Quarantäne - Robert Charles Wilson - E-Book

Quarantäne E-Book

Robert Charles Wilson

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Beschreibung

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Irgendwo in der amerikanischen Wüste befindet sich eine geheime Einrichtung, in der man durch ein Raum-Zeit-Tor einen fremden Planeten beobachten kann, der Millionen von Lichtjahre von uns entfernt ist. Direkter Kontakt zu den fremdartigen Wesen, die auf diesen Planeten leben, ist nicht möglich. Doch was geschieht, wenn diese Wesen sich von uns gestört fühlen?

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HEYNE 〈

Das Buch

Blind Lake ist eine weitläufige Forschungseinrichtung im Norden Minnesotas, streng abgeschottet von der Öffentlichkeit. Denn hier arbeiten Wissenschaftler mit einer Technologie, die sie selbst kaum verstehen: Sie beobachten intelligentes Leben auf einem Millionen von Lichtjahre entfernten Planeten. Sie können dabei keinen Kontakt mit den Außerirdischen aufnehmen oder sonstwie Einfluss nehmen – sie können nur beobachten. Doch dann wird Blind Lake vom Militär plötzlich unter Quarantäne gestellt, niemand darf das Gelände betreten oder verlassen. Haben die Aliens herausgefunden, dass sie beobachtet werden? Und fühlen sie sich dadurch so gestört, dass sie Gegenmaßnahmen ergreifen? Für die Wissenschaftler beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit …

Nach seinem preisgekrönten Bestseller »Spin« stellt Robert Charles Wilson auch mit »Quarantäne« unter Beweis, dass er einer der aufregendsten Science-Fiction-Autoren unserer Zeit ist.

Der Autor

Robert Charles Wilson, geboren 1953 in Kalifornien, wuchs in Kanada auf und lebt mit seiner Familie in der Nähe von Toronto. Er zählt zu den bedeutendsten Autoren der modernen Science Fiction und wurde mehrfach für seine Romane ausgezeichnet, unter anderem mit dem Hugo Gernsback Award, dem Philip K. Dick Award und dem John W. Campbell Award. Zuletzt sind bei Heyne die Romane »Spin« und »Die Chronolithen« erschienen.

Mehr zu Autor und Werk unter: www.robertcharleswilson.com

Inhaltsverzeichnis

Das BuchDer AutorERSTER TEIL - Die Neue Astronomie
EinsZweiDreiVierFünfSechsSiebenAchtNeun
ZWEITER TEIL - Polierte Spiegel aus flüssigem Quecksilber
ZehnElfZwölfDreizehnVierzehnFünfzehnSechzehn
DRITTER TEIL - Aufstieg des Unsichtbaren
SiebzehnAchtzehnNeunzehnZwanzigEinundzwanzigZweiundzwanzigDreiundzwanzigVierundzwanzigFünfundzwanzigSechsundzwanzigSiebenundzwanzigAchtundzwanzigNeunundzwanzigDreißigEinunddreißigZweiunddreißigDreiunddreißigVierunddreißigFünfunddreißigSechsunddreißigSiebenunddreißig
VIERTER TEIL - Verstehbarkeit
Achtunddreißig
Copyright

ERSTER TEIL

Die Neue Astronomie

Teleskope von bislang unerreichterAuflösung offenbarten ihr diegeheimen Tiefen des Kosmos aufpolierten Spiegeln aus flüssigemQuecksilber. Die toten Welten desSirius, die halb geformten Welten desArcturus, die reichen, aber leblosenWelten, die um den gewaltigen Antaresund den Beteigeuze kreisen – all diesstudierte sie ohne jeden Nutzen.

POLTON CROSS, »Wings Across the Cosmos«, 1938

Eins

Es könnte jederzeit zu Ende gehen.

Chris Carmody rollte in eine Wärmezone eines unvertrauten Bettes: eine Vertiefung im Baumwolllaken, in der kürzlich jemand gelegen hatte. Jemand: Ihr Name fiel ihm gerade nicht ein, war noch in den Untiefen des Schlafs verborgen. Aber es verlangte ihn nach der Wärme ihrer Gegenwart, dem Quell dieser nachhaltigen Hitze. Er rief sich ein Gesicht vor Augen, gütig, lächelnd, mit einem ganz leichten Silberblick. Er fragte sich, wo sie geblieben sein mochte.

Es war schon eine Weile her, seit er zuletzt mit jemandem das Bett geteilt hatte. Merkwürdig, dass das, was er – fast mehr als alles andere – daran genoss, die Wärme war, die sie hinterließ. Dieser Raum, den er in ihrer Abwesenheit besetzte.

Es könnte jederzeit zu Ende gehen. Hatte er diese Worte geträumt? Nein. Er hatte sie vor drei Wochen in sein Notizbuch geschrieben, die Bemerkung eines Examensstudenten festgehalten, den er, einen halben Kontinent entfernt, in der Cafeteria von Crossbank kennengelernt hatte. Wir arbeiten hier an unglaublichen Dingen, und alles passiert ein bisschen eilig, weil wir wissen, dass es jederzeit zu Ende gehen könnte …

Zögernd öffnete er die Augen. Auf der anderen Seite des kleinen Schlafzimmers stand die Frau, mit der er geschlafen hatte, und zwängte sich in eine Strumpfhose. Sie bemerkte seinen Blick und lächelte vorsichtig. »He, Baby«, sagte sie. »Ich will dich nicht hetzen, aber sagtest du nicht, dass du irgendwo einen Termin hättest?«

Die Erinnerung stellte sich wieder ein. Sie hieß Lacy. Der Nachname war nicht im Angebot inbegriffen gewesen. Sie war Kellnerin im örtlichen Denny’s. Sie trug ihr rotes Haar lang, wie es derzeit Mode war, und sie war mindestens zehn Jahre jünger als Chris. Sie hatte sein Buch gelesen, jedenfalls hatte sie das behauptet. Sie litt an einer einseitigen Sehschwäche, wodurch sie den Anschein ständiger Geistesabwesenheit erweckte. Während er sich den Schlaf aus den Augen blinzelte, ließ sie ein ärmelloses Kleid über ihre sommersprossigen Schultern gleiten.

Als Hausfrau legte Lacy offenbar keinen großen Ehrgeiz an den Tag. Einige tote Fliegen lagen auf dem sonnenbeschienenen Fensterbrett, ein Schminkspiegel auf dem Beistelltisch, auf dem sie am Abend zuvor mit dem Rasiermesser schmale, präzise Kokainlinien abgeteilt hatte, und ein Fünfzigdollarschein auf dem Teppich neben dem Bett, so fest zusammengerollt, dass er einem knospenden Palmblatt oder einem bizarren Insekt ähnelte, mit einem Rostfleck aus getrocknetem Blut am einen Ende.

Es war Frühherbst und immer noch recht warm in Constance, Minnesota. Linde Luft bewegte die hauchdünnen Vorhänge. Chris kostete das Gefühl aus, an einem Ort zu sein, wo er noch nie gewesen war und zu dem er aller Wahrscheinlichkeit nach nie wieder zurückkehren würde.

»Und du willst tatsächlich heute zum Lake, hm?«

Er fand seine Uhr auf einem auf dem Nachttisch aufgeschichteten Stapel der Printausgabe von People. Er hatte noch eine Stunde, um seine Verabredung wahrzunehmen. »Ja, tatsächlich.« Er fragte sich, wie viel er der Frau am vergangenen Abend erzählt hatte.

»Möchtest du Frühstück?«

»Ich glaube, dafür habe ich keine Zeit.«

Sie schien erleichtert. »Ist schon gut. Es war wirklich aufregend, dir zu begegnen. Ich kenne eine Menge Leute, die am Lake arbeiten, aber die gehören mehr zum kaufmännischen oder zum Dienstleistungspersonal. Ich habe noch nie jemanden getroffen, der bei den großen Sachen mitmischt.«

»Ich mische nicht bei den großen Sachen mit. Ich bin nur Journalist.«

»Verkauf dich nicht unter Wert.«

»Mir hat es auch Spaß gemacht.«

»Das ist lieb von dir«, sagte sie. »Möchtest du duschen? Ich bin so weit fertig im Bad.«

Der Wasserdruck war bescheiden, und er entdeckte eine tote Kakerlake in der Seifenschale, aber die Dusche verschaffte ihm ein bisschen Zeit, seine Erwartungen zu justieren und seinen Berufsstolz, soweit noch vorhanden, zu mobilisieren. Er lieh sich einen ihrer für die Beine vorgesehenen rosa Wegwerfrasierer und rasierte das geisterhafte Bild seiner selbst, das ihm aus dem Badezimmerspiegel entgegenblickte. Er war fertig angezogen und zum Gehen bereit, als sie sich gerade anschickte, ihr eigenes Frühstück, Eier und Saft, in der winzigen Küchenecke einzunehmen. Sie arbeitete abends; vormittags und nachmittags hatte sie frei. Ein winziges Videogerät auf dem Küchentresen strahlte bei halber Lautstärke die aktuelle Folge einer unendlichen Vormittagsserie aus. Lucy erhob sich, um ihn zu umarmen. Ihr Kopf reichte ihm bis zum Brustbein. In der sanften Umarmung drückte sich die Erkenntnis aus, dass sie einander im Wesentlichen nichts bedeuteten, nicht mehr als eine nächtliche Laune, der man sich ohne Rücksicht auf Verluste hingab.

»Lass mich wissen, wie es gelaufen ist«, sagte sie. »Falls du mal wieder hier vorbeikommst.«

Höflich versprach er es ihr, aber er wusste, dass er hier nicht wieder vorbeikommen würde.

Er holte sein Gepäck im Marriott ab, wo Visions East ihm freundlicherweise, wenn auch ganz unnötig, ein Zimmer gebucht hatte, und traf im Foyer mit Elaine Coster und Sebastian Vogel zusammen.

»Sie sind spät dran«, bemerkte Elaine.

