschien in dem Kiefernwald eher verloren, auf keinen Fall gefährlich. Wenn es dort spukte, dann war es ausschließlich Meister Proper. Oder vielleicht sogar eine ganze Heinzelmännchenkompanie.

Der Schlüssel drehte sich glatt im Schloss.

Als er über die Schwelle trat, hatte er die kurze, aber beunruhigende Empfindung, dass dieses Haus trotz allem jemand anderem gehörte … dass er, ebenso wie die jugendlichen Kriminellen, hier eingebrochen war. Na ja, Schwamm drüber. Er betätigte jeden Lichtschalter, den er fand, bis der Raum strahlend hell erleuchtet war. Er stöpselte den Kühlschrank ein – er begann sofort zu summen – und stellte die Coladosen hinein. Er schloss den Fernseher an und richtete die Antenne auf eine Station in Tacoma aus. Das Bild war zwar etwas verschwommen, aber durchaus erträglich. Er drehte die Lautstärke hoch.

Lärm und Licht.

Er heizte den altmodischen weißen Emailherd vor, betrachtete die Heizplatten für einen Moment, um sich zu vergewissern, dass alles funktionierte. (Es funktionierte.) Die schwarzen Drehknöpfe aus Bakelit waren so glatt wie Ebenholz. Seine Fingerabdrücke wirkten wie eine Beleidigung für die polierte Oberfläche. Er schob ein Fertiggericht in den Backofen und schloss die Klappe. Willkommen daheim.

Ein neues Leben, dachte er.

Deshalb war er hierhergekommen – zumindest hatte er es so seinen Freunden erklärt. Wenn man sich an diesem sauberen, hell erleuchteten Ort umsah, konnte man es – beinahe – glauben.

Er nahm das Fertiggericht ins Wohnzimmer mit und stocherte mit einer Plastikgabel an dem lauwarmen Brathuhn herum, während MacNeil (oder Lehrer, er hatte die beiden noch nie richtig auseinanderhalten können) eine Round-Table-Diskussion über die chinesische Krise dieses Jahres leitete. Als er seine Mahlzeit verzehrt hatte, stopfte er den Aluteller in einen Plastikmüllsack – noch war er nicht so weit, dass er sich hygienische Schlampigkeiten erlaubte – und öffnete eine Coladose. Er sah sich zwei Naturdokumentationen und einen Bericht über die Geschichte des Mormonentums an. Dann war es auf einmal schon spät, und als er den Fernseher ausschaltete, hörte er, wie draußen der Wind mit den Kiefernästen spielte. Er wurde daran erinnert, wie weit er die Stadt hinter sich gelassen und wie viel Einsamkeit er sich möglicherweise hier eingehandelt hatte.

Er drehte die Heizung auf. Das Wetter war noch immer ziemlich kühl, und es dauerte noch einige Zeit bis zum Sommer. Er trat nach draußen und betrachtete die Silhouetten der Kiefern vor dem Nachthimmel. Sterne funkelten. Du hast einen weiten Weg zurückgelegt, dachte Tom, um einen solchen Himmel sehen zu können.

Ins Haus zurückgekehrt, verriegelte er die Tür hinter sich und legte die Sicherheitskette vor.

Das Bett im großen Schlafzimmer gehörte jetzt ihm … aber er hatte noch nie darin geschlafen, und er spürte die Last seiner Fremdheit. Das Bett war im gleichen modernen dänischen Stil wie die restlichen Möbel gehalten. Unauffällig, stilistisch fast universell, als sei es eine Summe aus hundert ähnlichen Stilformen. Nicht unverwechselbar, aber solide und zuverlässig. Er prüfte die Matratze; sie war fest. Die Laken rochen schwach nach sauberem, frisch gestärktem Leinen und überhaupt nicht nach Alter und Staub.

Ich bin hier ein Eindringling …

Aber er schüttelte den Kopf bei diesem Gedanken. Ein Eindringling war er gewiss nicht, nicht nach den gesetzlich vorgeschriebenen Prozeduren und dem durch eine Kaufquittung symbolisierten Segen des Immobilienbüros. Er war jetzt ein Hausbesitzer. Zweifel und böse Ahnungen waren in diesem Moment völlig fehl am Platze.

