Backstage Kisses - Nadine Stenglein - E-Book
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Stenglein Nadine

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Beschreibung

Sie ist die Erbin eines Weltstars – und plötzlich selbst berühmt
Der romantische und herzzerreißende Liebesroman für Fans von Rockstar Romances

Die 20-jährige Violet hat kein leichtes Leben, doch sie fällt aus allen Wolken als sie erfährt, dass sie die Tochter des tödlich verunglückten, weltbekannten Musikers Kevin Jordan Sky ist. Sie erbt nicht nur sein Haus und ein riesiges Vermögen, sondern auch einige unveröffentlichte Songs, die er vor seinem Tod geschrieben hat. Violet, deren Traum es schon immer war Musikerin zu werden, taucht tief in die Welt ihres Vaters ein, lernt seine Bekannten und Freunde kennen – und auch den jungen Musiker Payden, der ihr Herz schneller aus dem Takt bringt als ihr lieb ist. Und plötzlich scheint Violet eine ganz neue Welt offenzustehen, in der sie ungekannte Seiten an sich entdeckt. Doch ebendiese neue Glitzerwelt birgt auch Gerüchte und Intrigen, die Violet mehr und mehr gefährlich werden. Und plötzlich scheint ein normales Leben nicht mehr möglich zu sein …

Erste Leserstimmen
„Eine Achterbahnfahrt an Spannung, Emotionen, Intrigen, Liebe und Freundschaft.“
„Ich habe mit Violet mitgelitten, mitgefiebert und natürlich mitgesungen.“
„Eine berührende Liebesgeschichte in der Welt der Musik – sehr empfehlenswert.“
„Lesenswert, mich hat es nicht wieder losgelassen!“
„die etwas andere Cinderella-Story“

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Seitenzahl: 478

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Über dieses E-Book

Die 20-jährige Violet hat kein leichtes Leben, doch sie fällt aus allen Wolken als sie erfährt, dass sie die Tochter des tödlich verunglückten, weltbekannten Musikers Kevin Jordan Sky ist. Sie erbt nicht nur sein Haus und ein riesiges Vermögen, sondern auch einige unveröffentlichte Songs, die er vor seinem Tod geschrieben hat. Violet, deren Traum es schon immer war Musikerin zu werden, taucht tief in die Welt ihres Vaters ein, lernt seine Bekannten und Freunde kennen – und auch den jungen Musiker Payden, der ihr Herz schneller aus dem Takt bringt als ihr lieb ist. Und plötzlich scheint Violet eine ganz neue Welt offenzustehen, in der sie ungekannte Seiten an sich entdeckt. Doch ebendiese neue Glitzerwelt birgt auch Gerüchte und Intrigen, die Violet mehr und mehr gefährlich werden. Und plötzlich scheint ein normales Leben nicht mehr möglich zu sein …

Impressum

Überarbeitete Neuausgabe Oktober 2020

Copyright © 2022 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-96817-291-0 Taschenbuch-ISBN: 978-3-96817-380-1

Copyright © 2019, dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Dies ist eine überarbeitete Neuausgabe des bereits 2019 bei dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH erschienenen Titels Violet Blue Sky (ISBN: 978-3-96087-774-5).

Covergestaltung: Vivien Summer unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com: © seksan wangkeeree, © djero.adlibeshe yahoo.com: © dekazigzag, © ventdusud Lektorat: Sofie Raff

E-Book-Version 27.07.2022, 14:36:30.

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

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Backstage Kisses

Jenseits der Welt

Es ist traurige Gewissheit – nach dem Absturz des Flugzeugs von Popstar Kevin Jordan Sky gibt es keine Überlebenden. Die Cessna war am Montag der vorherigen Woche kurz vor Sonnenuntergang bei einem Flug von Chicago nach Detroit über einem Feld abgestürzt. Neben dem Piloten Trevor Swanson und seiner langjährigen Managerin Angelina Brady war auch der Sänger an Bord der Maschine. Der 45-jährige Engländer war mit Brady und seinen Bandmitgliedern auf einer Werbetour gewesen. Der Rest der Band Skylane Avenue hielt sich bereits in Detroit auf. Schuld an dem Unglück soll ein Defekt an der Maschine gewesen sein. Die Plattenfirma SoundMagic von Kevin Jordan Sky bestätigte nun den Tod des bekannten Popstars und Angelina Bradys. Der Leichnam des Stars ist inzwischen überführt. Den genauen Termin der Beerdigung möchte die Familie geheim halten, bedankt sich aber für die öffentliche Anteilnahme.

Auch Skys letztes Solo-Album „Hope Island“ und das ein paar Monate zuvor erschienene Bandalbum „Magic in the Sky“ waren ein weltweiter Erfolg. Aus Insiderkreisen wurde laut, dass ein weiteres Album bereits in Planung war. Seit einigen Jahren trat Kevin auch als Solokünstler auf. In einem Interview sagte er dazu, er wolle sich verstärkt selbst verwirklichen. Immer wieder gab es deshalb Gerüchte über Differenzen mit der Band, die von beiden Seiten jedoch jedes Mal vehement dementiert wurden.

Eine Sprecherin von Skylane Avenue sagte, Kevins Tod habe ein tiefes Loch in ihre Herzen gerissen. In Gedanken seien sie bei den Angehörigen Skys, sowie bei denen seiner Managerin Angelina Brady. Die 50-jährige Angelina Brady hinterlässt ihren Ehemann. Besonders betroffen zeigte sich auch Thelma Matthews, die Cousine Skys. „Ich werde Kevin nie vergessen und immer im Herzen tragen, genau wie seine Musik“, sagte sie auf einer Pressekonferenz. Die weiteren Familienmitglieder des Sängers baten ausdrücklich um Ruhe. Insider berichten, dass die Familie in tiefer Trauer sei.

Violet McLovely atmete tief durch und drehte das Radio leiser. Sie lehnte sich nachdenklich in ihrem Schaukelstuhl zurück, der am Fenster ihres kleinen Zimmers stand. Regentropfen trommelten gegen die Scheibe, als würde auch der Himmel über den Tod von Kevin Jordan Sky weinen. Ihre Mutter hätte es mit Sicherheit getan. Sie war immer ein großer Fan von Sky gewesen. Vielleicht konnte sie ihn nun im Himmel treffen, dachte Violet. Der Gedanke brachte sie zum Lächeln. Sie war glücklich, dass sie ihrer Mutter vor deren Tod mit dem Besuch eines Konzertes von Sky in London einen letzten großen Wunsch erfüllen konnte. Vom ersten bis zum letzten Ton war Melody hin und weg gewesen. „Ich glaube, dieses Mal ist er wirklich von dem Teufelszeug weggekommen“, rief sie ihrer Tochter über die dröhnenden Bässe ins Ohr. „Ich wünsche es dem gutaussehenden Mistkerl.“ Sie hatte gelacht und ihre Augen hatten geschimmert wie feuchte Perlen.

„Alles gut, Mum?“, hatte Violet gefragt.

„Ja, alles gut. Mach dir keine Sorgen.“

Melody hatte gelächelt, ihrer Tochter tief in die tannengrünen Augen geblickt und mit ihrer weichen Stimme hinzugefügt: „Du bist etwas ganz Besonderes, Violet. Lass dir nie was anderes einreden. Okay?“

„Ich versuche es, Mum!“

Ein halbes Jahr später war Melody gestorben. Immer wieder beschlich Violet seitdem das Gefühl, dass ihre Mutter ihr noch etwas Dringendes hatte sagen wollen. Ihre Augen hatten so müde gewirkt, als sie sie das letzte Mal gesehen hatte. Der Krebs hatte die Macht über ihren zierlichen Körper übernommen und Melody konnte ihm letztendlich nicht standhalten. Doch die Erinnerungen, die Violet an ihre Mutter hatte, konnte er ihr nicht nehmen. Sie beide waren immer ein unschlagbares Team gewesen und hatten einander Halt und Stärke gegeben. Wenn sie zusammen waren, war es Violet leicht gefallen, die kleinen Dinge des Lebens zu genießen, einen Spaziergang durch den Hyde Park etwa oder eine Fahrt im London Eye. Auch wenn sie nie viel Geld hatten und Melody nur Verkäuferin in einem Modegeschäft gewesen war, hatte sie immer versucht, ihre Tochter zu verwöhnen. Die kleine Wohnung am nördlichen Rande Londons, in der sie zur Miete gewohnt hatten, war eine richtige Wohlfühloase gewesen.

Es war Violet schwer gefallen, ihr Zuhause nach Melodys Tod zu räumen. Doch alleine hätte sie die Miete dafür niemals aufbringen können, denn nach ihrem Schulabschluss hatte sie nur einen Kellnerinnenjob ergattern können. Doch das war immerhin besser als kein Job, sagte sie sich. Von dem Erbe, das ihr ihre Mutter hinterlassen hatte, hatte sie gerade mal die Beerdigung bezahlen können. Sie biss die Zähne zusammen und versuchte die neu heranschwappende Welle des Schmerzes auszubremsen.