Er blickte auf die Uhr. »Nicht sehr.«

»Würde es Sie umbringen, ab und zu mal pünktlich zu sein?«

»Pünktlichkeit ist der Dieb der Zeit, Elaine.«

»Wer sagt das?«

»Oscar Wilde.«

»Na toll, das nenne ich ein Vorbild.«

Elaine war neunundvierzig und bot eine tadellose Erscheinung in ihrer Safarikleidung, dem an die Brusttasche gehefteten Imager und dem Notebook-Mikrofon, das wie eine widerspenstige Haarsträhne vom linken Bügel ihrer mit Zirkonium bedampften Sonnenbrille baumelte. Ihr Gesichtsausdruck war ernst. Elaine war eine erfahrene Wissenschaftsjournalistin, fast zwanzig Jahre älter als Chris und überaus angesehen auf einem Gebiet, auf dem man ihm selbst seit einiger Zeit mit einer gewissen Geringschätzung begegnete. Er mochte Elaine, und ihre Arbeit war erstklassig, daher sah er ihr ihre Neigung nach, mit ihm auf eine Art zu sprechen, als sei sie seine Grundschullehrerin und er das Kind, das ihr ein Furzkissen auf den Stuhl gelegt hat.

Sebastian Vogel, das dritte Mitglied der Expeditionstruppe von Visions East, stand schweigend ein paar Schritte abseits. Sebastian war im Grunde gar kein Journalist, sondern ein emeritierter Theologieprofessor von der Wesleyan University, der eins jener Bücher verfasst hatte, die aus unerklärlichen Gründen zu Bestsellern werden – Gott & das Quantenvakuum lautete der Titel, und es war dieses Et-Zeichen anstelle des konventionellen »und«, das, so Chris’ Vermutung, der Sache den nötigen schicken Anstrich, das modisch elliptische Element, verliehen hatte. Die Zeitschrift versprach sich von ihm einen spirituellen Blick auf die Neue Astronomie, als Ergänzung zu Elaines strenger Wissenschaftlichkeit und Chris’ Zuständigkeit fürs sogenannte »Menschliche«. Mochte Sebastian auf seine Weise brillant sein, so war er doch auch ein ausgesprochen stiller Vertreter. Er trug einen Bart, der den Mund verdeckte, was Chris sinnbildlich erschien: Die Worte, die aus diesem Mund den Weg in die Welt fanden, waren ziemlich rar und im Allgemeinen schwer zu interpretieren.

»Der Transporter«, sagte Elaine, »wartet schon seit zehn Minuten.«

Den Transporter aus Blind Lake meinte sie, am Steuer ein junger Funktionsträger des Energieministeriums, der einen Ellbogen aus dem offenen Fenster streckte und einen Ausdruck von Rastlosigkeit im Gesicht hatte. Chris nickte, warf sein Gepäck hinten in den Wagen und sich selbst auf einen Sitz hinter Elaine und Sebastian.

Es war erst früher Nachmittag, kurz nach eins, dennoch fühlte er sich von einer Welle der Erschöpfung überrollt. Es musste etwas mit dem Septembersonnenlicht zu tun haben  – oder mit den Exzessen der vergangenen Nacht. (Das Kokain hatte er zwar bezahlt, aber es war Lacys Idee gewesen, nicht seine. Er hatte ein paar Linien mitgezogen, einfach aus Gründen der Geselligkeit – mehr als genug, um den Rausch bis zum Morgengrauen auszudehnen.) Er schloss kurz die Augen, verwehrte sich aber die Annehmlichkeit des Schlafes. Er wollte ein wenig von Constance bei Tageslicht sehen. Sie waren gestern spät eingetroffen, und er hatte von der Stadt nicht mehr mitbekommen als den Denny’s und später eine Bar, wo die Hausband alles spielte, was die Besucher sich wünschten. Und zuletzt Lacys Wohnung.

Der Ort hatte viel Mühe darauf verwendet, sich als Touristenattraktion neu zu erfinden. So bekannt das Blind-Lake-Gelände auch geworden sein mochte, für Gelegenheitsbesucher war es nicht zugänglich. Die Neugierigen mussten sich mit diesem alten Getreidesilo plus Bahnhof, nämlich Constance, begnügen, das als Stützpunkt für die nicht in Blind Lake wohnenden zivilen Angestellten diente und dessen neues Marriott wie das noch neuere Hilton gelegentlich Schauplatz von Wissenschaftskongressen oder Pressekonferenzen war.

Die Hauptstraße stand ganz im Zeichen des Blind-Lake-Motivs und bewies dabei mehr Begeisterung als Geschmack. Die zweigeschossigen Geschäftsgebäude schienen aus der Mitte des letzten Jahrhunderts zu stammen, waren aus gelbem, aus dem Flussbettlehm der Umgebung gepresstem Backstein gemauert und hätten vielleicht ganz ansehnlich sein können, wären sie nicht so aufdringlich und umfassend mit Reklametafeln eingedeckt gewesen. Das »Hummer«-Motiv war allgegenwärtig – zwangsläufig. Hummer-Plüschtiere, holografische Hummer-Fensterauslagen, Hummer-Poster, Hummer-Servietten, Gartenhummer aus Keramik …

Elaine folgte seinem Blick und erriet seine Gedanken. »Sie hätten im Marriott zu Abend essen sollen«, sagte sie. »Hummer cremesuppe, verdammt noch mal.«

Er zuckte die Achseln. »Die Leute versuchen nur, ein bisschen Kohle zu machen, um ihre Familien zu ernähren.«

»Indem sie von der Unwissenheit profitieren. Im Grunde kapiere ich diese ganze Hummergeschichte nicht. Die sehen doch überhaupt nicht wie Hummer aus. Sie haben kein Ektoskelett und sie haben weiß Gott kein Meer, in dem sie herumschwimmen können.«

»Irgendwie muss man sie doch nennen.«

»Vielleicht muss man sie irgendwie nennen, aber muss man sie deswegen gleich auf Krawatten drucken?«

Das Projekt Blind Lake war umfassend vulgarisiert worden, das ließ sich nicht bestreiten. Was aber, wie Chris glaubte, Elaine vor allem störte, war der Verdacht, dass irgendwo auf einem der nähergelegenen Sterne ein umgekehrter Vorgang stattfinden mochte. Plastikkarikaturen von Menschenwesen, ausgestellt hinter verglasten Fenstern unter einer fremden Sonne. Ihr eigenes Gesicht vielleicht als Aufdruck auf einem Souvenirbecher, aus dem unvorstellbare Geschöpfe geheimnisvolle Flüssigkeiten schlürften.

Der Transporter war ein staubbedecktes blaues Elektrofahrzeug, das man ihnen aus Blind Lake geschickt hatte. Der Fahrer schien nicht sehr gesprächig, mochte aber die Ohren spitzen, um ihre »Einstellung« abzuschätzen – geheime Ermittlungen des PR-Büros. Die Unterhaltung untereinander war daher problematisch. Schweigend rollten sie auf der Interstate aus der Stadt heraus und bogen auf eine zweispurige Straße. Schon war klar, trotz des Mangels an eindeutigen Markierungen, abgesehen von Schildern wie PRIVATWEG – BESITZ DER US-REGIERUNG oder ENERGIEMINISTERIUM, dass sie sich auf nichtöffentlichem Gelände befanden. Jedes nicht registrierte Fahrzeug wäre am ersten (versteckten) Viertelmeilen-Kontrollpunkt angehalten worden. Die Straße stand unter ständiger Überwachung, visuell und elektronisch. Er rief sich einen Spruch von Lacy in Erinnerung: Am Lake haben sogar die Präriehunde einen Passierschein.

Chris drehte den Kopf zum Fenster und beobachtete die vorbeiziehende Landschaft. Brach liegende Äcker wichen offenem Grasland und hügeligen Wiesen mit vereinzelten wilden Blumen. Trockenes Land, aber keine Wüste. Vergangene Nacht war ein Gewitter über die Stadt hinweggezogen, während Chris Unterschlupf in Lacys Wohnung gesucht hatte. Regen hatte das Öl von den Straßen geschwemmt, die Gullys mit durchnässtem Zeitungspapier und faulendem Unkraut gefüllt und auf der Prärie ein spätes Aufblühen von Farben provoziert.

Vor einigen Jahren war durch Blitzschlag ein Buschfeuer entfacht worden, das sich Blind Lake bis auf einen halben Kilometer genähert hatte. Feuerwehren aus Montana, Idaho, Alberta waren angerückt. In den Nachrichten hatte das alles sehr fotogen gewirkt – und ein Schlaglicht auf die Fragilität der noch jungen Neuen Astronomie geworfen –, aber ernste Gefahr für die Einrichtungen hatte zu keinem Zeitpunkt bestanden. Es war nur wieder einmal so ein Beispiel dafür, hatten die Wissenschaftler in Crossbank gemurrt, wie Blind Lake sich in die Schlagzeilen drängte. Blind Lake war Crossbanks glamouröse jüngere Schwester, Anwandlungen von Eitelkeit keineswegs abgeneigt, hypnotisiert von den Paparazzi …

Doch jede Spur des Feuers war durch zwei Sommer und zwei Winter ausgelöscht worden, durch wildes Gras, wilde Brennnesseln und jene kleinen blauen Blumen, deren Namen Chris nicht kannte, und durch die beneidenswerte Gabe der Natur, rasch zu vergessen.

Sie hatten in Crossbank begonnen, weil sie Crossbank für unproblematischer hielten. Die Installation in Crossbank war auf eine biologisch aktive Welt ausgerichtet, die um HR8832 kreiste – der zweite Planet von der betreffenden Sonne aus gesehen, je nachdem, wie man den Ring von Planetesimalen zuordnete, deren Bahnen eine halbe Astronomische Einheit entfernt um das Zentralgestirn verliefen. Es handelte sich um einen felsigen Planeten mit Eisenkern, dessen Masse 1,4-mal so groß wie die der Erde und dessen Atmosphäre relativ reich an Sauerstoff und Stickstoff war. Beide Pole waren eisige Agglutinationen von Wassereis bei Temperaturen, die gelegentlich ausreichten, um CO2 auszufrieren, aber die Äquatorialregionen waren warme, flache Meere über Kontinentalplatten, reich an allerlei Lebensformen.