Er knipste die Nachttischlampe aus und schloss die Augen in der fremden Dunkelheit.

Er glaubte ein fernes Summen zu hören … kaum wahrnehmbar über dem Flüstern seines eigenen Atems. Es war der Klang weit entfernter, verborgener Maschinen. Nachtarbeit in einer unterirdischen Fabrik. Oder, was wahrscheinlich war, das Echo seiner Einbildung. Als er versuchte, es zu lokalisieren und sich darauf zu konzentrieren, verschmolz es in seinen Ohren mit den allgemeinen Nachtgeräuschen, dem Knistern und Knarren kleiner Gelenke. Genauso wie jedes andere Haus, dachte Tom, dürfte auch dieses sich im Rhythmus seiner Erwärmung und Ausdehnung seiner Balken bewegen und dabei ächzen und stöhnen.

Umgeben von Dunkelheit und dem Summen seiner eigenen Gedanken schlief er endlich ein.

Der Traum kam nach Mitternacht, aber weit vor dem Morgengrauen  – es war drei Uhr, als er erwachte und auf die Uhr sah.

Der Traum begann wie fast alle Träume. Er stritt sich mit Barbara oder hörte sich wieder einmal eine ihrer massiven Anklagen an. Sie hatte ihn der Mitschuld an irgendeiner schlimmen, globalen Katastrophe bezichtigt: der Erwärmung der Erde, der Meeresverschmutzung, des Atomkrieges. Er beteuerte seine Unschuld (zumindest seine Unkenntnis), aber ihr kleines Gesicht mit der Stupsnase und den wütend zusammengepressten Lippen drückte einen derart tief verwurzelten Unglauben aus, dass er seine eigene Schuld beinahe riechen konnte.

Aber das war nur eine weitere Variation dessen, was zum üblichen Barbara-Traum geworden war. In jeder anderen Nacht wäre er an dieser Stelle zu Ende gewesen. Er wäre aufgewacht, überwältigt von Selbstzweifeln. Er hätte sein Gesicht mit kaltem Wasser bespritzt und wäre in sein Bett zurückgewankt, wie ein kampfesmüder Soldat in seine Grabenstellung zurückschlurfte.

Diesmal jedoch ging der Traum in ein anderes Szenario über. Plötzlich war er allein. Er befand sich in einem Haus, das genauso war wie dieses Haus, nur größer, leerer. Er lag in einem Zimmer mit einem einzigen hohen Fenster. Diffuses Mondlicht hüllte nur sein Bett ein und beließ den Rest des Zimmers in höhlenartiger Finsternis.

Und in dieser Finsternis bewegten sich irgendwelche Dinge.

Er konnte nicht feststellen, um welche Dinge es sich handelte. Die Füße klickten wie Katzenklauen auf dem harten Fußboden, und die Wesen schienen in einem hohen, summenden Falsett miteinander zu flüstern. Sie benutzen eine Sprache, die er noch nie gehört hatte. Er dachte an Elfen oder an übergroße, sprechende Ratten.

Aber das Schlimmste war ihre Unsichtbarkeit – die sich mit seiner eigenen Hilflosigkeit verband, wie ihm plötzlich bewusst wurde.

Er erkannte, dass der Raum keine Tür besaß; dass das Fenster unendlich hoch war; dass seine Arme und Beine nicht nur steif, sondern gelähmt waren.

Er wollte hochkommen, starrte in die Dunkelheit …

Und sie öffneten die Augen – alle zugleich.

Hundert Augen, die ihn umringten.

Hundert Scheiben reinen, pupillenlosen, knochenweißen Lichts.

Das Flüstern steigerte sich zu einem metallischen, klappernden Crescendo …

Und er erwachte.

Er erwachte allein in diesem kleineren, helleren, aber immer noch vom Mond beschienenen und fremden Raum.

Er erwachte mit wild pochendem Herzen.