Seit ein paar Monaten wohnte Violet nun bei den einzigen Verwandten, die sie noch hatte. Das waren ihre Tante Angela und ihr Onkel Marcus. Die beiden hatten eine kleine Dachgeschosswohnung in Shoreditch, im East End Londons. Nach Melodys Tod hatten Angela und Marcus Violet widerwillig bei sich aufgenommen, da Melody sie darum gebeten und Violet versprochen hatte, einen Großteil der Haushaltsdienste zu übernehmen und sich an den Lebenshaltungskosten zu beteiligen. Das war immerhin weniger, als sie für eine Wohnung oder ein WG-Zimmer hätte zahlen müssen. Das kleine Zimmer in der Wohnung ihrer Tante und ihres Onkels, das sie bewohnte, reichte ihr, bis sie einen richtigen Job gefunden hatte, oder vielleicht sogar eine Ausbildung als Konditorin beginnen konnte. Dann wollte sie sich auf jeden Fall etwas eigenes suchen.

„Aufstehen, Schlafmütze, oder willst du deinen Job verlieren?“, rief Angela und klopfte gegen die Tür.

Seufzend strich sich Violet zwei Strähnen ihres kurzen, kastanienbraunen Haares aus der Stirn und warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Es war noch genug Zeit. Außerdem war sie schon seit zwei Stunden wach. Doch um einer Diskussion aus dem Weg zu gehen, rief sie: „Danke, ich komme gleich!“

Schnell schaltete Violet das Radio ab, erhob sich aus dem Schaukelstuhl, ging zu ihrem Schreibtisch hinüber und strich über das Bild ihrer Mutter, das dort in der Ecke stand. Ihre sanften grünbraunen Augen schienen selbst auf der Fotografie strahlend zu leuchten. Wie Violet hatte sie ein zartes, schmales Gesicht gehabt, mit einem Grübchen auf der rechten Wange, wenn sie lächelte.

„Du hast die gleichen weichen Gesichtszüge wie deine Mum“, hatte Violets Tante einmal gesagt. Violet wollte sich schon freudig für das Kompliment bedanken, als Angela höhnisch hinzugefügt hatte: „Du müsstest dir nur endlich mal die Haare wachsen lassen und dir andere Klamotten zulegen. So siehst du fast aus wie ein Junge! Na ja, du warst schon immer etwas seltsam, schon seit deiner Geburt. Ich meine, du kamst praktisch aus dem Nichts. Melody hat keinem von ihrer Schwangerschaft erzählt und dich eines Tages plötzlich mitgebracht. Davor war sie monatelang untergetaucht. Mich würde wirklich interessieren, wer ihr das Ei ins Nest gelegt hat.“

Violet hatte so getan, als hätte sie nichts gehört.

Auch wenn das Wetter noch scheußlich war, zog Violet schwarze Shorts und ein neongelbes Shirt aus dem kleinen Schrank und ging in das Gemeinschaftsbad am Ende des Flures. Die Wände waren mit Blumenkacheln gefliest und erinnerten an die Hippiezeit der 70er.

Violet starrte in den Spiegel und spritzte sich eiskaltes Wasser ins Gesicht, das, wie sie hoffte, ihre Augenringe mildern würde. Wieder einmal war sie letzte Nacht unter Tränen eingeschlafen.

„Du fehlst mir, Mum“, flüsterte sie.

Sie musste an die Beerdigung denken. Wenn sie ehrlich mit sich war, hatte sie bis zuletzt gehofft, ihr Vater würde dort auftauchen und sie könnte ihn endlich kennenlernen. Doch Melody hatte seinen Namen mit ins Grab genommen. Nur einmal hatte sie angedeutet, dass er von ihr, seiner Tochter, wusste. Vielleicht hatte Violet es aber auch falsch verstanden. Nur bei einer Sache war sie sich sicher, dass ihre Mutter bei ihren Entscheidungen immer ihr Bestes im Sinn gehabt hatte.

Das kleine Café in Shoreditch war brechend voll. Violet hatte Glück gehabt, sie kam gerade noch rechtzeitig. Elisabeth Lightly, Betty genannt, die Inhaberin des Graffiti-Rooms, duldete keine Schlamperei und hasste Unpünktlichkeit wie die Pest. Obwohl Violet schon seit einiger Zeit für sie arbeitete, bei den Gästen beliebt war und noch nie einen Teller oder eine Tasse zerbrochen hatte, wurde sie von der dicklichen, rothaarigen Betty von der Theke aus mit Adleraugen beobachtet. Sicher jonglierte Violet das Tablett voller Kaffeetassen und Wassergläser zwischen den Tischen. Die Zeit verging schnell, denn sie hatte alle Hände voll zu tun. Sie wusste trotz Bettys kritischem Blick, dass sie ihren Job gut machte, doch tief in ihrem Inneren hatte sie andere Träume und sehnte sich nach einer besseren Zukunft.

Nach ein paar Stunden, in denen sie fast ununterbrochen hin und her gerannt war, entdeckte sie aus dem Augenwinkel Jack vor der großen Fensterwand des Cafés, der ihr zuwinkte. Jack Ripper, Spitzname Jack the Ripper, war zwei Köpfe größer als Violet, schlaksig und hatte Augen, deren Blau dem Gefieder eines Eisvogels glichen. Außerdem war er schwul und für sie der beste Freund der Welt. Wie immer hatte er seine Gitarre geschultert, ohne die er selten das Haus verließ. Es war nicht das einzige Instrument, das er beherrschte. Jack konnte auch verteufelt gut Keyboard spielen.

Lächelnd zwinkerte Violet in seine Richtung und servierte einem älteren Ehepaar zwei Cappuccinos mit kakaobestäubten Herzen.

„Wie hübsch“, sagte die Dame und bedankte sich.

Auf dem Weg zurück zur Theke sah sie noch einmal nach Jack, der auf seine Armbanduhr tippte. Heimlich warf sie einen Blick zur Glastür, über der eine große Uhr vor sich hin tickte. Kurz vor drei. Ihre Schicht war also bald zu Ende, und sie bedeutete Jack mit einem Fingerzeichen, dass sie gleich kommen würde. Schon den ganzen Tag freute sie sich auf die freie Zeit mit ihm. Jack wohnte allein in einer kleinen Zweizimmerwohnung, im Dachgeschoss eines alten Mietshauses, ganz in der Nähe ihrer Tante. Violet und er kannten sich noch aus Schulzeiten und sie waren füreinander ein Familienersatz.

Jack hatte kaum noch Kontakt zu seinen Eltern. Nachdem er damals die Schule abgebrochen hatte, um an einem Gesangswettbewerb im Fernsehen, teilzunehmen, wollten sie nichts mehr von ihm wissen.

„Was für ein Irrsinn. Hast du tatsächlich geglaubt, du würdest das Ding gewinnen?“, hatte ihn sein Vater angebrüllt.

Zumindest hatte er es bis ins Halbfinale geschafft. Violet hatte bis zum Schluss mitgefiebert. Das Rennen machte ein Mädchen aus London und Jack war wieder in der Versenkung verschwunden.

„Es stimmt wirklich, dass die Medien schnelllebig sind. Heute gefeiert, morgen vergessen, übermorgen begraben“, war Jacks Resümee gewesen.

Nach der Show waren Stimmen laut geworden, die behaupteten die Sache wäre von vornherein hinter den Kulissen entschieden gewesen. Seitdem wollte Jack nichts mehr von Castings oder Shows dieser Art wissen.

Betty Lightlys lautes Räuspern riss Violet aus ihren Gedanken. Schnell machte sie sich auf den Weg zu ihrer Chefin, die sich gerade ein großes Stück Schokoladenkuchen in den Mund schob. Kauend zeigte sie nach draußen. „Dein Freund soll dich nicht immer ablenken. Es ist schon das fünfte Mal, dass ich ihn direkt vor dem Café herumlungern sehe.“

„Er lungert nicht herum. Er wartet nur auf mich, Mrs Lightly“, stellte Violet klar.

Betty zog die zu einem dünnen Strich gezupften Brauen nach oben und reckte ihren Kopf. „Ein hübscher Junge ist er ja. Nur diese blonden Rastalocken, die sollte er sich abschnippeln lassen. Wie lange seid ihr denn schon zusammen?“

Es war kein Geheimnis, dass Betty ziemlich neugierig war.

„Wir sind nicht zusammen. Aber süß ist er wirklich.“ Violet musste schmunzeln. „Für mich ist er wie ein Bruder.“

„Meine Güte, du bist doch nicht etwa lesbisch? So was dulde ich hier nicht.“ Erschrocken riss sie den Mund auf. „Trägst du deshalb immer Jungsklamotten?“

„Nein, das nicht. Aber ich habe auch nichts gegen Lesben und Schwule. Es ist ja keine Krankheit.“

Soeben hatte Mrs Lightly weitere Sympathiepunkte bei ihr verspielt.

„Nun ja. In den letzten Jahren ist dieser Zustand zu einer Modeerscheinung geworden, wie mir scheint. Einfach lächerlich.“ Angewidert warf sie einen Blick auf ihre Armbanduhr. „Drei Minuten hast du nachzuarbeiten“, sagte sie spitz.

„Warum?“, fragte Violet und zog überrascht die Brauen zusammen.