Diese Lebensformen allerdings waren alles andere als glamourös. Sie waren vielzellig, aber rein photosynthetisch – die Evolution auf HR8832/B schien es versäumt zu haben, die Mitochondrien zu erfinden, die Voraussetzung für tierisches Leben sind. Womit nicht gesagt sein soll, dass die Landschaft nicht oftmals geradezu spektakulär gewesen wäre, zumal die riesigen, stromatolitenartigen Kolonien photosynthetischer Bakterien, die sich, häufig zwei- bis dreigeschossig, aus den grünen Matten an der Meeresoberfläche erhoben; oder die fünffache Symmetrie der sogenannten Korallensterne, die, im Meeresboden verankert, halb in, halb auf dem offenen Wasser trieben.

Es war eine außerordentlich schöne Welt und sie hatte damals große Aufmerksamkeit in der breiten Öffentlichkeit erregt, als Crossbank noch die einzige Anlage dieser Art war. Die Äquatorialmeere spendeten atemberaubende Sonnenuntergänge, im Durchschnitt alle 47,4 terrestrischen Stunden, oft mit Stratokumuluswolken, die sich gewaltig viel höher auftürmten, als man es von der Erde kannte, Wolkenschlösser wie aus einer viktorianischen Fahrradreklame. Zeitangepasste Vierundzwanzig-Stunden-Videoschleifen der äquatorialen Meereslandschaft waren einige Jahre lang sehr beliebt gewesen als künstliche Fensteraussicht.

Eine schöne Welt, die obendrein reichhaltige Erkenntnisse über die planetarische und biologische Evolution befördert hatte. Auch jetzt noch produzierte sie außerordentlich nützliche Daten, aber sie war statisch. Es bewegte sich nicht viel auf der zweiten Welt von HR8832, nur der Wind, das Wasser und der Regen.

Am Ende war sie als »der Planet, wo nie etwas passiert«, bezeichnet worden, nach der Formulierung eines Kolumnisten der Chicago Tribune, der die ganze Neue Astronomie nur für ein weiteres aus Bundesmitteln finanziertes, tendenziell bodenloses Fass für kurzfristig interessantes, aber im Grunde nutzloses Wissen erachtete. Crossbank hatte gelernt, Journalisten mit Misstrauen zu begegnen. Visions East hatte lange verhandeln müssen, um Chris, Elaine und Sebastian für eine Woche Zutritt zu verschaffen. Es gab keine Garantie auf Kooperation, und wahrscheinlich war es nur Elaines Ruf als seriöse Wissenschaftsjournalistin, der die PR-Abteilung am Ende überzeugt hatte. (Oder vielleicht war es umgekehrt Chris’ Ruf gewesen, der die Verhandlungen so erschwert hatte.)

Aber der Besuch in Crossbank war alles in allem ein Erfolg gewesen. Sowohl Elaine als auch Sebastian berichteten, sie hätten sehr gut arbeiten können.

Für Chris war es etwas problematischer gewesen. Der Leiter der Abteilung für Beobachtung und Interpretation hatte sich schlicht und einfach geweigert, ihn zu empfangen. Sein bestes Zitat stammte von dem Jungen aus der Cafeteria. Es könnte jederzeit zu Ende gehen. Und selbst dieser Junge hatte sich schließlich vorgebeugt, um Chris’ Namensschild unter die Lupe zu nehmen, und dann gesagt: »Sind Sie nicht der Typ, der dieses Buch geschrieben hat?«

Chris hatte gestanden, dass er in der Tat der Typ sei, der jenes Buch geschrieben hatte.

Daraufhin hatte der Junge nur genickt, war aufgestanden und hatte sein erst halb aufgegessenes Mittagessen ohne ein weiteres Wort zum Geschirrregal getragen.

Zwei Aufklärungsflugzeuge flogen in den folgenden zehn Minuten über sie hinweg und der Allpass-Transponder am Armaturenbrett des Transporters begann wie spastisch zu blinken. Sie hatten bereits eine ganze Reihe von Kontrollpunkten passiert, schon lange bevor sie den Stahldraht-und-Stachelbandzaun, der sich in beide Richtungen in die Prärie hineinschlängelte, und das Wachhäuschen aus Stahl und Schlackenstein erreichten, aus dem jetzt ein Uniformierter trat und sie aufforderte, anzuhalten.

Der Wachmann inspizierte den Ausweis des Fahrers, dann Elaines und Sebastians, schließlich Chris’. Er sprach kurz in sein Headset-Mikrofon, rüstete die drei Journalisten mit Zugangsabzeichen zum Anstecken aus und winkte sie durch das Tor.

Und dann waren sie drinnen, so unkompliziert, wenn man von den wochenlangen Verhandlungen zwischen der Zeitschrift und dem Energieministerium absah.

Vorerst sah man nichts als eine sanft hügelige Grasfläche, völlig gleichartig der zuvor durchquerten, nur getrennt durch Maschendrahtzaun und Stacheldraht. Aber es war ein Übergang in nicht nur bildlichem Sinne; es lag in ihm, wenigstens für Chris, etwas entschieden Zeremonielles. Dies war Blind Lake – praktisch ein anderer Planet.

Er blickte zurück, als der Transporter Geschwindigkeit aufnahm, sah, wie das Tor mit einer, wie er sich – viel später  – erinnern sollte, schrecklichen Endgültigkeit zuglitt.

Zwei

Es gab tatsächlich einen See in Blind Lake, hatte Tessa Hauser gelernt. Sie dachte darüber nach, während sie, ihrem langen Schatten auf dem strahlend weißen Gehsteig folgend, von der Schule nach Hause ging.

Blind Lake – der See, nicht die Stadt – war ein schlammiger Sumpf zwischen zwei kleinen Hügeln, voll mit Teichkolben, wilden Fröschen und beißfreudigen Schildkröten, Reihern, kanadischen Gänsen und stehendem grünem Wasser. Mr. Fleischer hatte der Klasse davon erzählt. Zwar wurde das Ganze als See bezeichnet, aber eigentlich war es ein Sumpfgebiet, uraltes, im steinigen, porösen Boden gefangenes Wasser.

Blind Lake, der See, war also in Wirklichkeit gar kein See. Für Tess lag darin eine gewisse Logik, denn Blind Lake, die Stadt, war eigentlich in Wirklichkeit auch keine Stadt. Es war ein nationales Laboratorium, vom Energieministerium in Gänze auf die grüne Wiese gebaut, wie eine Filmkulisse. Das war der Grund, warum die Häuser, die Geschäfte und die Bürogebäude so spärlich gesät und so neu waren und warum sie so abrupt anfingen und auch wieder aufhörten in dieser weiten und leeren Landschaft.

Tess ging ganz für sich. Sie war elf Jahre alt und hatte noch keine Freunde an der Schule gefunden; aber da war ein Mädchen namens Edie Jerundt (von den anderen Kindern Edie Grunt genannt), das ab und zu mal mit ihr redete. Aber Edies Nachhauseweg ging in die andere Richtung, zur Einkaufsstraße und den Verwaltungsgebäuden hin, während Tessas Orientierungspunkt die hohen, weit im Westen gelegenen Kühltürme von Eyeball Alley waren. Tess wohnte – jedenfalls, wenn sie bei ihrem Vater war, also jeweils eine Woche pro Monat – in einer Reihenhaussiedlung, deren pastellfarbene Einheiten aneinandergerückt standen wie Soldaten, die Haltung angenommen haben. Das Haus ihrer Mutter, obgleich in einer anderen Siedlung noch weiter im Westen gelegen, sah fast identisch aus.

Sie war zwanzig Minuten länger in der Schule geblieben, weil sie Mr. Fleischer geholfen hatte, die Tafeln abzuwischen. Mr. Fleischer, ein Mann mit weißbraunem Bart und kahlem Kopf, hatte ihr viele persönliche Fragen gestellt – was sie mache, wenn sie zu Hause sei, wie sie mit ihren Eltern auskomme, wie ihr die Schule gefalle. Tess hatte pflichtschuldig, doch ohne Begeisterung geantwortet, und nach einer Weile hatte Mr. Fleischer die Stirn gerunzelt und aufgehört zu fragen – was ihr nur recht war.

Gefiel ihr die Schule? Es war noch zu früh, um darüber etwas zu sagen. Sie hatte ja gerade erst angefangen. Das Wetter war noch warm, obwohl der Wind, der über den Gehsteig fegte und ihren Rock flattern ließ, schon einen Hauch von Herbst mit sich trug. Über die Schule, so Tessas Ansicht, konnte man frühestens zu Halloween Näheres sagen, und bis Halloween war es noch einige Wochen hin. Erst dann war ein Urteil möglich – egal, in welche Richtung.

Sie konnte noch nicht einmal sagen, ob ihr Blind Lake gefiel, die Stadt, die keine Stadt war, in der Nähe des Sees, der kein See war. Crossbank war in mancher Hinsicht besser gewesen. Mehr Bäume. Herbstfarben, und im Winter Schnee auf den Hügeln. Ihre Mutter hatte gesagt, dass es auch hier Schnee geben würde, und zwar reichlich, und vielleicht würde sie diesmal auch Freundinnen finden, mit denen sie rodeln gehen konnte. Aber die hiesigen Hügel schienen zu flach und zu wenig abschüssig, um vernünftig rodeln zu können. Bäume gab es auch nur wenige, meistenteils ganz junge, die rund um die Wissenschaftsgebäude und die Einkaufshalle angepflanzt worden waren. Als hätte man beim Wünschen nicht alles richtig gemacht, dachte Tessa. An einigen von ihnen, die auf den Rasenflächen der Stadthäuser standen, kam sie jetzt vorbei: Bäume, die so neu waren, dass sie in der Erde befestigt werden mussten, um Wurzeln zu schlagen.

Sie erreichte das kleine Haus ihres Vaters und sah, dass sein Auto nicht in der Auffahrt stand. Er war noch nicht zu Hause. Das war ungewöhnlich, kam aber hin und wieder vor. Tess schloss mit ihrem eigenen Schlüssel die Tür auf. Das Haus war gnadenlos aufgeräumt und die Möbel rochen noch immer neu, einladend zwar, aber auch irgendwie unvertraut. Sie ging zur schmalen blitzblanken Küche, holte Orangensaft aus dem Kühlschrank und goss sich ein Glas voll ein. Dabei spritzte ein wenig Saft über den Rand des Glases. Tessa dachte an ihren Vater, riss ein Stück Küchenpapier ab und wischte die geflieste Arbeitsplatte wieder sauber. Das zusammengeknüllte Beweisstück warf sie in den Mülleimer unter der Spüle.