Er erwachte mit dem Klang, der immer noch in seinen Ohren nachhallte:

Dem Zischen ihrer Stimmen. Dem Klicken ihrer Nägel.

Natürlich war es nur ein Traum gewesen.

Das morgendliche Haus war sauber, leer und nüchtern. Tom ging von seinem Zimmer in die Küche und lauschte dem unvertrauten Scharren seiner Füße auf dem Wollteppich. Er bereitete sich sein Frühstück, gebratene Eier und ein Weißbrothörnchen, und stellte dann das schmutzige Geschirr in die Spüle, als er fertig war. Junggesellenhaushalt. Vielleicht würde der gute Geist des Hauses aufräumen.

Die Wolkendecke vom Vortag hatte sich verflüchtigt. Tom öffnete die Fliegentür im hinteren Teil der Küche und trat hinaus in den Garten. Der Rasen war sehr kurz geschnitten worden, doch er wuchs wieder nach. Das Unkraut war mindestens ebenso stark vertreten wie das Gras. Hier draußen gab es offenbar keine hilfreichen Hausgeister. Eine Gruppe hoher Kiefern stand außerhalb der Gartenbegrenzung und barg Farn und einen dicken Nadelteppich in ihrem Schatten. Ein zugewachsener Pfad führte von der Gartenecke fort, und Tom folgte ihm ein paar Schritte weit, doch die Bäume schirmten die Sonnenstrahlen ab, und die Luft war plötzlich unangenehm kühl. Er lauschte für einen Moment dem Geräusch tropfenden Wassers irgendwo in dieser feuchten Wildnis. Archer hatte gesagt, der Wald sei ziemlich ausgedehnt, und dass sich hinter dem Anwesen ein mit Kiefern bestandener Sumpf befinde. Archer musste es wissen, dachte Tom, Archer, der Autokiller, der Wegelagerer, der Bergsteiger, der Schulschwänzer … Allmählich tauchten weitere Erinnerungen aus der Kindheit auf. Ein feuchter Windhauch fuhr durch die hellen Härchen auf seinen Armen. Ein Kolibri schoss hoch, betrachtete ihn ungehalten und schwirrte davon.

Er kehrte zum Haus zurück.

Tony rief nach dem Mittagessen an und sprach eine weitere Einladung zum Abendessen aus. Dieses Angebot konnte Tom schlecht ablehnen. »Komm rüber«, sagte Tony. »Wir heizen den Grill an.« Es war sowohl ein Befehl als auch eine Einladung. Eine Schuld musste abgetragen werden.

Tom ließ das schmutzige Geschirr in der Spüle stehen. An der Tür verharrte er kurz und drehte sich zum leeren Haus um.

»Wenn du sauber machen willst, nur zu.«

Keine Antwort.

Nun ja.

Die Fahrt zu Tonys Haus war ziemlich lang. Tony und Loreen wohnten in der Gegend um Seaview. Dort standen vorwiegend terrassenartig angeordnete Häuser, die sich an die Hänge der zur Bucht abfallenden Hügel südlich der Stadt schmiegten. Die Gegend war ziemlich renommiert, doch das Haus, in dem Tony wohnte, war nicht besonders auffällig. Tony war protestantisch zurückhaltend, was die offene Zurschaustellung von Wohlstand betraf. Tonys Haus war eher eines der schlichteren Bauten. Seine glatte weiße Fassade verbarg die wahre, elegante Pracht: die riesigen Fenster und die Kiefernholzveranda mit Blick auf das Meer. Tom parkte in der Auffahrt hinter Loreens Aerostar und wurde an der Tür von der gesamten Familie begrüßt: von Tony, dem fünfjährigen Barry, von Loreen mit der quengeligen acht Monate alten Tricia auf dem Arm. Tom lächelte und wagte sich in das Geruchsgemisch aus imprägniertem Teppichboden, Möbelpolitur und Pampers.

Er hätte sich gerne in Ruhe hingesetzt und sich für eine Weile mit Loreen unterhalten. (»Die arme Loreen«, sagte Barbara immer. »Sie spielt Tony seine Vorstellung von Hausfrau vor. Nur Windeln und Romanschnulzen von Barbara Cartland.«) Aber Tony legte ihm einen Arm um die Schultern und geleitete ihn durch den großzügigen Wohnraum hinaus zur Veranda, wo sein Propangasgrill bereits gefährlich zischte.