Ihre Chefin zuckte mit den Schultern. „Schwätzen wird nun mal abgezogen.“

Violet schüttelte den Kopf, erwiderte aber nichts und machte sich wieder an die Arbeit. Jack hatte sich inzwischen auf einer der Bänke auf der anderen Seite der Straße niedergelassen, als hätte er gehört, was Betty gesagt hatte. Lässig schlug er die Beine übereinander und zupfte an seiner Gitarre.

Als ihre Schicht zu Ende war, nahm Violet beschwingt ihre weinrote Schürze ab, verabschiedete sich ordnungsgemäß von Betty und flüchtete nach draußen. Inzwischen hatte sich ein kleines Publikum vor Jack versammelt und lauschte seiner Musik. Jack spielte einfach wunderbar, es faszinierte sie jedes Mal. Lächelnd mischte sie sich unter die Leute. Jack spielte gerade einen Titel von Kevin Sky. Black Devils war einer der Songs, die er als Solokünstler aufgenommen hatte, und sie mochte das Lied besonders gern. Es handelte von den Drogenproblemen, mit denen Sky immer wieder gekämpft hatte. Violet wusste, dass er schon ein paar mal nah an einer Überdosis gewesen war und nur durch viel Glück überlebt hatte. Vor seinem Tod sollte er jedoch bereits ein paar Monate clean geblieben sein. Umso dramatischer, fand Violet, dass es nun ein Flugzeugabsturz gewesen war, der ihn das Leben kostete. Die Journalisten hatten sich überschlagen mit ihren Spekulationen, was sich in den Monaten vor Skys Tod verändert hatte. Anscheinend hatte er auch privat wieder neue Hoffnung geschöpft, denn sein neuer Lebenspartner Brian June hatte sich nach einer Trennung wohl doch wieder mit ihm versöhnen wollen. Die Gründe, warum sich das Paar überhaupt getrennt hatte, blieben weiterhin im Dunkeln. Brian wollte sich dazu nach wie vor nicht äußern. Der Tod des beliebten Popstars war derzeit nicht nur in England in aller Munde.

„Hi Violet!“ Jack zwinkerte ihr zu.

Vier Mädchen protestierten lautstark, als er mit dem Spielen aufhörte.

„Gott, ich werde Kevin Sky so vermissen“, sagte eine Schwarzhaarige und legte träumerisch den Kopf schief. Die anderen nickten zustimmend und tupften sich demonstrativ die Tränen aus den Augenwinkeln.

„Spiel weiter!“, bat auch Violet. Jack lächelte in ihre Richtung und stimmte einen neuen Song an, dieses Mal von Ed Sheeran. Die Leute klatschten, ein Mädchen kreischte begeistert.

Auch die anderen erwachten aus ihrer Trauer. Violet war stolz auf Jack, dass seine Art, die Songs zu spielen, die Leute derart mitriss. Er hatte es wirklich – dieses gewisse Extra. Sie wusste, was ihm die Musik bedeutete. Sie war nicht nur ein Hobby, sondern sein Leben. Ehrlich gesagt ging es ihr nicht anders. Allerdings gab es da mehrere Haken, die den Traum einen Traum bleiben ließen. Violet wiegte sich im Takt der Musik und sang leise mit.

„Ja! Lauter! Komm schon, Violet“, rief Jack und zog auffordernd die Brauen nach oben. Verlegen lachend lehnte sie ab. Laut vor anderen zu singen, außer vor Jack und früher ihrer Mutter, war unmöglich für sie. Die Geburtstagsfeier ihrer Tante Angela vor ein paar Jahren, an der sie es probiert hatte, war ihr eine Lehre gewesen. Als sie nach vorne getreten war und in die erwartungsvollen Gesichter blickte, wollte kein Ton aus ihrer Kehle kommen. Von Anfang an hatte sie sich unwohl gefühlt. Die Einzige, die sie danach getröstet hatte, war ihre Mutter gewesen. Angela und die anderen Gäste hatten flüsternd über sie geredet und über die Blamage gelacht, zumal Melody die Stimme ihrer Tochter zuvor bis in den Himmel gelobt hatte.

„Mach dir nichts draus. Irgendwann zeigst du es ihnen. Ich weiß, dass du wundervoll singst“, hatte ihre Mutter gesagt.

Kaum jemand aus Tante Angelas und Onkel Marcus’ Bekanntenkreis war von Violets merkwürdigem Auftritt überrascht gewesen. Das scheue Mädchen in ihren Jungsklamotten war ja schon immer seltsam gewesen, fanden sie. Hinter vorgehaltener Hand nannte man sie die „geheimnisvolle Empfängnis“. Auch dafür fand Melody tröstende Worte: „Lass sie reden. Sie wissen und können es nicht besser.“

Violet erinnerte sich oft an diese Worte und klammerte sich an sie wie an einen Rettungsanker.

Jack hatte sein Lied inzwischen beendet, erhob sich und ging auf seine Freundin zu.

„He, nicht schon wieder aufhören!“, kicherten die Mädels. Ein älteres Ehepaar drückte ihm ein paar Münzen in die Hand.

„Das ist nett. Danke. Wenn ich einen Hut hätte, würde ich ihn ziehen“, erwiderte Jack charmant.

„Schon gut! Du spielst wirklich toll“, sagte der Herr und hing sich bei seiner Frau ein, die Jack frech zuzwinkerte.

Wie schon am Morgen begann es leicht zu regnen. Das Londoner Wetter kümmerte sich nicht darum, dass es Sommer war. Violet schüttelte ihr leicht lockiges, kurzes Haar.

„Die wären erst so richtig ausgeflippt, wenn du gesungen hättest, Vi“, sagte Jack überzeugt.

„Du weißt, ich kann das nicht, Jack.“

„Das glaubst du nur“, erwiderte Jack. Bei dem Thema blieb er hartnäckig und versuchte immer wieder sie zu überreden.

Er hängte sich seine Gitarre um, nahm Violet an der Hand und rannte mit ihr über die Straße, in Richtung eines kleinen Parks. Tief atmete Violet den Duft der Blumenbeete zwischen den Wegen und der großen Laubbäume ein. Es war ihr Lieblingsort, um runterzukommen. Mittlerweile mochte auch Jack den kleinen Park sehr gern.

„Das wäre deine Chance gewesen. Und was heißt, du kannst das nicht? Du singst so klasse, Vi“, fing Jack wieder mit dem Thema an.

Sie seufzte. „Du weißt, wie ich das meine. Vor Publikum geht das nicht. Wer weiß, vielleicht hätte ich in einem Studium gelernt diese Blockade zu lösen.“

„Irgendwann schaffst du es auch so. Da gebe ich deiner Mum ganz recht. Sie hat das auch immer gesagt.“ Melody hatte Jack sehr gemocht und umgekehrt galt dasselbe.

Eine Gruppe Jugendlicher ging an ihnen vorbei. Violet und Jack hörten, dass sie sich über Kevin Sky unterhielten. Sie trugen Blumen und Fotos bei sich und waren ganz in Schwarz gekleidet.

„Dass er tot ist, ist krass“, sagte Jack und schüttelte den Kopf. „Echt traurig! Der hatte noch so viel vor. Mann, wenn ich nur annähernd so viel Erfolg haben könnte wie Sky, das wäre der Hammer, Vi. Er war so cool! Und er hat sich durch nichts unterkriegen lassen. Er kam immer wieder hoch, egal wie tief das Loch war, in das er gefallen ist.“ Jack kam aus dem Schwärmen gar nicht mehr heraus. „Ich kann überhaupt nicht verstehen, warum Brian ihn damals verlassen hat. Die beiden waren doch so glücklich. Jedenfalls haben sie lange so gewirkt.“

„Keine Ahnung … Aber ja, es ist traurig. Und an dem Spruch, dass die Besten jung sterben, ist wirklich was dran“, sagte Violet leise und warf einem Bettler an einer Straßenecke ein paar Münzen in die neben ihm liegende Mütze. Der alte Mann mit dem zerzausten Bart und den stoppeligen Haaren bedankte sich lächelnd.

Jack zog eine Braue nach oben. „Du kannst es nicht lassen, oder?“

Violet warf ihrem Freund einen ernsten Blick zu. „Was denn? Er sieht ehrlich aus.“

„Die meisten geben es für Drogen aus, weißt du“, bemerkte Jack.

Violet ließ sich nicht beirren. „Ich vertraue auf mein Gefühl.“

Er zeigte auf sie. „Das solltest du auch bei deiner Stimme tun.“

„Wollen wir ihm Blumen vor sein Haus in Mayfair legen? Das hätte meiner Mum sicher gefallen. Die Jugendlichen von eben gehen bestimmt auch hin“, lenkte Violet ab.