Sie trug ihr Getränk zusammen mit einer Serviette ins Wohnzimmer, machte es sich auf dem Sofa bequem und flüsterte »Video«, um die Unterhaltungskonsole in Gang zu bringen. Aber auf sämtlichen Zeichentrickkanälen war nichts als Rauschen zu sehen. Das Haus hatte einige Sendungen von gestern für sie gespeichert, aber die waren alle langweilig – King Koala, Die unglaublichen Baxters – und sie hatte darauf jetzt keine Lust. Irgendwas musste mit dem Satelliten nicht in Ordnung sein, denn es war auch sonst nichts zu empfangen … nur die intern abrufbaren Bilder der heruntergeladenen Programme, Hummerhausen bei Nacht, das Subjekt bewegungslos und wahrscheinlich schlafend unter nackter elektrischer Beleuchtung.

Ihr Telefon summte tief im Schulranzen, der auf dem Boden zu ihren Füßen lag, und Tessa setzte sich abrupt auf. Ein Mundvoll Orangensaft geriet in den falschen Hals. Sie wühlte das Handy hervor und meldete sich heiser.

»Tessa, bist du das?«

Ihr Vater.

Sie nickte, was ziemlich sinnlos war, und sagte: »Ja.«

»Alles in Ordnung?«

Sie versicherte ihm, dass alles bestens sei. Papa wollte immer wissen, wie es ihr ging. An manchen Tagen fragte er mehr als einmal nach. In Tess’ Ohren klang es immer wie: Was ist los mit dir? Stimmt was nicht? – und sie wusste nie eine Antwort darauf.

»Ich muss heute länger arbeiten«, sagte er. »Ich kann dich nicht zu Mama bringen. Du musst sie anrufen und dich von ihr abholen lassen.«

Heute war der Tag, an dem sie abends ins Haus ihrer Mutter überwechselte. Tess hatte in jedem der beiden Häuser ein Zimmer. Ein kleines ordentliches bei Papa, ein größeres chaotisches bei Mama. Sie würde ihre Schulsachen zusammenpacken müssen für den Umzug. »Kannst du sie nicht anrufen?«

»Es ist besser, wenn du das machst, Schätzchen.«

Sie nickte wieder. »Ist gut.«

»Liebe dich.«

»Dich auch.«

»Halt die Ohren steif.«

»Was?«

»Ich werde dich jeden Tag anrufen, Tess.«

»Okay.«

»Vergiss nicht, deine Mutter anzurufen.«

»Nein, mach ich.«

Pflichtschuldig und ohne vom leeren Bildschirm abgelenkt zu werden, verabschiedete sie sich, dann flüsterte sie »Mama« ins Telefon. Es folgte ein Zwischenspiel von Insektengeräuschen, dann meldete sich ihre Mutter.

»Papa sagt, dass du mich abholen musst.«

»Ach, sagt er das? Tja – wo bist du, bei ihm?«

Tess mochte den Klang der Stimme ihrer Mutter selbst am Telefon. Wenn man die Stimme ihres Vaters mit einem fernen Gewitter vergleichen konnte, dann die ihrer Mutter mit einem Sommerregen – beruhigend, sogar wenn sie traurig war.

»Er muss länger arbeiten.«

»Die Vereinbarung besagt, dass er dich bringen soll. Ich habe schließlich auch zu tun.«

»Ich kann ja zu Fuß gehen«, sagte Tessa, machte aber kein Hehl aus ihrer Enttäuschung. Sie würde mehr als eine halbe Stunde brauchen, zu Fuß zum Haus ihrer Mutter zu gehen, vorbei an dem Coffeeshop und den Jugendlichen, die sich dort immer trafen und die ihr neuerdings gern »Spasti« hinterherriefen, wegen der Art, wie sie den Kopf herumriss, um ihren Blicken auszuweichen.

»Nein«, sagte ihre Mutter. »Es wird schon spät … Sieh nur zu, dass du deine Sachen alle beisammen hast. Ich werde in … na, etwa zwanzig Minuten da sein. Okay?«

»Okay.«

»Vielleicht nehmen wir uns unterwegs irgendwo etwas zu essen mit.«

»Super.«

Nachdem sie das Telefon wieder in ihren Schulranzen zurückgesteckt hatte, vergewisserte Tess sich, dass sie alle Sachen beisammen hatte, die sie mit zu Mama nehmen musste: ihre Hefte und Textbücher natürlich, aber auch ihre Lieblingsblusen und -hemden, ihren Plüschaffen, ihre Bibliothek zum Einstöpseln, ihr persönliches Nachtlicht. Das dauerte nicht lange. Rastlos stellte sie alles im Hausflur ab und ging durch die Hintertür hinaus, um sich den Sonnenuntergang anzusehen.

Das Schöne am Haus ihres Vaters war der Blick, den man vom Garten aus hatte. Es war keine spektakuläre Aussicht, keine Berge oder Täler oder ähnlich Dramatisches, aber man konnte sehr weit über unerschlossenes Weideland sehen, das sanft zur Straße nach Constance hin abfiel. Der Himmel wirkte unermesslich von hier aus, ohne jede Begrenzung, abgesehen von dem Zaun, der Blind Lake einfasste. Vögel nisteten in dem hohen Gras jenseits des säuberlich kurz gehaltenen Rasens und manchmal stiegen sie in Scharen in den riesigen leeren Himmel auf. Tess wusste nicht, was für Vögel das waren – sie konnte sie nicht benennen. Es waren sehr viele, klein und braun, und wenn sie die Flügel ausbreiteten, flogen sie wie Dartpfeile.

Die einzigen von Menschen gemachten Dinge, die Tess vom Garten ihres Vaters aus sehen konnte (wenn sie der mechanischen Reihe der angrenzenden Häuser den Rücken zuwandte), waren der Zaun, die Straße, die durch sanfte Hügellandschaft nach Constance führte, und das Wachhäuschen am Tor. Sie beobachtete einen Bus, der von Blind Lake wegfuhr, einer der Busse, der die Pendler in ihre weit entfernten Häuser brachte. In der einsetzenden Dämmerung verströmten seine Fenster warmes gelbes Licht.

Tess stand still da und schaute. Wenn ihr Vater dagewesen wäre, hätte er sie inzwischen hereingerufen. Tess wusste, dass sie manchmal zu lange auf Dinge starrte. Auf Wolken oder Hügel oder, wenn sie in der Schule war, durch das makellos saubere Fenster aufs Fußballfeld, wo die weißen Torpfosten mit ihren Schatten den Verlauf der Stunden markierten. Bis jemand sie in die reale Welt zurückrief. Aufwachen, Tessa! Pass auf! Als hätte sie geschlafen. Als hätte sie nicht aufgepasst.

In solchen Momenten, wenn der Wind das Gras bewegte und sich um sie wickelte wie eine riesige kühle Hand, empfand Tessa die Welt wie eine zusätzliche Anwesenheit, eine zweite Person, als hätten der Wind und das Gras eigene Stimmen, deren Worten sie lauschen konnte.

Der Bus mit den gelben Fenstern hielt beim fernen Wachhäuschen. Ein zweiter Bus kam hinter ihm herangefahren. Tess wartete, dass der Wachmann die Busse durchwinken würde. Fast tausend Leute arbeiteten tagsüber in Blind Lake – Büro- und Servicemitarbeiter sowie die Betreiber der Geschäfte – und die Busse wurden immer durchgewinkt.

Heute Abend jedoch hielten die Busse vor dem Tor und blieben stehen.

Tess, sagte der Wind. Woraufhin Tess an Mirror Girl denken musste und all den Ärger, den es in Crossbank um sie gegeben hatte …

»Tess!«

Sie zuckte unwillkürlich zusammen. Die Stimme kam aus der Wirklichkeit. Es war ihre Mutter.

»Tut mir leid, wenn ich dich erschreckt habe …«

»Schon gut.« Tess drehte sich um und freute sich über den beruhigenden Anblick ihrer Mutter, die über den breiten, ordentlichen Rasen auf sie zukam.

Tessas Mutter war eine hochgewachsene Frau mit langen braunen Haaren, die um ihr Gesicht flatterten, und einem knöchellangen Kleid, mit dem der Wind neckisch spielte. Die untergehende Sonne tauchte alles in Rot: den Himmel, die in Reih und Glied stehenden Häuser, das Gesicht ihrer Mutter.

»Hast du deine Sachen?«

»An der Vordertür.«

Tessa sah, dass ihre Mutter einen Blick zur fernen Straße warf. Ein weiterer Bus hatte hinter den ersten beiden angehalten, und jetzt standen sie alle drei vor dem Tor und rührten sich nicht.

Tessa sagte: »Stimmt irgendwas nicht mit dem Zaun?«

»Ich weiß nicht. Es ist bestimmt nichts weiter.« Doch sie runzelte die Stirn und verharrte beobachtend noch für einen Moment. Dann nahm sie Tessa bei der Hand. »Dann wollen wir mal nach Hause fahren, okay?«

Tessa nickte, plötzlich begierig nach der Wärme des Hauses ihrer Mutter, nach dem Geruch frisch gewaschener Wäsche und des Essens aus dem Imbiss, nach der tröstlichen Behaglichkeit kleiner geschlossener Räume.

Drei

Der Campus des National Laboratory von Blind Lake, seine Wissenschafts-und Verwaltungstrakte, die Vorrats-und Verkaufsstellen, waren auf dem sanften, kaum wahrnehmbaren Hang einer alten Gletschermoräne errichtet worden. Aus der Luft ähnelte das Ganze einer normalen neuen vorstädtischen Ansiedlung, ungewöhnlich nur in seiner räumlichen Abgeschiedenheit, verbunden mit der Umwelt lediglich durch eine einzige zweispurige Straße. In seiner Mitte, gleich neben einer teilweise umbauten Reihe von Geschäften, die als der »Mallway« bezeichnet wurde, befand sich ein elliptischer Ring von zehngeschossigen Betongebäuden – Hubble Plaza. Hier wurde die Interpretationsarbeit der Blind-Lake-Einrichtung durchgeführt. Die Plaza, mit ihren schmalen Wappenfenstern und dem umzäunten, grasbewachsenen Park, war das Gehirn der Anlage. Das schlagende Herz lag eine Meile östlich von der bewohnten Stadt, in einem unterirdischen Bau, über dem sich zwei gewaltige Kühltürme in die kalte Herbstluft erhoben.