»Setz dich«, sagte Tony und deutete mit einer Grillzange auf einen Liegestuhl.

Tom ließ sich nieder und sah seinem Bruder zu, wie er Steaks mit einer roten Sauce bestrich. Tony war fünf Jahre älter als Tom, hatte bereits eine beachtliche Glatze, wirkte aber körperlich fit. Die Falten um seine Augen deuteten eher auf sportliche Aktivitäten und Sonne hin als auf Alter. Es wäre schwierig, dachte Tom, zu erraten, wer von uns beiden der Ältere ist.

Es war Tony, der wie ein zorniger Schutzengel nach Seattle gerauscht kam – sechs Monate nachdem Barbara aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen war; fünf Monate nachdem Tom seinen Job bei Aerotech hingeworfen hatte; drei Monate nachdem Tom aufgehört hatte, ans Telefon zu gehen. Tony hatte die leeren Flaschen und Fertiggerichtpackungen aus der Wohnung geschafft, hatte den Fernseher ausgeschaltet, der seit Wochen ununterbrochen flackerte und murmelte, und Tom dann zum Duschen und Rasieren verdonnert. Dann hatte er ihn überredet, nach Belltower zurückzugehen und den Job im Autohandel zu übernehmen …

Es war ebenfalls Tony, der, um ihn zu trösten, festgestellt hatte: »Barbara ist ein Miststück, kleiner Bruder. Eigentlich sind sie alle verkommene Luder. Scheiß auf sie.«

»Sie ist kein Miststück«, hatte Tom widersprochen.

»Alle sind Schlampen.«

»Nenn sie nicht so«, hatte Tom gesagt, und er erinnerte sich an Tonys Blick, als die Arroganz zu Unsicherheit zerfiel.

»Na ja … du darfst auf jeden Fall dein Leben wegen ihr nicht wegwerfen. Es gibt immer noch eine Menge Menschen, die ihr Leben zu meistern versuchen … Menschen mit Krebs, Menschen, deren Kinder auf dem Highway von Rasern überfahren wurden. Wenn sie mit solchen Schicksalsschlägen zurechtkommen, dann kannst du das allemal.«

Darauf gab es nichts zu erwidern, und es stimmte auch noch. Tom nahm die Strafe an und lebte fortan damit. Barbara wäre damit nicht einverstanden gewesen. Sie missbilligte die Ausbeutung öffentlichen Leids für private Zwecke. Tom war da etwas pragmatischer. Man tut, was man tun muss.

Aber da war er nun in Tonys großem Haus an der Bucht, und es kam ihm so vor, als trüge er eine beachtliche Last an Schuld, Dankbarkeit und Abneigung, die vorwiegend gegen seinen Bruder gerichtet war.

Er machte Konversation, während die Steaks über dem Feuer brutzelten. Tony antwortete mit seinem eigenen Geplapper. Tony hatte den Gasgrill »praktisch zum Großhandelspreis« von einem Mann gekauft, den er in der Filiale einer Eisenwarenkette kennengelernt hatte. Er erwog, in diesem Sommer in ein paar Mietobjekte zu investieren. »Du hättest erst mit mir über das Haus reden sollen, bevor du dich überstürzt auf das Geschäft eingelassen hast.« Und außerdem dachte er an die Anschaffung eines neuen Segelboots.

Das war keine Aufschneiderei, erkannte Tom. Barbara hatte schon vor langer Zeit auf Tonys Bedürfnis nach greifbaren Symbolen seines Wohlstands hingewiesen, ähnlich den Gültigkeitsdaten, die auf Bustickets aufgedruckt werden. Für ihn sprach immerhin, dass er sich einigermaßen zurückhielt.