Jack spitzte die Lippen. „Ja, coole Idee. Also, ich habe Zeit. Heute ist mein freier Tag. Erst morgen heißt es wieder Pizza ausfahren und danach Kinokarten und Eis verkaufen.“

Violet wusste, wie sehr Jack seine Jobs hasste und wünschte ihm, dass er eines Tages Erfolg mit seiner Musik haben würde. Sie hakte sich bei ihm unter. „Dann los!“

Buchshecken und ein Eisentor umfriedeten das verwinkelte Haus mit der schneeweißen Fassade und der dunkelroten Holztür, in deren Mitte ein Silberknauf angebracht war. Auf dem Gehsteig davor erstreckte sich ein Meer aus Blumen, Kerzen und Fotos. Die Leute legten kleine Geschenke nieder, um ihrer Trauer Ausdruck zu verleihen. Kevin war ein wahrer Star der Herzen gewesen und hatte viel für arme Menschen, insbesondere Kinder, getan.

„Es ist der pure Wahnsinn!“, geriet Jack erneut ins Schwärmen, als sie vor dem Eingangsbereich standen, den die Fans in eine eindrucksvolle Gedenkstätte verwandelt hatten. Dass Kevin tot war, war schon vor ein paar Tagen durch die Presse gegangen. „Seine Plattenfirma hat Kevins Tod nun auch im Namen der Familie bestätigt“, sagte Jack nach einer kleinen Pause. Violet nickte. „Ja, ich hab es gelesen“, erwiderte sie.

„Er ist zu einer Legende geworden. Eigentlich war er das schon zu Lebzeiten. Dieser unverwechselbare Style und die zeitlosen Songs. Für mich war der Mann ein Gott“, legte Jack nach.

„Übertreib nicht, der Mann war auch nur ein Mensch“, entgegnete Violet, um Jack auf den Boden zurückzuholen.

„Aber was für einer, Vi. Wenn es Gott wirklich gibt, dann gibt Sky nun wohl regelmäßig vor ihm und seinen Engeln Konzerte.“

Der Gedanke gefiel Violet. „Das würde Mum jedenfalls freuen.“

Eine Frau mit dunklem, langem Haar trat plötzlich an eines der Fenster im oberen Stockwerk. Mit ernster Miene blickte sie nach draußen. Sie kam Violet bekannt vor, doch sie konnte sie nicht wirklich einordnen.

„Hast du eine Ahnung, wer das sein könnte?“, fragte Violet.

Jack zog die Brauen zusammen. „Ja. Ich glaube, das ist seine Cousine Thelma. Die ist doch mit diesem relativ unbekannten Musiker verheiratet. John Matthews. Es gibt nicht viele Berichte und Fotos über die beiden. Na ja, oder es ist seine Schwester. Sie und Thelma haben fast die gleiche Frisur und Statur. Allerdings hat sich Amy Sky mit Kevin zerstritten. Schon vor Jahren. Das hab ich auch irgendwann mal gelesen oder gehört. Es wird ja soviel berichtet, dass man gar nicht alles mitkriegen kann, auch wenn man wie ich ein Riesenfan von Sky ist. Aber am meisten interessierte er mich und nicht sein Umfeld, ehrlich gesagt.“

Violet teilte seine Meinung. „Geht mir genauso. Aber von dem Streit hab ich auch mal gehört. Wegen seiner Drogengeschichten. Das hat Mum mal erwähnt. Von seiner Cousine weiß ich so gut wie nichts.“

Der Blick der Frau schien sich direkt auf sie zu richten, was auch Jack bemerkte. Er stieß Violet mit seinem Ellbogen in die Seite und flüsterte: „Cool. Ich glaube, sie sieht dich an. Oder mich.“ Er grinste.

Violet blickte zur Seite. „Lass uns weitergehen. Wir stehen hier wie zwei Gaffer.“

Rasch legten sie die zwei weißen Rosen, die sie auf dem Weg in einem Blumenladen gekauft hatten, vor dem Tor nieder und gingen die Straße hinunter, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Fremde Blicke

Gedankenversunken starrte Violet am nächsten Tag auf die Homepage der Universität für Musik und Kreativität, die im Süden Londons ihren Sitz hatte. Sehnsüchtig scrollte sie durch die Bilder und die Lehrpläne. Sie wäre zu gern dorthin gegangen.

Aus der Küche hörte sie Geschirr klappern und ein Klirren.

„Verdammt noch mal!“, rief Angela.

Violet stand auf und sah nach, ob ihr etwas passiert war. Angela stellte gerade wütend ein Tablett voller Geschirr auf der Küchenzeile ab. Dem Scherbenhaufen vor ihren Füßen nach zu urteilen, war ihr die Hälfte des Tellerstapels heruntergefallen.

„Marcus? Warum lässt du deine Schuhe mitten im Weg stehen?“, brüllte sie Richtung Wohnzimmer, in dem der Fernseher flimmerte.

„Psst, ich will mir das Konzert ansehen, dass ein paar Musikerfreunde für Kevin Sky geben“, zischte er. „Wenn ich schon nicht live dabei sein kann. Aber es soll ja noch eins in Planung sein. Viel größer als das da. Vielleicht geh ich da hin.“

Kopfschüttelnd stemmte Angela die Hände in die breiten Hüften. Die Lockenwickler in ihrem Haar begannen zu wippen und liefen Gefahr sich zu lösen.

„Was stehst du herum und glotzt dumm in die Gegend, Violet? Los, hilf mir!“, keifte Angela.

„So viel Wirbel um einen einzigen Menschen“, hörte sie ihren Onkel beeindruckt sagen. „Sieh dir das an, Angela. Ich frage mich, wer wohl sein ganzes Vermögen erbt?“

„Das ist mir ziemlich egal, denn ich bin es leider jedenfalls nicht“, erwiderte Violets Tante.

„Kinder hatte er ja keine“, sinnierte Marcus laut.

Angela lachte. „Die könnten sich nun freuen. Zu Lebzeiten hat er sich allerdings einiges geleistet, worauf sie wohl nicht gerade stolz gewesen wären. Denk nur mal an diesen Sturz von der Bühne. Dabei hätte er sich damals fast das Genick gebrochen. Und das nur, weil er sich wieder Drogen reingezogen hatte!“

Violet zog die Brauen zusammen. Sie mochte es nicht, wenn ihre Tante so gefühllos über Sky redete. Durch ihre Mutter hatte sie immer eine besondere Verbindung zu dem Sänger gespürt und sie war sicher, dass diese Zeit in seinem Leben besonders hart für ihn gewesen war. Kevins große Liebe Matteo hatte ihn damals verlassen, vermutlich wegen der Drogensucht des Stars, von der er einfach nicht loskam. Dabei hatten die beiden sogar heiraten wollen und sich ein Kind gewünscht, wenn man den Medienberichten glauben durfte.

Angela lachte höhnisch. „Ich weiß ja bis heute nicht, warum deine Mutter so ein Riesenfan von diesem Typ war. Meine Güte! Wenn es nicht zu weit weg war, musste meine Schwester auf seine Konzerte gehen. Um Sky nachzureisen hat sie sogar Jobs in irgendwelchen Bars angenommen. Sie war eine der Verrückten, die dann schon fünf Stunden vorher vor dem Eingang gesessen haben. Unsere Eltern haben das auch nie verstanden. Und deinen Onkel“, Angela wies mit dem Kinn Richtung Wohnzimmer, „hat sie nach unserer Hochzeit mit ihrem Sky-Fieber angesteckt.“

Marcus schlurfte in Socken, sein dicker Bauch voraus, zu ihnen in die Küche, um sich ein Bier aus dem Kühlschrank zu holen.

„Es ist noch nicht mal richtig Abend. Nichts da!“, protestierte Angela und nahm ihm die Flasche weg, woraufhin er schmollte wie ein Kleinkind. Angela hob seine Schuhe auf und warf sie ihm hinterher.

„He!“, rief Marcus.

„Nichts he! Räum deinen Kram gefälligst selbst auf. Also, ich muss jetzt wieder in die Fabrik. Carla ist krank geworden und es fand sich kein anderer, der ihre Schicht übernehmen wollte. Du hast es gut, du hast heute noch frei.“

„Für das Aufräumen ist Violet zuständig, dachte ich. Und warum hast du auch zugesagt die Schicht zu übernehmen?“, entgegnete Marcus.

Angela schnaubte. „Ich bin der noch etwas schuldig. Und was das Aufräumen angeht: Stimmt, aber ich will nicht, dass du immer fauler wirst.“

Marcus winkte ab und brummte etwas vor sich hin.

Angela und ihr Mann arbeiteten schichtweise in der gleichen Zündkerzenfabrik im East End. Der Ton, der dort herrschte, war rau und die Arbeit ziemlich eintönig. Violet wusste, dass sie beide ihren Job hassten.

„Hast du eigentlich endlich deinen Lohn bekommen? Du schuldest uns noch einen Teil der Lebenshaltungskosten“, wandte Angela sich an Violet und streckte ihr eine Hand entgegen.

„Bald! Du bekommst es dann gleich“, versicherte Violet ihr.

Angela zog die Mundwinkel herab und widmete sich wieder ihrer Arbeit. Violet fegte die Scherben zusammen und warf dann einen Blick auf ihr Handy. Jack hatte ihr ein Zitat geschickt, natürlich von Sky.

Glaube an deine Träume, glaube an Wunder, folge deinem Weg und höre nicht auf das, was andere dir einreden wollen, die ihre Träume vergessen haben.