Offiziell war dieses Gebäude das Computerzentrum von Blind Lake, aber gemeinhin wurde es Eyeball Alley oder Alley oder auch schlicht das Auge genannt.

Charlie Grogan arbeitete als Chefingenieur in der Alley, seit sie vor fünf Jahren hochgefahren worden war. An diesem Abend machte er Überstunden, sofern man es als »Überstunden machen« bezeichnen kann, wenn jemand gewohnheitsmäßig noch am Arbeitsplatz bleibt, auch wenn die Tagschicht schon längst nach Hause gegangen ist. Es gab natürlich auch eine Nachtschicht und eine zuständige Aufsicht führende Ingenieurin (Anne Costigan, deren Fähigkeiten er zu respektieren gelernt hatte). Aber eben diese Entlastung von seiner offiziellen Wachsamkeit war es, die ihm die Arbeit nach Feierabend so teuer machte. Er konnte sich dem Papierkram widmen, ohne Unterbrechungen befürchten zu müssen. Besser noch, er konnte nach unten in die Hardware-Räume oder die O/BEK-Galerie gehen und sich in nichtoffizieller Funktion der Praktikertruppe zugesellen. Er fühlte sich einfach wohl im Betrieb.

An diesem Abend war er endlich dazu gekommen, ein bestimmtes Antragsformular auszufüllen, und nun wies er seinen Server an, es am nächsten Morgen abzuschicken. Er blickte auf seine Armbanduhr. Zehn vor neun. Bei den Jungs im Magazin war jetzt eine kleine Pause fällig. Nur mal kurz vorbeischauen, schwor sich Charlie. Dann nach Hause, um Boomer, seinen schon betagten Hund, zu füttern, und anschließend vor dem Zubettgehen vielleicht noch ein paar Downloads zu gucken. Der ewige Kreislauf.

Er verließ sein Büro und fuhr mit dem Fahrstuhl zwei Ebenen tief unter die Erde. Die Alley war abends ruhig. Niemand begegnete ihm auf den meeresgrünen unterirdischen Fluren. Zu hören waren nur seine Schritte und das Piepen des Transponders in seinem Ausweisschild, als er in die gesperrte Zone überwechselte. Spiegeltüren erinnerten ihn in unangenehmer Weise an sein Alter – im letzten Januar war er achtundvierzig geworden –, führten ihm die schleichende Krümmung seines Rückgrats und den über den Gürtel quellenden Bauch vor Augen. Ein grauer Haarkranz hob sich von seiner dunklen Haut ab. Sein Vater war ein hellhäutiger Engländer gewesen, vor zwanzig Jahren vom Krebs hinweggerafft; seine Mutter, eine sudanesische Immigrantin und Sufischülerin, hatte ihn nicht einmal um ein Jahr überlebt. Mehr als je zuvor ähnelte Charlie heutzutage seinem Vater.

Er machte einen Umweg durch die O/BEK-Galerie – wenn es auch, ähnlich wie im Fall der »Überstunden«, wahrscheinlich nicht korrekt war, von einem »Umweg« zu sprechen, denn dies war eine der festen Stationen seines gewohnheitsmäßigen abendlichen Spaziergangs.

Die Galerie war aufgebaut wie ein OP-Hörsaal ohne Studentenbänke: eine ringförmige, geflieste Halle, im inneren Kreis mit versiegelten Glasfenstern ausgestattet. Die Fenster blickten auf eine zwölf Meter tiefe runde Kammer. Auf dem Boden dieser Kammer, angeschlossen an Säulen mit supergekühlten Gasen und überwölbt von Batterien von Leuchtröhren und Überwachungsgeräten, standen die drei riesigen O/BEK-Zylinder. Im Innern jedes Röhrenzylinders befanden sich zahllose mikroskopisch dünne Halbleiterscheiben aus einer Gallium-Arsen-Verbindung, in Helium gebadet bei einer Temperatur von minus 233 Grad Celsius.

Charlie war Ingenieur, kein Physiker. Er konnte die Maschinen warten, die die Zylinder in Betrieb hielten, aber den grundlegenden Prozess, der dort am Wirken war, verstand er bestenfalls in Bruchstücken. Ein »Bose-Einstein-Kondensat« war ein hochgradig geordneter Materiezustand, und die BEKs schufen verschränkte Elektronen, die sogenannten »Exzitone«, und diese Exzitone wiederum fungierten als Quantentore, um einen absurd schnellen und empfindlichen Rechner zu bilden. Alles, was über diese Reader’s Digest-Skizze hinausging, überließ er den sehr ernsthaften und im gesellschaftlichen Verkehr eher ungeschickten jungen Theoretikern und Examensstudenten, die durch die Eyeball Alley tourten, als handele es sich um einen Sommerferienort. Charlies Aufgabe war eher praktischer Natur: Er hielt alles am Laufen, kümmerte sich um die Kühlung, um das reibungslose Funktionieren der Zentraleinheit und beseitigte kleine Probleme, bevor sie zu großen Problemen anwachsen konnten.

An diesem Abend waren vier Wartungsleute in sterilen Schutzanzügen an den Installationen zugange, wahrscheinlich Stitch und Chavez und die neuen Hospitanten aus dem Labor in Berkeley. Mehr Leute als gewöhnlich … er fragte sich, ob Costigan irgendwelche außerplanmäßigen Arbeiten anberaumt hatte.

Er ging einmal um die Galerie herum, folgte dann einem anderen Flur, der am Festkörperphysiklabor vorbeiführte, zum Datenkontrollraum. Kaum war er eingetreten, wusste Charlie schon, dass irgendetwas los war.

Es gab keinen, der Pause machte. Die fünf Nachtingenieure waren alle auf ihren Posten, scrollten sich fieberhaft durch Systemprotokolle. Allein Chip McCullough blickte auf, als Charlie durch die Tür kam, und ein düsteres Kopfnicken war alles, was er ihm zur Begrüßung anbot. Und das alles nur wenige Stunden, nachdem seine Schicht offiziell zu Ende gegangen war.

Auch Anne Costigan war anwesend. Sie blickte von ihrem tragbaren Monitor auf und sah Charlie an der Tür stehen. Sie hob einen Finger in Richtung des nachgeordneten Aufsehers – einen Moment – und kam herbeigeschlendert. Das gefiel Charlie an Anne, diese Ökonomie der Bewegungen, jede Geste diente einem Zweck. »Herrgott, Charlie«, sagte sie, »gehen Sie denn nie schlafen?«

»Bin grad auf dem Weg nach Hause.«

»Quer durch den Betrieb?«

»Eigentlich wollte ich mit euch noch einen Kaffee trinken. Aber ihr seid anscheinend beschäftigt.«

»Wir hatten vor einer Stunde einen gewaltigen Ausschlag.«

»Stromausschlag?«

»Nein, einen Aktivitätsausschlag. Das Schaltbrett war hell erleuchtet, wenn Sie wissen, was ich meine. Als ob jemand dem Auge einen Schwung Amphetamine eingeflößt hätte.«

»So was kommt vor«, sagte Charlie. »Denken Sie an letzten Winter …«

»Das hier war ein bisschen ungewöhnlich. Es hat sich jetzt wieder beruhigt, aber wir machen trotzdem einen Systemcheck.«

»Wir produzieren immer noch Daten?«

»O ja, es ist nichts Schlimmes, nur ein Ausreißer, aber … Sie wissen schon.«

Er begriff. Das Auge und all seine miteinander verbundenen Systeme schwebten ständig an der Schwelle zum Chaos. Wie bei einem angeschirrten Tier war es nicht so sehr Wartung, was das Auge brauchte, sondern Pflege und Zuspruch. In seiner Komplexität und Unberechenbarkeit glich es beinahe einem lebendigen Wesen. Alle, denen das klar war – und Anne gehörte dazu –, hatten gelernt, auch auf die kleinsten Dinge zu achten.

»Wollen Sie hierbleiben und ein bisschen helfen?«

Ja, wollte er, aber Anne brauchte seine Hilfe nicht, er würde nur im Weg stehen. Er sagte: »Ich habe einen Hund, der gefüttert werden muss.«

»Grüßen Sie Boomer von mir.« Es war deutlich, dass sie dringend wieder an die Arbeit wollte.

»Mach ich. Kann ich Ihnen noch irgendetwas besorgen?«

»Nein, es sei denn, Sie hätten ein Telefon für mich, das funktioniert. Abe ist mal wieder drüben an der Küste.« Abe war Annes Mann, ein Finanzberater; er schaffte es vielleicht alle drei Monate, nach Blind Lake zu kommen. Mit der Ehe stand es nicht zum Besten. »Lokale Gespräche sind kein Problem, aber aus irgendeinem Grund komme ich nicht nach L. A. durch.«

»Soll ich Ihnen meins leihen?«

»Ich glaube, das wird auch nichts nützen; ich habe schon Tommy Gupta seins ausprobiert, das hat auch nicht funktioniert. Muss irgendwas mit den Satelliten nicht in Ordnung sein.«

Merkwürdig, dachte Charlie, wie heute Abend alles ein bisschen aus dem Ruder gelaufen zu sein schien.

Zum fünften Mal innerhalb einer Stunde teilte Sue Sampel ihrem Chef mit, dass es ihr nicht gelungen sei, ihn mit dem Energieministerium in Washington zu verbinden. Jedesmal sah Ray sie an, als habe sie persönlich Mist gebaut.

Sie arbeitete schon viel länger als normal, und es schien, als würden alle anderen an der Hubble Plaza das auch tun. Irgendetwas war da los, aber Sue bekam nicht heraus, was das war. Sie war Ray Scutters leitende Assistentin, aber er hatte ihr (was typisch war) keinerlei Informationen zukommen lassen. Sie wusste nur, dass er mit D. C. sprechen wollte und dass die Telekommunikation nicht mitspielte.