Das Problem war, dass er, Tom, keinen solchen Wohlstand sein Eigen nennen konnte; in Tonys Augen musste ihn das verdächtig machen. Ein Mann ohne einen Videorekorder oder einen Sportwagen musste zu allem fähig sein. Diese Nervosität erstreckte sich auch auf Toms Arbeitsleistung, ein Punkt, den man nicht berührte, der aber wie eine drohende Wolke über der Unterhaltung schwebte.

Tonys eigene Zuverlässigkeit stand natürlich außer Frage. Als ihre Eltern starben, hatte Tony seinen Teil des Erbes in die Juniorpartnerschaft einer Autofirma draußen an der Commercial Road gesteckt.

Die Investition war mehr als nur finanzieller Natur gewesen. Tony hatte sehr viel Zeit und Schweiß hineingesteckt und auf seine Gratifikationen verzichtet. Und die Investition hatte sich ausgezahlt, und zwar so gut, dass Tom sich manchmal fragte, ob seine Verwendung des gleichen Erbes – für sein Ingenieurstudium und nun für das Haus – nicht ein Frevel war. Was hatte es ihm denn eingebracht? Eine Scheidung und einen Job als Autoverkäufer.

Aber er war noch nicht mal ein richtiger Verkäufer. »Vorerst«, sagte Tony, während er die Steaks zum Tisch im Esszimmer brachte – endlich kam das eigentliche Thema zur Sprache – »bist du nicht mehr als ein Handlanger, ein Laufbursche, eine Ladenhure. Du tätigst keine Verkäufe, solange der Manager nicht sein Einverständnis gibt. Loreen! Wir haben Hunger! Wo, zum Teufel, ist der Salat?«

Loreen tauchte diensteifrig aus der Küche mit einer Kristallglasschüssel auf, die mit Eisberg- und Kopfsalat, Tomatenscheiben, Pilzen und einem Salatbesteck aus Holz gefüllt war. Sie stellte die Schüssel auf den Tisch und setzte Tricia in einen Hochstuhl, während Barry an ihrem Rock zog. Tom nahm Platz und schenkte sich Eistee aus einer beschlagenen Karaffe ein. »Die Steaks sehen wunderbar aus«, sagte Loreen.

Während sie den Salat aßen, überlegte Tom, was eine »Ladenhure« war. Loreen fütterte Tricia aus einem Glas mit passierten Erbsen, dann verschwand sie, um das Baby in einen Laufstall zu setzen. Barry wollte noch nicht mal sein Steak, nachdem sie es klein geschnitten hatte. Loreen schmierte ihm ein Erdnussbutter-Sandwich und schickte ihn zum Spielen in den Garten. Als sie sich wieder an den Tisch setzte, war ihr Steak kalt – Tony hatte seines soeben verzehrt.

Eine Ladenhure, erklärte Tony, sei ein Jungverkäufer, der von den älteren Kräften im Laden gewöhnlich als lästiges Übel betrachtet wurde. Tony schüttelte den Kopf. »Es ist kaum zu glauben«, sagte er, »aber ich werde deswegen bereits angeschossen. Bob Walker, der Miteigentümer, hatte einiges dagegen, dass ich dir den Job gegeben habe. Er sagt, es sei ganz klar ein Fall von Vetternwirtschaft, und das würde ihm stinken. Und er hat noch nicht mal so unrecht, denn es beschert dem Verkaufsmanager ein Problem. Er weiß, dass du mein Bruder bist, daher stellt sich für ihn die Frage: Fasse ich diesen Burschen mit Samthandschuhen an oder behandle ich ihn wie jeden anderen Angestellten?«

»Ich will keine Sonderbehandlung«, sagte Tom.

»Ich weiß das! Natürlich! Du weißt das, ich weiß das. Aber ich musste den Manager aufsuchen, Bill Klein, du wirst ihn morgen kennenlernen, und ihm erklären: Hey, Billy, tu du nur deine Arbeit. Wenn dieser Knabe Mist baut, dann sag es ihm. Wenn er nichts bringt, dann informiere mich. Wir sind hier schließlich nicht in einem Sanatorium. Ich erwarte von diesem Mann absolute Bestleistungen.«

»Was sonst«, sagte Tom und betrachtete die fettigen Überreste des Steaks auf seinem Teller.