Für einen Moment musste sie lächeln. Wie recht er doch hatte. Ihre Mutter hatte immer gesagt, dass es Wunder wirklich gab, und sie hoffte darauf, dass das stimmte. Vielleicht würde es demnächst tatsächlich mit einer Ausbildungsstelle klappen und sie würde auf eigenen Beinen stehen können. Und vielleicht, dachte sie, würde sich mit zusätzlichen Nebenjobs am Ende doch noch ein Studium finanzieren lassen. Sie wusste, dass auch Jack mit diesem Gedanken spielte, doch sein fehlender Schulabschluss war nun der größte Hemmschuh.

Ihr bester Freund ließ es sich nicht nehmen, sie zu ihrer nächsten Abendschicht zu begleiten. Aus den bauschigen, grauen Wolken, die über London hingen, nieselte es noch immer. Jack mimte den Gentleman und hielt ihr seine Gitarre über den Kopf.

„Spiel mir lieber was vor. Das bisschen Regen macht mir nichts“, bat Violet ihn.

„Okay, Miss McLovely. Unter einer Bedingung. Du begleitest mich mit deiner Stimme.“ Jack ließ die Brauen wackeln.

„Jack the Ripper, du bist unmöglich.“

Jack tat, als hätte er es nicht gehört. Violet blickte sich um. Die von Backsteinhäusern gesäumte Straße war so gut wie menschenleer. Außerdem lagen sie gut in der Zeit. Jack begann, einen Ed Sheeran Song zu spielen, den er hier und da mit neuen Takten füllte, sodass er fetziger klang. Er liebte es, seinen eigenen Stil einzubringen und schielte auffordernd zu Violet herüber. Ein Kribbeln erfüllte sie. Lust hatte sie auf alle Fälle.

Also gut, dachte sie schließlich und stieg beim Refrain leise ein. Da es in dem Stück um eine Frau ging, die der Sänger perfekt fand, modelte sie den Text kurzerhand um und sang ihn aus umgekehrter Sichtweise.

„Ich höre dich kaum“, beschwerte sich Jack.

Violet verdrehte die Augen in seine Richtung und sang lauter. Die Leidenschaft packte sie vollends. Problemlos konnte sie in verschiedene Tonlagen wechseln, mit ihnen jonglieren und mit ihrer Stimme experimentieren. Singen war nicht nur ihre Leidenschaft, es half ihr auch immer, wenn sie in ein Tief rutschte. Musik war ein Ventil, das ihr auch zeitweise über den Tod ihrer Mutter hinweg half, auch wenn sie sicher war, dass sie diesen Schmerz nie ganz verwinden würde.

Jack und Violet waren so ineinander und in ihre Musik versunken, dass sie alles um sich vergaßen. Sie verließen die Gasse und bogen in die Straße ein, in der Bettys Café lag. Erst als Jack den letzten Ton gespielt hatte, merkten sie, dass sie beinahe angekommen waren. Ein paar Passanten klatschten begeistert. Verlegen senkte Violet den Blick.

„Da siehst du es!“, sagte Jack und stieß sie freundschaftlich an. „Es ist doch ganz einfach. Zusammen sind wir ein Dreamteam. High Five!“ Euphorisch hob er eine Hand. Violet tat ihm den Gefallen und schlug ein.

„Und nachher hole ich dich auch wieder ab. Dann können wir gleich weitermachen“, bemerkte er.

„Hast du morgen nicht Frühschicht, Jack? Nicht, dass du meinetwegen verschläfst und zu spät kommst.“

Lächelnd tippte er ihr mit einem Finger auf die Nasenspitze. „Keine Sorge. Das schaffe ich schon.“

Sie neigte den Kopf leicht zur Seite. „Hast du Angst um mich, Jack?“

Er spitzte die Lippen. „Ja, das ist auch ein Grund. Denk an die Nacht, als du auf dem Nachhauseweg überfallen wurdest. Wenn dieser Typ nicht dazwischen gegangen wäre, wer weiß, was dann passiert wäre. Warum nimmst du nicht öfters den Bus?“

Natürlich hatte sie diese Nacht vor ein paar Monaten nicht vergessen. Ihr vermummter Retter war damals wie aus dem Nichts aufgetaucht, hatte ihr geholfen und war danach genauso schnell wieder verschwunden, wie er gekommen war. Sie hatte nie wieder etwas von ihm gehört.

„Weil es Geld kostet, das weißt du doch. Außerdem ist es nicht weit. Ein Katzensprung sozusagen.“

Hinter ihnen an der gegenüberliegenden Straßenseite parkte plötzlich eine schwarze Limousine. Jack bemerkte sie zuerst. Erstaunt wies er darauf. „Wow! Wer ist denn das?“

Violet folgte seinem Blick. „Vielleicht ein großer Star!“, flüsterte sie dann und lachte.

„Glaubst du?“, flüsterte Jack ernst.

„Quatsch. Diese Limos kann man doch auch mieten.“

„Ja, schon. Aber so eine habe ich noch nie gesehen, Vi. Die ist ja vom Feinsten. Sieht wie eine Extraanfertigung aus mit den ganzen silbernen Elementen.“

Nun wurde auch Violet neugierig.

„Einmal in so einer fahren, das wäre was“, schwärmte ihr Freund und ergänzte seufzend: „Naja, vielleicht im nächsten Leben.“

In diesem Augenblick stieg ein junger Chauffeur in schwarzem Anzug, zu dem er lässige weiße Sneakers trug, aus dem Wagen. Eilig ging er zur hinteren Tür, öffnete sie und spannte einen roten Regenschirm auf. Ein junges Paar kletterte aus der Limousine. Violet schätzte die beiden nicht älter als Jack und sie. Zusammen mit dem Chauffeur gingen sie an das Heck der Limousine. Der zeigte auf das Café und schien ihnen etwas zu erklären. Die Frau zupfte am Saum ihres schwarzen, knöchellangen Kleides und nickte, während ihr Begleiter, ebenfalls im dunklen Anzug, ihr etwas ins Ohr flüsterte.

„Die sehen aus, als würden sie von einer Beerdigung kommen“, flüsterte Jack nachdenklich. Violet riss ihren Blick von dem glamourösen Paar los und sah auf ihre Armbanduhr.

„Ich muss gehen, Jack.“

„Vielleicht war heute bereits Skys Beerdigung. Genau weiß das ja niemand. Außer seiner Familie natürlich. Klar, die wollen keine Show daraus machen“, sagte Jack.

Violet überlegte. „Meinst du?“

Jack zückte sein Handy.

„Was hast du vor, Jack?“

„Ich mache ein Foto und schicke es an die Presse. Vielleicht bekommen wir ein bisschen Geld dafür.“

„Nein, lass das“, bat Violet. Sie hatte das Gefühl, dass das geheimnisvolle Paar sie ohnehin schon im Visier hatte. Die beiden sahen sich um und überquerten dann die Straße.

„Sie kommen“, flüsterte Jack unnötigerweise.

Der Chauffeur begleitete die beiden, den Schirm weiter über ihre Köpfe haltend. Trotz des Regens setzten sich beide Sonnenbrillen auf. Die Szene erinnerte Violet an einen Thriller, den sie vor kurzem gesehen hatte.

„Seltsam, oder? Sie wollen anscheinend nicht erkannt werden“, flüsterte Jack und straffte die Schultern. Just in dem Moment öffnete sich die Eingangstür und Betty trat heraus.

„Was stehst du da draußen und gaffst, Violet?“ Mit gerunzelter Stirn tippte sie auf ihre goldene Armbanduhr.

Violet zuckte erschrocken zusammen. „Ich komme. Bis später, Jack.“

Ohne die zwei jungen Leute weiter zu beachten, folgte sie ihrer Chefin, die sie für den Anfang hinter die Theke schickte.

„Die Schränke müssen endlich einmal wieder sauber ausgewischt werden. Solange übernimmt Noelle den Service. Oder hast du Angst, deine Fingernägel brechen ab?“, sagte Betty.

Violet streckte ihr die Hände entgegen und zeigte Betty ihre unlackierten, kurz gefeilten Nägel, was diese sichtlich irritierte. Anscheinend hatte sie sie mit einer anderen ihrer Kellnerinnen verwechselt. Es wäre kein Wunder bei dem raschen Wechsel ihrer Arbeitskräfte. Viele gingen von selbst. Es war kein Geheimnis, dass Betty eine unausstehliche Chefin war. Noelle, eine Hartgesottene und Violets Lieblingskollegin, hatte sich letztes Jahr vor Lachen kaum eingekriegt, als ein junger Kellner Betty, kurz bevor er das Handtuch warf, einen Besen als Abschiedsgeschenk in die Hand gedrückt hatte.

Violet ließ ihre Blicke durch den Raum schweifen, während sie lauwarmes Wasser mit Putzmittel in einen Eimer laufen ließ. Das Paar aus der Limousine hatte die Bar betreten und steuerte einen Tisch in der hintersten Ecke an. Noelle hatte sie schon bemerkt und wartete, bis sie sich setzten, bevor sie zu ihnen hinüberging, um die Bestellung aufzunehmen. Sie nahmen ihre Brillen ab und bestellten, ohne aufzusehen. Verstohlen beobachtete Violet die beiden. Noelle trat zu ihr an die Theke und sagte: „Zwei Mal Espresso und zwei Gläser stilles Wasser.“

„In Ordnung!“, gab Violet zurück.