Ganz offenkundig war es nicht Sues Schuld – sie wusste doch wohl, wie man eine Nummer eingab, um Gottes willen –, aber das hielt Ray nicht davon ab, sie jedesmal wütend anzustarren, wenn er nachfragte. Und Ray Scutter konnte verdammt wütend gucken. Große Augen mit Stecknadelpupillen, buschige Augenbrauen, der Spitzbart grau gesprenkelt … sie hatte mal gedacht, dass er ziemlich gut aussehen könnte, wenn nicht das fliehende Kinn und die leicht hängenden Wangen wären. Aber von diesem Gedanken war sie längst abgekommen. Wie hieß der Spruch noch mal? Schönheit kommt von innen. Was bei Ray von innen kam, war einfach nicht besonders schön.

Er drehte sich um und stapfte in sein Büro zurück. »Natürlich«, knurrte er über die Schulter, »wird das alles irgendwie auf mich zurückfallen.«

J3, dachte Sue voller Überdruss. Das war in den letzten Monaten, seit sie für Ray Scutter arbeitete, zu ihrem Mantra geworden. J3: Ja, ja, ja. Ray war von lauter Inkompetenten umzingelt. Ray wurde vom Forschungspersonal übergangen. Ray wurden bei jeder Gelegenheit Steine in den Weg gelegt. Ja, ja, ja.

Noch einmal, für alle Fälle, versuchte sie die Verbindung nach Washington herzustellen. Das Telefon ließ eine Fehlermeldung aufblinken: KEINE VERBINDUNG ZUM SERVER. Die gleiche Meldung kam für jede Telefon-, Video- oder Netzverbindung außerhalb der internen Blind-Lake-Schleife. Die einzige Verbindung, die funktioniert hatte, war die zu Rays Haus – hier in der Stadt – gewesen, ein Anruf für seine Tochter, um ihr mitzuteilen, dass es heute spät werden würde. Alles andere waren eingehende Anrufe gewesen: von der Sicherheit, dem Personal und der militärischen Kontaktstelle.

Wäre Sue nicht so müde gewesen, hätte sie sich vielleicht Sorgen gemacht. Aber wahrscheinlich war es nichts weiter. Im Moment hatte sie keinen anderen Wunsch, als nach Hause zu gehen und ihre Schuhe von sich zu werfen, ihr Abendessen in die Mikrowelle zu stellen und einen Joint zu rauchen.

Das Terminal summte erneut – laut Bildschirmanzeige ein Anruf von Ari Weingart von der Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit. Sie nahm ab. »Ari«, sagte sie. »Was kann ich für Sie tun?«

»Ist Ihr Chef da?«

»Anwesend, aber nicht scharf darauf, gestört zu werden. Ist es dringend?«

»Na ja, sozusagen. Ich hab hier drei Journalisten und weiß nicht, wohin mit ihnen.«

»Buchen Sie ihnen doch ein Motel.«

»Sehr komisch. Die haben eine Aufenthaltsgenehmigung für drei Wochen.«

»Und das hat Ihnen niemand in den Kalender geschrieben?«

»Tun Sie nicht so begriffsstutzig, Sue. Offensichtlich müssten sie eigentlich in den Gästezimmern im Besuchszentrum untergebracht werden – aber die Personalabteilung hat alle Betten mit Tagesarbeitern belegt.«

»Tagesarbeitern?«

»Na ja! Weil die Busse nicht nach Constance rauskommen.«

»Die Busse kommen nicht raus?«

»Haben Sie die letzten paar Stunden in der Isolationszelle gesessen? Die Straße ist am Tor gesperrt. Kein Verkehr nach drinnen oder nach draußen. Totale Ausgangssperre.«

»Seit wann?«

»Ungefähr Sonnenuntergang.«

»Wie kommt das denn?«

»Wer weiß? Entweder eine glaubwürdige Bedrohung der Sicherheit oder wieder mal eine Übung. Man glaubt allgemein, dass sich die Sache bis morgen Früh klärt. Aber in der Zwischenzeit muss ich diese Leute irgendwo unterbringen.«

Ray Scutter würde, mit diesem Problem konfrontiert, nur gleich wieder auf hundertachtzig sein, jedenfalls mit Sicherheit nichts Hilfreiches zu seiner Lösung beitragen. Sue dachte nach. »Vielleicht könnten Sie bei der Standortverwaltung anrufen und fragen, ob sie die Sporthalle im Freizeitcenter aufmachen. Ein paar Klappbetten für die Nacht reinstellen. Wie wäre das?«

»Absolut genial, verdammt«, sagte Ari. »Hätte ich selber drauf kommen können.«

»Falls irgendeine Autorisierung nötig ist, berufen Sie sich auf mich.«

»Sie sind ein Schatz. Wünschte, ich könnte Sie Ray entreißen und für mich engagieren.«

Wünschte ich auch, dachte Sue.

Sue stand auf, streckte sich. Sie ging zum Fenster und schob die Vertikal-Jalousien auseinander. Hinter den Dächern der Angestelltenhäuser und der Dunkelheit des unbebauten Graslandes konnte sie gerade noch die Straße nach Constance ausmachen, dazu die Lichter der Notfallfahrzeuge und deren unheimliches Blinken am Südtor.

Marguerite Hauser dankte dem gütigen Schicksal, das sie in einem Reihenhaus (auch wenn es eins der kleineren, älteren war) auf der Nordostseite des Blind-Lake-Geländes untergebracht hatte, so weit wie möglich von ihrem Exmann Ray entfernt. Es lag etwas Beruhigendes in dieser zehnminütigen Heimfahrt mit Tess, eine Überbrückung von Raum, ähnlich einer Zugbrücke über einem Burggraben.

Tess war während der Fahrt wie üblich still – vielleicht noch ein bisschen stiller als üblich. Als sie sich etwas zu essen aus dem Drive-thru in der Geschäftsstraße holten, zeigte Tess wenig Interesse am Speisenangebot. Zu Hause angelangt, trug Marguerite die Hähnchensandwiches, während Tess ihre Tasche nach drinnen schleppte. »Funktioniert die Videoanlage?«, fragte Tess teilnahmslos.

»Warum sollte sie nicht?«

»Bei Papa hat sie nicht funktioniert.«

»Probier es einfach aus. Ich hole inzwischen Teller für das Essen.«

Vor dem Videogerät zu essen war noch immer etwas Neues für Tess. Es war dies eine Gewohnheit, die Ray nicht zugelassen hatte. Ray hatte immer darauf bestanden, am Tisch zu essen: »Familienzeit«, unweigerlich beherrscht von Rays täglichem Beschwerdenkatalog. Da waren, ehrlich gesagt, sogar die Downloads als Gesellschaft vorzuziehen, dachte Marguerite. Vor allem die alten Filme. Tess mochte die schwarzweißen am liebsten; sie war fasziniert von den altertümlichen Automobilen und der merkwürdigen Kleidung. Sie ist xenophil veranlagt, dachte Marguerite. Kommt nach mir.

Doch Marguerites Videoanlage erwies sich als ebenso unbrauchbar, wie es offenbar Rays gewesen war, und so mussten sie sich mit dem begnügen, was der Speicher des Hauses zu bieten hatte. Sie entschieden sich für eine hundert Jahre alte Komödie mit Bob Hope, Detektiv mit kleinen Fehlern. Tess, die normalerweise lauter Fragen über das zwanzigste Jahrhundert und darüber, warum dort alles so seltsam aussah, gestellt hätte, pulte nur an ihrem Essen herum und starrte auf den Bildschirm.

Marguerite legte ihrer Tochter eine Hand auf die Stirn. »Wie fühlst du dich, Kleines?«

»Ich bin nicht krank.«

»Hast einfach nur keinen Hunger?«

»Glaub schon.« Tess rutschte näher, und Marguerite legte einen Arm um sie.

Nach dem Abendessen machte Marguerite sauber, bezog die Betten neu, half Tess, ihre Schulbücher zu sortieren. In einem Anfall von fehlinvestiertem Optimismus zappte Tess sich durch die Unterhaltungsprogrammlisten auf dem blauen Bildschirm, um sich dann den Bob-Hope-Film ein zweites Mal anzusehen und schließlich zu verkünden, dass sie ins Bett gehen wolle. Marguerite beaufsichtigte das Zähneputzen; als Tess dann im Bett lag, deckte sie sie zu. Marguerite gefiel das Zimmer ihrer Tochter, mit dem kleinen, nach Westen gehenden Fenster, dem rosa Deckbett mit Fransen, der wachsamen Brigade von Stofftieren auf der Kommode. Es erinnerte sie an ihr eigenes Zimmer in Ohio vor langer Zeit, abzüglich der gutgemeinten Bibelgeschichten für Kinder in mehreren Bänden, die ihr Vater in der vergeblichen Hoffnung angeschafft hatte, sie würden die Frömmigkeit in ihr wachrufen, die ihr offenkundig abging. Tessas Bücher waren von ihr selbst ausgewählt und tendierten in Richtung Fantasy oder Populärwissenschaft. »Möchtest du noch ein bisschen lesen?«

»Glaube nicht«, sagte Tessa.

»Hoffentlich fühlst du dich morgen Früh besser.«

»Mir geht’s gut. Ehrlich.«

Marguerite blickte noch einmal zurück, als sie das Licht ausschaltete. Tessas Augen waren bereits geschlossen. Tess war elf, sah aber jünger aus. Sie hatte noch immer runde Wangen und ein Babyfettpolster unterm Kinn. Ihre Haare wurden zwar dunkler, zeigten sich aber noch in einem schmutzigen Blond. Marguerite vermutete, dass sich unter diesem Kindheitskokon allmählich eine junge Frau herausbildete, aber deren Züge waren noch unbestimmt, schwer vorherzusehen.

»Schlaf gut«, flüsterte Marguerite.

Tess schmiegte sich in ihr Deckbett und bohrte den Kopf ins Kissen.

Marguerite machte die Tür zu. Sie ging durch den Flur zu ihrem Büro – einem umgerüsteten dritten Schlafzimmer –, entschlossen, vor Mitternacht noch ein bisschen von ihrer Arbeit zu erledigen. Jeder einzelne ihrer Abteilungsleiter hatte Videoabschnitte aus den vergangenen vierundzwanzig Stunden des Subjekts markiert, die sie überprüfen sollte. Marguerite dimmte das Licht herunter und rief die Berichte auf ihrem Wandbildschirm auf.