»Grundsätzlich möchte ich dir zwei Dinge klarmachen«, sagte Tony. »Das eine: Wenn du versagst, sehe ich schlecht aus. Also, um mir einen Gefallen zu tun, baue bitte keinen Mist. Das Zweite ist, dass Billy, so weit es mich betrifft, in allem freie Hand hat. Von jetzt an hast du nur noch mit ihm zu tun. Ich erledige seine Arbeit nicht, und ich bin auch nicht für dich zuständig. Hinzu kommt, dass er nicht so leicht zufriedenzustellen ist. Um es drastisch auszudrücken, er würde dir nicht in den Hals pinkeln, wenn es in deinem Bauch brennt. Wenn ihr miteinander auskommt, prima, aber wenn nicht … Worüber, zum Teufel, lachst du?«

»In den Hals pinkeln, wenn’s im Bauch brennt?«

»Das wird hier so gesagt. Mein Gott, Tom, es sollte nicht lustig sein!«

»Barbara hätte das sicherlich gefallen.«

Barbara hätte es wochenlang immer wieder gesagt. Einmal, während eines Telefongesprächs, hatte Tony über das Wetter gesagt, es sei »so kalt wie die Titten eines Bronzeaffen«. Barbara hatte einen derartigen Lachanfall bekommen, dass sie Tom den Hörer geben musste. Tom hatte dann geduldig erklärt, sie habe gerade ihren Kaugummi verschluckt.

Aber Tony fand das nicht sehr spaßig. Er wischte sich den Mund ab und warf seine Serviette auf den Tisch. »Wenn du diesen Job willst, dann solltest du etwas mehr an deine Zukunft denken und weniger an deine ausgeflippte Exfrau, klar?«

Tom lief rot an. »Sie war nicht …«

»Nein! Erspar mir eine leidenschaftliche Verteidigung. Sie war es schließlich, die mit ihrem einundzwanzigjährigen Freund durchgebrannt ist. Sie verdient deine Loyalität nicht, und du bist ihr, verdammt noch mal, überhaupt nichts schuldig!«

»Tony«, sagte Loreen. Ihre Stimme hatte einen flehenden Unterton. Bitte, nicht hier.

Barry, der Fünfjährige, war aus dem Garten hereingekommen; er stand mit einer von Erdnussbutter verschmierten Hand in der Tür und betrachtete die Erwachsenen mit aufmerksamem, ernsthaftem Interesse.

Tom suchte verzweifelt nach einer Erwiderung – nach etwas Heftigem und Endgültigem – und musste zu seinem Schrecken feststellen, dass ihm überhaupt nichts einfiel.

»Es ist eine neue Welt«, sagte Tony. »Gewöhn dich daran.«

»Ich bringe den Nachtisch«, sagte Loreen.

Nach dem Essen verschwand Tony, um Barry ins Bett zu bringen und ihm eine Gutenachtgeschichte vorzulesen. Tricia schlief bereits in ihrer Wiege, und Tom saß mit Loreen in der kühlen Küche. Er bot ihr seine Hilfe beim Geschirrspülen an, doch seine Schwägerin lehnte ab. »Ich lasse nur Wasser darüberlaufen und spüle später.« Daher saß er an dem großen Tisch mit der massiven Holzplatte zum Fleischhacken und blickte durch das Fenster auf das dunkle Wasser der Bucht, wo die Lichter der Vergnügungsboote auf den Wellen tanzten.

Loreen trocknete ihre Hände an einem Geschirrtuch ab und ließ sich ihm gegenüber nieder. »So schlecht ist das Leben gar nicht«, sagte sie.

Titel der amerikanischen Originalausgabe

A BRIDGE OF YEARS

Deutsche Übersetzung von Michael Kubiak

Überarbeitete Neuausgabe 7/08

Redaktion: Rainer Michael Rahn

Copyright © 1991 by Robert Charles Wilson

Copyright © 2008 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH www.heyne.de

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München Satz: C. Schaber Datentechnik, Wels

eISBN 978-3-641-09395-2

www.randomhouse.de

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