Noch einmal blickte sie zu den beiden Gästen. Als sich ihre Blicke trafen, zuckte sie erschrocken zusammen und konzentrierte sich auf die Bestellung.

„Die sind seltsam. Kennst du sie etwa?“, flüsterte Noelle. Violet hatte sich von Anfang an gut mit ihr verstanden. Sie war ein natürlicher Typ mit blonden Locken und lässigen Klamotten.

„Nein. Und wieso sollte ich sie kennen?“, fragte Violet.

Noelle schürzte die Lippen. „Die haben irgendwie gewirkt, als hätten sie was zu verbergen. Ganz unnahbar und vornehm. Sie haben mich nicht mal eines Blickes gewürdigt.“ Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: „Und sie wollen, dass du ihnen die Sachen servierst. Daher dachte ich halt erst, du kennst sie vielleicht. Aber anscheinend passt ihnen meine Nase nicht oder was weiß ich. Dabei sieht der junge Mann eigentlich echt nett aus. Ein Schnuckelchen!“

„Ich soll das machen?“

Vielleicht hatten sie sich vorhin beobachtet gefühlt und wollten sie nach dem Grund fragen, dachte Violet. Ihr war mulmig zumute. Schnell machte sie die Bestellung fertig.

Sie bemerkte, dass ein paar Gäste in Richtung des Paars starrten und tuschelten. Offensichtlich hatten auch sie die Andersartigkeit der beiden bemerkt. Trotz des beklommenen Gefühls in der Magengrube, war Violet nun neugierig.

„Übernimm du hier mal kurz?“, flüsterte sie Noelle schließlich zu. Violet atmete tief durch, nahm das Tablett und trug es in Richtung des Tischs, an dem das Paar saß.

Beide blickten auf, als sie die Tassen und das Wasser mit einem Lächeln und klopfendem Herzen servierte. Es ärgerte Violet, dass ihre Finger leicht zitterten. Aber Noelle hatte recht. Der junge Mann sah umwerfend aus, wie eines dieser Katalogmodels. Normalerweise wäre nun der Zeitpunkt gewesen, auf die Kuchen und Torten der Bar hinzuweisen. Eine Vorschrift von Betty! Violet traute aber ihrer Stimme nicht so recht, verzichtete kurzerhand darauf und machte kehrt.

„Moment!“, hörte sie die junge Frau mit rauer Stimme hinter sich. Violet hielt die Luft für einen Moment an und drehte sich langsam um.

„Ja, bitte? Kann ich noch etwas bringen?“, fragte Violet freundlich.

„Nein danke“, erwiderte der junge Mann mit dem blondem Haar und den leuchtenden, blaugrünen Augen, die jedoch etwas gerötet waren, fast so, als hätte er vor kurzem geweint. Seine Stimme war angenehm und hatte einen weichen und warmen Unterton. Ein Grübchen bildete sich in seiner Wange, als er lächelte.

„Arbeitest du gerne hier?“, wollte die junge Frau wissen.

„Rose!“, flüsterte der junge Mann seiner Begleitung zu. Doch die achtete nicht darauf, schob sich ihre Brille ins Haar und sah sie mit ihren tiefbraunen, großen Augen an. Violet war sicher – irgendwo hatte sie sie schon einmal gesehen. Ihre Gedanken überschlugen sich. Was sollte diese Frage?

„Naja. Es ist ein ganz angenehmer Job und ich brauche eben das Geld“, entgegnete Violet ehrlich. Die Frau nickte, ohne das Gesicht auch nur einen Millimeter zu verziehen. Sie musterte Violet von oben bis unten.

„Du hast hübsche Augen. Und dazu diese toll geschwungenen Brauen“, sagte Rose und wandte sich ihrem Begleiter zu: „Findest du nicht auch, Payden?“

Er heißt also Payden, dachte Violet. Der Name gefiel ihr.

Payden nickte wieder lächelnd. „Und sie hat eine wirklich markante Stimme“, bemerkte er.

Violet entgleisten die Gesichtszüge.

„Wir haben euch vorhin zufällig gehört. Ihr habt ausgesehen, als wärt ihr in eurer eigenen Welt versunken, daher habt ihr uns wohl nicht bemerkt“, ergänzte er. Täuschte sie sich oder versteckte sich da ein Lächeln in seinen Mundwinkeln? Violet schluckte schwer. Die beiden hatten sie also gehört.

„Nun ja. Viele können gut singen“, bemerkte Rose spitz.

Payden warf einen Blick auf sein Handy. „Wie auch immer, Rose. Wir sollten gehen. Außerdem bin ich ... müde“, sagte er und warf seiner Begleitung einen auffordernden Blick zu. Er stand auf, ging um den Tisch herum und stellte sich hinter Roses Stuhl.

„Violet! Was wird das?“, rief Betty mahnend aus einer Ecke des Cafés. Einen Tisch weiter hörte Violet das genervte Tuscheln einiger Gäste, die auf ihre Bedienung warteten.

„Da siehst du es. Jetzt bekommt sie wegen uns auch noch Schwierigkeiten“, flüsterte Payden, was Rose nicht zu interessieren schien. Gemächlich erhob sie sich.

„Tut sie nur so oder erkennt sie uns wirklich nicht?“, fragte sie ihren Begleiter. Dann setzte sie ihre Brille auf und sagte: „Du zahlst, Payden.“

Das tat er auch, und zwar großzügig. Er drückte Violet fünfzig Pfund in die Hände und sagte leise: „Passt so.“

„Das ... das kann ich nicht annehmen“, stotterte Violet und starrte auf den Schein.

Rose seufzte.

„Das ist für die Unannehmlichkeiten“, erwiderte Payden schnell.

Sie sah auf und ihm direkt in die Augen. Ihr Herz machte einen Satz. Seine Augen hatten etwas Geheimnisvolles an sich. Es zog sie geradezu magisch an, ob sie nun wollte oder nicht. Beinahe war sie froh, als er seine Brille wieder aufsetzte. Danach hakte er sich bei Rose unter.

Wieder rief Betty nach Violet und ihrer Stimme nach duldete sie keinen Aufschub mehr. Rasch drehte sich Violet nach den Gästen um, die einen Tisch weiter saßen und setzte ihr schönstes Lächeln auf. „Entschuldigen Sie vielmals“, sagte sie.

Rose und Payden hatten ihre Sachen zusammengepackt und gingen an ihr vorbei. Im Hinausgehen hörte sie den jungen Mann flüstern: „Ich glaube, wir sind zu weit gegangen, Rosie. Wenn das deine Mutter erfährt!“

„Wird sie nicht, du Angsthase. Und nenn mich nicht Rosie!“, erwiderte Rose.

Kurz bevor sie das Café verließen, schien Payden noch etwas einzufallen. Er drehte sich um und ging zu Betty hinüber, redete kurz mit ihr und folgte dann seiner Begleiterin aus dem Café. Verwundert blickte Violet ihnen nach.

Betty winkte sie zu sich. Innerlich stellte sich Violet bereits auf einen gehörigen Anpfiff ein. Stattdessen zog ihre Chefin sie zur Seite und wedelte mit ein paar Geldscheinen. „Mit herzlichem Dank und in der Erwartung, dass ich dich nicht runterputze. Unter den Umständen ist dir das längere Gespräch natürlich verziehen.“ Betty verzog ihren breiten Mund zu einem Lächeln.

„Seltsam. Und wahrscheinlich haben die mich mit jemand verwechselt“, murmelte Violet.

„Das könnte gerne öfters passieren. Aber nun wieder Abmarsch hinter die Theke. Ich verstehe nicht, warum Noelle sich vor dem Bedienen gedrückt hat.“

„Das hat sie nicht. Die beiden wollten ausdrücklich mich als Kellnerin“, erklärte Violet.

Betty schürzte die Lippen und sah überrascht drein. „Ach so? Hm!“

Violet ging zu Noelle zurück. Ihre Freundin zwinkerte ihr zu. „Der Typ war wirklich heiß“, flüsterte sie und brannte offensichtlich darauf zu erfahren, was Violet mit den beiden geredet hatte. Doch nach einem kurzen Blick auf Betty eilte sie schnell weiter, da ihre Chefin sie beide schon wieder im Visier hatte. Den restlichen Abend zermarterte sich Violet den Kopf über die Fremden, kam aber zu keinem Schluss, der Licht ins Dunkel brachte.

Kurz nach Schichtende gab Betty ihr den Lohn für die letzten Tage. Dabei war sie knausrig wie immer und verschenkte keinen Cent.

„Darf ich Sie noch einmal auf die Ausbildung zur Konditorin ansprechen?“, fragte Violet hoffnungsvoll.

Nachdenklich tippte sich Betty an den Mund und nickte dann. „Ja, ja. Ich habe es nicht vergessen. Schlecht wäre es nicht. Meine jetzige Konditorin könnte dich ausbilden. Allerdings würden einige Überstunden anfallen, die ich dir nicht bezahlen könnte.“

Dass es einen Haken geben würde, damit hatte Violet schon gerechnet.