Bei Physiologie und Gebärden war man noch immer von den Lungenlamellen des Subjekts besessen. »Mögliche Lamellensignale bei sozialer Interaktion«, wurde im Zwischentitel verkündet. Es folgte ein Clip von dem Subjekt, in dem dieses im gedämpft grünen Licht eines Nahrungsschachtes stand und offenkundig mit einem anderen Individuum interagierte. Die Bauchlamellen des Subjekts, blasse, weißliche Schlitze zu beiden Seiten seiner Thoraxkammer, zitterten bei jedem Atemzug. Das war Standard, und Marguerite war nicht ganz klar, was ihr nach Ansicht von Physiologie hier auffallen sollte, bis ein neuer Textabschnitt heraufgescrollt kam. Die Lamellenfedern zeigen deutliche, einem komplexen Muster folgende vertikale Tastbewegungen während der interpersonalen Kommunikation. Ah. Ja, da sah man es auf dem vergrößernden zweiten Bildschirmausschnitt. Die Lamellenfedern waren winzige rosa Härchen, kaum zu erkennen, aber doch, ja, sie bewegten sich wie ein Weizenfeld im Wind. Zum Vergleich gab es eine Einblendung von der Atmung des Subjekts in einem nicht sozialen Umfeld. Die Lamellenfedern bogen sich bei jedem Atemzug nach innen, aber das vertikale Zittern blieb aus.

Unter Umständen sehr interessant, dachte Marguerite. Sie markierte den Bericht mit einem Dringlichkeitsvermerk, woraus folgte, dass Physiologie und Gebärden ihn zur weiteren Analyse an die Kompilatoren schicken konnte. Sie fügte noch einige eigene Notizen und Nachfragen hinzu (Konsistenz? Andere Kontexte?), dann schickte sie das Ganze zur Hubble Plaza zurück.

Von der Gruppe Kultur und Technologie gab es Screenshots der jüngsten Erzeugnisse, die das Subjekt auf den Wänden seiner Kammer hinterlassen hatte. Da war das Subjekt, zu voller Größe aufgerichtet, die gedrungenen Hebebeine durchgedrückt, während es einen beweglichen Arm und offenbar so etwas wie einen Buntstift benutzte, um der Symbolreihe, die die Wände des Raumes schmückte, ein weiteres Symbol (so es sich denn um ein Symbol handelte) hinzuzufügen. Dieses neueste war Teil einer Reihe von sechzehn größer werdenden Schneckengehäusewindungen, diesmal mit einem zusätzlichen Schnörkel abgeschlossen. Für Marguerite sah es aus wie etwas, das ein rastloses Kind an den Rand seines Schulhefts kritzeln mochte. Der naheliegende Schluss war, dass das Subjekt etwas schrieb, aber schon früh war festgestellt worden, dass die Striche, Linien, Kreise, Kreuze, Punkte etc. sich nie wiederholten. Sofern es Piktogramme waren, hatte das Subjekt noch nie ein und dasselbe Wort zweimal geschrieben; falls es Buchstaben waren, war es noch nicht dazu gekommen, sein Alphabet auszuschöpfen. Bedeutete das, dass es sich um Kunst handelte? Vielleicht. Dekoration? Möglich. Aber Kultur und Technologie war der Ansicht, dass diese letzte Reihe zumindest auf irgendeine Art von linguistischem Gehalt schließen ließ. Marguerite bezweifelte das und markierte diesen Bericht mit einer Dringlichkeitsstufe, die ihn gemeinsam mit einem Dutzend ähnlicher Dokumente auf dem Gutachterschreibtisch landen lassen würde.

Der Rest des aufzuarbeitenden Materials bestand aus Tätigkeitsberichten der Aktivkommissionen und einigen kurzen Segmenten, von denen das Landschaftsvermessungsteam glaubte, sie seien für sie interessant. Balkonblicke: die sich hinter dem Subjekt in einen pastellfarbenen Nachmittag erstreckende Stadt, sandsteinrot, eine Schicht auf der anderen, wie Gebilde aus gestapelten Torten. Sie speicherte diese Bilder, um sie sich später anzusehen.

Etwa um Mitternacht war sie fertig.

Sie schaltete ihre Bürowand ab und ging durchs Haus, um weitere Lichter auszuschalten, bis eine weiche Dunkelheit herrschte. Morgen war Samstag. Keine Schule für Tess. Marguerite hoffte, dass die Satellitenverbindung bis zum Morgen wieder stehen würde. Sie wollte nicht, dass Tess sich langweilen musste am ersten Tag, an dem sie wieder bei ihr im Hause war.

Es war eine klare Nacht. Der Herbst kam zeitig in diesem Jahr. Marguerite legte sich bei offenen Vorhängen zu Bett. Als sie im vergangenen Sommer eingezogen war, hatte sie ihr großes, nutzloses Doppelbett dicht ans Fenster gerückt. Sie betrachtete gerne die Sterne, bevor sie einschlief, aber Ray hatte immer darauf bestanden, die Vorhänge zu schließen. Jetzt konnte sie tun, was sie wollte. Das Licht des Halbmonds fiel über ein Riff aus Decken. Sie schloss die Augen und fühlte sich schwerelos, seufzte noch einmal und war auch schon eingeschlafen.

Vier

Ari Weingart, Blind Lakes PR-Mann, trug ein großes digitales Klemmbrett. Chris war ein bisschen besorgt deswegen. Er hatte keine guten Erfahrungen mit Leuten gemacht, die Klemmbretter benutzten.

Weingart war ganz offensichtlich in Schwierigkeiten. Er hatte Vogel, Elaine und Chris vor der Hubble Plaza in Empfang genommen und sie in sein kleines Büro mit Blick auf die zentrale Piazza geführt. Sie waren gerade dabei, einen vorläufigen Marschplan für die erste Woche zu entwickeln, als Weingart einen Anruf entgegennahm. Chris und seine Begleiter zogen sich in einen leeren Konferenzraum zurück, wo sie bis nach Sonnenuntergang saßen und warteten.

Als Weingart zurückkehrte, schleppte er noch immer dieses Klemmbrett mit sich herum. »Es haben sich Komplikationen ergeben«, sagte er.

Elaine Coster hatte, hinter einer Printausgabe der Current Events vom letzten Monat verschanzt, seit geraumer Zeit vor sich hin geköchelt. Jetzt legte sie die Zeitschrift beiseite und bedachte Weingart mit einem nachdrücklichen Blick. »Falls es Probleme mit dem Programm gibt, können wir das gerne morgen klären. Alles, was wir im Moment brauchen, ist ein Zimmer zum Auspacken und einen verlässlichen Server. Seit heute Nachmittag habe ich es nicht geschafft, eine Verbindung nach New York zu bekommen.«

»Nun ja, eben darin besteht ja das Problem. Die Anlage ist abgeriegelt. Wir haben ungefähr neunhundert Mitarbeiter, die außerhalb des Geländes wohnen, aber die kommen jetzt nicht raus, und ich fürchte, sie haben einen vorrangigen Anspruch auf die Gästezimmer. Die gute Nachricht ist …«

»Moment mal«, sagte Elaine. »Eine Abriegelung? Was soll das heißen?«

»Ich vermute, dieses Problem ist Ihnen in Crossbank nicht begegnet, aber es ist Teil der Sicherheitsbestimmungen. Falls irgendeine Drohung gegen die Anlage vorliegt, wird jeglicher Verkehr nach drinnen oder draußen unterbunden, bis die Sache geklärt ist.«

»Es hat eine Drohung gegeben?«

»Das nehme ich an. Ich werde von solchen Dingen nicht unterrichtet. Aber es ist sicherlich nichts Gravierendes.«

Wahrscheinlich hatte er recht, dachte Chris. Sowohl Crossbank als auch Blind Lake waren als Nationale Laboratorien ausgewiesen und unterlagen Sicherheitsrichtlinien, die noch aus der Zeit der Terrorkriege datierten. Selbst leere Drohungen wurden ganz furchtbar ernst genommen. Einer der Nachteile der großen Medienaufmerksamkeit, die Blind Lake genoss, bestand darin, dass es dadurch auch die Aufmerksamkeit eines breiten Spektrums von Irren und Ideologen erregt hatte.

»Können Sie uns etwas über die Natur der Drohung sagen?«

»Ehrlich, ich weiß selbst nichts Näheres. Aber es ist nicht das erste Mal, dass so etwas passiert. Wenn man der Erfahrung trauen kann, wird bis morgen Früh alles geklärt sein.«

Jetzt rührte sich auch Sebastian Vogel, nachdem er eine Stunde lang in einem sphinxartigen Ruhezustand auf seinem Stuhl verharrt hatte. »Und wo schlafen wir unterdessen?« , fragte er.

»Nun, wir haben – Feldbetten aufgestellt.«

»Feldbetten?«

»In der Turnhalle im Freizeitcenter. Ich weiß, es ist eine Zumutung. Es tut mir auch furchtbar leid. Es ist aber das Beste, was wir so kurzfristig bereitstellen können. Wie gesagt, bis morgen Früh wird sicherlich alles geklärt sein.«

Weingart starrte stirnrunzelnd auf sein Klemmbrett, als könnte sich dort noch eine Rettung in letzter Sekunde abzeichnen. Elaine schien drauf und dran, aus der Haut zu fahren, doch Chris kam ihr zuvor: »Wir sind Journalisten. Bestimmt haben wir alle schon mal unter ungemütlichen Umständen übernachtet.« Na ja, Vogel vielleicht nicht. »Nicht wahr, Elaine?«

Weingart sah sie hoffnungsvoll an.

Sie schluckte hinunter, was sie hatte sagen wollen. »Ich habe schon mal in einem Zelt auf dem Gobi-Plateau kampiert. Ich nehme an, dass ich auch in einer Scheiß-Turnhalle schlafen kann.«

Reihen von Feldbetten standen in der Sporthalle, einige davon bereits von heimatlosen Tagesarbeitern belegt, die keinen Platz mehr in den Gästehäusern gefunden hatten. Chris, Elaine und Vogel suchten sich drei Betten unter dem Basketballkorb aus und beanspruchten sie als die ihren, indem sie ihr Gepäck darauf ablegten. Die bereitgestellten Kissen sahen aus wie Marshmallows, denen man die Luft abgelassen hatte. Die Decken stammten aus den Beständen des Roten Kreuzes.

Vogel sagte zu Elaine: »Gobi-Plateau?«

»Als ich meine Biografie über Roy Chapman Andrews geschrieben habe. In den Fußstapfen der Zeit. Paläobiologie einst und jetzt. Zugegeben, damals war ich fünfundzwanzig. Haben Sie schon mal in einem Zelt übernachtet, Sebastian?«

Vogel war sechzig Jahre alt. Vom hektischen Rot seiner Wangen abgesehen, war er ein blasser Typ, und er trug unförmige Pullover, um die unangenehme Überdimensioniertheit seines Bauches und der Hüften zu kaschieren. Elaine mochte ihn nicht – er sei ein Parvenü, hatte sie Chris anvertraut, ein Schwindler, ein Scheiß-Spiritualist praktisch – und mit seiner unbeirrbaren Höflichkeit hatte Vogel diese Sünde nur noch verschärft. »Algonquin Park«, sagte er. »Kanada. Eine Campingreise. Liegt natürlich schon Jahrzehnte zurück.«

»Und sie diente der Gottsuche?«

»Es war eine gemischtgeschlechtliche Gruppe. Soweit ich mich erinnere, war ich darauf aus, zu vögeln.«

»Was waren Sie damals, Theologiestudent?«

»Wir haben keine Keuschheitsgelübde abgelegt, Elaine.«

»Missbilligt Gott nicht derartige Dinge?«

»Was für Dinge? Geschlechtsverkehr? Nicht, soweit ich ermitteln konnte, nein. Sie sollten mein Buch lesen.«

»Das hab ich ja.« Und zu Chris gewandt: »Sie auch?«

»Noch nicht.«

»Sebastian ist ein altmodischer Mystiker. Gott wohnt in allen Dingen.«

»In einigen mehr als in anderen«, sagte Sebastian, eine Bemerkung, die Chris unergründlich, aber auch typisch für Sebastian fand.

»So faszinierend das alles ist«, sagte Chris, »denke ich doch, dass wir uns langsam mal ums Abendessen kümmern sollten. Der PR-Typ meinte, es gebe einen Laden im Einkaufszentrum, der bis Mitternacht geöffnet hat.«

»Ich bin dabei«, sagte Elaine, »unter der Bedingung, dass Sie die Kellnerin nicht abschleppen.«

»Ich hab keinen Hunger«, sagte Vogel. »Gehen Sie ruhig ohne mich. Ich pass auf das Gepäck auf.«

»Schnell, heiliger Franziskus«, sagte Elaine, indem sie in ihre Jacke schlüpfte.

Chris kannte Elaines Biografie über Roy Chapman Andrews. Er hatte sie im ersten Jahr seines Studiums gelesen. Seinerzeit war sie eine aufstrebende Wissenschaftsjournalistin gewesen, stand in der näheren Auswahl für den AAAS Westinghouse Award und zeichnete einen Karriereweg vor, dem er eines Tages folgen zu können hoffte.

Chris’ bisher einziges Buch war ebenfalls eine Art Biografie gewesen. Das Positive an Elaine war, dass sie kein großes Trara um die stürmische Geschichte des Buches gemacht hatte und nichts dagegen zu haben schien, mit ihm zusammenzuarbeiten. Erstaunlich, dachte er, womit man sich abzufinden lernt.

Das Restaurant, das Ari Weingart empfohlen hatte, lag versteckt zwischen einem Interface-Laden und einem Geschäft für Bürobedarf im Freiluftabschnitt des Einkaufszentrums. Die meisten dieser Geschäfte waren jetzt am Abend geschlossen, und so hatte die kleine Mall etwas Verlassenes und Ungemütliches in der kühlen Herbstluft. Hingegen war der Diner, der zur Kette »Sawyer’s Steak & Seafood« gehörte, gut besucht. Es war voll und laut. Sie sicherten sich schnell einen Vinoplasttisch neben dem breiten Fenster, das aufs Einkaufszentrum hinausging. Die Ausstattung konzentrierte sich auf Chrom, Pastellfarben und Topfpflanzen, spätes zwanzigstes Jahrhundert, die fadenscheinige Beteuerung einer gefälschten Altertümlichkeit. Die Speisekarten hatten die Form eines T-Bone.

Chris fühlte sich dankenswert anonym.

»Mein Gott«, sagte Elaine. »Dunkelstes Vorstadtmilieu.«

»Was wollen Sie bestellen?«

»Tja, mal sehen. Das ganztägige Frühstück? Die Fleischklöße wie bei Muttern?«

Ein Kellner trat an den Tisch und hatte noch mitgehört, wie sie das Angebot im Tonfall beißender Ironie verlas. »Der Atlantiklachs ist gut«, sagte er.

»Gut wofür genau? Nein, ist schon gut. Der Lachs mag angehen. Chris?«

Verlegen bestellte er das Gleiche. Der Kellner entfernte sich achselzuckend.

»Sie können unglaublich snobistisch sein, Elaine.«

»Überlegen Sie, wo wir sind. An der vordersten Front der menschlichen Wissensproduktion. Hier steht man auf den Schultern von Kopernikus und Galileo. Und wo essen wir? In einer Fernfahrerkneipe mit Salatbar.«

Chris hatte noch nicht herausgefunden, wie Elaine ihr großes Interesse fürs Essen mit dem sorgsam in Schach gehaltenen Körperumfang einer Frau mittleren Alters in Einklang bringen konnte. Indem sie sich mit Qualität belohnte, war seine Vermutung. Auf Kosten der Quantität. Ein Balanceakt. Sie war eine Hochseilartistin der Taillenkontrolle.

»Ich meine, nun mal ehrlich«, sagte sie, »wer ist denn hier eigentlich ein Snob? Ich bin fünfzig Jahre alt, ich weiß, was ich mag, notfalls überlebe ich auch ein Fastfood-Restaurant oder ein Essen aus der Mikrowelle, aber muss ich deswegen so tun, als wäre der hausgemachte Apfelauflauf das Gleiche wie eine Crème brulée? Meine Jugend habe ich damit verbracht, miesen Kaffee aus Pappbechern zu trinken. Diese Phase habe ich inzwischen abgeschlossen.« Sie fügte hinzu: »Das werden Sie auch noch tun.«

»Danke für das Vertrauen.«

»Gestehen Sie. Crossbank war für Sie ein Reinfall.«

»Ich habe das eine oder andere nützliche Material gesammelt.« Oder jedenfalls ein totemartiges Zitat. Es könnte jederzeit zu Ende gehen. Ein Satz von geradezu baptistischer Pietät.

»Ich habe, was Sie betrifft, eine Theorie«, sagte Elaine.

»Vielleicht sollten wir einfach nur essen.«

»Nein, nein, ganz so leicht entkommen Sie dem unausstehlichen alten Drachen nicht.«

»Ich wollte nicht sagen, dass …«

»Seien Sie einfach still. Essen Sie schon mal einen Breadstick oder was. Ich hatte erwähnt, dass ich Sebastians Buch gelesen habe. Ihres habe ich auch gelesen.«

»Es klingt vielleicht kindisch, aber ich würde lieber nicht darüber reden.«

»Ich will weiter nichts sagen als: Es ist ein gutes Buch. Sie, Chris Carmody, haben ein gutes Buch geschrieben. Sie haben ordentlich recherchiert und Sie haben die notwendigen Schlüsse gezogen. Jetzt wollen Sie sich Vorwürfe machen, weil Sie nicht davor zurückgeschreckt sind?«

»Elaine …«

»Sie wollen Ihre Karriere wegwerfen, indem Sie vorgeben zu arbeiten, aber in Wirklichkeit nichts tun, Abgabetermine platzen lassen, Kellnerinnen mit dicken Titten vögeln und sich in den Schlaf saufen? Das können Sie natürlich tun, ohne Weiteres. Sie wären nicht der Erste. Bei weitem nicht. Selbstmitleid ist ein so faszinierendes Hobby.«

»Ein Mann ist gestorben, Elaine.«

»Sie haben ihn nicht getötet.«

»Darüber lässt sich streiten.«

»Nein, Chris, darüber lässt sich nicht streiten. Galliano ist entweder aus Versehen oder in einem bewussten Akt der Selbstzerstörung zu Tode gekommen. Vielleicht hat er seine Sünden bereut, vielleicht auch nicht, aber es waren jedenfalls seine Sünden, nicht Ihre.«

»Ich habe ihn bloßgestellt, der Lächerlichkeit preisgegeben.«

»Sie haben eine Arbeit bloßgestellt, die auf unverantwortliche Weise schlampig und dadurch eine Gefahr für unschuldige Menschen war. Zufällig war das Gallianos Arbeit, und zufällig ist Galliano mit seinem Motorrad in den Monongahela River gefahren, aber das war seine Sache, nicht Ihre. Sie haben ein gutes Buch geschrieben …«

»Herrgott, Elaine, wie dringend braucht die Welt noch mehr beschissene gute Bücher?«

»… und ein wahres Buch, und Sie haben es aus einer Haltung der Empörung heraus geschrieben, die keineswegs fehl am Platze war.«

»Nett, dass Sie das sagen, aber …«

»Und die Sache ist die, dass Sie offenbar in Crossbank nichts Verwertbares aufgetan haben, und was mir jetzt Sorge macht, ist, dass Sie auch hier nichts kriegen werden, und dann machen Sie sich Vorwürfe deswegen und Sie werden nichts abliefern, um dieses Projekt der Selbstzerstörung, dem Sie sich verschrieben haben, noch ein bisschen wirkungsvoller zu gestalten. Und das ist so gottverdammt unprofessionell. Ich mein, Vogel ist ein echter Spinner, aber er wird immerhin Stoff liefern.«

Für einen Moment zog Chris die Möglichkeit in Betracht, einfach aufzustehen und das Restaurant zu verlassen. Er