„Ganz sicher kann ich es dir aber noch nicht versprechen, Violet. Wir reden noch mal. Ich habe auch eine Bekannte, die eine Konditorei in Kensington betreibt. Die könnte ich auch einmal fragen. Und jetzt gute Nacht.“

Schon trippelte sie weiter. Besser als nichts, dachte Violet, und machte sich auf den Nachhauseweg.

Der Brief

„Was hatte dieser Payden nur damit gemeint, als er sagte, sie wären zu weit gegangen?“, sinnierte Violet laut, als Jack sie abholte.

Der zuckte mit den Achseln. „Keine Ahnung. Aber er hat Geschmack! Er fand deine Stimme markant.“

Dieses Mal hatte Jack einen Schirm dabei, der allerdings wenig nützte, da der Wind seitwärts blies. Jack musste seine Stimme erheben, damit Violet ihn trotz Wind und Regen verstand.

„Jedenfalls, ich war echt fleißig heute Abend. Ich habe nicht nur einen neuen Song geschrieben, sondern auch Recherche in Sachen Sky betrieben. Es hat mich interessiert, ob die beiden vielleicht tatsächlich auf dem Weg zu Kevins Skys Beerdigung waren, deshalb habe ich Bilder gegoogelt.“

„Und?“, fragte Violet laut, als ein Platzregen einsetzte.

„Weißt du was, wir gehen schnell zu mir. Da können wir in Ruhe reden“, schlug Jack vor. Violet stimmte bereitwillig zu.

Ihre Klamotten waren bis auf die Haut durchnässt, als sie in Jacks kleiner Wohnung ankamen. Er lieh ihr eine graue Jogginghose und einen weinroten Pulli von sich. Wohlig seufzend ließ sie sich auf seinem Bett nieder, das mit bunten, zotteligen Smileykissen bedeckt war.

Jack hatte sich ebenfalls umgezogen und legte sich nun neben sie. Seine Wohnung lag im Dachgeschoss eines alten Stadthauses und besaß hohe Stuckdecken. Die Wände hatte Jack mit Postern von Sky und anderen Pop- und Rockstars beklebt, das schlichte Metallbett diente ihm gleichzeitig als Tisch und Couch. Auf einer alten Obstkiste stand ein kleiner Flachbildschirm, den er günstig von einem Freund bekommen hatte. Im Nebenraum war die winzige Küche untergebracht, die nur aus zwei Kochplatten und einem kleinen Kühlschrank bestand. Dennoch war Violet gerne hier. Sie fühlte sich wohl in dem bescheidenen kleinen Zuhause und Jack war wie ein Bruder für sie.

Er lächelte sie an, die Ellbogen auf das Bett gestützt.

„Du kannst gerne hier bleiben. Wir haben sowieso gleich schon ein Uhr“, sagte er. „Du weißt ja, ich kann dir nicht gefährlich werden. Ähm, das würde ich natürlich aber auch nicht, wenn ich ein hetero wäre, obwohl du echt süß bist. Meine beste Freundin. Du verstehst?“

Sie schnappte sich eines der Kissen und drohte ihn damit abzuwerfen. „Jack the Ripper. Du bist ein Quatschkopf. Aber wieso sollte ich nicht hier schlafen? Ist ja echt schon spät. Ich schicke Tante Angela eine Nachricht via Handy.“

Währenddessen holte Jack seinen Laptop unter dem Bett hervor und schüttelte ihn, nachdem er ihn aufgeklappt hatte.

„Was wird das?“, fragte Violet.

Jack verzog einen Mundwinkel. „Ich glaube, der gibt auch bald den Geist auf.“

Zwei Sekunden später verschwand der schwarze Bildschirm, sodass Jack sich ins Internet einwählen konnte.

„Also, was ich dir zeigen wollte: hier ist eine Fotostrecke, die Journalisten bei Skys Beerdigung gemacht haben. Die war also wirklich schon heute Nachmittag. Das wurde aber erst kürzlich offiziell bekannt gegeben. Allerdings hatten es ein paar Journalisten offensichtlich herausgefunden, kamen aber, wie einer selbst geschrieben hat, nur bis zum Tor des Friedhofs. Schau, Skys Ex Brian war auch da, aber er kam nicht zusammen mit der Familie. Und jetzt wird es interessant: Da, neben dieser älteren Dame, ist das nicht der blonde junge Typ aus der Limo? Ich glaube, das ist Skys Mutter Vivienne, die da ein wenig gebückt neben ihm steht. Sein Vater ist ja schon gestorben.“

„Das weiß ich“, erwiderte Violet und setzte sich auf. Jack zoomte das Foto heran und gab ihr den Laptop. Der junge Mann, den Jack meinte, hatte zwar blondes Haar, doch es war deutlich länger als das von Payden. Auch Rose konnte sie nirgends entdecken. Zumindest sah ihr keine der jungen Frauen auf den Fotos ähnlich.

Sie schüttelte den Kopf. „Das ist er nicht.“

„Shit! Wäre cool gewesen. Aber vielleicht wollten sie ja auch gar nicht mit aufs Foto“, entgegnete Jack enttäuscht.

Violet zuckte mit den Schultern.

„Wie geht es eigentlich Landen?“, fragte sie, um sich auf andere Gedanken zu bringen. Sie hatte heute schon viel zu oft an Payden gedacht. Landen war Jacks neuer Freund, mit dem sie noch nicht so recht warm geworden war und sie bezweifelte stark, dass sie es je würde.

„Ich weiß, dass du ihn nicht magst“, entgegnete Jack.

„Ich sagte nur, du sollst vorsichtig sein. Du vertraust zu schnell, Jack.“

„Ich bin vorsichtig, Vi. Er will mich vielleicht in der Firma unterbringen, in der er arbeitet. Als Hilfsarbeiter. Das wird zusätzliches Geld bringen“, erzählte Jack und machte große Augen.

„Und was musst du da genau machen?“, wollte Violet wissen.

Sie traute dem schlaksigen, braungebrannten Landen nicht, der rund vier Jahre älter war als Jack. Die beiden hatten sich vor ein paar Monaten in einer Bar kennengelernt. Im Gegensatz zu Jack war Landen ziemlich verschlossen, was sein Leben betraf.

Jack überlegte kurz. Dann antwortete er: „Das sagt er mir, wenn es soweit ist.“

Violet hatte es geahnt. „Genau das meine ich. Er ist so … undurchsichtig.“

„Aber auch aufregend.“ Jack hob die Brauen.

„Du bist verknallt und ich gönne es dir. Aber sei vorsichtig!“, bat sie ihn.

Jack klopfte ihr auf die Schulter. „Bin ich, Mama!“

„Spinner.“ Sie küsste ihn auf die Nasenspitze und ließ sich rücklings ins Bett neben ihn sinken.

„Ach, was ich vergessen hab, dir zu erzählen: Die Demo, die ich dem Plattenlabel geschickt habe, kam mit einer Absage zurück. Wie ich es mir schon gedacht hab.“ Jack seufzte.

Violet wickelte eine seiner Rastalocken um einen Finger und verzog den Mund. „Oh nein! Ich habe dir so die Daumen gedrückt.“

Jack schnaubte. „Das ist schon die fünfte Absage. Die Aufnahme müsste einfach viel besser sein. Aber dazu bräuchte ich ein Studio und das für mehrere Stunden. Das kostet Unsummen, und ich muss jetzt schon jeden Penny umdrehen.“

„Ich kann dir ein bisschen was dazu geben. Wie oft habe ich dir das schon gesagt?“, schlug Violet ihm vor.

„Tausend Mal. Und ebenso oft sage ich Nein. Du brauchst das Geld selbst. Und dabei bleibt es!“ Sein Blick ließ keine Widerrede zu.

Dennoch versuchte sie es, weil sie wusste, wie viel ihm dieser Traum bedeutete. „Ich würde …“

Jack hob abwehrend die Hände. „Nein, Violet! Du, ich bin erledigt. Lass uns schlafen. Okay?“

Für heute gab Violet auf. „Okay. Du musst morgen auch echt früh aufstehen.“

Jack nickte, löschte das Licht und kuschelte sich an sie. „Erinnere mich nicht schon wieder daran. Gute Nacht, Kleine.“

Wenige Minuten später schliefen sie ein, so wie sie waren und Violet träumte von ihrer Mutter.

Der Raum war lichtdurchflutet. Weiße seidene Vorhänge warfen, von einem sanften Wind bewegt, weite Wellen. In der Mitte des Raumes stand ein Bett. Langsam trat Violet näher. Ihre Mum lag darin. Sie sah aus wie ein Engel. Sie trug ein rosafarbenes Nachtkleid, das ihr bis zu den Knöcheln reichte. Ihr dünner Körper lag auf schneeweißen Laken, die Haut schimmerte porzellanartig. Sie hatte die Augen geöffnet und neigte den Kopf leicht in Violets Richtung, die atemlos neben dem Bett stehen blieb.

„Mum“, hauchte sie ungläubig.

Melody streckte ihr eine Hand entgegen, die Violet ergriff und sanft drückte.

„Verzeih mir“, hörte sie ihre Mutter flüstern.

Violet stutzte. „Was meinst du damit?“

Nach einer kurzen Pause antwortete Melody: „Dass ich es dir nie gesagt habe, wer dein Dad ist. Ich wollte es noch tun. Glaub mir das bitte.“

Violet beugte sich zu ihr und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Es tat ihr weh, sie so traurig zu sehen.

„Es ist gut, Mum. Das Schicksal hat anders entschieden.“

Melody strich mit zwei Fingern über Violets Hals und hielt in der Beuge inne. Dann blickte sie ihrer Tochter tief in die Augen. Violet erwiderte ihren Blick, traute sich kaum zu blinzeln. Keine Millisekunde, die sie bei ihr sein durfte, wollte sie verpassen. Tränen stiegen ihr in die Augen, als ihr klar wurde, dass sie träumte. Plötzlich fand sie sich in einer anderen Ecke des Zimmers wieder, als hätte es einen Cut gegeben. Das Bild vor ihren Augen verschwamm. Nebel schlich durch die geöffneten Fenster.

Auch als Violet erwachte, hatte sie Tränen in den Augen. Sie legte ihre Hand an die Stelle, die ihre Mutter im Traum berührt hatte und ihr war, als wäre sie wirklich bei ihr gewesen. Noch einmal mehr war Violet sicher, dass ihre Mutter ihr das Geheimnis um die Identität ihres Vaters tatsächlich verraten wollte.

„Ich vermisse dich so und ich bin dir für nichts böse“, flüsterte sie. Vielleicht konnte ihre Mutter sie ja hören. Sie wünschte es sich von Herzen.

Jack, der zeitig aufgebrochen war, hatte ihr einen Zettel mit einer Zeile seines neuen Songs hinterlassen. Sie las sie immer wieder lächelnd, bummelte noch ein wenig durch die Stadt und begann gegen Mittag mit der Erledigung ihrer Pflichten in der Wohnung ihrer Tante und ihres Onkels. Dabei dachte sie auch immer wieder an den Traum und vergoss ein paar Tränen. Wie mechanisch wischte sie den Boden der Wohnung und bereitete später das Abendessen für ihre Tante und ihren Onkel zu. Der Duft des Hackbratens, den sie gleich als Erstes in den Ofen geschoben hatte, schwebte durch die Räume. Sie hoffte, dass ihr Onkel nicht wieder die Nase rümpfen würde, denn Kochen war nicht ihre Stärke. Als sie das letzte Mal das Salz vergessen hatte und ihr die Putenstreifen angebrannt waren, war er richtig ausgeflippt.

„Violet, lets fly into a blue, blue sky. We leave all shadows behind”, sang sie Jacks Songzeile vor sich hin.

„Ist das Essen schon fertig? Ich sterbe vor Hunger“, hörte sie plötzlich die Stimme ihres Onkels, der seine Arbeitstasche am frühen Abend mitten auf den Tisch fallen ließ.

„Es riecht seltsam“, bemerkte Angela, die nach ihm in die Küche kam. Es kam nicht oft vor, dass beide zur gleichen Zeit Schichtende hatten. Erschrocken schaute Violet nach dem Essen.

„Wenn es verbrannt ist oder komisch schmeckt, können wir unseren Anteil an den Kosten nicht tragen. Das verstehst du doch sicher“, fügte ihre Tante spitz hinzu.

Allmählich schwante Violet, dass Angela und Marcus schon im Vorfeld nach Gründen dafür suchten.

„Natürlich!“, erwiderte sie mit zusammengebissenen Zähnen, servierte das Essen und setzte sich anschließend mit ihnen an den Tisch.

Schon beim ersten Bissen rümpfte Angela die Nase. „Naja, es ist was anderes. Woher hast du denn das Rezept?“

„Von Mum“, antwortete Violet knapp.

„Dann wundert mich nichts mehr“, sagte Angela und ließ die Gabel fallen.

Wie erwartet stimmte Marcus seiner Frau zu.

„Hast du das Geld bekommen?“, wollte Angela anschließend wissen.

„Ja, euer Anteil liegt im Kuvert auf der Kommode im Flur“, antwortete Violet. Der Appetit war ihr gründlich vergangen. Sie schob den Teller von sich, stand auf und ging zur Tür.

„Was ist los?“, wollte ihr Onkel wissen.

Violet drehte sich nach ihm um. „Ich bin nur müde, leg mich kurz hin. Die Küche mache ich noch sauber, bevor ich zur Schicht gehe.“

„Von was bist du denn bitteschön müde? Außerdem – wo warst du die ganze Nacht?“, fragte er.

„Ich bin über achtzehn“, erinnerte sie ihn, was Angela mit hochgezogenen Brauen quittierte.

„Sie hat mir eine Nachricht geschrieben, sie war bei diesem Verlierer Jack. Eine nette Freundin wäre besser für dich, Violet“, bemerkte Angela.

Violet atmete leise tief durch. „Woher willst du das wissen, Tante Angela?“

„Deine Tante ist eben eine kluge Frau“, sagte ihr Onkel salbungsvoll. Angela tätschelte ihm die Wange und aß weiter. Seltsamerweise waren beide Teller schnell leergeputzt.

„Hat es doch geschmeckt?“, fragte Violet. Sie konnte es sich nicht verkneifen.

Angela sah sie entgeistert an. „Es war widerlich. Aber Essen wirft man nun mal nicht weg. Ich muss mich nun ausruhen. Mein Darm spielt verrückt. Ich hoffe für dich, dass das nicht an deinem Essen lag.“ Sie erhob sich und schob sich an Violet vorbei in den Flur. Violet sah ihr nach. Ihre Tante nahm das Kuvert mit dem Geld von der Kommode und steckte es in ihre Hosentasche. Marcus kam Angela nach wie ein Dackel und folgte ihr ins Wohnzimmer.

„Violet?“, rief Angela.

Auf dem Weg in ihr Zimmer stoppte Violet an der Wohnzimmertür und warf einen Blick zu ihrer Tante, die sich auf der Couch niederließ und eines ihrer Rätselhefte aufschlug.

„Was ist Tante Angela?“, fragte sie. Doch ihre Tante richtete ihre Aufmerksamkeit bereits wieder auf Marcus, der den Fernseher anschaltete.

„Musst du schon wieder fernsehen, Marcus?“, jammerte sie.

„Nur ein paar Minuten!“, antwortete er und machte es sich auf seinem Lieblingssessel bequem. Zufrieden strich er mit den Händen über seinen dicklichen Bauch.

„Man könnte denken, er ist im fünften Monat schwanger“, hatte Jack einmal gewitzelt. Violet schmunzelte, als sie daran dachte. Ihr Onkel drehte den Fernseher lauter.

„Willst du, dass ich taub werde?“, zischte Angela.

„Was hast du gesagt?“, fragte Marcus.

„Du hast mich schon verstanden, mein Lieber.“

Dennoch beließ er es bei der Lautstärke und Angela seufzte tief. Die beiden waren seit fünfundzwanzig Jahren verheiratet und obwohl Violet sicher war, dass ihre Ehe inzwischen zu einer reinen Vernunftehe geworden war, hielten sie, wenn es hart auf hart kam, gegen die Außenwelt zusammen. Und Violet gehörte für sie offensichtlich zu dieser Außenwelt.

Angela richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf Violet. „Ich hab es mir anders überlegt. Mach die Küche sofort und wisch auch die Hängeschränke aus. Danach kannst du meinetwegen weiter müde sein.“

Violet hatte keine Lust auf Streit und tat wie ihr befohlen. Sie lauschte den Boulevardnachrichten im Fernsehen, während sie die Küche aufräumte. Als Skys Name fiel, hielt sie inne.

„Gerüchten zufolge wurde in der Nähe der Absturzstelle, einen Tag nach dem Unglück, ein Brief gefunden, der brisante Neuigkeiten über Kevin Jordan Sky beinhalten soll. Die Zeilen soll der Star selbst verfasst haben. Der Journalist, der den teilweise zerfetzten Brief gefunden hat, übergab ihn so schnell wie möglich Skys Familie. Angeblich soll ihm ein Schweigegeld bezahlt worden sein, weshalb der Inhalt für die Öffentlichkeit wohl ein Geheimnis bleiben wird. Alles, was bekannt ist, ist, dass es sich nicht um einen Abschiedsbrief handelt. Auch Skys Freunde betonten, er habe noch viele Pläne gehabt und sei auch nicht, wie behauptet wurde, krank gewesen oder wieder rückfällig geworden. Die Informationen um den Brief stammen aus einer angeblich zuverlässigen Quelle im Umfeld des Journalisten“, sagte die Moderatorin und ging zum nächsten Thema über.

Nicht nur Violet ließen diese Neuigkeiten aufhorchen.

„Was da wohl drin steht?“, hörte sie Marcus fragen.

„Und für wen er wohl bestimmt war?“, fügte Angela hinzu.

Violet musste zugeben, dass auch sie auf die beiden Fragen gerne eine Antwort gehabt hätte.

„Du wirst es nicht glauben, Vi.“